Gabos deutsche Stimmen

Transcrição

Gabos deutsche Stimmen
Gabos deutsche Stimmen
Zum Tod von Gabriel García Márquez sprach Silke Kleemann mit der Übersetzerin
Dagmar Ploetz und der Lektorin Bärbel Flad, denen über Jahre die Übertragung
und Veröffentlichung seiner Werke ins Deutsche anvertraut war. Bärbel Flad
redigierte im Auslandslektorat von Kiepenheuer & Witsch jeden einzelnen GaboTitel seit 100 Jahre Einsamkeit. Die für ihr Gesamtwerk u.a. 2012 mit dem
Übersetzerpreis der Stadt München geehrte Dagmar Ploetz ist seit 1986 und Die
Liebe in den Zeiten der Cholera seine Hauptübersetzerin ins Deutsche. Außerdem
hat sie die lesenswerte Monographie Gabriel García Márquez, Leben und Werk
verfasst (KiWi 2010).
Es war einmal: Ein kolumbianischer Schriftsteller, der über Jahre die Idee zu einer
monumentalen Familiengeschichte mit sich herumtrug, aber nicht recht wusste, wie er
das Pferd aufzäumen sollte. Der schließlich aus Geldnot das Manuskript in zwei kleinen
Päckchen statt einem großen zu seinem Verlag nach Buenos Aires schicken musste. Und
der mit der Veröffentlichung von Hundert Jahre Einsamkeit 1967 praktisch von einem
Tag auf den anderen in den Kanon der Weltliteratur aufstieg.
Seine Übersetzerin Dagmar Ploetz schildert in ihrem Buch über Gabriel García Márquez,
wie sie diesen Roman 21-jährig von ihrer Mutter aus Buenos Aires nach München
geschickt bekam, wo sie damals studierte. Ich möchte gern wissen, wie ihre erste
Leseerfahrung mit Gabo war. Dagmar erzählt: „Das war eins von diesen großen
Erlebnissen für mich. Davor hatte ich gar nicht so viel lateinamerikanische Literatur
gelesen, und dann kam dieses Buch und das war schon etwas ganz Besonderes. Ich fand
hochinteressant, wie darin Mythen geschaffen und zerstört wurden, wie einfach da mit
einer ganz anderen Realität gespielt wurde. Das fand ich sehr beeindruckend."
Bei Bärbel Flad, zu jener Zeit nach einer Ausbildung zur Verlagsbuchhändlerin und
einem Studium der Romanistik und Anglistik als Assistentin im Auslandslektorat bei
Kiepenheuer & Witsch beschäftigt, hat das Buch einen ähnlich starken Eindruck
hinterlassen: „Ich war ja völlig unbefangen, wie alle damals, hatte keine Ahnung von
lateinamerikanischer Literatur, war auch sicher noch stark geprägt von der Zeit der
Hochachtung vor deutschen Dichtern und Denkern. Und dann habe ich das gelesen und
war plötzlich in etwas hineingezogen, das ganz fremd war, wo ich aber gleichzeitig
sowas von begeistert war - ich konnte auch gar nicht begreiflich machen, warum das so
war. Aber ich spürte, dass es sich hier um etwas ganz Besonderes handelte, auch wenn
ich nicht alles verstanden habe.“ Immerhin ist ihr damals verfasster Klappentext über
die Jahre „eingedampft wie ein Maggiwürfel" weiterhin in Gebrauch ...
Das Besondere an Gabos Stil ist, wie wir im Gespräch feststellen, gar nicht so leicht in
Worte zu fassen. Ein Merkmal ist sicher die Genauigkeit seiner Erzählweise – „eine
wirklich bis ins Fliegenbein gehende Beschreibung“ (Bärbel Flad), oder wie Dagmar
Ploetz sagt: „Der magische Realismus besteht aus einer wahnsinnigen Genauigkeit im
Einzelnen. Das besondere Detail, das etwas ganz Alltägliches zeigt.“ Dabei schätzt sie die
Sammelbezeichnung „Magischer Realismus" generell nicht, „exotisch ist das ja nur aus
unserer Perspektive", für sie steht viel mehr die realistische Beschreibung der
historischen und alltäglichen Umstände im Vordergrund, wozu auch das gehört, was
sich im Bewusstsein der Figuren abspielt, dort für wahr genommen wird. Gabo selbst
bezeichnete sich als Realist und legte alles, auch das Fantastische, ins Feld seiner
eigenen Erfahrung. Dazu passt, dass er Zeit seines Lebens auch als Journalist dem
Zeitgeschehen mit scharfer Feder gefolgt ist.
