DER SPIEGEL Jahrgang 1999 Heft 46
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DER SPIEGEL Jahrgang 1999 Heft 46
Werbeseite Werbeseite DAS DEUTSCHE NACHRICHTEN-MAGAZIN Hausmitteilung 15. November 1999 Betr.: Korrespondenten, Scharping, Belgrad er SPIEGEL als auflagenstärkstes Nachrichten-Magazin Europas hat auch eine stattliche Zahl von Berichterstattern in aller Welt: Zu einem Korrespondententreffen reisten vergangene Woche 26 Kollegen aus 22 Auslandsbüros nach Hamburg. Einige waren etwas länger unterwegs – sie kamen aus Peking, Rio de Janeiro, Johannesburg und Tokio. Die Korrespondenten kennen sich aus in SPIEGEL-Auslandskorrespondenten Kulturen, Eigenarten und Dialekten ihrer Gastländer. Neben den gängigen Weltsprachen parlieren sie auf Chinesisch, Japanisch, Persisch oder Türkisch, auf Hindi, Tamil und in vielen slawischen Sprachen. Sie recherchieren im indischen Andra Pradesch, wo die Menschen Telugu sprechen, und führen Interviews auf Hocharabisch – bei Bedarf auch im ägyptischen Nildialekt. D M. DARCHINGER er Mann, mit dem SPIEGEL-Redakteur Hajo Schumacher, 35, vor vier Jahren im Saal des Mannheimer Kongresszentrums sprach, hatte gerade seine bitterste Niederlage erlitten: Eben war Rudolf Scharping noch SPD-Vorsitzender gewesen, nun hatte der Parteitag überraschend Oskar Lafontaine gewählt. Ein Debakel. „Über meine Gefühlslage bin ich mir im Unklaren“, vertraute Scharping dem SPIEGEL-Mann an. Sieger Lafontaine hat sich inzwischen geräuschvoll von Schumacher, Scharping (1995) der politischen Bühne verabschiedet, Verlierer Scharping aber sieht sich stärker denn je. „In Umfragen bin ich als einziger kaum gefallen“, sagte der Verteidigungsminister vergangene Woche, als Schumacher ihn im Reichstag traf, und: „Mannheim habe ich verarbeitet.“ Tatsächlich? Schumacher hegt Zweifel: „Die Verletzung ging damals viel zu tief“ (Seite 26). B elgrad liegt nur eine Flugstunde von Frankfurt entfernt, aber die Reise dorthin dauert fast einen Tag. Da Jugoslawien wegen der Politik des serbischen Diktators Slobodan Milo∆eviƒ von allen westlichen Ländern boykottiert wird, ging der Weg von SPIEGEL-Autor Erich Follath, 50, über Budapest, dann sechs Stunden weiter mit dem Bus. An der Grenze filzten die Zöllner sein Gepäck besonders gründlich – Journalisten erhalten nur selten ein Visum und geben immer Anlass zu Misstrauen. In Belgrad erlebte Follath eine merkwürdige Stimmung: „Die Menschen sind verzweifelt, aber auch trotzig, und bei den jungen Leuten herrscht unbändige Lebenslust.“ Follath traf in Kriegsruinen posierende Models, Schwarzhändler mit gleich mehreren Porsches und Alte, die ihre letzte Habe verkauften: „Keiner hatte ein gutes Wort für Milo∆eviƒ“, sagt Follath, „aber ebenso wenig für die Bomben des Westens“ (Seite 218). Im Internet: www.spiegel.de d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 3 M. ZUCHT / DER SPIEGEL D Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite In diesem Heft Koalitionskrach ohne Ende Seiten 22, 24 Medien Trends: Larass wird Springer-Chef / Eine Frau für die Sportschau ......................... 133 Fernsehen: Der RTL-Erfolg mit stürzenden Dominosteinen .......................... 134 Vorschau ....................................................... 135 Journalisten: Das Imperium des Guido Knopp ...........................................136 Regisseure: Dieter Wedel und die Steuerfahnder.......................................... 142 Karrieren: TV-Moderatoren als Trainer für Manager und Politiker............ 148 Fotografen: Bilder-Archiv zum Balkan-Krieg .. 154 Gesellschaft Szene: Erfolgreiches Strick-Design / Ost-WestBegegnungen im Strahlenschutzbunker ........ 157 Körperkult: Marathonmann Joschka Fischer in New York ......................... 158 6 Fischer, Schröder Die Konkurrenz jagt Mannesmann Seite 118 Mannesmann ist eines der erfolgreichsten deutschen Unternehmen – doch mit dem Erfolg wuchs die Begierde der Konkurrenz. Jetzt plant der Mobilfunkgigant Vodafone sogar eine feindliche Übernahme des Konzerns. Die Fusionen in der Telekommunikationsindustrie werden immer gewaltiger, keiner scheint sicher: Wer gestern noch Jäger war, wird heute selbst gejagt. Mannesmann-Mobilfunk-Zentrale in Düsseldorf Der Tod im Klassenzimmer Seite 112 Lehrer fordern den Einsatz von Polizei und Videokameras auf dem Schulhof, nachdem ein 15-jähriger Gymnasiast in Meißen seine Lehrerin erstach. Experten warnen davor, der wachsenden Aggression allein mit Härte nach US-Vorbild zu begegnen. Fatale Folgen des Ruhms Seite 168 Der Ruhm, von dem so viele Künstler und Filmstars träumen – er gerät leicht zum Fluch. Wer seiner Rolle untreu wird, muss mit Misserfolg rechnen. US-Autorin Erica Jong berichtet aus eigener Erfahrung: Nach ihrem Bestseller von 1973 „Angst vorm Fliegen“ leide sie noch heute am Image einer vom Sex besessenen Filmstars Emma Thompson, John Travolta, Ehefrau Kelly (M.) Frau. REUTERS Wirtschaft Trends: HypoVereinsbank plant Übernahme der Dresdner Bank / Telekom trickst beim Kabel-Verkauf....................................... 115 Geld: Rallye an den Weltbörsen? / Lebensversicherungen wenig attraktiv........... 117 Telekommunikation: Angriff auf Mannesmann ........................................... 118 Währungsfonds: Ein deutscher Staatssekretär soll an die Spitze des IWF ............................ 121 Software: Bill Gates bleibt hart.................... 122 Unterhaltungselektronik: SPIEGEL-Gespräch mit Philips-Chef Cor Boonstra über die Probleme beim Umbau des Traditionskonzerns 124 Steuern: Brüssel gegen Dumping ................. 128 Marketing: Kalter Kaffee als Kultgetränk..... 130 M. S. UNGER Deutschland Panorama: Expertenkommission will Arztbesuche verteuern / Korruption bei der Autobahnpolizei .................................. 17 Koalition: Fliehen oder standhalten?.............. 22 Grüne: Der Exodus der frustrierten Basis....... 24 SPD: Der heimliche Kanzlerkandidat Scharping............................. 26 Berlin: Der Abstieg des Eberhard Diepgen..... 28 Hauptstadt: Die geteilte Regierung ............... 62 Debatte um die Reste des „Führerbunkers“ ... 80 Sozialdemokraten: SPIEGEL-Gespräch mit Ministerpräsident Reinhard Höppner über die Wahlniederlagen seiner Partei........... 68 Innere Sicherheit: Städte überwachen ihre City per Video ......................................... 76 Kriminalität: Erstmals steht ein Richter wegen diverser Delikte vor Gericht ................ 78 Justiz: Menschenrecht für Egon Krenz? ......... 84 Markenschutz: Konzerne prozessieren um ihre Namen............................................... 90 Stasi: Drei IM bei „Bild“ enttarnt ................. 92 Bundeshaushalt: Die Risiken der Exportförderung ............................................. 98 Strafjustiz: Hartes Urteil im Essener Hooligan-Prozess .......................................... 104 Ausländer: SPIEGEL-Gespräch mit Innenminister Otto Schily über die Kritik an seiner Asylpolitik ..................................... 107 Gewalt: Nach dem Tod einer Lehrerin in Meißen warnen Experten vor Panik .......... 112 Erziehungswissenschaftler Wolfgang Melzer über Ursachen und Folgen der Bluttat........... 113 Auch Schröders Treueschwur „Nur mit euch“ beruhigt die Grünen nicht. Die Basis erregt sich über rot-grüne Konfliktthemen wie Rüstungsexporte oder Ökosteuer. Grüne Minister versuchen, die Koalition zusammenzuhalten. Doch die Fraktion hat die Lust an der Partnerschaft verloren. Die zerstrittenen Koalitionäre wollen sich nun wenigstens auf ein Atomausstiegsgesetz einigen. d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 H. KAISER / TRANSPARENT Titel Der Parteispendenskandal – eine neue CDU-Affäre?.......................................... 32 Wie Thyssen die Operation Fuchs einfädelte ........................................................ 40 Justiz: Immer mehr Länder lassen Gefängnisse von Privatfirmen bewachen....... 164 Stars: Erica Jong über die Falle des Ruhms.... 168 100 Tage im Herbst Wende und Ende des SED-Staates (8) „Ich liebe doch alle“ – Die Stasi unterwandert das Reformkabinett .............. 177 Porträt: Hans Modrow .................................... 194 Analyse: Wie die DDR-Wirtschaft zusammenbrach......................................... 198 Ausland AP Menschenmenge vor der Kocatepe-Moschee in Ankara Die Türkei trumpft auf Seiten 206, 210 Der OSZE-Gipfel am Bosporus soll den türkischen Anspruch auf einen Platz in Europa untermauern, sogar Oppositionelle fordern die Aufnahme in die EU. Umgeben von Feinden, muss Ankara aufrüsten, behauptet Verteidigungsminister Çakmakoglu. Panorama: Atomausstieg in Schweden / Neue Löcher bei der BSE-Kontrolle.............. 203 Türkei: Europas ungeliebter Partner ............. 206 Unruhe vor dem OSZE-Treffen..................... 208 Interview mit Verteidigungsminister Çakmakoglu über Ankaras Aufrüstung ......... 210 Russland: Machtkampf der Generäle ........... 214 Jugoslawien: Das süße Leben der Kriegsgewinnler ...................................... 218 Indonesien: Zerbricht das Riesenreich? ....... 224 Südtirol: Unheimlicher Nachbar Haider....... 228 Kuba: Castro sichert seine Macht.................. 232 Brasilien: Interview mit Staatspräsident Cardoso zum Gipfeltreffen in Havanna......... 235 Polen: Rückkehr auf schlesische Güter ......... 238 Zeitgeschichte: Rolf Hochhuth über die jüngsten Enthüllungen zu Pius XII. ......... 246 Israel: Angst vor Millenniums-Anschlägen ... 250 Sport Lust auf alte Zeiten Skispringen: Die großen Pläne von RTL mit Weltmeister Martin Schmitt .................... 254 Fußball: Torhüter Jens Lehmann über Fanproteste und seine angebliche Arroganz ... 260 Seite 299 Wissenschaft • Technik Prisma: Spätschäden durch LeistenbruchOperationen / Roboter als Schnecken-Killer ... 265 Medizin: Tod durch Gentherapie .................. 268 Lebensmitteltechnik: Ein Berliner Forscher löst das Altbrot-Problem ................. 274 Automobile: Sind Ölwechsel überflüssig? ..... 276 Atomenergie: Der Abriss in Greifswald ....... 280 Psychiatrie: Neue Studie über das unterschätzte Volksleiden Depressionen ....... 288 Tiere: Warum hat die Riesenschildkröte George keine Lust auf Sex?........................... 290 AKG Kein Abschied vom Gestern: Historische Romane und Biografien sowie geschichtssatte TV-Movies überfluten zur Jahrtausendwende das Publikum. Im Rückspiegel viel alte Prominenz: Kleopatra und Jeanne d’Arc, Pontius Pilatus und sein Opfer Jesus Christus. Das Geschäft mit der Geschichte dient freilich mehr der Unterhaltung und Erbauung als dem Verstehen der Vergangenheit. Historien-Heldin Kleopatra Die Risiken der Gentherapie Kultur Seite 268 In den USA starb ein junger Freiwilliger bei einem Versuch mit gentechnisch veränderten Viren. Das Medizin-Experiment mit Todesfolge beschäftigt weltweit die Bioforscher: Ist es für einen Einsatz der Gentherapie am Menschen noch zu früh? H. RAUCHENSTEINER Ski-Adler für RTL Seite 254 Mit Martin Schmitt flog vorigen Winter ein neuer Held in die deutschen Herzen. RTL kaufte daraufhin die Übertragungsrechte fürs Skispringen. Der Weltmeister soll Quote machen. Schmitt d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 Szene: Streit um Stockhausens „Licht“-Klänge / Konsaliks Nachlass ............ 293 Ausstellungen: Wolfsburger Schau „German Open“ feiert junge deutsche Kunst ................ 296 Buchmarkt: Boom für historische Romane ... 299 Bestseller..................................................... 302 Fernsehspiele: TV-Spektakel um Jeanne d’Arc und andere Helden der Geschichte...... 306 Intendanten: Der Münchner Staatstheaterchef Eberhard Witt gibt auf ................ 310 Musik: SPIEGEL-Gespräch mit dem Komponisten Pierre Boulez über die Zukunft der Neutöner ................................... 312 Kunst: Die „Perfekte Welt“ des Objektmachers Jason Rhoades in Hamburg............. 320 Pop: Gitarren-Legende Eric Clapton ........... 324 Film: David Cronenbergs „eXistenZ“........... 330 Briefe ............................................................... 8 Impressum .............................................. 14, 332 Leserservice ................................................ 332 Chronik......................................................... 333 Register ....................................................... 334 Personalien .................................................. 336 Hohlspiegel/Rückspiegel............................ 338 7 Briefe „Statt ,Der ausgeplünderte Patient‘ hätte man auch ,Der entmündigte Patient‘ titeln können, der es lernen muss, sich gegen den Diagnose- und Therapiewahn zur Wehr zu setzen.“ Jürgen Schumacher aus Pulheim (Nordrhein-Westfalen) zum Titel „Der ausgeplünderte Patient“ SPIEGEL-Titel 44/1999 Bochum Prof. Dr. Dietrich Grönemeyer Inst. für MikroTherapie, Uni Witten/Herdecke Es ist wahr, dass unser verkrustetes, innovationsfeindliches und von Standesinteressen dominiertes Gesundheitssystem grundlegend reformiert werden muss. Dafür gibt es bei vielen Ärzten weit mehr Bereitschaft, als dies das Feldgeschrei der um ihre Privilegien fürchtenden Verbandsfunktionäre vermuten lässt. Das Gesundheitswesen muss vor allem die Gesundheit erhalten und fördern, statt fast ausschließlich am Kranksein zu verdienen. Immer häufiger treten chronische Vorschädigungen auf, der Sachverständigenrat nennt 40 Millionen Menschen, die in unserem Land davon betroffen sind, so dass die Stufendiagnostik mit ihrer RundumÜberweisung nicht nur immer teurer wird, sondern auch immer häufiger wirkungslos bleibt, weil sie viel zu spät ansetzt. Michael Müller MdB/SPD Niemand beklagt sich über eine Zweiklassengesellschaft beim Auto und fordert einen Mercedes für jeden Bürger. Auch hier sterben vermutlich viele früher, da sie bei einem Unfall in einem Kleinwagen und nicht in einer großen Limousine saßen. Erst wenn solche Denkweise im Gesundheitswesen selbstverständlich wird, wird man nicht mehr den diskriminierenden Begriff Zweiklassengesellschaft verwenden. Sondern es wird Menschen geben, die sich hohe Ausgaben für die Erhaltung der Gesundheit leisten können, und solche, die es nicht können oder wollen. Es kann nicht Aufgabe der Gesellschaft sein, jedem einen „GesundheitsMercedes“ zur Verfügung zu stellen. Wegberg (Nordrh.-Westf.) Prof. Jürgen Bruns Selbstbeteiligung ist das Zauberwort. Runter mit den Kassenbeiträgen und 20-prozentige Selbstbeteiligung des Patienten an jeder Arztrechnung. Effizienter geht’s nicht. Der Patient erkennt die Kostenstruktur. Er kontrolliert die Rechnung des Arztes und schaut der Pharmaindustrie auf die Finger. Konstanz 8 Die rasante Entwicklung der Hightech-Medizin sowie der damit verbundenen Kostenexplosion wurde von uns Ärzten gar nicht so recht wahrgenommen und kostenmäßig entsprechend gegengesteuert. Jetzt, wo es zu spät ist, will man auf Kosten der Grundversorgung die Hightech-Medizin finanzieren, und das klappt nicht. Mit einer einzigen Organtransplantation einschließlich Nebenkosten, die es vor 20 Jahren so gut wie nicht gab, könnte man hunderte anderer Operationen finanzieren. Hamburg Gesundheit ist für viele sehr wichtig. Ist es also falsch, wenn das Gesundheitswesen bei uns mit etwa zehn Prozent einen großen Anteil am Bruttosozialprodukt hat? Was spricht also dagegen, das Gesundheitswesen positiv als eine der wenigen arbeitsplatzintensiven Wachstumsbranchen zu betrachten? Weinheim (Bad.-Württ.) Dr. W. Wetzel Dr. med. Udo Fuchs H. MORGAN / SPL / AGENTUR FOCUS Zauberwort Selbstbeteiligung Nr. 44/1999, Titel: Der ausgeplünderte Patient Berlin novationen zulassen, medizinische Netzwerke und Managementprozesse stärker fördern und sich auch selbst medizinisch und technisch weiterbilden würden. Viele medizinische Innovationen und Therapieansätze wie die Endoskopie kommen gerade aus Deutschland. Schulmedizin und Naturheilkunde, Hightech- und Umweltmedizin, Gesundheitsförderung und medikamentöse Therapie oder Telemedizin sind kein Widerspruch, sondern ergänzen sich hervorragend in einer zukünftigen Medizin. Daher: keine Gesundheitsreform jetzt, sondern Konsensdiskussion aller Beteiligten. Mit reißerischer Diffamierung der Ärzteschaft wird der notwendige Umschwung nicht gelingen; es sind doch auch die Supermärkte nicht die Ursache für die Fettsucht der Deutschen. Hamburg Dr. med. Dierk Abele Patient im Positron-Emissions-Tomografen Schulmedizin und unkonventio- Finanzierung auf Kosten der Grundversorgung nelle oder psychosoziale Therapieansätze müssen nicht im Widerspruch Grundsätzlich belebt Konkurrenzdruck das stehen, wie sich auch innovative Hightech- Geschäft, doch was die Krankenkassen darVerfahren in Diagnose und Therapie inte- aus gemacht haben, kostet uns Millionen. grieren lassen. Die Rolle des Hausarztes als Neu errichtete BKKs schnappen den übriFamilienarzt und „Freund des Patienten“ gen Kassenarten auf Grund ihres niedrigen muss ebenso wieder entdeckt werden, wie Beitrages die Kundschaft weg. Diese Beidie Optimierungsreserven des bestehenden tragssätze sind nur zu erreichen, wenn man Systems ausgeschöpft werden müssen. Zwar sich die gesunden Risiken (junge, gut ververdoppelt sich das medizinische Wissen dienende Arbeitnehmer) herauspickt. Älalle fünf Jahre, neue Erkenntnisse werden tere Menschen bleiben lieber beim Altgeaber viel zu langsam in der Praxis wirk- wohnten – wie AOK, BEK oder DAK. Die sam. Eine Kostenexplosion würde nicht statt- Versichertenstruktur dieser Kassen überalfinden, wenn Politik und Krankenkassen tert, die Folge sind noch höhere Beiträge. einschließlich der Verbandsfunktionäre In- Niederelbert (Rheinl.