Herausfordernd bei der Übertragung waren neben den langen Perioden noch andere für
das Sprachenpaar Spanisch-Deutsch durchaus übliche Probleme wie die vielen im
Spanischen gern in Form von „que"-Sätzen angehängten Ergänzungen, die auf Deutsch
nur schwer „melodiös rüberzubringen" sind. Dagmar Ploetz benennt eine weitere sich
daraus ergebende Schwierigkeit: „García Márquez ist sehr genau in den Details, im
Ablauf, da ist er ganz fantastisch. Sehr ungenau ist er dafür manchmal in seinen Bezügen,
und dann weißt du nicht, was sich worauf bezieht. War das vor oder hinter oder danach,
du hast zeitlich wie örtlich Schwierigkeiten, die Sache zu justieren, weil das auf Deutsch
so schlabbrig nicht geht. Und das macht vielleicht auch ein bisschen dieses irisierend
Flattrige seiner Prosa aus, diese gewisse Ungenauigkeit, die das Spanische zulässt. Und
die dem Leser natürlich Freiräume für seine Einbildungskraft öffnet, das ist vielleicht ein
Attraktivum. Wie die ästhetische Knappheit mancher Texte, die sinnliche Fülle anderer.“
Bärbel Flad wundert sich nicht über diese Definitionsschwierigkeiten: „Das ist genau das
Große daran. Die Geschichten sind das eine, und das zweite ist, wie er die Geschichten
erzählt und das in seinen besonderen Stil einbaut. Er hat mit ganz einfachen Worten
wirklich ganz Großes beschrieben. Da kann man nur sagen: Die Kunst ist, dass wir nicht
wissen, wie seine Kunst funktioniert."
Dass der Transfer in unsere Sprache gut gelungen ist, bestätigte zum Beispiel Marcel
Reich-Ranicki in einer begeisterten Besprechung zur Übersetzung von Von der Liebe
und anderen Dämonen von Dagmar Ploetz. Sein Urteil: Hätte der Autor dieses Buch auf
Deutsch geschrieben, dann so.
Die ersten Romane und Erzählungen von García Márquez übersetzte Curt Meyer-Clason,
der sich wie kaum ein anderer um die Verbreitung der lateinamerikanischen Literatur
im deutschsprachigen Raum verdient gemacht hat, jedoch später von den
nachrückenden und fundiert ausgebildeten Übersetzerkollegen auch wegen
Ungenauigkeit und zu großen Freiheiten seiner Übersetzungen kritisiert wurde. Nach
Chronik eines angekündigten Todes im Jahr 1981 war daher klar, dass der Verlag für die
kommenden Werke eine neue deutsche Stimme suchen würde. Dagmar Ploetz erinnert
sich: „Das war ein großer Glücksfall. Ich habe es nicht angeboten bekommen, ich habe
mich selbst darum bemüht, und Bärbel war so mutig, es mit mir zu versuchen. Sie hat
mich sehr unterstützt und mir geholfen, mich sozusagen eingeführt in die kleinen Tricks
des Übersetzens. Ich hatte schon Isabel Allende übersetzt und andere Sachen, aber das
war noch einmal ein anderes Kaliber." Bevor sie sich beim Verlag meldete, hatte sie
Meyer-Clasons Einverständnis eingeholt. Bärbel Flad begründet ihre Entscheidung, die
den Grundstein für eine jahrelange enge Zusammenarbeit legte, so: „Man weiß, das gibt
wahnsinnigen Stress, da muss die Chemie stimmen. Da kannst du es nicht mit
irgendeinem übersensiblen Mann machen oder einer Übersetzerin, von der du weißt,
dass sie dazu neigt, in der Badewanne das Manuskript zu lesen und dann zum Schluss zu
ersäufen oder so, das muss alles stimmen. Und du musst wissen, dass du dich verlassen
kannst." Nicht ohne Stolz erwähnt sie, dass sie beide 1986 beim dreieinhalbmonatigen
Ritt zur Fertigstellung von Dagmars erster Gabo-Übersetzung, dem sehnlich erwarteten
Roman Die Liebe in den Zeiten der Cholera, nebenbei auch noch ihren jeweiligen Haushalt
schmissen und sich um „insgesamt fünf" Kinder kümmerten. Bei der Zusammenarbeit
mit Bärbel Flad bleibt das Persönliche bei aller Professionalität nie außen vor, auch das
ist ein besonderes Qualitätsmerkmal dieser Ausnahmelektorin, die ihr (durch learningby-doing erworbenes!) Wissen und ihre Werte dankenswerterweise immer wieder auf
Seminaren und Fortbildungen an den Nachwuchs weiter gibt.