-Pf.) Jürgen Mettler Vor 50 Jahren der spiegel vom 17. November 1949 Gründung der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ Skeptisches Missvergnügen des Herausgeberteams. Bei der New Yorker Bürgermeisterwahl siegt der Demokrat William O’Dwyer Das hundertste Oberhaupt in der Geschichte der Weltstadt. Uno debattiert über die Zukunft Jerusalems Für drei Religionen eine heilige Stadt. Publizistische Hitlerverehrung in Südafrika Der Regierung ist die Pressefreiheit heilig. Der britische Dichter Somerset Maugham veröffentlicht sein „Notebook“ Großer Erfolg in England. Entdeckung des Cortisons Nach einer Woche beschwerdefrei. Diese Artikel sind im Internet abzurufen unter http://www.spiegel.de Titel: Die Schauspielerin Elisabeth Flickenschildt Claus E. Dürke d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite M. TRIPPEL / OSTKREUZ Warum nehmen wir nicht die Leistungspflicht für alle mit Urlaubsreisen verbundenen Unfälle aus dem System? Private Reiseunfallversicherungen sind preiswert abzuschließen! Es ist doch nicht einzusehen, dass jemand, der teure Skiausrüstung kaufen kann und fürs Skifahren 2500 Mark ausgibt, die Behandlung seines Knochenbruchs von der Solidargemeinschaft bezahlt bekommt. Westfamilie Tzschentke in Brieselang Hoffnungen, Wünsche, Träume Mühlenbeck (Brandenburg) Heinz-Gerd Reese Es liegt doch nahe, die Kosten durch systematische Prophylaxe zu senken, was sich vermutlich auch finanziell positiv auswirken würde. Andere Länder haben in dieser Hinsicht schon große Erfolge erzielt, zum Beispiel Schweden bei Zahnerkrankungen oder Japan bei Darmkrebs. Ich kann ein hämisches Grinsen leider nicht unterdrücken: Es ist seit fast zehn Jahren ein Herzenswunsch von mir, dass es den Wessis eines Tages so gehen wird wie zehntausenden Ossis, die seit dem Fall der Mauer mit großen Hoffnungen, Wünschen und Träumen ihre Heimat verlassen haben, um im Westen neu anzufangen. Karlsruhe Nürnberg Dr. Norbert Wingender Da waren uns die alten Chinesen einige Jahrtausende vor Christus weit voraus: Ärzte wurden fürstlich entlohnt, wenn ihr Patient während eines Zeitabschnitts gesund blieb. Mit jedem Kranksein sank ihr Einkommen bis hin zum Kopfverlust mit dem Tod des Patienten. Das Letzte sollten wir nicht wieder einführen, aber das andere selbstregelnde Werk ist eine echte Reform. Stuttgart Dieter Pillath In Ihrem ehrenwerten Eifer, Missstände des kranken Gesundheitssystems aufzuzeigen, schießen Sie an einigen Stellen über das Ziel hinaus. So sind wir Psychologischen Psychotherapeuten, die seit 1999 gleichberechtigt mit den Ärzten mit den Kassen abrechnen, keineswegs „von der weißen Armee rekrutiert und an die Geldtöpfe gelassen“ worden. Vielmehr wurde eine seit Jahrzehnten bestehende Situation berufsrechtlich umgesetzt. Da die Zahl der bisherigen Vertragsbehandler, der ärztlichen Psychotherapeuten, niemals ausgereicht hat, wurden seit vielen Jahren je nach Region 50 bis 80 Prozent der Psychotherapien von qualifizierten „freischaffenden Psychologen“ durchgeführt, die jedoch jeden einzelnen Fall unter teilweise für die Patienten entwürdigenden Umständen durchsetzen mussten. Durch die nun eingeführte Regelung entstehen dem Öffentlichen Gesundheitssystem also keinerlei Mehrkosten. Hamburg Dipl.-Psych. Mathias Kohrs Dumme Mitbürger gibt es überall Nr. 43/1999, Einheit: Frustrierte Westler verlassen den Osten Es scheint reizvoller zu sein, über Westbürger zu berichten, die in den neuen Ländern gescheitert sind, als darüber, wie sich Westdeutsche – ohne Ossis zu werden – dort eingebracht haben. Es ist schon viel zusammengewachsen, was zusammengehört. Quedlinburg (Sachs.-Anh.) Karsten Knolle CDU-Kreisvorsitzender 12 d e r Lutz Hädrich Wir haben stark kontrastierende Gemeinden im brandenburgischen Umland von Berlin untersucht: einmal Gemeinden, in denen eine streitende lokale Öffentlichkeit mit den Ost-West-Kalamitäten auf produktive und „lernende“ Weise umgeht; dann in der Tat Gemeinden, in denen sich tendenziell kulturelle Schließungen und Abschottungen durchsetzen, mit der Gefahr einer selbstzerstörerischen und kumulativen Verstärkung von Entwicklungshemmnissen. Wenn man nur, wie Sie es tun, den zweiten Gemeindetypus erwähnt und ihn unter „Umschreibung“ von Tendenz- zu Wesensaussagen zur Grundstruktur von brandenburgischen Verhältnissen und Mentalitäten insgesamt verallgemeinert, ergibt sich ersichtlich ein schiefes Bild. Das aber kann nur vorhandene Tendenzen zur Bildung von Gegenmythen auf den Plan rufen. Erkner (Brandenburg) Dr. Ulf Matthiesen Institut für Regionalentw. u. Strukturplanung Dumme Mitbürger gibt es überall, und ich würde gern einmal wissen, wie die Kinder eines rechtschaffenen Türken in München von deutschen Kindern behandelt werden. Die Realität im Osten sieht erheblich anders aus als die von Ihnen als allgemein gültig geschilderten Einzelfälle. Günding (Bayern) Horst H. Goldner Was Frau Tzschentke erzählt, zeigt nur, dass es viele Facetten gibt und Toleranz und Willen zur Nachbarschaft von beiden Seiten gefragt ist. Mehr als die Hälfte der Einwohner von Brieselang kommen inzwischen aus dem Westen, kein Eingesessener glaubt, dass man gegen diese und ihre mitgebrachte Kultur regieren kann. Wegzüge gibt es kaum. Brieselang (Brandenburg) Walter Rosenberg Wenn man in ein anderes Bundesland zieht, weiß man, dass man sich erst mit dem Umfeld vertraut machen muss. Ich habe es bisher immer so gehalten, dass man offen aufeinander zugeht. Schönwalde (Brandenburg) s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 Christel Paul Briefe Doppelbödige Moral Nr. 44/1999, Zwangsarbeiter: Druck auf zahlungsunwillige Firmen DPA Wer in der Zwangsarbeiter-Frage etwas zu seiner Verteidigung unternimmt, hat seinen Stempel weg: Getroffene Hunde bellen eben. Schließlich ist die moralische Dimension dieses von den Nazi-Schergen veranlassten Unrechts so schrecklich, dass jeder Versuch einer Rechtfertigung von vornherein zum Scheitern verurteilt ist. Was also kann man tun? Zahlen, ob zu Recht oder Unrecht, damit man Ruhe hat? Das wäre in unserem Fall nicht nur die einfachste, sondern – wegen der theoretisch nur geringen Anzahl von möglichen Zwangsarbeitern – auch die billigste Lösung. Die Doppelbödigkeit dieser Moral ist aber zu durchsichtig. Auch auf die Gefahr also hin, als „Drückeberger“ dazustehen, versuchen wir dennoch, unseren Erkenntnisstand nicht völlig in den Hintergrund zu drängen: Ob das Konstruktionsbüro Dr. Ing. h. c. F. Porsche KG während der Nazi-Diktatur Zwangsarbeiter beschäftigte, lässt sich heute nicht mehr zweifelsfrei feststellen. Dies überrascht insofern nicht, da in Konstruktionsbüros kein Bedarf am industriemäßigen Einsatz von Zwangsarbeitern Zwangsarbeiter im Automobilwerk (1942) Zahlen, damit man Ruhe hat? bestanden haben kann. Der 74-jährige Pole, der nach eigenen Angaben von März 1942 bis April 1945 zur „Zwangsarbeit“ bei der damaligen Porsche KG eingesetzt war, belegt seinen Anspruch auf Lohnnachzahlung und Schmerzensgeld mit einer AOK-Versicherungskarte. Am 24. November 1999 will das Landgericht in der Klage des Polen gegen die Dr. Ing. h. c. Porsche AG entscheiden. Wir werden das Urteil prüfen und dann überlegen, wie wir weiter verfahren. Stuttgart Anton Hunger Porsche AG Wer entschädigt die verschleppten und zwangsrekrutierten Deutschen, die nach dem 8. Mai 1945 in der Sowjetunion, der Tschechoslowakei, in Polen und Jugoslawien zur Arbeit gezwungen wurden? Für unsere Politiker scheint es auch ein halbes Jahrhundert nach Kriegsende nicht opportun zu sein, diese Frage zu stellen. In Washington haben diese Deutschen keine Lobby. Erkrath (Nordrh.-Westf.) d e r s p i e g e l Dr. Walter Roth 4 6 / 1 9 9 9 Briefe Nürnberg Dr. F. Kleefeld Universität Erlangen P. GINTER / BILDERBERG Als ehemaliger Physikstudent an der Uni Hamburg habe ich am Desy-FortgeschrittenenPraktikum teilnehmen müssen. Dabei blieben mir zwei Vorkommnisse im Gedächtnis haften: Der erste Praktikumsassistent hat uns voller Wissenschaftler im Desy: Bis zu den Grundfragen der Existenz Stolz und Begeisterung von seiner Doktorarbeit erzählt, in der er jahrelang einem unbekannten Teilchen auf der Spur war, bis sich Beneidenswerter Rekord dieses als systematischer Messfehler mit Nr. 44/1999, Debatte: Teilchenforscher Hans Graßmann Teilchencharakter entpuppt hat; auf die über den Ausverkauf der modernen Physik Frage, wann denn die ForschungsergebnisDesy ist eines der leitenden Forschungs- se des Desy in die Praxis umgesetzt werzentren der Welt, sowohl für die Syn- den, hat uns ein anderer Praktikumsassichrotronstrahlung als auch für die Teilchen- stent geantwortet, dies dauere noch vorphysik. Weit davon entfernt, den „Laien aussichtlich circa 60 bis 100 Jahre. für dumm zu verkaufen“, hat Desy ein her- Bremen Carsten Wochnowski vorragendes und erfolgreiches Programm, um die Forschung dem Publikum näher zu In verständlichem Zorn über das Chaosbringen. Ganz im Gegensatz zur Behaup- Geschwafel lässt sich Graßmann leider getung, „Desy liefert nur irrelevante und hen: Trotz Rumlesen in über einem Dutzend langweilige Ergebnisse“, stellen die Ergeb- Büchern wisse er „bis heute nicht, was das nisse von Hera die Basis für unsere heuti- eigentlich sein soll: die Chaostheorie. Ich ge Kenntnis der starken Wechselwirkung glaube, es gibt sie gar nicht“. Die Chaosdar, einer der vier grundlegenden Kräfte theorie, die in den Köpfen vieler Intellekder Welt. tueller spukt, gibt es wohl tatsächlich nicht. Aber Physiker sollten den Spuk dingfest Bristol/Hamburg Prof. Brian Foster machen, statt mit Unwissen zu kokettieren. University of Bristol/Desy Nürnberg In der Welt der Elementarteilchen geht es nicht so einfach zu, wie Herr Graßmann dem Laien vorgaukelt. Sie wird beherrscht von den Gesetzen der Quantenphysik und Relativitätstheorie. Begriffe und Vorstellungen aus der gewohnten makroskopischen Welt kann man auf sie deshalb nicht so ohne weiteres übertragen. Eine daraus resultierende Unanschaulichkeit der Geschehnisse im subatomaren Bereich haben die Physiker nicht erfunden, sondern gefunden und als Naturgesetz erkannt. Ungeachtet dieser Schwierigkeiten ist die Elementarteilchenphysik aber auf dem Weg, zu den Grundfragen der Existenz von Raum, Zeit und Materie vorzudringen. München Prof. Gerd W. Buschhorn Max-Planck-Institut für Physik Neben der Suche nach neuen Erkenntnissen besteht eine, wenn nicht die Hauptaufgabe von Großforschungsanlagen wie dem Cern und dem Desy in der internationalen Zusammenarbeit, Aus- und Weiterbildung von Wissenschaftlern und der Weiterentwicklung und Erforschung von 14 Ich wage zu behaupten, dass unsere romanischen Nachbarn das unserer deutschen „Scheiße“ entsprechende Wort öfter als wir verwenden. Und dass im Deutschen im Gegensatz zu den romanischen Sprachen asexuell geschimpft würde, sehe ich auch nicht so. In Baden-Württemberg etwa gibt es so schöne Kraftausdrücke wie „Seggl“, was das männliche Geschlechtsorgan bezeichnet, oder „Heilandssack“ (sexuell und religiös!) oder „Hundsfott“. Auch im Hochdeutschen kennt man „Wichser“, „Fotze“, „Ficker“, „Dummficker“. Die Aufforderung „Fick dich ins Knie“ ist bei Kids nicht beliebt, der Trend geht zu Geringschätzungen wie „Behinderter“, „Krüppel“, „Spastiker“, nicht, wie Professor Gauger behauptet, vom Exkrementellen zum Sexuellen. Das haben die Kids schon hinter sich. Berlin Dipl.-Psych. Charlotte Schneller Dass die Deutschen zum Schimpfen vor allem die Sphäre des Exkrementellen verwenden, wird tendenziell als zurückgeblieben charakterisiert. Aber ist der „nicht zurückgebliebene“ Trend wirklich so fortschrittlich? Vielleicht hat ja die Sexualität in Deutschland noch einen höheren Stel- Dr. Werner Schneider Das Desy hält einen beneidenswerten Forschungsrekord. Da sind zum Beispiel die Entdeckung des Gluons zu nennen und seine wichtige Arbeit im Bereich der Synchrotronstrahlung. Aber nichts davon hat Hans Graßmann erwähnt. Genf (Schweiz) Jonathan R. Ellis Cern VERANTWORTLICHER REDAKTEUR dieser Ausgabe für Panorama, Grüne, Berlin, Titel (S. 32), Sozialdemokraten, Innere Sicherheit, Kriminalität, Hauptstadt (S. 80), Markenschutz, Stasi, Gewalt, Justiz (S. 164): Ulrich Schwarz; für Koalition, SPD, Hauptstadt (S. 62), Justiz (S. 84), Bundeshaushalt, Ausländer: Michael Schmidt-Klingenberg; für Titel (S. 40), Trends, Geld, Telekommunikation, Währungsfonds, Software, Unterhaltungselektronik, Steuern, Marketing, Journalisten, Regisseure, Karrieren: Armin Mahler; für Fernsehen, Fotografen, Szene, Stars, Zeitgeschichte, Ausstellungen, Buchmarkt, Bestseller, Fernsehspiele, Intendanten, Musik, Kunst, Pop: Dr. Mathias Schreiber; für Körperkult: Cordt Schnibben; für 100 Tage im Herbst: Jochen Bölsche; für Panorama Ausland, Türkei, Russland, Jugoslawien, Indonesien, Südtirol, Kuba, Brasilien, Israel: Hans Hoyng; für Skispringen, Fußball: Alfred Weinzierl; für Prisma, Medizin, Lebensmitteltechnik, Automobile, Atomenergie, Psychiatrie, Tiere, Chronik: Olaf Stampf; für die übrigen Beiträge: die Verfasser; für Briefe, Register, Personalien, Hohlspiegel, Rückspiegel: Dr. Manfred Weber; für Titelbild: Stefan Kiefer; für Layout: Rainer Sennewald; für Hausmitteilung: Hans-Ulrich Stoldt; Chef vom Dienst: Thomas Schäfer (sämtlich Brandstwiete 19, 20457 Hamburg) TITELBILD: Foto AFP d e r Fortschrittlicher Trend? Nr. 44/1999, Sprache: Interview mit dem Schimpfwort-Experten Hans-Martin Gauger über die Kunst des Fluchens in Europa K. SCHÖNE / ZEITENSPIEGEL Schlüsseltechnologien. Insofern ist der hierbei vergleichsweise geringe (!) Einsatz von Steuergeldern durchaus gerechtfertigt. s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 Sprachforscher Gauger Das haben die Kids schon hinter sich lenwert und wird deshalb nicht so häufig zum Schimpfen verwendet. Erkrath (Nordrh.-Westf.) Georg Schanz Die Aussage, dass im Deutschen das Wort für das weibliche Geschlechtsorgan kein (gängiges) Schimpfwort war, stimmt nicht. Seit dem 15. Jahrhundert wird das vulgäre „Fotze“ als Schimpfwort benutzt. „Arschficker“, „Knieficker“ und „Katzenficker“ sind mir seit den dreißiger Jahren bekannt. Hamburg Friedrich W. Usbeck Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe – bitte mit Anschrift und Telefonnummer – gekürzt zu veröffentlichen. Einer Teilauflage dieser Ausgabe ist eine Postkarte der Firma Toshiba, Neuss, und eine Postkarte der Deutschen Telekom, Bonn, beigeklebt. Einer Teilauflage liegen Beilagen der Firmen Giordano, D’Alba, Handelsblatt Wi/Wo, Düsseldorf, Universal Music, Hamburg, und Hoffmann & Campe/SPIEGEL Almanach, Hamburg, bei. Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Deutschland Mosdorf M. EBNER J. EIS LS PRESS Panorama Metzger Merz GESUNDHEIT P. WINANDY / JOKER Patienten sollen mehr draufzahlen W ährend Bundesgesundheitsministerin Andrea Fischer (Bündnis 90/Die Grünen) ihr Gesundheitsgesetz zerstückelt, um eine Blockade der Herzkatheter-Untersuchung (in Aachen) von der Union regierten Länder im Bundesrat zu umgehen, legen Experten neue Vorschläge auf den Tisch. Am Das Papier steht im krassen Widerspruch zu den Vorstellungen Dienstag dieser Woche will die „Reformkommission Soziale der Gesundheitsministerin. So fordert die Kommission, getraMarktwirtschaft“ in Berlin ein 31 Seiten starkes Papier vor- gen von mehreren Stiftungen, eine stärkere Kostenbeteiligung stellen, in dem sie eine grundlegende Änderung der gesetzli- der Patienten, wenn sie zum Arzt gehen oder sich Medikamente verschreiben lassen. chen Krankenversicherung fordert. Dabei bringt schon die Liste der Autoren die Ministerin in Be- Die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung seien drängnis. Zu den Mitgliedern der Reformkommission zählen auf eine Basisversorgung zu beschränken. Weiterhin schlägt die nicht nur Wirtschaftswissenschaftler, sondern auch eine unge- Kommission vor, die Versicherungsbeiträge von Löhnen und wöhnliche Bundestagskoalition: CDU-Finanzexperte Friedrich Gehältern abzukoppeln. Stattdessen solle künftig das gesamte Merz, SPD-Wirtschaftsstaatssekretär Siegmar Mosdorf und steuerpflichtige Einkommen eines Familienhaushaltes als Bemessungsgrundlage dienen. Grünen-Haushaltsexperte Oswald Metzger. Bahnmillionen verschlampt? T hüringens Ex-Innenminister Willibald Böck (CDU) soll als Geschäftsführer bei einem Tochterunternehmen der Bahn einen Millionenschaden verursacht haben und muss mit juristischen Konsequenzen rechnen. Böck, der erst vor zwei Wochen wieder Vorsitzender des Innenausschusses im Thüringer Landtag wurde, war von April 1993 bis Dezember 1996 Geschäftsführer der Projekt-Entwicklung-Kirchmöser GmbH (PEK) in Brandenburg. Die Aufgabe der Gesellschaft war die Vermarktung der flächenmäßig größten Liegenschaft der Deutschen Bahn (rund 6,5 Millionen Quadratmeter) in Kirchmöser. Nachdem die Eisenbahnimmobilien-Management GmbH (EIM) die PEK Ende 1996 übernommen hatte, wurden dort zahlreiche Ungereimtheiten festgestellt. Angesichts der „erheblichen Verfehlungen der Geschäftsführung der PEK“ wies das Bundesverkehrsministe- rium daraufhin die EIM an, von Böck Schadensersatz zu verlangen. Vergangene Woche reichte das Unternehmen beim Landgericht im thüringischen Mühlhausen eine Klage in Höhe von 3,8 Millionen Mark gegen den Unionspolitiker ein. Böck soll unter anderem Zahlungen an Firmen oder Personen veranlasst haben, die nicht nachvollziehbar gewesen seien. Zudem soll er Unternehmen zu überhöhten Preisen beschäftigt und für sich unrechtmäßig Übernachtungspauschalen kassiert haben. Böck weist die Vorwürfe zurück: „Das ist wirklich eine Luftnummer.“ BERLIN/TEHERAN Angst vor Agenten-Prozess D F. SOMMARIVA A F FÄ R E N Böck d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 ie Bundesanwaltschaft hat Anklage erhoben gegen Hamid Chorsand, einen mutmaßlichen Agenten des iranischen Geheimdienstes. Er soll in Deutschland die Exil-Gruppe „Nationaler Widerstandsrat Iran“ ausspioniert haben. In diesem Monat soll der Prozess vor dem 1. Strafsenat des Berliner Kammergerichts beginnen. Die Richter gelten als ausgewiesene Experten. Sie verhandelten den Fall Mykonos und bezichtigten die Teheraner Staatsspitze dabei, die Ermordung von vier Oppositionellen in Berlin in Auftrag gegeben zu haben. Die Bundesregierung fürchtet nun, dass der Prozess in Berlin die Aussichten auf eine baldige Freilassung des im Iran inhaftierten deutschen Geschäftsmanns Helmut Hofer verschlechtern könnte. Deshalb hatte das Justizministerium die Verhaftung von Chorsand monatelang verzögert. 