Jahre später überarbeitete Dagmar die kritisierte Übersetzung der Chronik eines
angekündigten Todes noch einmal, „als diese Mode anfing, in den Verlagen
Neuübersetzungen zu machen". Gerade diesen Roman, weil darin einige „ganz rasante"
Fehler vorkamen, und auch, weil Meyer-Clasons Version von 100 Jahre Einsamkeit längst
als Klassiker ins Ohr eingegangen war und sie daran nicht rühren mochte. Um
Leseeindrücke mit ihrem Mann Uwe Timm teilen zu können, hatte Dagmar Ploetz die
Meyer-Clason-Übersetzungen schon von Anfang an neben den Originalen gelesen. „Er
hatte eine tolle Beherrschung des Deutschen, eine sehr breite Sprachpalette und einen
gewissen Sound, der García Márquez entgegenkommt. Er ist nur ein bisschen
altmodischer als García Márquez. Manchmal hat er es auch nicht richtig verstanden, das
Portugiesische war ihm letzlich näher. Aber ich lasse nichts auf ihn kommen, denn es ist
eine enorme Leistung, was er für die Rezeption der lateinamerikanischen Literatur hier
getan hat." Dagmar Ploetz findet auch toll, welchen Einfluss dies auf das Schaffen der
deutschsprachigen Autoren ermöglichte: „Günter Grass' Butt ist ohne Gabriel García
Márquez nicht denkbar. Der Stil ist natürlich ganz anders, aber dieser Rabelais‘sche
Spaß am Exzessiven! Um in der Familie zu bleiben: Uwe hat schon sehr früh García
Márquez gelesen, der Einfluss ist sicher nicht so bewusst, schlägt sich aber in einem
gewissen Mut oder einer Lockerheit nieder, dass man einfach so etwas macht, Ochsen
sprechen zu lassen oder ähnliches."
Bärbel Flad frage ich, ob die Rezeption von García Márquez und anderen Boom-Autoren
in Deutschland stark durch den zeitgeschichtlichen Kontext mit der kubanischen
Revolution und dem Vietnamkrieg gefördert worden sei, wie beispielsweise der
argentinische Autor Juan José Feinmann postuliert. Die Antwort: „Das gilt für einen
bestimmten Teil der Presse und einen bestimmten Teil der Intellektuellen. Ich glaube
aber nicht, dass es für den ,bürgerlichen Leser' oder vor allem die ,bürgerliche Leserin'
gilt, nämlich die, die in diesem Land Bücher immer gekauft haben und auch noch kaufen.
Die wunderten sich vielleicht eher, dass sie Bücher von einem Kommunisten lesen,
ansonsten spielte das aber absolut keine Rolle. Die Rezeption hier, die
Bestsellerrezeption, fand allein über die Bücher statt." Auch Dagmar Ploetz mag sich der
These eines anderen jüngeren Schriftstellerkollegen, Edmundo Paz Soldán aus Bolivien,
nicht völlig anschließen. Paz Soldán zählt sich seit Mitte der 1990er ironisch zur
McOndo-Generation und behauptete jüngst, Gabo sei „gefährlich für Lateinamerika, weil
er den ganzen Kontinent verschlucke". Die Vorstellung des Magischen Realismus habe
sich in der weltweiten Wahrnehmung so sehr gefestigt, dass seine Generation dagegen
anschreiben müsse. „Verstehen kann ich das“, sagt Dagmar Ploetz. „Obwohl, die sind
doch schon längst aus dem Schatten hervorgetreten, in Lateinamerika selbst wird doch
eigentlich gar nicht mehr so geschrieben, ich kenne da nichts mehr in der Art. Ich glaube
nicht, dass die dort noch einen Vatermord nötig hätten.“
Der persönliche Kontakt der Übersetzerin mit Gabriel García Márquez beschränkte sich
lange Jahre auf Faxe mit textspezifischen Fragen. „Die hat er auch brav beantwortet,
aber kein Gruß, kein persönliches Wort ..., das stimmt einen nicht weich.“ Persönlich traf
sie ihn nur einmal, 2006 in Barcelona, auf Einladung seiner Agentin Carmen Balcells,
was eine neue Facette nach über 20 Jahren Arbeitsbeziehung eröffnete. „Als ich ihn dann
kennen gelernt habe, war er sehr väterlich."