17 Panorama TA N K S T E L L E N Defekte Rüssel ie Umweltminister von Bund und Ländern wollen die Mineralölkonzerne notfalls dazu zwingen, bis Ende 2002 alle Zapfsäulen in Deutschland mit kostspieligen Störmeldern aufzurüsten, die sofort jeden Defekt an den so genannten Saugrüsseln anzeigen. Die Rüssel sollen beim Tanken vor giftigen Dämpfen schützen. Nach Erkenntnissen des Zapfhahn mit Absaugvorrichtung Staatlichen Amtes für Umweltschutz in Duisburg sind sie aber bei jeder dritten Zapfsäule defekt. Die Umwelt- ralölwirtschaftsverband die Nachrüstkosten. Die Unternehmen Ressortleiter haben der Industrie das Ultimatum gestellt, sich wollen die Störmelder deshalb nur bei neuen Tankanlagen einspätestens im März verbindlich zur Modernisierung bis Ende bauen. Das sei vertretbar, schließlich würden die rund 90 000 Zapfsäulen an den 15 000 deutschen Tankstellen alle fünf bis 2002 zu verpflichten. Schon vom kommenden Juli an sollen die Tankwarte einmal im Monat alle Saugrüssel manuell prüfen. zehn Jahre ausgetauscht. Bis dahin reiche die Handkontrolle Sollten sich die Konzerne weigern, wollen die Minister ihre For- durch das Personal aus. derungen mit einer Änderung der Bundesimmissionsschutz- Dagegen sagt der baden-württembergische Umweltminister Ulrich Müller (CDU), seine Geduld mit der Mineralölwirtschaft verordnung durchsetzen. Noch allerdings mag die Industrie nicht klein beigeben: Auf sei „am Ende“: „Ich erwarte, dass sie endlich technische Löetwa 100 Millionen Mark taxiert Gerhard Sasse vom Mine- sungen präsentiert, die auch funktionieren.“ Entschädigung aus der Streikkasse? V E. ANDRES or der neuen Verhandlungsrunde zur Entschädigung ehemaliger NSZwangsarbeiter will Bundeswirtschaftsminister Werner Müller die Industrie Zwangsarbeiterin, Offiziere (1944) V E R FA S S U N G S S C H U T Z Amtshilfe für Schwerin M ecklenburg-Vorpommerns Innenministerium hat in Niedersachsen um Amtshilfe gebeten, weil der eigene Verfassungsschutz aus dem Ruder zu laufen scheint. In einem Prozess vor dem Amtsgericht Wismar wegen eines Brandanschlags hat sich einer der Angeklagten als V-Mann der Schweriner 18 weiter in die Pflicht nehmen. Sein Vorschlag: Die deutschen Arbeitgeberverbände sollten ihre für Arbeitskämpfe gebildeten Reserven auflösen und damit ihren bislang zugesagten Entschädigungsanteil von vier Milliarden Mark erhöhen. Müller:„Das Geld wird doch für Streiks gar nicht mehr gebraucht.“ In der Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft indes wachsen Zweifel, ob es bei der Verhandlung zu einer Einigung kommt. Nachdem deren Sprecher Wolfgang Gibowski in der vergangenen Woche ein höheres Angebot abgelehnt hatte, denken die beteiligten Kreditinstitute nach Angaben eines Frankfurter Bankers nun für den Fall des Scheiterns über Alternativen nach. Um weitere Imageschäden abzuwenden, wollten sie notfalls einen eigenen Fonds gründen. „Sonst“, so der Bankenvertreter, „schieben uns die Amerikaner jeden Tag vor laufenden Kameras einen halb toten Zwangsarbeiter in den Gerichtssaal.“ Geheimen geoutet. V-Mann „Martin“ war Kreisvorsitzender der NPD in Wismar. Er soll während seiner Tätigkeit für die Ermittler in mehrere Straftaten, darunter einen versuchten Totschlag, verwickelt gewesen sein. Um die Vorgänge aufzuklären, hat Innenminister Gottfried Timm (SPD) nun aus Niedersachsen den Geheimdienstkontrolleur Neidhard Fuchs angefordert, einen Referatsleiter im hannoverschen Innenministerium. d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 A LT E R S S I C H E R U N G Westerwelle für Zwangsrente P arteiübergreifend gewinnt die Idee von Sozialminister Walter Riester (SPD), die Arbeitnehmer neben der gesetzlichen Rentenversicherung noch zu privater Vorsorge zu verpflichten, neue Anhänger. Jetzt befürwortet auch FDPGeneralsekretär Guido Westerwelle die Zwangsrente. Eine Lösung auf freiwilliger Basis, bei der die Arbeitnehmer mit Steuererleichterungen zum Abschluss beispielsweise von Lebensversicherungen bewegt werden sollen, hält der Liberale „nicht für fair“. Der Grund: „Diejenigen, die vorgesorgt haben, müssen dann hinterher doch wieder die anderen, die ihr Geld lieber ausgegeben haben, mit ihren Steuerzahlungen durchziehen.“ Sein liberales Credo und ein Plädoyer für eine Zwangsrente schlössen sich deshalb keineswegs aus. REUTERS NS-UNRECHT DPA D Westerwelle Deutschland „Heilsamer Druck“ Der Magdeburger Professor für Politikwissenschaft Wolfgang Renzsch, 49, über das Urteil des Bundesverfassungsgerichts SPIEGEL: Herr Professor Renzsch, nach dem Urteil aus Karlsruhe fühlen sich alle Ministerpräsidenten als Sieger. Wer hat sich denn nun wirklich durchgesetzt? Renzsch: Es gibt keine unmittelbaren Sieger. Die Klageländer Bayern, BadenWürttemberg und Hessen hatten mit ihren zentralen Anliegen keinen Erfolg. Etwa mit der Forderung, künftig von ihren überdurchschnittlichen Steuereinnahmen nicht mehr als die Hälfte an die ärmeren Länder abgeben zu müssen. Davon findet sich in dem Urteil nichts. SPIEGEL: Vor allem die neuRenzsch en Länder befürchteten, im Streit um die Steuermilliarden die Verlierer zu sein. Sind sie das? Renzsch: Nein, im Gegenteil, das Gericht hat die Förderung der neuen Länder für verfassungskonform erklärt. SPIEGEL: Die Karlsruher Richter haben das so genannte Stadtstaatenprivileg in Frage gestellt. Damit könnten Berlin, Hamburg und Bremen bald einige Milliarden fehlen. Gefährdet das Urteil die Existenz der Stadtstaaten? Renzsch: Karlsruhe hat das Stadtstaatenprivileg nicht für verfassungswidrig erklärt. Das Gericht fordert lediglich, die Regelung zu überprüfen. Was sich am Ende für die Stadtstaaten ändert, muss sich noch zeigen. Von einer Neugliederung der Länder ist im Urteil keine Rede. Die Richter haben viele solcher Prüfungsaufträge vergeben. Bund und Länder müssen unbestimmte Rechtsbegriffe konkretisieren und darlegen, welche ihrer Ausgaben notwendig sind und welche nicht. An der Aufgabe haben sich in der Vergangenheit schon einige Kommissionen die Zähne ausgebissen. SPIEGEL: Nun soll das Vorhaben in drei Jahren abgeschlossen sein. Geht das? Renzsch: Ich halte das für schaffbar. Finanzausgleichsfragen sind immer schwierig, weil es ums Eingemachte, ums Geld geht. Aber die Frist, die das Verfassungsgericht nun setzt, kann einen heilsamen Druck ausüben. Die Argumente sind alle ausgetauscht. Bund und Länder müssen sich nun einigen, wenn sie verhindern wollen, dass Karlsruhe ihnen nach Ablauf der Frist die Regularien diktiert. KRANZ / APIX L Ä N D E R F I NA N Z AU S G L E I C H POLIZEI Training gegen Rechnung MOTORBUCH VERLAG D Polizei-Übung zur Geiselbefreiung d e r ie Innenminister der Länder und die Deutsche Lufthansa AG streiten, ob Spezialeinheiten der Polizei weiterhin kostenlos an Flugzeugen des Konzerns üben dürfen. Die Sondereinsatzkommandos trainieren an Lufthansa-Maschinen seit Jahren vor allem den Kampf gegen Flugzeugentführer. „Nur eine ständige Übungsmöglichkeit“, argumentieren die Ministerien, „gewährleistet die hohe Professionalität der Polizeikräfte bei diesen besonders schwierigen Einsatzlagen.“ Anders als in der Vergangenheit will die Lufthansa Technik AG dafür jetzt jeweils Mietgebühren in Rechnung stellen. Trotz einer Intervention des sächsischen Innenministers Klaus Hardraht bei Lufthansa-Chef Jürgen Weber will das Unternehmen nicht nachgeben. Weber argumentiert, die Airline habe den Polizeien „zuletzt ein Entgelt vorgeschlagen, das unter dem Selbstkostenpreis liegt“. Die Innenminister fürchten, dass die Übungen aus Kostengründen erheblich reduziert werden müssen. s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 19 Panorama Deutschland Am Rande 20 Ultimate Fighting (in der Ukraine) S H OW- K Ä M P F E Bis zum Tod D er nordrhein-westfälische Innenminister Fritz Behrens (SPD) will seine Länder-Amtskollegen dazu bringen, gemeinsam gegen Extremkämpfe – das so genannte Ultimate Fighting – vorzugehen. Schaukämpfe, bei denen außer Beißen, Kratzen und Augenstechen alles erlaubt ist, müssten Behörden POLIZEI Korrupte Abschlepper H essische Ermittler sind einem weit verzweigten Korruptionsgeflecht bei der Autobahnpolizei auf der Spur. Die Beamten sollen Vorteile von Abschleppunternehmern angenommen haben – die Palette reicht von Zuwendungen an die Gemeinschaftskassen der Polizeistationen bis zu großzügigen Rabatten bei Wartung und Reparatur von Privatwagen. Als Gegenleistung sollen die Polizisten die Unternehmen bei Unfällen und Pannen bevorzugt mit Aufträgen versorgt haben. Eine Sonderkommission des Hessischen Landeskriminalamts (LKA) ist bei verdeckten Ermittlungen und Razzien nahezu flächendeckend fündig geworden. Nach LKA-Angaben stehen in Hessen derzeit dutzende Beamte und Unternehmer im Verdacht, an den krummen Geschäften beteiligt zu sein. Schwerpunkt ist der Raum Frankfurt. Die für die dortige Autobahnpolizei zuständige Staatsanwaltschaft Offenbach hat in einem Fall bereits Anklage erhoben. „Bis Anfang nächsten Jahres“, sagt der Offenbacher d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 Oberstaatsanwalt Alexander Stahlecker, „werden gegen acht bis zehn Beamte sowie vier oder fünf Unternehmer Anklagen oder Strafbefehle folgen.“ Nachgefragt Erbschleicher Staat Die Bundesregierung will Erben stärker belasten. Besonders Immobilien sollen höher besteuert werden. Was meinen Sie? Erbschaften sollten stärker besteuert werden Erben zahlen heute schon genug Steuern GE SA M T Ein un ko te mm r2 e 00 n 0 Ein Ma üb ko rk Ma er m * rk* 50 me 00 n Hat die Türkei eigentlich schon die Lizenz zum Nachbau von deutschen Springerstiefeln? Hat sie nicht? Na dann wird es aber Zeit: Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, dem Frieden zu dienen, kann der Bundessicherheitsrat jetzt getrost die Probe-Lieferung eines Springerstiefels an den Bosporus abnicken. Nach Jahrzehnten, in denen jeder als Schuft galt, der in seinem Schaft steckte, hat das Verwaltungsgericht Leipzig am vergangenen Mittwoch den Nationalisten-Stiefel vorerst rehabilitiert. Das Tragen von Springerstiefeln ist demnach primär ein Menschenrecht – und nur sekundär dazu bestimmt, Menschenrechte mit Füßen zu treten, befanden die Richter. Geklagt hatte der freiheitlich-national gesinnte Marcel H., nachdem ihm städtische Bedienstete außer seinen Stiefeln auch noch die modischen Accessoires Baseball-Schläger, Eisenkette und Messer abgenommen hatten. Nach Auffassung der Richter hatte die Stadt damit in unzulässiger Weise in das Selbstdarstellungsrecht des Neonazis eingegriffen. Außerdem lag seine letzte räuberische Erpressung inklusive Körperverletzung schon mehr als ein Jahr zurück, Messer und Baseball-Schläger waren damals gar nicht zum Einsatz gekommen. Mithin sei die Wiederholungsgefahr gering. Diese Leitsätze eröffnen anderen umstrittenen Exportgütern neue Chancen: Warum nicht mal mit einem Leo-Panzer durch die Fußgängerzonen von Köln oder Hamburg fahren? Einfach die Munition nicht verballern, außerdem darauf hinweisen, dass schon seit 54 Jahren kein Panzer mehr in deutschen Städten herumgeschossen hat. Vor Leipziger Richtern müsste man damit durchkommen. AP Absatz-Kick künftig „wirksam unterbinden“, heißt es in einem NRWPapier, das auf der nächsten Innenministerkonferenz am Donnerstag in Görlitz beraten werden soll. Mit seiner Initiative will Behrens verhindern, dass solche Schaukämpfe nach regionalen Veranstaltungsverboten einfach in andere Bundesländer verlegt werden. Danach sollen sich die Innenminister unter anderem frühzeitig über geplante Extremkämpfe unterrichten, um sie – zum Beispiel unter Androhung von Zwangsgeld – untersagen zu lassen. Bei den Kämpfen würden schwerwiegende Verletzungen bis hin zum Tod „letztlich in Kauf genommen“. Bei einem Turnier im niederrheinischen Kleve traten im Januar drei Berliner gegeneinander an, die unter anderem mit einer Eisenkette und einem stacheldrahtumwickelten Baseballschläger bewaffnet waren. 15 14 22 72 73 73 *monatliches Haushaltsnettoeinkommen Emnid-Umfrage für den SPIEGEL vom 9. und 10. Oktober; rund 1000 Befragte; an 100 fehlende Prozent: weiß nicht Werbeseite Werbeseite T. GRABKA / ACTION PRESS Koalitionspartner Fischer, Schröder: „Angenehme und sympathische Zusammenarbeit“ Grüne Trittin, Müller*: Misstrauen in KOA L I T I O N Die Lust verloren Rot und Grün haben sich auseinander gelebt, doch auseinander gehen können sie nicht. Die Grünen müssen ihren Untergang fürchten, die Sozialdemokraten den Machtverlust. Immerhin einigte sich die Regierung nun auf ein Atomausstiegsgesetz. F ,8 4 –1 –2 ,0 –5 % % ,0 –1 ,3 % % % 4 6 / 1 9 9 9 ,1 s p i e g e l + –4 d e r % ,0 * Am vergangenen Donnerstag bei der Abstimmung über die Ökosteuer in Berlin. 2% 9, + –4 4% 22 Und während Schröder und die grüne Sozialdemokraten einfach nur das Bundestags-Vizepräsidentin Antje Vollmer Chaos? vorvergangene Woche in China – am BeiVom Kanzler hatten alle Treueschwüre spiel der Menschenrechte – vorführten, wie im Ohr. Dem grünen Fraktionschef Rezzo gut und reibungslos das rot-grüne Bündnis Schlauch hatte er unlängst versichert, „wie auch funktionieren kann, stolperten die angenehm und sympathisch“ er die ZuFraktionen in Berlin von einer Krise in die sammenarbeit empfinde. „Nur mit euch“, andere – Gesundheitsreform, Ökosteuer, beruhigte er auch die grüne Wehrexpertin Asyl, Waffenlieferungen. Angelika Beer, die ihn heftig wegen des Als sich die Spitzen der Grünen-Fraktion mit FiIm roten Bereich Verluste/Gewinne der Regierungsparteien scher und Trittin am Montag voriger Woche zu 7. Februar 6. Juni 5. September 5. September einer Krisenrunde trafen, Hessen Bremen Saarland Brandenburg brachte jeder andere Fragen ein. Aber keiner hatte verlässliche Antworten. Will der Kanzler die Koalition an die Wand fahren, um die Unionschristen für ein Reformbündnis zu gewinnen? Spielt Rudolf Scharping, der selbst / ins Kanzleramt drängt, ein unberechenbares Spiel? Oder regiert bei den 1, inster und entschlossen kamen Gerhard Schröder und Jürgen Trittin aus dem Beratungszimmer. Gemeinsam schienen SPD-Kanzler und grüner Umweltminister dem feindlichen Rest der Welt trotzen zu wollen. In unauffälligem Abstand folgten Außenminister Joschka Fischer und Kanzleramtschef Frank Steinmeier, nicht minder ernst und entschieden. Wieder einmal hatten sich am Donnerstag vergangener Woche die Oberen der rotgrünen Regierungskoalition im Berliner Reichstag zu einem improvisierten Krisengespräch getroffen. Alle Beteiligten verließen es mit der Überzeugung, dass sich niemand mehr Illusionen über die Situation mache. „Zusammenstehen oder untergehen“ heißt die Devise bei den Grünen. SPD-Chef Schröder versichert: „Joschka und ich haben die Verantwortung für eine ganze Generation. Und das ziehen wir jetzt durch.“ Die Zweifel an der Entschlossenheit der Sozialdemokraten, das Bündnis mit den Grünen bis zum Ende der Legislaturperiode durchzuhalten, hatten sich bei den Grünen in den vergangenen zwei Wochen bis zur Panik verdichtet. Gerüchte über eine Große Koalition der SPD mit der Union machten die Runde. Deutschland der öffentlich an der Steuerreform herumgenörgelt hatte. Zu einer Standpauke mussten auch zwei weitere Übeltäter antreten: Die Steuerfachfrau Christine Scheel hatte über die Erbschaftsteuerpläne gemäkelt, Angelika Beer über die Rüstungsexporte. Es sei schließlich unmöglich, von der SPD Koalitionstreue einzufordern, wurden beide abgemahnt, wenn in den eigenen Reihen Disziplinlosigkeit herrsche. Um ein „Riesen-Halliho“ (Kerstin Müller) zu vermeiden, hat auch kaum ein Grüner die Asyl-Fehde mit dem Innenminister so richtig aufgegriffen. „Man kennt Schily“, so Müller kühl, „und uns auch.“ Schlauch gab die stolze Parole aus: „Wir sind die Preußen der Koalition.“ Doch es zerrt an den Nerven der regierenden Grünen, dass sie sich zwischen zwei Fronten sehen. Kaum haben sie die Opposition im eigenen Lager zum Schweigen gebracht, geistern Irrläufer bei den Sozis über die Berliner Bühne – keiner so wild wie Scharping. Der „marodiert“ zur Zeit gänzlich außer Kontrolle, sorgen sich die Grünen. Offenbar habe Scharping nur noch das Ziel im Auge, Chef einer Großen Koalition zu werden (siehe Seite 26). Kanzler Schröder hatte auf seine kumpelige Art bei vielen Grünen durchaus die Treueschwüre Rüstungsgeschäfts mit der Türkei angegriffen hatte. Und doch mochte der kleine Partner all den Freundschaftsbekundungen nicht so recht trauen. Nur zu gut erinnerten sich Fischer und Trittin an den Niedergang der rot-grünen Koalitionen in Niedersachsen und Hessen. Ausstiegsszenarien werden durchgespielt: Noch vor den Wahlen in Schleswig-Holstein? Oder erst im Mai nach einem Wahldebakel in Nordrhein-Westfalen? All diese Planspiele überschatten Zweifel, ob die Grünen solche Eskapaden als Partei überhaupt überleben können. Zumal nach den Wahlniederlagen der vergangenen Monate der Unmut an der eigenen Basis immer größer wird (siehe Seite 24). Der Panzerexport versetzte die Parteiversammlungen in Aufruhr. Enervierend wirkte der Streit um die steuerliche Förderung umweltfreundlicher Gaskraftwerke. bei Landtagswahlen 1999 in Prozentpunkten 12. September 19. Sept. 10. Oktober Thüringen Sachsen Berlin ,2 –1 ,9 –5 ,2 –9 % % % ,3 –3 ,5 –1 ,0 –4 % % % d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 H.-J. ELWENSPOEK M. URBAN Als Provokation ließ es sich nur begreifen, dass Innenminister Otto Schily plötzlich das Asyl-Grundrecht in Frage stellte (siehe SPIEGEL-Gespräch Seite 107). Von Woche zu Woche empfanden die grünen Koalitionäre die Zumutungen des großen Partners als unerträglicher. Ständig erleben die Abgeordneten in den Ausschüssen den Kleinkrieg mit den Genossen. Die Partner sind müde und erschöpft. „Wir haben uns auseinander gelebt“, glaubt der grüne Parteigeschäftsführer Reinhard Bütikofer, „das ist nicht mehr sexy.“ Nach dem Kosovo-Krieg schien die Beziehung der Spitzenleute so gefestigt, dass in beiden Fraktionen die Hoffnung wuchs, die Anfangsprobleme dieses schwierigen Bündnisses seien überwunden. Aber das Gegenteil war der Fall – nach einem Jahr ist von Aufbruch in eine neue Ära nur wenig zu spüren. Mit ihren Reformideen ist die einstige Anti-Partei, seit sie selbst die Macht übernommen hat, nicht nur im Regierungsgetriebe stecken geblieben. Sie droht daran zu zerbrechen. Kleinlaut erklärten die Fraktionsführer Kerstin Müller und Schlauch in ihrer Bilanz nach einem Jahr, die notwendigen Reformen seien immerhin „begonnen“.Aber Mut macht das nicht. Während Joschka Fischer letzte Woche im Fernsehen noch den Vorrat an Gemeinsamkeiten mit der SPD pries, („eindeutig ja“), reden seine Freunde in der Fraktion längst von einer „Sinnkrise“. Man müsse „professioneller zu Werke gehen“, fordert der Außenminister, der selbst fast aus dem Stand den Wechsel ins neue Amt schaffte. Für ihn ist „das vielstimmige Hin und Her das eigentliche Problem“. In der vorvergangenen Woche zeigte sich dieses Problem mal wieder besonders deutlich. Erst nach zahlreichen internen Krisengesprächen und einem Telefonat mit Schröder in China konnten sich Grüne und Genossen über die endgültige Fassung der Kabinettsvorlage zu den Gaskraftwerken einigen, obwohl die zuvor in der Koalitionsrunde, vom Kabinett und mit dem Kanzler persönlich abgestimmt gewesen war. „Wollt ihr das killen?