Freuen würde sich Dagmar Ploetz, wenn in den Schubladen von Gabos Schreibtisch noch
die Manuskripte der beiden Kurzromane auftauchen würden, die er immer wieder
zusammen mit Erinnerungen an meine traurigen Huren nannte. „Das ist ja seine Art zu
arbeiten, er legt es jahrelang weg und macht was anderes. Daher kann ich mir schon
vorstellen, dass da noch einiges liegt. Von diesen drei kurzen Romanen müssten noch
zwei kommen.“ Auch Bärbel Flad würde weitermachen, wenn noch etwas kommt - und
der Verlag sie mit der Aufgabe betraut. Seit 2009 ist ihr Vertrag offiziell ausgelaufen, sie
ist, „um es mal auf Pottdeutsch zu sagen, eine freie Mitarbeiterin, wo in Rente ist", und
nur noch auftragsweise aktiv für ihren Arbeitgeber, für den sie vier Jahrzehnte lang tätig
war. Gabriel García Márquez ist mit Saul Bellow der Autor, den sie am längsten betreut,
und in der Zwischenzeit hat sie außer den Romanen auch noch mehrere tausend Seiten
seines journalistischen Werks durchschifft. Bei diesem Mammutprojekt gab sie auch
anderen Übersetzern, die sie auf Seminaren kennengelernt hatte, die Chance, einen
großen Autor zu übersetzen. Auf die Frage, ob sie bei dieser Textmasse nie versucht war,
das Handtuch zu schmeißen, antwortet sie: „Ich finde, man ist einem solchen Autor dann
auch eine gewisse Treue schuldig.“ Selbst wenn, wie in diesem Fall, nicht ganz klar ist,
ob es wirklich sinnvoll ist, das komplette Konvolut seiner journalistischen Arbeit ab
Ende der 1940er Jahre zu bringen, wie in den spanischen Originalausgaben geschehen
und auch für die Übersetzungen von der Agentur gefordert. Bärbel Flad sagt dazu in
ihrer unverblümten Art zur Qualität der Texte: „Die haben sich zum Teil ja überholt, das
war Tagesgeschäft. Da hat er für Geld geschrieben, hat gehudelt ohne Ende. Das haben
wir ja auch gemerkt, und damit tut man ihm nicht Unrecht. Aber der Text Dornröschens
Flugzeug (KiWi 2008) gehört zum Beispiel zum Besten, was es überhaupt gibt, und noch
ein paar andere auch. Bei anderen war er nicht so klar, oder er hatte noch einen Kater
oder ich weiß nicht was, wir wollen gar nicht nachforschen, wo er die Texte alle
geschrieben hat.“
Übermäßige Ehrfurcht, darin sind wir uns alle einig, ist eines der Hindernisse, die es auf
dem Weg zu einer gelungenen Übersetzung eines großen Autors zu überwinden gilt.
Bärbel Flad berichtet: „Man zögert mehr, einzugreifen. Aber auch die Großen schießen
Böcke. Oder schießen sprachlich übers Ziel hinaus. Und dann, das ist der Witz, kommen
die Kleinen und fangen an, daran rumzumäkeln. Das ging mir auch manchmal so, dass
ich dachte: Du bist ja nur hmhmhm und du findest, dass das bei Gabriel García Márquez
nicht gelungen ist. Wir haben uns dann im Verlag geeinigt, so etwas ,Kritik auf höchstem
Niveau' zu nennen.“ Außerdem war die Lektorin manchmal von „der schon sehr
männlichen Sicht auf die Frau“ genervt. „Aber auch das muss man sich ja immer wieder
klarmachen: Es ist ja dennoch sehr gut geschrieben und sehr gut gemacht, und beim
einen nervt dich die politische Einstellung, und beim anderen nervt dich, dass sie alle ins
Bordell gehen. Damit muss ich mich einfach abfinden, da musst du deinen privaten
Geschmack ausschalten."
Dagmar Ploetz nennt stilistische Redundanzen als möglichen Stein des Anstoßes: „Na ja,
wenn zum zehnten Mal die unendlichen Regenfälle kommen und im nächsten Buch
gleich noch einmal. Aber gut, man schmunzelt dann."
Wer Lust zum Lesen oder Wiederlesen des am 16. April 2014 im Alter von 87 Jahren in
Mexiko verstorbenen Meisters bekommen hat, hier der Tipp der beiden Expertinnen:
Am liebsten mögen beide Liebe in den Zeiten der Cholera und die Chronik eines
angekündigten Todes, die Übersetzerin empfiehlt außerdem Der Oberst hat niemand, der
ihm schreibt, und die Lektorin Von der Liebe und anderen Dämonen.
Silke Kleemann ist freie Übersetzerin aus dem Spanischen und wirkte an der Übersetzung „Dornröschens
Flugzeug. Journalistisches Werk 1961-84, Bd. 5" und „Ich bin nicht hier, um eine Rede zu halten" von Gabriel
García Márquez (beide Kiepenheuer & Witsch) mit.