“, fragte Schlauch entgeistert die widerspenstigen SPD-Unterhändler. SPD-Fraktionschef Peter Struck habe seine 297 Abgeordneten nicht im Griff, klagt Schlauch. Absprachen seien oft nicht verbindlich. „Du hast eine leichte Fraktion“, entschuldigte sich Struck dann immer, „ich krieg das nicht durch.“ Letztendlich schaffte es das Ökosteuer-Gesetz dann doch vergangene Woche durch den Bundestag. Durchaus selbstkritisch räumen die Grünen ein, dass auch sie zum Wirrwarr beitragen. Am vergangenen Montag zitierten Schlauch und Müller nicht nur den eigenen Finanzexperten Oswald Metzger zu sich, Atomkraftwerk (in Stade) Einstieg in den Ausstieg? Sympathie gewonnen. Aber nach der knallharten Entscheidung für den Panzer-Export („Ich nehme das auf meine Kappe“) ist der Blick nüchterner geworden. Ihm fehle das strategische Denken, heißt es jetzt: „Er fährt im Nebel auf kurze Sicht.“ Die Hoffnung, dass Schröder und seine SPD auf dem bevorstehenden Parteitag eine neue Balance finden könnten, ist bei den Grünen nicht sehr ausgeprägt. Die Zweifel sind groß, dass der Regierungschef einen eigenen dritten Weg zwischen Tony Blair und Lionel Jospin finden könnte. Ihm fehle ein eigenes Wertesystem, fürchten sie, und daher auch die Überzeugungskraft und Autorität, den tiefen sozialdemokratischen Grundkonflikt zu lösen. Immerhin glauben jene Grüne, die direkt mit Schröder zu tun haben, der Kanzler habe inzwischen eingesehen, dass der Wech23 Deutschland sel zur Großen Koalition die SPD zerreißen würde. Deshalb lasse er sich nun endlich emotional auf das rot-grüne Bündnis ein. Verstanden habe er auch, dass er mit dem Türkei-Geschäft die Grünen in ihrer tiefen Zerrissenheit wegen des Kosovo-Krieges überfordere, meint Außenminister Fischer. Dennoch rückt Schröder von seiner grundsätzlich exportfreudigen Position nicht ab. Die Grünen bereiteten ihm große Schwierigkeiten, klagte er intern, „weil sie jeden Industrie-Export verhindern wollen“. Neue Konflikte sind also absehbar. Sie können, fürchten die Grünen, schon deshalb nicht ausbleiben, weil es dem Kanzler bisweilen auch an außenpolitischer Sensibilität fehle. So sei der Wunsch der Saudis nach dem Panzer Leo 2 und nach einem „Erd-Erkundungssatelliten“, der auch für Spionagezwecke geeignet ist, schon aus Rücksicht auf die Israelis unerfüllbar. Widerstand formiert sich in der Berliner Öko-Fraktion auch gegen ein Bündel von Hermes-Krediten, die zur Finanzierung von Kernkraftwerken und umweltzerstörenden Staudämmen in China und anderen Ländern der Dritten Welt gedacht sind (siehe Seite 98). Derzeit werden die Kredit-Anfragen im Umweltministerium aufgezählt. Fest steht schon jetzt, dass von den Deutschen keinesfalls eine Exportgarantie für einen Atommeiler in der Türkei zu erwarten ist. „Aber wir können nicht alles verhindern“, sagt einer der Fraktionsexperten voraus, „wir müssen die Maßstäbe klären.“ Vergangenen Donnerstag fanden die rotgrünen Spitzen wenigstens bei ihrem Dauer-Konfliktthema Atomausstieg zu einer gemeinsamen Haltung. Der Kanzler, Außenminister Fischer und Umweltminister Jürgen Trittin verständigten sich über die Eckpunkte eines Ausstiegsgesetzes. Für den Fall, dass mit der Industrie bis zum Jahresende kein Konsens gefunden wird, will die Koalition dann in eigener Regie das Abschalten regeln. Fischer hatte unmissverständlich klar gemacht, dass ohne Einigung beim Atom die Koalition am Ende sei. Unter diesem Druck wies der Kanzler die zerstrittenen Abteilungsleiter von Wirtschafts-, Umwelt-, Justizund Innenministerium an, in der kommenden Woche ein Papier mit den Grundzügen eines Ausstiegsgesetzes zu formulieren. Kern soll die nachträgliche Befristung der Betriebserlaubnis von Atomkraftwerken sein. Noch in diesem Monat soll eine Staatssekretärsrunde das Papier absegnen – dann wird noch einmal zur Konsensrunde im Kanzleramt mit den Atombossen gebeten. Die Absprache hat bei Rot-Grün inzwischen Seltenheitswert: Sie entspricht genau dem Koalitionsvertrag. Paul Lersch Risiko Rüstungsexport Umstrittene Waffenwünsche an die rot-grüne Regierung Türkei Die Entscheidung über den Verkauf von 1000 Kampfpanzern „Leopard 2A5“ steht 2001 an. Großes Interesse besteht zudem an 150 „Leopard 1“-Panzern aus Beständen der Bundeswehr, am Flak-Panzer „Gepard“, Transportpanzer „Fuchs“ und an einer Fertigungsanlage für 5,6 mm Munition. Bei diesen möglichen Exportgeschäften ist der Status im Bundessicherheitsrat (BSR) unklar. Bis zu 145 Kampfhubschrauber „Tiger“ stehen auf der türkischen Einkaufsliste; für ein Aufklärungsflugzeug aus deutsch-spanischer Gemeinschaftsproduktion wird ein Angebot gewünscht. Einer Lieferung von sechs bis zehn Minenjagdbooten hat der BSR im Oktober bereits zugestimmt. GRÜNE Gegen die Wand Die Basis der Ökopartei ist verunsichert: Sie weiß nicht mehr, wofür ihre Vorleute im Bundestag noch stehen. Z wanzig Kilogramm hat Joschka verloren, ist alt geworden, uralt. Aus tieftraurigen Augen starrt ein immermüder Blick. Doch am schlimmsten ist, dass der schwarze Neufundländer ein Frauchen hat, das den Namen Joschka nicht mehr ausstehen kann. „Als ich vor 14 Jahren den Welpen bekommen habe, fand ich Joschka Fischer toll“, erinnert sich Sonja Rothweiler. Also nannte sie das Tier Joschka, obwohl es ein Weibchen war. „Heute würde der Hund anders heißen.“ Rothweiler ist bekennende Grüne, unten an der Basis, in Pfinztal in Nordbaden. Ende der achtziger Jahre trat die Hausfrau der Partei bei, die „damals noch so unkonventionell war“. Im Golfkrieg stand sie noch selbst mit den „Stoppt den Krieg“Plakaten an der Kreuzung. Dass der Kosovo-Einsatz ohne Uno-Beschluss, aber mit grüner Unterstützung stattfand, hat ihr Grundvertrauen in die Partei erschüttert: „Vom ,Streitbar, Ehrlich, Unentbehrlich‘ stimmt heute höchstens noch das letzte Wort.“ Auch wenn Joschka der Hund nichts für Joschka den Politiker kann, verstärkt jeder Auf dem türkischen Wunschzettel stehen weiter: die Lieferung von 500 000 Gewehren sowie 1500 Granatwerfern. Hierüber hat der BSR allerdings noch keine Entscheidung getroffen. Kampfhubschrauber „Tiger“ Rumänien Georgien soll 110 Gefechtsköpfe für die Panzerabwehrrakete „Milan“ erhalten. Der BSR soll die Lieferung genehmigt haben. bekam kostenlos ein Minenräumboot. Südkorea Griechenland würde gern den „Leopard 2“ kaufen und verhandelt bereits mit dem deutschen Hersteller. Vereinigte Arabische Emirate erhalten 30 veraltete Jagdbomber „Alpha-Jet“ und zwei gebrauchte U-Boote der „Klasse 206“. Thailand Chile bekommt 4000 Schuss Munition für den Kampfpanzer „Leopard“ geliefert. 24 kann zwölf Hubschrauber von Eurocopter kaufen. Der BSR soll sich mit dem Geschäft befasst haben. Südafrika möchte gern drei U-Boote der „Klasse 209“ kaufen. Die Lieferung soll 2003 beginnen. Das Kabinett hat zugestimmt. Malaysia hat Waffenelektronik für sechs Patrouillenschiffe gekauft. Die Lieferung beginnt 2003. hat im August 1999 25 Jagdbomber „Alpha-Jet“ erworben und erhält darüber hinaus bis zu fünf Bordkanonen. T. BARTH / ZEITENSPIEGEL A. VARNHORN gegen Truppenübungsplätze, Atomkraftwerke oder die Abschiebung von kurdischen Flüchtlingen austrugen, sind die Zweifel gewachsen. Seit Jahren ficht Benedikt Schirge mit der Bürgerinitiative „Freie Heide“ dafür, dass ein von den Sowjets errichteter Bombenabwurfplatz in Brandenburg nicht von der Bundeswehr genutzt werden darf. Wahlkämpfer Rudolf Scharping versprach in der Ruppiner Heide 1994 als SPDKanzlerkandidat die Auflösung des „Bombodroms“, Joschka Fischer bestärkte 1998 die Hoffnungen der Friedensfreunde. Die Grünen brachten Grüne Parteiversammlung (in Hattersheim): Protest gegen „Verbonzung“ diese Forderung in die Koalitionsverhandlungen ein Ruf nach ihm Frauchens Leiden an der scharenweise davon: In Schleswig-Holstein flüchte– „unser größter politischer Partei. Erfolg“(Schirge). Sie scheiEinem der prominentesten Grünen des ten fast zehn, in Hessen fünf terten am gewendeten Ostens, Hans-Jochen Tschiche, ergeht es Prozent der Gefolgschaft. Scharping. mit den Bündnisgrünen ähnlich wie der Die „Generation der GrüNoch immer erscheinen Frau von der Basis West. Gerade hat der nen-Gründer und Linken“, ein bis zwei grüne Bundessachsen-anhaltinische Landtag in Magde- so der grüne Pressesprecher tagsabgeordnete, wenn die burg seine „besonderen Verdienste um den in Nordrhein-Westfalen, Bürgerinitiative zum ProAufbau der parlamentarischen Demokra- Michael Ortmanns, 23, „vertestmarsch ruft. Doch Schirtie“ gewürdigt: DDR-Oppositioneller, Mit- lässt offenbar die Partei“. ge fragt sich längst: „Kann begründer des Neuen Forums, grüner Frak- Mehr als 1700 Austritte haman als Partei noch für tionschef in Sachsen-Anhalt. Doch an sei- ben die NRW-Grünen in eiKampfeinsätze und gegen nem 70. Geburtstag ist der Theologe mit nem Jahr zu verzeichnen. Übungsplätze sein?“ Ähnden kurzen weißen Haaren und der leisen, Doch im Unterschied zu lich empfindet Dirk Treber, eindringlichen Stimme wieder da, wo er den meisten anderen Lan48, der seit 20 Jahren gegen vor Jahrzehnten begann – in der politi- desverbänden kann Ortmanns auf über 2000 Neu- Grüne Rothweiler, Joschka den Ausbau des Frankfurter schen Diaspora. Flughafens Widerstand leisIm Pfarrhaus von Samswegen, vor des- zugänge verweisen, zumeist sen Eingang ein Trabi und in dessen Gar- Leute, die wie Ortmanns mit den friedens- tet. 38 Bürgerinitiativen engagieren sich derten ein Esel steht, nennt er die Grünen „bis bewegten Alten wenig anfangen können. zeit, um den Bau einer weiteren Betonpiste zur Gesichtslosigkeit unkenntlich“. Koso- Höchstens fünfmal, so der Jung-Grüne, sei nach der Startbahn West zu verhindern. Nur auf die Partei, die im Kampf gegen vo-Krieg, Panzer-Exporte und demnächst er auf einer Demonstration gewesen. Die Flucht der erfahrenen Aktivisten hat den Flughafen in Hessen groß und stark Castor-Transporte – „das verschreckt unseren innersten Kern, so fahren wir voll auf die Arbeit vor Ort fatale Auswirkun- wurde, können sich die Ausbau-Gegner gen. Bei den Europawahlen im Juni wei- nicht mehr verlassen. „Die Grünen zeigen gegen die Wand“. Die ostdeutsche Parteisprecherin Gunda gerte sich die Pfinztaler Basis, Plakate der sich als Wackelpudding“, schimpft Aktivist Röstel, die in jede Kamera die Worte „Mit- Partei zu kleben. „Aus Protest“, so Roth- Treber. Die Niederlage bei der Landtagstelstand, Mittelstand“ plappere, ärgere ihn weiler, „wählten bei uns viele die Tier- wahl im Februar, bei der die Truppe ihres ebenso wie jene West-Grünen, die aus der schutzpartei.“ Bei den Kommunalwahlen einstigen Vormanns Fischer von 11,2 ProPartei eine Volkspartei machen wollten. im Oktober profitierten andere: Eine Un- zent auf 7,2 absackte, sei die Quittung für „Wir schämen uns unseres eigenen The- abhängige Liste, von Ex-Grünen mitge- den Schlingerkurs: „Die Leute wussten gründet, errang 5,2 Prozent, die Grünen einfach nicht mehr, wofür die Partei steht.“ mas – der Ökologie.“ Nur in Anwohnergemeinden beziehen die Im Jahr eins der Regierung Schröder/Fi- stürzten von 20,5 auf 12,5 Prozent. Einer der übergelaufenen Pfinztaler ist Grünen noch eindeutig Anti-Position wie scher ist der Doppelname Bündnis 90/Die Grünen zur Farce geworden. Im Osten be- der erklärte Pazifist Hans Bönisch, 51. Er etwa am vergangenen Dienstag bei einer ginnt sich die Partei aufzulösen. Jeweils sieht die Grünen „in den nächsten Jahren Kreisversammlung in Hattersheim. Treber ist enttäuscht, weil ein Jahr nach rund 500 Mitglieder haben die Bündnis- existenziell bedroht“. Einige seiner ehegrünen nur noch in drei Ost-Landesver- maligen Parteikollegen warnten schon den der Abwahl Helmut Kohls nichts von Aufbänden; in Mecklenburg-Vorpommern so- Landesvorstand: „Setzt sich die Erosion bruch zu spüren sei, und spricht von einer grüner Identität weiter fort, dann heißt es „schleichenden Erosion“ an der demotigar nur noch knapp 400. Vor allem in ihren West-Hochburgen ha- auch für uns alte Grüne: Macht euren vierten Parteibasis. Zu den Versammlungen kämen regelmäßig nur noch halb so viele ben die Ökopaxe seit dem Kosovo-Krieg Scheiß allein!“ Auch in den Bürgerinitiativen, die Seite Leute wie früher, „die Partei verbonzt“. reichlich Kollateralschäden zu registrieren. Ohne die Biergläser auf dem Fußboden Nicht nur die Wähler blieben aus, fast allen an Seite mit der Sonnenblumen-Partei die Landesverbänden laufen die Mitglieder für die Grünen symbolträchtigen Kämpfe würde die Kreisversammlung im nordd e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 25 Deutschland rhein-westfälischen Düren als Zeugniskonferenz im Lehrerzimmer eines Provinzgymnasiums durchgehen. Im Halbkreis aufgestellte Bürostühle, zähe Debatten, angegraute Gestalten: ein Oberlehrertyp mit Lesebrille, ein Alt-Sponti mit Wallehaar und Oberkopfglatze. Nur eine junge Frau, die Pizza aus der Pappschachtel isst, stöhnt: „Mein Gott, muss man das alles so lange diskutieren?“ Die Themen bringen wenig Lustgewinn: Ausbleiben von Spendengeldern nach dem miserablen Ergebnis der NRW-Kommunalwahl im September (von über einer Million Wählerstimmen 1994 blieben nur noch knapp 543 000), Probleme bei der Finanzierung von Büroräumen, Kündigung der Kreisgeschäftsführerin, für deren 15-Stunden-Stelle nun das Geld nicht mehr reicht. Über „frustrierende Wahlergebnisse“ wird lamentiert, über Wut und „Ohnmacht, die sich ausbreitet“, über die Bundespolitik, von der nichts Gutes rüberkomme. Der aus Düsseldorf angereiste Landtagsabgeordnete Jens Petring hat nur schwachen Trost parat: „Das ist in anderen Kreisverbänden auch so.“ Nicht überall sehen grüne Aktivisten nur zu, wie ihre Partei langsam zum Funktionärsclub verkommt. In der grünen Hochburg Berlin-Kreuzberg planen enttäuschte Linke, ihre Hauptstadtorganisation zur Keimzelle einer parteiinternen Revolution zu machen. Wie eine Drohung klingt es, wenn Vorkämpfer Kurt-Dietmar Lingemann erklärt, er werde nicht aus der Partei austreten: „Wir wollen den Landesverband als Gegengewicht zur Bundespolitik aufbauen.“ Druck üben auch die Kernkraftgegner auf die alten Weggefährten aus. Demonstrationen und Blockaden sollen Atomtransporte verhindern, die Jürgen Trittin einst bekämpfte und heute als Umweltminister befürwortet. „Mit den NonsensGesprächen muss auf der Stelle Schluss sein“, fordert die Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg aus Niedersachsen. „Es herrscht Verzweiflung“, klagt ihr Sprecher Wolfgang Ehmke, „und ich fürchte, dass sich der ganze Frust beim nächsten Castor-Transport entladen wird.“ Sollten die Grünen in Berlin so weitermachen wie bisher, will der stellvertretende Landrat Kurt Herzog eine „größere Austrittsaktion“ initiieren. Noch hofft er auf die Wirkung von Protestmärschen nach altem Muster. Mit Treckern, Bussen und Sonderzügen rückten am vergangenen Sonnabend hunderte Kernkraftgegner aus Niedersachsen den Regierenden in Berlin auf den Pelz. Doch im Unterschied zu früheren Jahren sind es die eigenen Leute, gegen die sie demonstrierten. 26 Lohn der Leiden Seine Treueschwüre klingen wie Kriegserklärungen – Verteidigungsminister Scharping übt sich in tückischer Loyalität zu Kanzler Schröder. Von Hajo Schumacher I m Berliner Reichstag herrscht der tägliche Ernstfall. Weil er seine Abgeordneten wie üblich nicht im Griff hat, lässt SPD-Fraktionschef Peter Struck bei der PDS um Stimmen für die Ökosteuer ersuchen. In der Parlamentskantine kaut Finanzminister Hans Eichel missmutig am Tagesgericht – serbisches Reisfleisch zu 3 Mark 50. Abends zuvor hat NRW-Ministerpräsident und Kanzler-Freund Wolfgang Clement verkündet, er trage die Ökosteuer nicht mit. Zugleich fahndet Gerhard Schröder mit den grünen Ministern Jürgen Trittin und Joschka Fischer fieberhaft nach rot-grünen Projekten, die dem Wähler bis Weihnachten wie Erfolge erscheinen könnten. Nur einer sitzt bestens gelaunt im hinteren Eck der Reichstags-Cafeteria. Krise? Welche Krise? „Als ob wir in Deutschland tief im Jammertal leben würden.“ Ach wo. Was dem Land fehlt, ist Führung. Mit jedem Satz dem Wehrressort entwachsend, sprudelt aus Rudolf Scharping zwei Cola und sechs Marlboro lang heraus, wie Deutschland zu retten ist. Mit „Stetigkeit und Konzepten“, mit aufrechten Kerlen und ewigen Lebensweisheiten: „Ich mache Politik nicht für ’ne Schlagzeile. Mein Handeln gilt Menschen.“ Das ist natürlich keine Kritik am Kanzler, den stützt er nach Kräften. Andererseits führt er selbst ja auch nicht schlecht, zum Beispiel die Bundeswehr, „wo ich Verantwortung für 450 000 Menschen trage. Man muss die Leute motivieren, sie ernst neh- men.“ Wer tut das? Scharping! Und wer nicht? Bedeutungsvolle Pause. Dann: „Regieren, das ist eine gewaltige Chance, eine wunderschöne Aufgabe. Aber immer diese Kleinmütigkeit …“ Klar, dass er sich den Job zutraut. Das muss man machen wie Willy Brandt. Wer es morgen gut haben will, muss heute Reformen machen, hat das SPD-Idol geknarzt, und dass die Deutschen stolz sein sollen auf ihr Land. „Ich bin stolz auf dieses faszinierende Land“, bekräftigt Scharping sicherheitshalber, obwohl er Deutschland eigentlich noch ein bisschen böse sein müsste. Denn es hat ihn 1994 nicht zum Kanzler gewählt. Aber Scharping kann verzeihen. Schließlich sind ja auch ihm Fehler unterlaufen: „Ich dachte, dass mein Verhalten aus sich selbst heraus spricht.“ Das aber haben die Deutschen missverstanden damals, als sie „Gründlichkeit mit Langsamkeit verwechselt haben und Ernsthaftigkeit mit Humorlosigkeit“. Inzwischen hat das Volk gelernt. Dass einer mit der doppelten Bürde von „Verteidigungsminister und Sozialdemokrat in den Meinungsumfragen vorn liegt“, das beweist doch, „was möglich ist“ für Politiker, die sich wirklich reinhängen. „Anmut sparet nicht noch Mühe, Leidenschaft nicht noch Verstand, dass ein gutes Deutschland blühe wie ein andres gutes Land.“ Brechts Kinderhymne zitiert er gern auf Parteitagen, aber als Versatzstück einer Regierungserklärung taugte sie auch. Viel- Verteidigungsminister Scharping: „Anmut sparet nicht noch Mühe“ BMVG Stefan Berg, Jürgen Dahlkamp, Dietmar Pieper, Andrea Stuppe SPD Abgewählter Parteichef Scharping (1995)* „Mannheim ist verarbeitet“ leicht braucht man die bald, schließlich „wird es jede Woche schwerer, die Vertrauenskrise zu reparieren“. Mal ganz nebenbei: „In den Umfragen bin ich als Einziger nach dem KosovoKrieg kaum gefallen“; Schröder dagegen rapide, und Fischer ist gerade dabei. Warum? „Fehler über Fehler“. Wessen? Gern würde er klarer, aber das geht nicht, weil er loyal ist, „auch wenn es mich innerlich manchmal zerreißt“. Scharping hat die Kunstform der unangreifbaren Niedermache, eine Mischung aus hohem Ton und Tücke, perfektioniert. Spricht der SPD-Vize von „fehlenden Grundlinien“, meint er Schröder, fordert er „ein klares Konzept“, erzählt er von sich. „Nach 33 Jahren Politik“ weiß er natürlich, dass die besorgten Appelle an Parteivolk und Vaterland jene Krise perpetuieren, die er so gern beendet sähe. Was dem Stichler Scharping Doppeldeutiges entfährt, kann der Formalist Scharping als „allgemeine Kritik“ deklarieren, der Genosse Scharping als „Sorge um die SPD“. Die Motive sind edel, ganz ehrlich: „Wer bei Rudolf Scharping die ‚second thoughts‘ vermutet, der tut mir Unrecht.“ Scharping hat doch keine Hintergedanken. Auf einer „Reißzwecke im Hintern noch herumrutschen“ – nicht sein Stil. Aber Fakt ist dennoch, „dass die alte Regierung bei diesem wirtschaftlichen Aufschwung, dem größten nach der Einheit, Tag und Nacht Erfolgsmeldungen verbreitet hätte. Aber wir gönnen der Opposition ihre opportunistische Haltung“. Seine Kritik am Erscheinungsbild der Regierung und der verwirrten Partei habe aber mit dem Regierungs- und Parteichef rein gar nichts zu tun. Das haben diese Medien wieder mal völlig falsch verstehen wollen. Was sich tatsächlich hinter dem Gestus von Ehrlichkeit und Loyalität verbirgt, ist selbst langjährigen Vertrauten ein Rätsel. Was Scharping wohin treibt, verrät er nicht mal im engsten Kreis. Entweder, mutmaßt * Auf dem Mannheimer Parteitag mit Herta DäublerGmelin (l.) und Johannes Rau (r.). d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 (Hände ruhen) und „Zielbewusstsein“ (Doppelschlag, zweistufig vertikal ausgeführt) – kurz: Scharping. Die Geste kommt gut, vor allem im Fernsehen. Deswegen hat er auch kurz zuvor im Plenum eine Hand auf Schröders Rücken gelegt und mit der anderen ein paar Karateschläge vollführt. Solche Mätzchen macht er natürlich nicht, damit es im Fernsehen so aussieht, als zeige er dem Kanzler, wo’s langgeht. Obwohl er es weiß. „Die Deutschen wollen Stetigkeit und Zuverlässigkeit.“ Meint er Schröder? Oder den HerrnKaiser-von-der-Hamburg-Mannheimer-Typ, der vertraute Kohlsche Harmlosigkeit signalisiert? Wie der biederplumpe Ludwigshafener war Scharping stets das bevorzugte Opfer von Lästerern. Sein hölzerner Gang, sein emotionsloser Ton, die stieren, zuweilen quälend langen Blicke DPA C. SHIRLEY / SIGNUM einer, „ist er zu wie eine Auster – oder er weiß es selbst nicht“. Auf jeden Fall glaubt er an seine moralische Legitimation für höchste Jobs. Er war immer Opfer, nie Täter. Immer ging es um die Sache, nie um ihn selbst. Aufs Kanzleramt hat er also einen natürlichen Anspruch. Aber der Amtsinhaber muss keine Angst haben: „Gerhard Schröder und ich, wir reden offen und vertrauensvoll miteinander.“ Und es hilft. „Meine Hinweise beginnen zu tragen“, sagt der Könnte-Kanzler knapp. Manchmal regiert er sogar mit. Wie neulich in der Koalitionsrunde, als ihm Schröder einen Text rüberschob, er ein paar Anmerkungen machte und der Kanzler anerkennend nickte. Wie offen und vertrauensvoll reden Männer miteinander, die sich seit Jahren in die Beine treten? Das Problem der zum Duett geschrumpften einstigen Troika war stets ihre Ähnlichkeit mit einem Windhundrennen: Jeder der drei wollte beweisen, dass er siegen kann.Wichtig war Kanzler-Werden, nicht Kanzler-Sein. Das Spiel ist noch immer nicht aus. Frieden in der SPD ist wohl erst, wenn nur noch einer übrig ist. Der Beginn dieses jahrelangen Showdowns hieß Mannheim. Doch davon will Scharping nichts wissen: „Wer sich von schlechten Erfahrungen beherrschen lässt anstatt von Hoffnungen leiten, der sollte mit der Politik aufhören.“ Ein Scharping lässt sich nicht unterkriegen. Nicht mal im Sommer 1995, als Schröder praktisch täglich seine Verachtung bekundete, bis Oskar Lafontaine den Waidwunden auf dem dramatischen Parteitag von Mannheim nur noch umpusten musste. Dass der Gedemütigte sich mit dem VizeVorsitz beschied und sich fortan als vorbildlicher Parteisoldat gab, hat ihm bei den Genossen unendlichen Kredit verschafft. „Mannheim ist verarbeitet“, behauptet Scharping, „und wenn es hochkommt, dann auf ermutigende Weise.“ Im kollektiven Gedächtnis der SPD ist ihm die Rolle des Märtyrers sicher. Seit Lafontaines Abgang quält die SPD das schlechte Gewissen wegen der Meuchelei noch mehr. Und er schürt es oft und listig: „Die SPD ist eine wunderbare Partei – die hat das Herz ihrer führenden Leute verdient.“ Was auch umgekehrt gilt – für ihn zumindest. Aber keine Sentimentalitäten jetzt, es geht um die Zukunft: „Niklas Luhmann hat geschrieben: Vertrauen ist ein Mechanismus zur Reduktion sozialer Komplexität. In dieser Regierung muss es doch Leute geben, die diese Komplexität sehen und umsetzen.“ Und das tut vor allem einer. „Klarheit“ (vertikale Handkante), „Souveränität“, (horizontale Handkante), „Konzentration“ Rivalen Scharping, Schröder „Wir reden offen und vertrauensvoll“ ins Nichts, der ganze Habitus des grenzgängerischen Wunderlings, aber auch diese urdeutsche Zähigkeit. Der Radrennfahrer weiß um den LotharMatthäus-Effekt, der schon Kohl zu Gute kam: Wer lange genug gegen alle Gemeinheiten anrackert, den gewinnen die Deutschen doch noch lieb. Leiden lohnt sich – wenn man die Partei nicht vergisst. „Einmal fragte Helmut Schmidt: ‚Wie kann man das hohe Ansehen des Kanzlers auf die SPD übertragen?‘ Sagt Willy Brandt: ‚Ganz einfach: Die SPD muss gut über dich reden. Das tut sie. Aber du müsstest auch gut über die SPD reden …‘“ Klare Analogie: Schröder ist Schmidt, Scharping ist Brandt. Einer wurde sozialdemokratischer Weltstar, der andere gibt die „Zeit“ heraus. Kanzler waren beide. Und was plant Scharping für den SPDParteitag in gut drei Wochen? „Schröder muss gestärkt da raus gehen. Es darf auf keinen Fall der Eindruck entstehen, dass ich als Chef der Antragskommission den Parteivorsitzenden korrigiere.“ Natürlich nicht. Scharping lacht seltsam. Da naht ein Mitarbeiter. „So, Rudolf, jetzt müssen wir wieder ein bisschen regieren.“ Scharping strahlt und strebt ins Plenum: „Dann machen wir das jetzt mal.“ ™ 27 Deutschland DPA Ob Diepgen wohl „ein Problem mit der neuen Rolle Berlins im wieder vereinigten Deutschland“ habe, fragte der Berliner „Tagesspiegel“. Die „taz“ hat erkannt: „Diepgens Auftreten leidet unter der schwindenden Souveränität seines Amtes“, und verlieh ihm den Titel „Regierende Leberwurst“. Auch dem Kanzleramt bereitet der Berliner Regierungschef zunehmend Probleme. Als „ärgerlich und lästig“ kamen dort Diepgens unablässige Versuche an, bei der Dekadenfeier zum 9. November stets im rechten Licht zu strahlen. Der Bürgermeister hatte seinen Stab in den Tagen vor dem Festakt „fast in den Wahnsinn“ getrieben, wie ein gequälter Mitarbeiter berichtet. Obgleich eine gemeinsame Arbeitsgruppe aus Bundes- und Staatsbediensteten seit nahezu einem Jahr das Großereignis vorbereitet hatte, warf Diepgen die Planungen mit seinen Sonderwünschen immer wieder um. Aufgeregt hätten Senatsmitarbeiter immer neue Programmabläufe erstellt, „bis nichts mehr passte“. Am Wichtigsten, erzählt ein Betroffener, „war die Frage, ob und wie es der Regierende Bürgermeister schafft, gemeinsam mit dem Bundeskanzler anzukommen und auf das Podium zu steigen“. Zur Verleihung der Berliner Ehrenbürgerwürde an George Bush im Roten Rathaus vergaß das Stadtoberhaupt, Schröder eine Einladung zukommen zu lassen. Obwohl den Kanzler die Tagespolitik ohnehin am Kommen gehindert hätte – er traf sich in Paris mit den Kollegen Jospin und Blair –, bewertete das Kanzleramt die Nichteinladung als „ziemlich unangemessen“. Als geradezu „kleinkariert“ wurde Diepgens Fehlen bei der Feierstunde zum Fall der Mauer am 9. November im Bundestag wahrgenommen. Er hatte seine Stellvertreterin, Finanzsenatorin Annette Fugmann-Heesing (SPD), geschickt. Der in Regierungskreisen vermutete Grund: Der Regierende Bürgermeister durfte im Reichstag nicht reden. Bei der Jubelparty am Brandenburger Tor am gleichen Abend dürfte sich Diepgen wohl ein letztes Mal gleichberechtigt mit Schröder im Scheinwerferlicht der Weltöffentlichkeit präsentiert haben. Der RockBarde Udo Lindenberg sprach dem Politiker Mut zu: „… schreib die Gesetze neu/und bleibe nur dir selber treu/der Crazyman geht mit lockerem Gang/untern grünen Linden lang“. Jubiläumsgäste Kohl, Bush, Gorbatschow, Gastgeber Diepgen (2. v. r.): Letztes Gefecht BERLIN Hase und Igel Der Regierende Bürgermeister, zum Fest des Mauerfalls noch in Jubelpose, gerät auf der Bühne Berlin immer mehr zur zweiten Besetzung. D er „Junge aus dem Wedding“ wirkt an diesem Tag, als sei er einer der Glücklichsten der Welt. Eberhard Diepgen darf sich für einige Minuten vom Mantel der Geschichte umwehen lassen. Vom Balkon des Roten Rathauses winken die einst mächtigsten Männer ihrer Zeit, George Bush und Michail Gorbatschow – und Berlins Regierender Bürgermeister steht auf gleicher Augenhöhe. Am Tag nach den offiziellen Feiern zum zehnten Jahrestag des Mauerfalls sonnen sich die ehemaligen Staatsgrößen aus den USA und der UdSSR, flankiert von ExKanzler Helmut Kohl – vom Protokoll entsprechend ihrer Namensinitialen kurz „KGB“ getauft –, erfreut im spärlichen Applaus. Und im Kreis der Politrentner führt der Mann, der nach insgesamt 14 Jahren Amtszeit so tut, als gehöre ihm die Stadt allein, sein letztes Gefecht gegen das Abgleiten in die Bedeutungslosigkeit. Den staatsmännischen Überbau durch die Altvorderen Gorbatschow und Bush bekamen die Veranstalter der Wende-Feier praktisch kostenlos. Der Amerikaner und der Russe waren wegen der Dezenniumsfeier seit langem als Gäste des AxelSpringer-Verlags nach Berlin gebeten worden, zusammen mit Helmut Kohl. Anteilige 28 Kosten übernahm offenbar auch der Getränkekonzern Coca-Cola, der mit Bush als besonderem Ehrengast aus Anlass des Mauerfall-Jubiläums im Hotel Adlon feierte. Seitdem Deutschland von Berlin aus regiert wird, reduziert sich Diepgens Rolle unaufhaltsam auf das Normalmaß eines Schultheiss. Amtsvorgänger Walter Momper durfte im Oval Office des Weißen Hauses noch mit einem amtierenden US-Präsidenten über die Perspektiven der einstigen Frontstadt diskutieren. Nachfolger Diepgen dagegen tanzt mit zehnjährigen „Mauerfallkindern“ im Rathaus um eine Riesentorte oder macht die Honneurs bei der Verleihung des „Goldenen Lenkrads“. Beim Wettlauf um Macht und Aufmerksamkeit in der neuen Metropole geht es dem Regierenden dabei immer häufiger wie Meister Lampe in der Parabel vom Hasen und dem Igel: Kanzler Gerhard Schröder ist stets früher da. Ob bei der Eröffnung des neuen BMW-Konzernbüros, dem Richtfest der Alten Nationalgalerie oder einem öffentlichen Bundeswehrgelöbnis – der Bürgermeister musste ins zweite Glied zurück. Der inzwischen neben Bernhard Vogel (Thüringen) dienstälteste deutsche Regierungschef wehrt sich auf subtile Art gegen die Machterosion: War er bisher stolz farblos („Blässe ist mein Markenzeichen“), verlegt Eberhard Diepgen sich neuerdings aufs Scherzen. Im sensiblen Streit mit den sich immer noch als Besatzer gerierenden Amerikanern um die Sonderwünsche beim Botschaftsbau am Brandenburger Tor witzelte der Christdemokrat, vielleicht könne man ja neben der Diplomatenburg noch eine McDonald’s-Filiale am Pariser Platz bauen. Der US-Botschafter schäumte. d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 Wolfgang Bayer, Steffen Winter Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Titel Thyssen-Panzer „Fuchs“ bei der Verladung: Kollektive Gedächtnislücken bei den Christdemokraten Goldgräber in Kriegszeiten Der Skandal um die Millionenspende des Waffenhändlers Schreiber an die Union könnte sich zu einer Staatsaffäre auswachsen. Der Verdacht erhärtet sich: Das Geld beförderte offenbar den Verkauf von Panzern an Saudi-Arabien. Ist Politik in Deutschland käuflich? D er eine ließ sich feiern. Er genoss vergangene Woche die Huldigungen als Kanzler der Einheit. Im Bundestag sprach er am zehnten Jahrestag des Mauerfalls, abends dinierte Helmut Kohl, 69, mit den früheren Präsidenten der Supermächte, George Bush und Michail Gorbatschow. Der andere war schon wieder auf Akquisitionstour. Walther Leisler Kiep, 73, beackerte die amerikanische Westküste. Gemeinsam mit Beamten aus dem Außenund dem Wirtschaftsministerium sollte der Boden für neue Investitionen deutscher Firmen bereitet werden. Am vergangenen Mittwoch, der rastlose Lobbyist und seine Helfer hatten gerade die Filiale des Bran32 chenriesen Siemens in Sacramento besichtigt, erwog Kiep ernsthaft, die Reise abzubrechen. Die Nachrichten aus der Heimat klangen ziemlich ernst. Während der Mann, der als CDU-Schatzmeister unter dem Parteivorsitzenden Kohl 21 Jahre für die Geldbeschaffung zuständig war, schon mal die schnellsten Rückflugmöglichkeiten sondierte, versammelten sich im Berliner Reichstag die Bundestagsabgeordneten. Es galt, ein finsteres Kapitel aus der gemeinsamen Vergangenheit des ParteiPatriarchen und seines Kassenwarts zu debattieren: die Frage, ob im System Kohl politische Entscheidungen käuflich waren. Er fühle sich „wie in einem schlechten Krimi“, gab der SPD-Abgeordnete Frank d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 Hofmann, ein ehemaliger Zielfahnder aus dem Bundeskriminalamt, zu Protokoll. Und der Grüne Christian Ströbele, von Beruf Anwalt, machte „eine neue Dimension der Parteienkorruptheit“ aus. Der CDU-Ehrenvorsitzende Kohl war im Parlament erst gar nicht erschienen. Für die Union musste der Justiziar Andreas Schmidt ran. Zur Aufklärung konnte er nichts beitragen, der rot-grünen Regierung warf er vor, „durch Gerüchte und Unterstellungen von ihrer desaströsen Politik abzulenken“. Noch immer kann oder will die CDU nicht erklären, warum der bayerische Waffenhändler Karlheinz Schreiber 1991 Kiep und dem Kohl-Vertrauten Horst Weyrauch J. H. DARCHINGER Der neue Parteichef Wolfgang Schäuble und seine Generalsekretärin Angela Merkel gaben sich zwar weniger patzig und gelobten „rückhaltlose Aufklärung“ – aber sie wirkten, als würden sie die Affäre am liebsten nach alter KohlManier einfach aussitzen wollen. Die misstrauische Merkel („Alles was ich bisher gehört habe, erstaunt mich auf das Äußerste“) begann schon mal vorsichtig mit einer Absetzbewegung: „Die heutige Parteiführung war damals nicht die amtierende Parteiführung.“ Aber auch jene, die mit Kohl damals schon dabei waren, erinnern sich an nichts. Volker Rühe, zur Spendenzeit Generalsekretär, verweist darauf, dass ihm „die Schatzmeisterei nie unterstanden“ habe. Kieps direkte Nachfolgerin Brigitte Baumeister, Schatzmeisterin vom 26. Oktober 1992 bis Herbst vergangenen Jahres, beteuert: „Ich habe von dieser Million nichts gewusst.“ Und der heutige Schatzmeister Matthias Wissmann beklagt, „aus den entscheidenden Jahren“ gebe es „keine Unterlagen mehr“. Vielleicht sind es weder kollektive Gedächtnislücken noch fehlende Akten, vielleicht mangelt es nur am Aufklärungswillen. Jedenfalls existiert in den Unterlagen ein Brief Kieps an einen seiner verdienten Mitarbeiter, dem er einen Teil der Million letztlich ausgezahlt haben will. Auf Papier mit offiziellem Briefkopf („Der Bundesschatzmeister der CDU“) kündigte Kiep am 16. Oktober 1992 seinem langjährigen Generalbevollmächtigten Uwe Lüthje den Geldsegen an. Lüthje, einst ein mächtiger Mann im Konrad-Adenauer-Haus, der Zentrale der Union, hatte zusammen mit Kiep in der Flick-Affäre wegen Beihilfe zur Steuerhinterziehung auf der Anklagebank des Düsseldorfer Landgerichts gesessen. Beide kamen am Ende ohne Verurteilung davon. Der Brief spricht dafür, dass es sich bei der Zahlung kaum um einen Alleingang Kieps, wie die CDU vergangene Woche gebetsmühlenartig wiederholte, gehandelt hat, schon gar nicht um eine GeheimOperation. In dem Schreiben heißt es in schönster Offenheit: M. DARCHINGER einen Koffer mit einer Million Mark zukommen ließ. Der Verdacht, es sei Schmiergeld für das Zustandekommen eines umstrittenen Panzer-Deals mit SaudiArabien gewesen, verstärkte sich in der vergangenen Woche noch einmal. Und die CDU geriet schwer unter Druck. Ihre Version, von der anrüchigen Spende nie gehört zu haben, ist kaum glaubwürdig. Das zunächst auf einem CDUAnderkonto geparkte Geld wurde von Kiep ganz offiziell in seiner Eigenschaft als Schatzmeister der Partei an verdiente CDU-Männer verteilt. Die Sonderzahlungen wurden dann über das Gehaltskonto eines CDU-Angestellten und das Geschäftskonto eines CDU-Beraters abgewickelt. Und sicher ist auch, dass Schreiber, der sich als Lobbyist um die Ausfuhrgenehmigung für 36 „Fuchs“-Panzer aus der Waffenschmiede Thyssen bemüht hatte, CDU-Schatzmeister Kiep (1980) Kiep einspannte. Der sollte auf die Treffen „13 Uhr 3 Ländereck“ unionsgeführte Bundesregierung Einfluss ausüben. Die Million floss nur Journalisten, die den Altkanzler versechs Monate nach Erteilung der Ausfuhr- gangene Woche nach der Panzer-Million genehmigung. fragten, wurden brüsk abgefertigt: „Sie So viel steht fest: Die Operation „Fuchs“ können noch so ein Spurensicherungsstinkt gewaltig. Bis zum vergangenen Frei- gesicht machen, es ändert nichts an der tag schien es so, als litten alle Christdemo- Tatsache: Wir haben von dieser Sache kraten kollektiv an jenem Virus, das ihren nichts gewusst.“ Und einen zweiten fuhr er Übervater Kohl vor Jahren schon bei den an: „Sie wollen eine Verleumdung starten, Anhörungen zum Flick-Parteispenden- das sehe ich Ihrem Gesicht an. VerschwinSkandal befallen hatte. Seitdem der Kanz- den Sie jetzt.“ Auch im Parteipräsidium ler dort Gedächtnislücken für sich rekla- fasste sich Kohl kurz: Die Lieferung sei mit mierte, ist der „Black-Out“ zum Synonym der Nato abgestimmt gewesen. Alles in für politische Amnesie geworden. Ordnung. Niemand fragte nach. Altkanzler Kohl*: „Sie wollen eine Verleumdung starten, verschwinden Sie“ d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 Lieber Herr Dr. Lüthje, mit dem Düsseldorfer Parteitag der CDU vom 25. bis 28.10.1992 geht unsere 21-jährige Zusammenarbeit zu Ende. Ich möchte Ihnen an dieser Wendemarke sehr, sehr herzlich für Ihren engagierten Einsatz, Ihren Ideenreichtum und die souveräne * Am Montag vergangener Woche in Berlin. 33 Titel die in den achtziger Jahren die Republik erschütterte. Der Konzern hatte, wie Manager Eberhard von Brauchitsch sich ausdrückte, Bares zur Pflege der politischen Landschaft ausgeschüttet, um sich die Oberen gewogen zu machen. Union und FDP hatten die Herkunft von Millionenzahlungen aus der deutschen Industrie, darunter aus dem Flick-Konzern, systematisch verschleiert – bis das System der illegalen Parteienfinanzierung durch die Sisyphusarbeit einiger Steuerfahnder und Staatsanwälte aufflog. Auch jetzt mehren sich die Zweifel an der Version der Union. Ströbele erinnerte das Schweigen der „Partei der Wiederholungstäter“ an Mafia-Usancen: „In Italien nennt man das wohl ,omertà‘.“ Für den SPD-Mann Hofmann ist der Vorgang, „wenn er so ist, wie wir es uns jetzt vorstellen können, Organisierte Kriminalität – nicht unbedingt in ihrer strafrechtlich, wohl aber in ihrer politisch und gesellschaftlich schlimmsten Form.“ Gegenüber dem SPIEGEL zeigte sich Empfänger Lüthje vergangene Woche verwundert über die Dementis aus Berlin: „Ich bin fest überzeugt, dass Kiep seine Nachfolgerin Baumeister damals informiert hat. Ich war zwar nicht dabei, aber so etwas machte Herr Kiep nie allein.“ Auf seinen Ex-Chef ist Lüthje ebenfalls nicht gut zu sprechen: „Ich bin außer mir vor Empörung, dass Kiep jetzt fröhlich durch die USA reist und seine Partei zu Hause im Dreck sitzen lässt.“ Auch die Staatsanwaltschaft Augsburg, die durch ihre Ermittlungen gegen Schreiber die Spendenzahlung aufdeckte, mochte nicht länger auf die zunächst für vergangenen Freitag angekündigte und dann auf kommenden Mittwoch verschobene freiwillige Aufklärung des Vorgangs durch Weyrauch und die CDU warten. Vergangenen Donnerstag erschienen Augsburger Staatsanwälte in Weyrauchs Kanzlei in der Nicht der geringste Hinweis, über die Friedensstraße im Frankfurter BankenTantiemen zu schweigen, findet sich in dem viertel und in seiner Privatwohnung. Beim Dokument. Stattdessen steht unter dem Bankhaus Hauck & Aufhäuser forderten Brief der Vermerk, dass eine Kosie ebenfalls Einlass. pie des Schreibens „die WeyFast zeitgleich fuhr auch vor Lüthjes rauch und Kapp GmbH erhält, Haus in St. Augustin bei Bonn ein Pkw mit die ich bitten werde, die ord36,9 Augsburger Kennzeichen vor. Darin saßen nungsgemäße finanzielle und eine Staatsanwältin und zwei Steuerfahnsteuerliche Abwicklung der Zah26,1 24,9 der aus Bayern. Lüthjes Ehefrau wollte gelung zu übernehmen“. rade zum Einkaufen, doch die Fahnder baIn der Steuer- und Wirt17,6 ten sie zurück ins Haus. Sie kochte erst schaftsprüfer-Kanzlei Weyrauchs 14,7 11,2 mal eine Tasse Kaffee für die von weither werden bis heute die Gehalts4,2 angereisten Besucher. abrechnungen und PersonalAls die Fahnder ihren Durchsuchungsakten der leitenden CDU-Mitar1988 89 90 91 92 93 94 95 96 97 beschluss vorlegten, ging Lüthje zu seinem beiter bis hin zur Generalse–7,7 Tresor im Keller und holte Unterlagen: seikretärin abgewickelt. Weyrauch ne eigenen Steuererklärungen, den Brief verwaltet die Gehaltsakten nur Aufpolierte von Kiep und weitere Schriftstücke aus seitreuhänderisch, die CDU ist der Union ner Zeit als Generalbevollmächtigter der Treugeber. Ihr gehören sie, sie Das Parteivermögen –31,9 Bundesschatzmeisterei. Einen Teil der Pahat jederzeit Zugriff darauf. Sie der CDU in Millionen piere nahmen die Beamten gar nicht mit, muss nur wollen. Mark die hatten sie schon beim für den einstigen In der Personalakte Lüthjes CDU-Funktionär zuständigen Finanzamt muss sich der Vorgang nach des–42,5 abgeholt, wo die Sonderzahlungen laut sen Angaben ebenfalls finden Lüthje versteuert worden waren. lassen – genauso in den Akten Dafür beschlagnahmten sie der Schatzmeisterei. Schließlich eine Mappe mit Unterlagen sei der Bonus von 370 000 Mark, so Lüthje, ordnungsgemäß auf über das Treuhandkonto seiner Gehaltsabrechnung ver„TAK CDU BSM“ (Treumerkt und beim für die CDU zuhand-Anderkonto CDU-Bunständigen Finanzamt Bonn verdesschatzmeisterei). Weysteuert worden. rauch hatte diese Mappe Der Brief belegt, wie dünn inschon zusammengestellt, aber zwischen das Eis für die CDU – warum auch immer – nicht geworden ist. Fassungslos diskuwie versprochen der Staatstieren die Abgeordneten aller anwaltschaft übergeben, sonCouleur in kleinen Zirkeln auf dern beim alten Kumpel den Fluren des Reichstags die Lüthje einen Satz Kopien deFrage: Gibt es so etwas in poniert.Weyrauch und Lüthje Deutschland schon wieder – gehatten sich tags zuvor getrofkaufte Politik? fen, um über das KrisenmaIn Berlin ist dieser Tage viel nagement zu beraten. „Wir von der Flick-Affäre die Rede, hatten den Eindruck, dass man uns gegenüber auf Zeit spielt“, erklärte der Augsbur* Während einer Sitzungspause beim Parger Behördenleiter Reinhard teispendenprozess vor dem Düsseldorfer CDU-Helfer Weyrauch, Lüthje*: „So etwas macht Herr Kiep nie allein“ Nemetz den Zugriff. Landgericht 1998. H. HAGEMEYER / TRANSPARENT Geschäftsführung innerhalb der Bundesschatzmeisterei danken. Ich werde darauf bei anderer Gelegenheit und in anderem Rahmen noch ausführlich zurückkommen. Vor der offiziellen Beendigung meines Amtes möchte ich Ihnen aber noch mitteilen, dass ich es nicht nur bei einem Wort des Dankes belassen möchte, sondern mich auch entschlossen habe, Ihnen eine Sonder- und Schlussvergütung, wie immer Sie es nennen und sehen mögen, in Höhe von DM 370 000 zukommen zu lassen. Ich möchte Ihnen damit zum Ende unserer Zusammenarbeit eine besondere Freude bereiten, die gewiss nicht alle Unbill in den zurückliegenden Jahren abgelten oder gar vergessen machen kann, die Ihnen aber doch den beginnenden und hoffentlich lange andauernden neuen Lebensabschnitt erleichtern und verschönern möge. 34 d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 Der Panzer-Deal 2. August 1990 Invasion Iraks in Kuweit Alle Versuche des SPIEGEL, die Alle Papiere legen nahe, dass die 7. September 1990 Vertreter Saudi-Arabiens und der Firma Union mit den hier geschilderten DeMillion zumindest größtenteils wohl Thyssen treffen sich bei dem Waffenhändler und Vermittler tails des Spendenvorgangs zu kontatsächlich jenen Weg genommen Schreiber zu einem ersten Gespräch über die Lieferung von frontieren, wurden von der Parteihat, den Kiep und Weyrauch am vor36 Fuchs-Panzern spitze abgeblockt. Motto: Weil man vergangenen Freitag vor der UnterSeptember 1990 Wirtschaftsministerium und Auswärtiges ja nichts wisse, könne man auch suchungsrichterin des AmtsgeAmt lehnen die Lieferung ab nichts sagen. Parteichef Schäuble hatrichts Königstein geschildert hatten (SPIEGEL 45/1999). Danach war 4. Oktober 1990 Verteidigungsstaatssekretär Pfahls macht te angeordnet: „Nur nicht in einen vielstimmigen Chor verfallen.“ Weyrauch auf Weisung Kieps am 26. Druck beim Kanzleramt und bittet, „in geeigneter Weise auf die Haltung des Auswärtigen Amtes Einfluss“ Die Zurückhaltung ist verständlich. August 1991 ins schweizerische St. zu nehmen Wenn es ums Geld geht, war die ParMargrethen im Dreiländereck am tei nie zimperlich. Welche Methoden Bodensee gefahren. Kiep kam aus 17. Januar 1991 Die Saudis schließen mit Thyssen einen seinem Ferienhaus im schweizeriVertrag über die Lieferung von 36 Fuchs-Panzern. Die Alliier- im Keller der Union herrschten, war stets nur einem kleinen Kreis beschen Lenzerheide dazu. Die beiden ten greifen unter Führung der USA den Irak an kannt. Zwischen Kiep und Kohl war trafen sich mit Schreiber, der um 20. Februar 1991 Schreiber bittet CDU-Schatzmeister Kiep, das Verhältnis nicht das Beste, aber 13.06 Uhr in der Filiale St. Marbei Kohl zu Gunsten der Panzer-Ausfuhr zu intervenieren der Rekord-Kanzler hatte, wenn er grethen des Schweizerischen Bank27. Februar 1991 Der Bundessicherheitsrat stimmt der wollte, stets über seinen Vertrauten vereins zunächst eine größere AbheAusfuhr aller 36 Panzer zu Weyrauch Einblick in die Geschäfte bung vornahm. Schreiber hatte in der schwarzen Geldbeschaffer. seinem Kalender für diesen Tag „13 2. August 1991 Thyssen überweist der Firma ATG Die Dreiteilung klappte lange perUhr LK EK Zentrum“ eingetragen. eine erste Rate von 11 Millionen Mark für Provisionen fekt. Der feine Hanseat Kiep akquiEK steht für das Einkaufszentrum und Schmiergelder rierte in den Vorstandsetagen, Lüthje Rheinpark, wo die drei Herren sich 26. August 1991 Schreiber übergibt dem Kohl-Vertrauten besorgte die Abwicklung. Weyrauch trafen. Kiep notierte: „13 Uhr 3 LänWeyrauch in der Schweiz im Beisein Kieps eine Million Mark war stets kreativ, wenn es darum ging, dereck“. in bar Gelder so zu verbuchen, dass es dem Weyrauch trug der Richterin vor, 27. August 1991 Weyrauch deponiert das Geld auf einem Steuerrecht und dem verschärften Schreiber habe ihm „einen Betrag Treuhandkonto zu Gunsten der CDU bei der Hauck-Bank in Parteiengesetz noch entsprach. von einer Million Mark in einem verFrankfurt/Main Aus Sondertöpfen entnahm Kohl schlossenen Behältnis übergeben. Es handelte sich um eine so genannte Oktober 1992 Kiep verteilt die Schreiber-Spende an seinen bei Bedarf Geld, um Aktionen zu bezahlen, die im Grenzbereich von ReParteispende“. Nach seiner Rückkehr Generalbevollmächtigten Lüthje (370000 Mark) und die Firma des Kohl-Vertrauten Weyrauch (421800 Mark); der Rest gierung und Partei spielten. Jene von St. Margrethen nach Frankfurt (etwas über 300000 Mark) geht offenbar an Kiep selbst 700 000 Mark Porto etwa kamen aus am Main habe er sie „auftragsgemäß“ dieser Kasse, als Kohl 1987 allen beim Bankhaus Georg Hauck & Sohn CDU-Mitgliedern in einem persönlieingezahlt. Das feine Institut in der Kaiserstraße, ma sowie an Lüthje verteilt. Von einem chen Brief seine Haltung zur Steuerreform das mittlerweile Hauck & Aufhäuser heißt, weiteren Empfänger sagten sie der Ermitt- gegen Angriffe aus den eigenen Reihen verist die Hausbank der Christdemokraten. lungsrichterin nichts. „Sondervergütungen teidigte. Auch Hubschrauberflüge des Hier landen auch die offiziellen Partei- für die lange Zeit der Zusammenarbeit und Kanzlers und CDU-Chefs wurden so fispenden der Union auf den Sammelkonten für besondere Erschwernisse“, nannte nanziert. Als Kiep und Lüthje gehen mussten, „Bundesschatzmeisterei (BSM) 1“ und Weyrauch in der Vernehmung die Freigebigkeit des Gentleman Kiep. durfte Weyrauch bleiben – bis heute. Der „Bundesschatzmeisterei (BSM) 2“. Doch vermutlich war der Herr des Gel- Mann hat schließlich große Verdienste. Mit Auf diesen Konten aber kam die Schreiber-Million nie an. Stattdessen tauchte sie, des keineswegs ganz so uneigennützig, wie seiner Hilfe gelang es Kohl, seine 1989 noch wie aus den bei Lüthje und Weyrauch von ihm und Weyrauch dargestellt. Denn mit 42,5 Millionen Mark verschuldete sichergestellten Unterlagen hervorgeht, auf neben den 370 000 Mark für Lüthje und Partei zu sanieren. 1997 standen längst dem Konto Nr. 4 115 602 403 mit der Be- 421 800 Mark an Weyrauchs Firma gab es schwarze Zahlen in der Bilanz. Zum 31. zeichnung „CBN/891“ auf. Das Kürzel offenkundig einen Dritten, der von der Dezember vorvergangenen Jahres wies die Partei ein Reinvermögen von 36,9 Milliosteht für „CDU Bonn“, eröffnet im August Schreiber-Million profitierte: Kiep selbst. Nach Aktenlage leitete der Schatzmeis- nen Mark aus. Allein aus der Kasse der 1991. Weyrauch legte es einen Tag nach der Geldübergabe in der Schweiz, am 27. Au- ter den Rest, rund 300 000 Mark, mögli- Ost-CDU und der Demokratischen Baugust 1991, als eben jenes „Treuhandkonto cherweise über Umwege, offenbar in die ernpartei flossen Anfang der neunziger eigene Tasche, um damit Jahre 13 Millionen Mark an die Union. zugunsten der CDU“ an. seine Verteidigerkosten im Um die Partei zu sanieren, schreckte Darauf lagerte die Million, Parteispendenverfahren zu Weyrauch nicht einmal davor zurück, als Festgeld zu einem Zins finanzieren. Das war im Drückerkolonnen einzusetzen, die von jevon über neun Prozent Oktober 1992 gerade zu der Spendenmark bis zu 45 Pfennig als günstig angelegt. Fast 14 Ende gegangen. Während Provision kassierten. Die Mäzene hatten Monate lang passierte bei Lüthje und Weyrauch hiervon keine Ahnung. nichts. als sicher gilt, dass sie ihre Aber eine Million Bares im Koffer ist Erst als sich Kieps Ende Sonderzahlungen versteu- von ganz anderem Kaliber. Kiep wollte aus als Schatzmeister abzeicherten, bleibt bei Kiep noch den USA zur Aufklärung nichts weiter beinete, wurde über das Treudie Frage: Hat er das Geld tragen. Nur so viel: So etwas sei gemeinhin handkonto, das durch die beim Fiskus angegeben? selbst in der CDU „nicht üblich“ gewesen. Zinsen auf rund 1,1 MillioAls das Treuhandkonto Mehr will er erst diese Woche vor den nen angewachsen war, ver„CBN/891“ am 22. Okto- Augsburger Ermittlern aussagen. fügt. Nach Kieps und Weyber 1992 „restabgewickelt“ Nach deren Feststellungen stammt die rauchs Version wurde das wird, sind gerade noch ma- Million im Koffer von einem Schweizer Geld kurz vor Kieps Ausgere 449 Mark übrig. Konto der Firma ATG Investment Ltd. Inc. scheiden an Weyrauchs Fir- SPIEGEL-Titel 44/1984 d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 35 Titel Max Josef Strauß, Sohn des einstigen CSU-Chefs und bayerischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß, habe 500 000 Mark kassiert. Beide bestreiten dies. Half das Geld tatsächlich, den Weg zur Ausfuhrgenehmigung Nr. 0715987 vom 12. März 1991 zu ebnen? Die Staatsanwälte können die Entscheidung der Kohl-Regierung nicht ganz rekonstruieren. Nur bruchstückhafte Unterlagen aus den Ministerien liegen bei den Ermittlungsakten – etwa Vorlagen für den Bundessicherheitsrat, in dem der damalige Kanzler Kohl nebst seinem Außenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP), Wirtschaftsminister Jürgen Möllemann und Verteidigungsminister Gerhard Stoltenberg (CDU) über das Geschäft entschied. Das Protokoll der Sitzung vom 27. Februar 1991 – an diesem Tag stimmte Kohls Kabinett dem Panzer-Geschäft zu – gilt noch immer als geheim. Die Bitte der Fahnder, es für die Ermittlungen zur Verfü- J. H. DARCHINGER ABC-Spürfahrzeuge, 8 Ambulanzen, 14 Mannschaftstransporter sowie 4 Kommandofahrzeuge. Nur die 18 Spür- und Ambulanztanks galten angesichts des Golfkriegs als relativ unproblematisch. Die andere Hälfte, urteilte selbst das in Exportfragen stets liberale Wirtschaftsministerium noch am 22. Februar 1991, seien „zum gegenwärtigen Zeitpunkt kaum als genehmigungsfähig anzusehen“. Deshalb empfahl es am selben Tag in der vertraulichen Vorlage für die Sitzung des Bundessicherheitsrats am 27. Februar, die Ausfuhr der 18 Spür- und Ambulanzfahrzeuge zu genehmigen „und die Anträge für 14 Mannschaftstransporter Fuchs sowie 4 Kommandofahrzeuge Fuchs zum gegenwärtigen Zeitpunkt abzulehnen“. In den kommenden Tagen kippte in Möllemanns Amt jedoch diese Sichtweise, der Entscheidungsvorschlag wurde – von wem auch immer – handschriftlich geändert. Am Tag der Abstimmung lag Kohl und seinen Ministern der Entscheidungsvorschlag mit dem Aktenzeichen 10 17 83/20 aus dem damals für Kriegswaffen zuständigen Referat IV C 6 des Wirtschaftsministeriums vor. Unter der Rubrik „ResCDU-Zentrale in Bonn: „Nichts gewusst“ sortvoten“ ist der anhaltende Widerstand aus mit Sitz in Panama. Genschers Amt do„Wirtschaftlich Berechkumentiert: „Das AA tigter“ des Kontos beim stimmt einer AusfuhrSchweizerischen Bankgenehmigung für die verein – das halten die ABC-Spürfahrzeuge und Staatsanwälte für „bedie Ambulanzfahrzeuge wiesen“ – war der Wafzu, im übrigen lehnt es fenhändler Schreiber. die GenehmigungserteiDer Kauferinger Gelung ab.“ schäftsmann war den ErGenscher reklamiert mittlungen zufolge einer bis heute für sich, im derjenigen, der die selbst Bundessicherheitsrat nie für diese Branche überüberstimmt worden zu aus üppigen 219,7 Milliosein. Das kann nur benen Mark Schmiergeld deuten, dass jemand noch verteilte, die der Thyssen- Korrigierter „Entscheidungsvorschlag“: Wer änderte den Text? im Vorfeld der EntscheiKonzern auf den PanzerPreis von 226,7 Millionen Mark aufschlug, gung zu stellen, lehnte das Kanzleramt am dung auf den sich sperrenden Außenminisum sie den segensreichen Helfern des 28. Oktober 1997 ab. Um sich nicht mit al- ter eingewirkt haben muss – aber wer? Bewiesen ist, dass Pfahls das KanzlerDeals zukommen zu lassen. „Kriegszeiten ler Welt anzulegen, ließen die Augsburger sind eben Goldgräberzeiten“, weiß der die Idee fallen, sich das Geheimpapier per amt ersuchte, „in geeigneter Weise auf die ehemalige Wirtschaftsminister Jürgen Möl- Durchsuchungsbeschluss aus der Regie- Haltung des Auswärtigen Amtes Einfluss“ rungszentrale zu holen. zu nehmen, und dass er – selbst gegen den lemann (FDP). Auch Nachforschungen der damals Be- zeitweiligen Widerstand seines eigenen Dabei folgte auch der Panzer-Deal der Faustregel der Korruption: Besteller und teiligten blieben ohne konkretes Ergebnis. Ministers – auf das komplette Geschäft Lieferant einigen sich, den Kaufpreis auf- Möllemann, der in seinem ehemaligen Mi- drängte. Und auch Schreiber nutzte seine zublähen und das zusätzliche Geld auf nisterium noch einmal um Prüfung der Ak- Kontakte. Eine Woche vor der entscheidunklen Kanälen wieder an die Mächtigen ten bat, erinnert sich an keine besonderen denden Sitzung bat er Kiep schriftlich, das zu verteilen, die den Auftrag möglich Schwierigkeiten: „Da mussten nicht viele gute Geschäft, das sich zu halbieren drohte, durch eine eilige Intervention bei Kohl machten. 24,4 Millionen Mark soll allein überzeugt werden.“ Genscher bat vergangenen Donnerstag zu retten. Schreiber für solche Zwecke erhalten und gleichfalls im Auswärtigen Amt (AA) um Schreiber machte Genschers Politik madann größtenteils weitergereicht haben. Nach Überzeugung der Staatsanwalt- erneute Durchsicht. Aber dort waren die dig; sie habe „dem hohen Ansehen des schaft Augsburg schmierte der Waffen- Dokumente wegen des immer noch lau- Bundeskanzlers eher geschadet als händler mit den Thyssen-Geldern aber fenden Umzugs von Bonn nach Berlin so genützt“. Gleichzeitig warnte er, Riad sei verärgert: „Die Verstimmung steht im Zuauch eine ganze Reihe Politiker hierzulan- schnell nicht zu finden. Aus bisher bekannten Aktenstücken sammenhang mit dem Wunsch der saudide. 3,8 Millionen Mark soll der ehemalige Staatssekretär im Bundesverteidigungsmi- lässt sich folgender Ablauf rekonstruieren: arabischen Regierung, von der Bundesrenisterium, Ludwig-Holger Pfahls, inzwi- Thyssen wollte 36 Fuchs-Panzer in vier ver- gierung unverzüglich gepanzerte Schutzschen auf der Flucht, erhalten haben. Auch schiedenen Ausführungen verkaufen – 10 fahrzeuge vom Typ Fuchs zu erhalten.“ 36 d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 fern kann sich die Partei gar nicht leisten. Die drei kämen dann womöglich ins Plaudern. Als Alternative zum Untersuchungsausschuss gilt ein Auftrag, einen Regierungsbericht zu erstellen, nachdem der gesamte Vorgang noch einmal anhand der Akten überprüft wurde. Erst seitdem der mit internationalem Haftbefehl gesuchte Pfahls im Juli die Flucht ergriff und Kiep sein Schweigen brach, erkennt auch die Politik, dass womöglich eine Staatsaffäre erheblichen Ausmaßes droht. Noch sind entscheidende Fragen unbeantwortet: Wurde die Schmiergeldspur ausschließlich gelegt, damit die Panzer störungsfrei von Deutschland nach SaudiArabien rollen konnten? Oder hat Schreiber mit dem Thyssen-Geld – wie früher Flick – einfach großflächig die politische Landschaft gepflegt? Wurde die schmutzige Million vielleicht aus Dankbarkeit für Hilfe bei dem letzten schmutzigen Geschäft in den Koffer gesteckt – und womöglich schon als Vorschuss für das nächste? Schreiber müht sich, so ziemlich jeden nahe liegenden Verdacht zu zerstreuen. In Kanada, wo er gegen seine Auslieferung nach Deutschland kämpft, beteuerte er vergangene Woche, er habe niemanden bestochen: „Das war eine ganz normale Parteispende.“ Die Million stamme weder von ihm noch von Thyssen, sondern von „Drit- CP W. SCHUERING / LASA Untersuchungsausschusses unter Verdacht stellt. Aber gleichzeitig fürchtet das Kanzleramt, die Beschäftigung mit ausgerechnet jenem Thema, das die Regierung zuletzt so in Bedrängnis brachte, könne die unablässig streitenden Koalitionäre noch weiter belasten. Und Schröder würde erklären müssen, warum er ausgerechnet Kiep, gegen den bereits ermittelt wurde, noch in diesem Jahr mit heiklen Sonderaufträgen versah. Der Machtmensch Kiep jedenfalls machte, von Haft bedroht, ziemlich schamlos von der FreundCDU-Obere Schäuble, Merkel*: Die Affäre einfach aussitzen schaft Gebrauch: „Ich Schreiber bat, seine Bedenken „dem habe noch heute im Auftrag des BundesHerrn Bundeskanzler möglichst umge- kanzlers eine Reise nach Schweden anzutreten und am Samstag um 10.40 Uhr nach hend zur Kenntnis zu bringen“. Bei einer Durchsuchung der Thyssen- Amerika zu fahren, wo ich einer DeleZentrale fiel den Fahndern zudem ein Pa- gation des Bundestages, Vertretern des pier in die Hände, das den Zweifel an der Auswärtigen Amtes und des Wirtschaftsordnungsgemäßen Prüfung des Geschäftes ministeriums vorstehe“, erklärte er vornährt. Bereits am 25. Oktober 1990 hatten vergangenen Freitag der Haftrichterin im Konzern-Obere notiert, dass „inoffiziell, heimischen Königstein. Wenn der Haftbejedoch verbindlich“, bereits eine Geneh- fehl weiter bestehen bleibe, käme dies, so migung versprochen sei. Von wem, wissen Kiep, für einen Mann mit seinen Missionen „einem Berufsverbot gleich“. die Ermittler allerdings bislang nicht. Auch die großspurig angekündigte AufNoch sind die politischen Folgen des dubiosen Waffendeals nicht geklärt. Die SPD klärung durch die Union steht noch aus. hält sich mal wieder mit ihrer liebsten Be- Wenn Kiep tatsächlich auf eigene Faust das schäftigung auf – sie zweifelt, welches Vor- Geld verteilte, könnte er sich einer Unterschlagung oder Untreue schuldig gemacht gehen wohl richtig ist. Wie die Grünen wittert die Schröder- haben. Strafrechtlich wären beide VorwürPartei zwar die Chance, den Steigflug der fe wohl verjährt. Aber die CDU könnte eiUnion abzubremsen, indem sie das System nen Anspruch auf Rückerstattung geltend Kohl und damit die Partei mit Hilfe eines machen. Doch die Wahrscheinlichkeit, dass nicht einmal der Versuch gemacht wird, an die Million zu kommen, ist groß: Einen * Oben: vergangenen Donnerstag im Bundestag; unten: Krieg mit ihren ehemaligen Geldbeschafvergangenen Donnerstag im amerikanischen Palo Alto. Waffenhändler Schreiber (in Toronto) P. JUELICH / RIRO PRESS „Das war eine normale Parteispende“ Ex-Schatzmeister Kiep*: „Das käme einem Berufsverbot gleich“ d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 ten, deren Identität ich nicht preisgeben kann“. Aber die Aussichten für den bayerischen Amigo und seine Kumpane im Regierungsapparat und dessen Umfeld sind ziemlich düster. Denn an einem besteht kein Zweifel mehr: Die mühsame Entschlüsselung von kodierten Eintragungen in Schreibers Kalendern, das Werk eines einfachen Augsburger Steuerfahnders und eines Staatsanwalts, hat ein geschickt getarntes System transparent gemacht. Egal, ob der Geldkoffer für den CDU-Schatzmeister persönlich oder für seine Partei bestimmt war: Jetzt sind die Augsburger erst recht davon überzeugt, auf der richtigen Spur zu sein. Wolfgang Krach, Georg Mascolo 37 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite C. MORRIS / DAS FOTOARCHIV Titel US-Soldaten im Golfkrieg (1991): Die Waffenschmieden der Welt hofften auf neue Aufträge 220 Millionen für die Berater Verschwiegene Vermittler, dunkle Kanäle und gigantische Schmiergelder sollen der Rüstungsfirma Thyssen Henschel geholfen haben, den Verkauf von Panzern an Saudi-Arabien einzufädeln – und den Widerstand deutscher Politiker gegen das Geschäft zu überwinden. A M. DARCHINGER uch schlechte Nachrichten können und chemischer Kampfstoffe dient. Natür- wissen, „würden wir Ihnen gerne weitere gut für das Geschäft sein. Als der lich vergaß der Manager nicht, „Ihre Kö- Informationen zusammenstellen“. Irak Anfang August 1990 in Kuweit nigliche Hoheit“ darauf hinzuweisen, dass Tatsächlich verkaufte Thyssen Henschel einmarschierte und am 17. Januar 1991 Thyssen bereits Fuchs-Panzer an die U. S. im Frühjahr 1991 36 Fuchs-Panzerfahrzeuschließlich der Golfkrieg ausbrach, war Army verkauft habe: „Die beiliegende ge an Saudi-Arabien. Doch das blendende klar, dass den Waffenschmieden die- Fuchs-Broschüre“ beschreibe das erfolg- Geschäft von damals ist heute auf dem besser Welt wieder neue Aufträge ins Haus reiche Modell ausführlich. Bei Interesse, ten Weg, sich zu einer Staatsaffäre auszuließ Maßmann den Verteidigungsminister weiten: Unter dem Aktenzeichen 502 Js standen. Das deutsche Rüstungsunternehmen 127135/95 ermittelt seit viereinhalb JahThyssen Henschel wollte sich diese Geren die Staatsanwaltschaft Augsburg die legenheit nicht entgehen lassen. Sein Hintergründe des Waffen-Deals. Es geht Vorstandsmitglied Jürgen Maßmann um den Verdacht der Untreue, Steuerschickte deshalb am 22. August 1990 eihinterziehung und Bestechung bis in nen Brief an den saudi-arabischen Verdie Reihen der damaligen Bundesministeidigungsminister Prinz Sultan Ibn terien. Abd al-Asis, um ihm „Thyssen HenDie Augsburger Ermittler glauben, schel vorzustellen“. Das damalige Kasdass ein Netzwerk aus diskreten Vermittlern, gierigen Managern und empseler Tochterunternehmen der Thyssen fänglichen Politikern – und Geld, viel Industrie AG gehörte zu den führenGeld – das Geschäft beförderten. Oberden Rüstungsbetrieben des Landes. Das passende Produkt hatte Maßmann auch im Angebot – ein Panzer* Der saudische General Abdullah al-Scheich bei fahrzeug namens „Fuchs“, das auch Panzer-Verkäufer Maßmann (l.), Geschäftspartner* einer Panzer-Präsentation in Hangelar am 30. April zum Aufspüren atomarer, biologischer Passendes Produkt im Angebot 1986. 40 d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 E. GRAMES / BILDERBERG staatsanwalt Reinhard Nemetz hatte des- potenzieller Kunde. Fortan sollte Maß- er sich erstmals mit dem Fuchs-Projekt behalb sogar einen Haftbefehl gegen den mann, im Vorstand zuständig für Wehr- fasst, so der Manager, „der Kanal, das heißt früheren CDU-Schatzmeister Walther Leis- technik, mit seinem Vertriebsmanager Jörg die Verbindung zu Herrn Kaschoggi, kam ler Kiep ausgestellt, der jedoch – gegen Bühler, der nicht von dem Ermittlungsver- jedoch nicht zum Tragen“. Bühlers Verbindung zu dem bekannten Zahlung einer Kaution von 500 000 Mark – fahren betroffen ist, die Kontakte zu diWaffenhändler blieb zwar fruchtlos, daaußer Kraft gesetzt wurde. versen Vermittlern koordinieren. für waren die BeDas Geschäft, das Thyssen Henschel AnDass im Mittelmühungen seines fang der neunziger Jahre abwickelte, war punkt von solchen Kollegen Maßmann jedenfalls bemerkenswert: Von den 446 „Marketing-AnDem angestrebten umso erfolgreicher. Millionen Mark, die Thyssen für den Pan- strengungen“ bei Geschäft stand ein deutBereits am 26. und zer-Deal von den Saudis kassierte, flossen Rüstungsgeschäften sches Gesetz entgegen 27. Juni 1990 traf der insgesamt rund 220 Millionen Mark als Pro- nicht unbedingt das Manager in Paris visionen oder „nützliche Aufwendungen“, Verschicken von wie Schmiergelder jahrzehntelang im Steu- Prospektmaterial an „Königliche Hohei- den Geschäftsmann Mansour Ojjeh, um er-Deutsch genannt wurden, vor allem auf ten“ steht, sondern tragfähige Verbindun- die Möglichkeiten von Fuchs-Exporten die Konten ausländischer Briefkastenfir- gen zu einschlägigen Waffenhändlern und nach Saudi-Arabien auszuloten. Der saudische Staatsbürger ist einer der men. Ein Teil, so der Verdacht, wurde mög- Vermittlern, wird deutlich aus Bühlers Zeulicherweise zurück nach Deutschland ge- genaussage gegenüber der Augsburger reichsten Männer der Welt. Die Ojjeh-Faschleust. Staatsanwaltschaft. Im August 1990 habe milie kontrolliert die internationale TAGGruppe, Geschäftsmann Mansour Mittlerweile lässt sich die Ojjeh selbst ist Miteigentümer des „Operation Fuchs“ nachzeichnen. Formel-1-Stalls Mercedes-McLaWichtige Rollen in dem Stück ren und verfügt über alle Statusspielen: der Thyssen-Manager symbole des Jet-Set wie LuxusJürgen Maßmann, der mit Berajacht, private Düsenjets, Wohtern horrende Provisionen ausgenungen und Häuser in Paris oder handelt und dabei selbst mehr als Marbella. vier Millionen Mark dafür kasZugleich steht die Familie in siert haben soll; der ehemalige dem Ruf, bei der Anbahnung von Staatssekretär Holger Pfahls, der Geschäften mit Saudi-Arabien für 3,8 Millionen Mark im Verteiüber beste Beziehungen zu verdigungsministerium die Widerfügen. Sein 1991 verstorbener Vastände gegen das Panzer-Geschäft ter Akram Ojjeh, ein gebürtiger aus dem Weg geräumt haben soll; Syrer, knüpfte seit Anfang der und der bayerische Geschäftssiebziger Jahre Wirtschaftskonmann Karlheinz Schreiber, der takte für die saudische Regierung, die Millionen an deutsche Politisie führten auf dem Höhepunkt ker und zwei Thyssen-Manager der Ölkrise zu einem Vertrag mit verteilt haben soll. Frankreich über den Verkauf peAlle Beschuldigten in dem Vertrochemischer Produkte und Waffahren bestreiten die Vorwürfe fen. Später vertrat Vater Ojjeh der Augsburger Staatsanwaltfranzösische Rüstungsfirmen exschaft vehement. klusiv in dem Königreich. Zum Ihren Anfang nahm die Affäre Dank für seine Verdienste bürim Frühjahr 1990. Zuvor hatte gerten die Saudis ihn ein. Thyssen Henschel Fuchs-Panzer Der Manager muss das Gean die U. S. Army verkauft, gegen spräch mit Ojjeh in Paris als viel das Gebot und die Lobby ameversprechend angesehen haben. rikanischer Rüstungshersteller. Und von Beginn an wird deutlich, Nun sollte das Panzerfahrzeug mit Thyssen-Zentrale in Düsseldorf: Erfolgreiche Waffen-Tochter wie filigran, undurchsichtig und Hinweis auf den Verkaufserfolg in komplex das Beziehungsgeflecht den USA auch in anderen Länangelegt wurde, über das später dern vermarktet werden, insbedreistellige Millionenbeträge sondere in der Golfregion. fließen sollten. Dem angestrebten Geschäfts- Der Thyssen-Konzern im Geschäftsjahr 1990/91 Als die Augsburger Ermittler erfolg im arabischen Raum stand Maßmanns Büro durchsuchten, das deutsche Kriegswaffenkon- Investitionsgüter Handel und Edelstahl Stahl fanden sie heraus, dass der offizitrollgesetz entgegen, das Rüs- und Verarbeitung Dienstleistungen tungsexporte in Krisengebiete 11,3 15,3 3,3 10,4 elle Thyssen-Brief an den saudischen Verteidigungsminister vom wie den arabischen Golf unter* Umsätze in Mrd. Mark 22. August 1990 auch direkt an sagt. Doch mit dem Überfall des eine französische Nummer und Irak auf Kuweit im Sommer 1990 an eine Firma in München gefaxt und dem Eingreifen einer Allianz Thyssen Industrie Budd (USA) Wülfrather Gruppe wurde. unter Führung der Amerikaner Geschäftsführer dieses Untersahen die Henschel-Manager ihre 8,3 2,1 0,9 nehmens war Hermann P.*; seiChance, dennoch mit den Ölstaa- darunter ten ins Geschäft zu kommen. Thyssen Henschel Vor allem Saudi-Arabien, da* Die abgekürzten Namen sind der Redak0,65 mals neben Israel am stärksten *inkl. Binnenumsätze tion bekannt, werden aus juristischen Gründurch den Irak bedroht, galt als den derzeit aber nicht genannt. d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 41 AP Titel Saudischer Verteidigungsminister Abd al-Asis „Bei Interesse weitere Informationen“ nem Unternehmen gehörten früher Anteile an einem Zuliefererwerk für den FuchsPanzer. Zum damaligen Zeitpunkt stand P. zudem in Geschäftsverbindung mit der Ojjeh-Gruppe. Fortan sollte sich Maßmann immer wieder mit ihm treffen, wenn Belange der Ojjeh-Familie berührt waren. Umso erstaunlicher ist, dass Maßmann in jenen Wochen angeblich daran arbeitete, eine weitere Verbindung nach SaudiArabien aufzubauen. Am 7. September besuchte der umtriebige Manager das Unternehmen Bayerische Bitumen-Chemie (BBC) im oberbayerischen Kaufering. Dessen Inhaber kannte er bereits seit Mitte der achtziger Jahre – sein Name: Karlheinz Schreiber. Damals, 1985, bemühte sich Thyssen Henschel um den Bau einer Rüstungsfabrik in Kanada, Schreiber vermittelte. Als das so genannte Bearhead-Projekt scheiterte, kassierte Schreiber dennoch Millio- Thyssen-Zahlungen nen. Noch heute ermitteln Staatsanwälte in Viel, viel Geld Augsburg und Kanada unter anderem wegen Bestechungsvorwürfen auch gegen ka- Bekannten von ihm, „reichen, einflussreinadische Politiker in diesem und in ande- chen Arabern“, beisammen gesessen, um ren Geschäften. die Möglichkeiten eines solchen Geschäfts Und nun sollte Schreiber bei dem ge- zu besprechen. planten Panzer-Deal wieder seine KontakMan habe ihm versichert, so Maßmann te spielen lassen. In den Räumen der BBC weiter, die Saudis seien in der Lage, eine will Maßmann damals neben Schreiber schriftliche Einladu ng für eine Präsentaauch „Repräsentantion in Riad und die ten aus Saudi-ArabiAufforderung der Ein Vertrag war nicht en“ getroffen haben, Abgabe eines Angenötig, ein Vermerk genügte wie er am 11. Sepbotes zu erreichen. tember 1990 in ei„Für diese Dienste – und die Millionen flossen nem internen Ver… wurde eine Promerk notierte. Wer vision von 1,35 Mildiese Vertreter einer so genannten Beneli- lionen Mark Netto gefordert.“ Er hielt fest: sen-Gruppe gewesen sein sollen, ist bis „Eine schriftliche Vereinbarung hierzu heute nicht bekannt. wurde nicht erstellt.“ Der Geschäftsmann Schreiber bestätigt Maßmanns Wort genügte. Trotz der erdas Treffen. In Kaufering hätte man mit heblichen Summe forderte anscheinend 42 d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 niemand bei Thyssen einen Vertrag. Als am 9. Oktober eine Rechnung der BBC über 1,35 Millionen Mark einging, reichte wenige Tage später ein weiterer Maßmann-Vermerk, um die Zahlung auszulösen: Man habe zwischenzeitlich eine Einladung erhalten und sei bereits zu ersten Gesprächen in Saudi-Arabien gewesen. Damit seien die „Bedingungen für die Zahlung der Provision erfüllt“. Dieser Rechnungsbetrag, notierte der Manager, „sollte umgehend angewiesen werden“. Tatsächlich war das Geschäft mittlerweile ins Rollen gekommen – und dennoch haftet dem Vermerk ein Schönheitsfehler an: Alle Kontakte liefen augenscheinlich über die Ojjeh-Verbindung, eine Benelisen-Gruppe taucht einzig in dem Maßmann-Vermerk auf. Als Thyssen 1996, aufgeschreckt durch die staatsanwaltlichen Ermittlungen, interne Nachforschungen anstellte, bot Maßmann intern eine eigenwillige Erklärung an: Er habe nicht ausschließen können, dass zwischen den beiden Gruppen Verbindungen bestanden hätten. Daher seien die 1,35 Millionen Mark gezahlt worden, um das Projekt nicht zu gefährden. Doch zu diesem Zeitpunkt war das Geschäft über die OjjehGruppe längst eingefädelt. Über A., angeblich ein Ojjeh-Verbindungsmann, erhielt Thyssen Henschel am 26. September 1990 ein Schreiben des saudischen Verteidigungsministeriums. Darin lud Brigadegeneral Abd al-Asis Al Hussein ein technisches Team nach Riad ein und bat um ein Angebot über zehn Spürpanzer Fuchs nebst Ersatzteilen, Logistik und Ausbildung der Mannschaften. Noch am selben Tag erstellte die Kalkulationsabteilung eine erste überschlägige Rechnung: Danach kostet die Umrüstung von zehn Fuchs-Panzern aus Bundeswehrbeständen inklusive des Baus von Ersatzfahrzeugen und einiger Sonderkosten 29,5 Millionen Mark – ein Schnäppchenpreis. In den letzten Tagen des September 1990 war somit die Bühne für den ersten Akt der „Operation Fuchs“ gerichtet: Mit dem Brief des saudischen Verteidigungsministeriums konnte Thyssen Henschel nun offizielle Verhandlungen über den Verkauf von Fuchs-Panzern anbahnen. Und Maßmann hatte seine Kontakte aktiviert, die echte oder vermeintliche Hilfe zum Gelingen des Auftrags leisten konnten. Am Ende zahlten die Saudis für 36 Fuchs-Fahrzeuge in unterschiedlichen Versionen 446 Millionen Mark – allein 220 Millionen Mark für Beraterhonorare und Provisionen. Für Thyssen schien es selbstverständlich, dass solche Großaufträge ohne verdeckte Zahlungen nicht möglich sind. Es Werbeseite Werbeseite GROMIK / SIPA PRESS Titel Vermittler Ojjeh*: Beste Beziehungen in Saudi-Arabien sei doch allgemein bekannt, erklärte der Thyssen-Justiziar Wolfgang Pigorsch den Staatsanwälten, „dass bei Geschäften dieser Art Vermittlungsprovisionen gezahlt werden“. Provisionen dieser Größenordnung aber dürften selbst im Waffengeschäft ungewöhnlich sein. In jenen Tagen trieb die Thyssen-Manager weniger die Frage um, wer noch alles an dem Geschäft verdiente. Ihr Interesse galt offenbar allein dem Verschleiern solcher Zahlungen. Denn nach saudischem Recht sind Vermittlungsleistungen im Zusammenhang mit Waffenlieferungen bei Strafe verboten. Gezahlte Provisionen können vom Auftragswert abgezogen werden. Werden gar saudische Regierungsangestellte oder Offizielle bestochen, wird der Vertrag gekündigt und das Unternehmen von der Lieferantenliste gestrichen. Letztlich habe man vor der Frage gestanden, erklärte Pigorsch den Ermittlern, auf den Auftrag zu verzichten oder zu ting-Verträge, die den wahren Geschäftsgrund benannten. Die heiklen Dokumente wurden allerdings „nicht im Hause breit verteilt“, so Pigorsch. Im Gegenteil: Die Geheimverträge wurden in einem Schließfach des Schweizerischen Bankvereins am Paradeplatz in Zürich hinterlegt, zu dem nur beide Parteien gemeinsam Zugang hatten. Als das Geld eingegangen war, hauchte die Firma ihr Leben aus * Mit Sarah Ferguson beim Großen Preis von Monaco im Mai. 44 REUTERS riskieren, vom saudischen Staat in Anspruch genommen zu werden. Damals habe man dringend Aufträge benötigt und sei deshalb das Risiko eingegangen, habe aber gleichzeitig versucht, es „zu minimieren“. Das Verfahren, das am Ende der Überlegungen stand, war konspirativ und trickreich. Zuerst schloss Thyssen Henschel mit ihren Beratern so genannte Consul- In der Zwischenzeit tüftelten die Manager an offiziellen Papieren, um die saudische Klausel zu umgehen, und verfielen dabei auf das „Konzept Marketing-Vertrag“ (Pigorsch). Oberstes Ziel war es, alle Hinweise auf einen Zusammenhang mit dem Panzer-Geschäft zu tilgen: Statt mit Thyssen Henschel bereiteten sie PR-Verträge mit der Muttergesellschaft Thyssen Industrie AG (TI) in Essen vor. Danach sollten sich die Berater nicht mehr um Aufträge mit dem saudischen Verteidigungsministerium bemühen, sondern in der Golfregion ganz allgemein; und zwar für die gesamte Palette der TI-Produkte. Auch der zeitliche Zusammenhang wurde getilgt. Unterschrieben werden sollten die Verträge offiziell erst nach Abschluss des Liefervertrages für die Fuchs-Panzerfahrzeuge. Als die Marketing-Verträge endlich aufgesetzt werden konnten, sollten sich die Vertreter von Thyssen und den Beraterfirmen nach Zürich aufmachen, um gemeinsam die justiziablen Consulting-Verträge aus dem Schließfach zu nehmen und zu vernichten. Doch die Aktion lief anscheinend nicht reibungslos: Ein Exemplar blieb übrig, es liegt heute in den Akten der Staatsanwaltschaft. Zumindest Maßmann hatte das Papier unterschrieben, kurz bevor er am 28. September 1990 mit einer kleinen Delegation nach Riad aufbrach, um dem saudischen Verteidigungsministerium den Fuchs-Panzer zu präsentieren. Vertragspartner ist eine Ovessim Corporation. Die 1989 gegründete Briefkastenfirma hatte ihren Sitz in Panama City und Direktoren mit Wohnsitz Schweiz. Als alle Zahlungen 1994 geleistet waren, hauchte sie ihr Leben aus. Übereinstimmend vermuteten intern Thyssen-Mitarbeiter später die Firma in der Einflusssphäre der OjjehGruppe. Für ein Jahr sollte nun das Unternehmen Ovessim – laut dem Vertrag – Berater von Thyssen Henschel beim geplanten Verkauf der FuchsPanzerfahrzeuge an das saudische Verteidigungsministerium sein. Als Honorar wurden 27 Prozent des gesamten Auftragswertes vereinbart. Streitigkeiten sollten nach englischem Recht entschieden werden, der Vertrag selbst war strengstens geheim zu halten. Wie wichtig bei solchen Geschäften die Verbindung von richtigen Kontakten und großem Geld sein kann, bewies schon der erste Besuch in Waffenhändler Kaschoggi, Ehefrau „Der Kanal kam nicht zum Tragen“ d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite TORONTO SUN Titel Vermittler Schreiber: Wurden die Millionen zurück nach Deutschland geschleust? in Prozent: 27 26 POL 1 VOLN 2 WE 48 d e r Die kurze Notiz war ein erster Verteilungsschlüssel der späteren Provisionszahlungen, die sich anteilig nach der Auftragssumme bemaßen. Sie legt den Verdacht nahe, dass Zahlungen bereits frühzeitig geplant waren, für die später nur noch ein Grund gefunden werden musste. Die „27“, die Bühler notierte, deckt sich mit dem Honorar der Ovessim im Consulting-Vertrag. Das Kürzel „VOLN“ wurde mit notwendigen Zahlungen an den ExGeneral erklärt. Was „POL“ bedeutet, konnte Bühler bei einer Thyssen-internen Befragung nicht mehr entschlüsseln. Dafür erklärte Maßmann gegenüber Thyssen 1996, POL stehe für Politik. Allerdings bedeute dies keinesfalls Politik im Sinne öffentlicher Stellen, vielmehr sei damit der Hausbrauch gemeint, eine Kalkulationsreserve für ungeplante Kosten einzubauen. An „WE“ hingegen konnte Bühler sich wiederum erinnern, das Kürzel stehe für Rolf Wegener. Der deutsche Geschäftsmann mit Wohnsitz in Monaco gehört zum Typus diskreter Vermittler bei internationalen Geschäften wie sein Kollege Schreiber. Zu seinem Bekanntenkreis zählt auch der damalige FDP-Wirtschaftsminister Jürgen Möllemann (SPIEGEL 49/1998). Doch was soll der Name des Düsseldorfer Geschäftsmanns bereits in einer Notiz vom 8. Oktober 1990? Das Problem – ein Steuerdetail –, das zu lösen Wegener angeblich helfen sollte, taucht frühestens sechs Wochen später erstmals in den Thyssen-Unterlagen auf, der erste nachweisbare Kontakt zu Maßmann gar erst acht Wochen danach. Und seine Spuren in den Do- s p i e g e l R. SUBBIAH Riad: Denn die saudischen Generäle forderten von Maßmann und seinen Kollegen eine Vorführung des Panzerfahrzeugs. Und so soll Maßmann am 4. Oktober 1990 in einem Brief einen ehemaligen amerikanischen General gebeten haben zu prüfen, ob nicht die US-Streitkräfte eine solche Demonstration für Thyssen durchführen könnten. Eine saudische Delegation nach Deutschland einladen wollte man wohl lieber nicht. Der Vorstoß des Managers hatte schnellen Erfolg. Bereits am 19. Oktober konnten sich die saudischen Generäle auf dem amerikanischen Militärstützpunkt in Dhahran einen eigenen Eindruck von der Leistungsfähigkeit des deutschen Rüstungsgutes in Aktion machen. Zwischen Ende 1992 und Anfang 1995 überwies Thyssen rund eine Million Mark an den ehemaligen General. In der Zwischenzeit stiegen die Kosten für die Fuchs-Panzer kräftig. Am 8. Oktober belief sich die Kalkulation für die Neufertigung und Umrüstung von zehn Panzern plus Logistik bereits auf über 115 Millio- Pfahls nen Mark. Und noch immer fehlten die Provisionen in dieser Berechnung. Dass üppige Zahlungen von Anbeginn geplant waren, belegt eine handschriftliche Notiz von Thyssen-Mann Bühler auf der Kalkulation: 4 6 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite J. H. DARCHINGER kumenten enden auch nicht, als die Steuerfrage gelöst war. Zu jenem Zeitpunkt verlagerte sich die Operation Fuchs auch auf eine andere Bühne: Nachdem die Verhandlungen mit den Saudis eingefädelt waren, galt es nun, die deutsche Politik von der Notwendigkeit – und Rechtmäßigkeit – des Deals zu überzeugen. In diesen Oktobertagen des Jahres 1990 wandte sich Thyssen wegen der Panzer zum ersten Mal an das Wirtschaftsministerium. Während Schreiber schon Geld erhalten hatte und Wegener in der Kalkulation anscheinend zumindest berücksichtigt war, beide aber im Vorfeld der Verhandlungen augenscheinlich keine besondere Rolle spielten, liefen die Verbindungen über die Ojjeh-Schiene wie geschmiert. Maßmann reiste zu Treffen nach Köln und London. Dann wieder informierte er den Ojjeh-Verbindungsmann S. über die Panzer-Vorführung in Dhahran. Mittlerweile berücksichtigte Thyssens Kalkulationsabteilung bei ihren Berechnungen für den Auftrag auch so genannte Sonderkosten. Am 24. Oktober ermittelte die Abteilung einen Gesamtwert von rund 220 Millionen Mark für den angestrebten Auftrag. Spätestens am 16. November 1990 traten die Verhandlungen mit den Saudis in die heiße Phase. Gemeinsam mit Bühler reiste Minister Stoltenberg, Staatssekretär Riedl (1987): Letzte Barriere Maßmann an diesem Tag wieder nach Riad. Während der Manager bereits zwei Tage später wieder nach Deutschland aufbrach, feilschte Finanzexperte Bühler bis in den Dezember in der saudischen Hauptstadt um den Vertrag. Schon der erste Vertragsrahmen aus diesen Tagen richtete sich nach saudischem Recht und enthielt das Provisionsverbot. Eine weitere Präsentation vor dem saudischen Generalstabschef muss dort einen tiefen Eindruck hinterlassen haben. Bereits am 22. November erarbeitete Thyssen Henschel einen Lieferplan über 36 Fuchs-Panzerfahrzeuge in verschiedenen Ausführungen, der dem tatsächlichen Vertragsvolumen entsprechen sollte: 10 Spürpanzer, 14 Mannschaftstransporter, 8 Ambulanzfahrzeuge und 4 Kommandofahrzeuge. Dieser Donnerstag im November verlief in Deutschland eher hektisch. Die Steu- Titel erabteilung von Thyssen wies darauf hin, Direktor der ATG Investment Limited dass einige Liefer- und Leistungsteile des Inc., die laut Maßmann über VerbindunVertrages, wie Service und Ausbildung, der gen in saudi-arabische Finanzkreise versaudischen Steuer unterliegen könnten, fügt. Den Kontakt zur ATG habe sein alwenn sie dort erbracht würden. Dies be- ter Geschäftsfreund Schreiber vermittelt. deute eine mögliche Belastung von 6,75 Die Augsburger Ermittler glauben, dass die im Jahr 1984 in Kanada gegründete Prozent des Vertragspreises. Noch am selben Tag traf Maßmann We- Briefkastenfirma Schreiber selber gehört, gener in Bonn. Der Manager will den Ver- was dieser allerdings bestreitet. Zumindest aber mittler, den er aus gibt es enge Geanderen Geschäften schäftsbeziehungen bereits kennt, eingeDie Beziehungen mussten zwischen Wullschläschaltet haben, um wundertätigen Charakter ger und der Schreidieses Steuerrisiko besessen haben ber-Familie. So sitzt zu vermeiden. Wein einer Schweizer gener habe dafür sorgen sollen, dass die kritischen Leis- Gesellschaft, neben Wullschläger auch der tungen nicht Vertragsbestandteil werden. Sohn des bayerischen Geschäftsmanns im Dafür habe er im Erfolgsfall zwei Prozent Verwaltungsrat. Für die Dienste in Saudi-Arabien jedender gesamten Auftragssumme als Honorar falls versprach Maßmann der ATG ein Hozugesagt. Zwei Tage später, an einem Samstag, will norar von sechs Prozent der GesamtaufMaßmann wieder unterwegs gewesen sein, tragssumme. 2,4 Millionen Mark davon um Hilfe bei der Lösung eines weiteren sollte das Unternehmen an Schreibers FirVerhandlungsproblems einzukaufen: Die ma BBC für die Vermittlung des Kontakts Saudis sperrten sich gegen das Thyssen- überweisen. Für das Treffen mit Wullschläger gibt es Begehren, die Zahlungen für die PanzerLieferungen durch einen „Letter of Cre- – außer der Aussage Maßmanns – anscheidit“, der von einer deutschen Bank be- nend keinerlei Beleg; weder in den Spesenabrechnungen noch in seinen Reiseunstätigt war, abzusichern. Aus diesem Grund habe er, Maßmann, terlagen. Überhaupt will der Thyssen-Manager sich am 24. November 1990 mit Lorenzo Wullschläger getroffen. Der Schweizer war die diffizile Materie hauptsächlich telefo- nisch mit dem ATG-Vertreter behandelt haben. Schreiber selber sagt, er habe lediglich mitgeholfen, die Finanzierung des Deals abzusichern und „die Akkreditive für die Saudis zu besorgen“. Dafür hätte letztendlich das Unternehmen ATG gesorgt, und zwar mit Hilfe seiner „arabischen Freunde“. Welcherart die angeblichen Beziehungen in die saudischen Finanzkreise gewesen sein könnten, liegt bis heute im Nebel. Aber sie mussten einen wundertätigen Charakter besessen haben. Denn bereits drei Tage nach dem Treffen faxte Verhandlungsführer Bühler aus Saudi-Arabien den aktuellen Stand in die Zentrale nach Kassel. Danach verpflichtete sich die saudische Seite, einen „von einer deutschen Bank bestätigten Letter of Credit ... zu eröffnen“. Größere Schwierigkeiten hat es anscheinend in Saudi-Arabien nicht gegeben. Thyssen-intern erklärte Bühler, der während der gesamten Zeit in Riad die Verhandlungen führte, er habe die Vertragsinhalte ständig mit Vertretern der Ojjeh-Gruppe abgestimmt – mit Wegener und Wullschläger hingegen habe er zu keinem Zeitpunkt Kontakt gehabt. Diese These stützt auch, dass Hinweise auf die streng geheimen ConsultingVerträge nur noch im Zusammenhang mit Titel zum Preis von 446 Millionen Mark nach Riad reiste, hatte er am Vortag noch schnell eine stressige Tour absolviert: Auf seiner Reiseroute lagen Zürich und Kaufering. Worum es dabei ging, bleibt im Verborgenen, aus den Reisebelegen geht es nicht hervor. In den ersten Tagen des Januars 1991 war damit das lukrative Panzer-Geschäft für Thyssen Henschel perfekt. Maßmanns Verbindung zum Ojjeh-Clan hatte sich für das Unternehmen ausgezahlt; doch um welchen Preis? Insgesamt überwies Thyssen in den folgenden Jahren 184 Millionen Mark an die Briefkastenfirmen Ovessim und Linsur in Panama. Doch das Stück „Operation Fuchs“ war mit dem Vertragsabschluss noch längst nicht zu Ende. In Deutschland standen die Thyssen-Manager Anfang Januar vor ernsthaften Problemen, bei ihrem Projekt hakte es von Anbeginn an allen Ecken und Enden: π Der Fuchs-Panzer galt als Kriegswaffe im Sinne des Kriegswaffenkontrollgesetzes und konnte deshalb nicht in Krisengebiete geliefert werden; π gegen Waffenlieferungen nach Saudi-Arabien gab es ressortübergreifend in den verschiedenen Ministerien größte Bedenken; π selbst bei der Erteilung einer Exporterlaubnis war Thyssen Henschel gar nicht in der Lage, auf die Schnelle die bestellten 36 Panzer aus eigenen Beständen zu liefern. Monatelang hatte Thyssen Henschel parallel zu den Verhandlungen in SaudiArabien immer wieder versucht, die Hürden in Deutschland aus dem Weg zu räumen. Bereits am 25. September 1990 fragte der Konzern im Außenministerium nach, ob er mit der Liefererlaubnis für zehn Fuchs-Panzer nach Saudi-Arabien rechnen könne – ohne Erfolg. Im Wirtschaftsministerium stellten die Manager am 29. Oktober 1990 den Antrag, den Fuchs-Panzer gleich ganz von der Kriegswaffenliste zu streichen und künftig lediglich noch als „sonstiges Rüstungsgut“, das geringeren Exportbeschränkungen unterliegt, zu deklarieren. Zwei Tage später wandte sich Maßmann direkt an den damals zuständigen Staatssekretär Erich Riedl, gegen den auch die Augsburger Staatsanwaltschaft ebenfalls seit Jahren ermittelt, sich der Sache im Sinne des Unternehmens anzunehmen. Doch der Vorstoß blieb vorerst noch ohne Wirkung. Nur im Verteidigungsministerium musste die Kasseler Rüstungsfirma zu diesem Zeitpunkt anscheinend nicht selbst aktiv werden. Dort machte der inzwischen in Asien untergetauchte ehemalige Staatssekretär Pfahls Druck für das Projekt CORBIS SYGMA Firmen zu finden sind, die dem Ein- Mark waren in der Aufstellung anonym flussbereich des Ojjeh-Clans zugeordnet aufgeführt. In Riad war das Geschäft zu diesem Zeitwerden. In Riad liefen derweil die Verhandlungen punkt bereits so gut wie in trockenen weiter, der Kontrakt nahm seine endgülti- Tüchern. Doch am 29. Dezember schickte ge Gestalt an. Ende November war die ein Ojjeh-Verbindungsmann aus SaudiSteuerproblematik gelöst, der Letter of Arabien eine Alarmmeldung, die vor allem eins deutlich macht – offizielle KonCredit abgenickt. takte waren beim Als Bühler am Panzer-Deal uner6. Dezember mit wünscht und eher dem nahezu fertigen Offizielle Kontakte kontraproduktiv. Vertragswerk nach waren beim Panzer-Deal Er habe gehört, Deutschland zurückunerwünscht faxte der Ojjeh-Bekehrte, nahm Kolleauftragte an einen ge Maßmann erneut seine Reisetätigkeit auf: In den folgenden Thyssen-Mann, der offizielle FirmenverTagen traf er wieder eine ganze Reihe sei- treter in Riad spreche mit einer Reihe von ner Vermittler aus dem In- und Ausland – Leuten über das Projekt und versuche, jede mal in Köln, mal in Düsseldorf oder auch mögliche Hilfe zu gewinnen. Das Projekt laufe wunderbar und benötige von niein Paris. Am 13. Dezember 1990 tauchte auch der mandem Unterstützung: „Bitte haltet euBeschuldigte Winfried Haastert in den Un- ren Mann in Riadda raus.“ Als Maßmann am 5. Januar 1991 endterlagen auf. An diesem Tag faxte Maßmann dem Vorstandsmitglied von Thyssen lich zur Vertragsunterzeichnung für die Industrie ein Projektpapier des Panzer- Lieferung von 36 Fuchs-Panzerfahrzeugen Deals zu, angeblich ausschließlich zur Information. Doch ausgerechnet dieses Dokument belegt erstmals, welch gigantische Summen als Provisionen fließen sollten. Und selbst diese Zahlen waren noch zu tief gegriffen, da der damals angenommene Auftragswert von 415 Millionen Mark noch steigen sollte. Die Zahlen waren nicht mit Adressaten verknüpft, später lieferte Maßmann intern Erläuterungen: 73 Millionen Mark seien ein so genannter Flexibility Fund, der auf den Auftragswert aufgeschlagen worden sei und zu Zahlungen an die Ojjeh-Gruppe geführt haben soll. Weitere 95,3 Millionen Mark standen der Gruppe aus dem Consulting-Vertrag mit Ovessim zu. Zusätzliche Provisionen von 25,6 Millionen Mark und 8,5 Millionen Schließfächer des Schweizerischen Bankvereins: Geheimverträge hinterlegt 52 d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Titel – auf eine Art und Weise, die seherische Fähigkeiten voraussetzt. Im September 1990 ließ der CSU-Mann, der 3,8 Millionen Mark aus dem PanzerGeschäft kassiert haben soll, die Hauptabteilung Rüstung prüfen, ob unter anderem zehn Fuchs-Panzer aus Bundeswehrbeständen an Saudi-Arabien geliefert werden könnten – gut zwei Wochen bevor Thyssen Henschel überhaupt von dem Königreich erstmals offiziell aufgefordert wurde, ein Angebot über exakt diese Zahl von Spürpanzern abzugeben. erforderlich“: Man benötige die „Genehmigung der Ausfuhr dieser Fahrzeuge“ und die „Zurverfügungstellung von Transportpanzern aus Bundeswehrbeständen“. Prägnanter ließen sich die Probleme des Unternehmens nicht umreißen. Schreiber bestreitet, auf der politischen Bühne im Hintergrund irgendeine Rolle gespielt zu haben. Er habe an niemanden Schmiergeldzahlungen geleistet, auch nicht an Staatssekretär Pfahls. So etwas sei überhaupt nicht nötig gewesen, da der „Deal ein Bombengeschäft für die „Fuchs“-Produktion bei Thyssen-Henschel: Zu wenig Panzer auf Lager In den folgenden Tagen und Wochen Bundeswehr war“. Den Widerstand habe setzte sich Pfahls immer wieder in den er nie verstanden: „Da waren Bürokraten verschiedenen beteiligten Ministerien und am Werk, die das Geschäft gar nicht beim Bundeskanzleramt dafür ein, endlich griffen haben.“ Und wieder wurde Maßmann umtriebig die Waffen an Saudi-Arabien zu liefern. Dass sich sein Vorgesetzter, der damalige und reisefreudig. Doch nun pflegte er vor CDU-Verteidigungsminister Gerhard Stol- allem die Kontakte zu den deutschen Mittenberg, zu jener Zeit vehement für die telsmännern. Am 16. Januar reiste er nach Beibehaltung der restriktiven Export- Kaufering, dem Wohnort von Schreiber. Am folgenden Tag richtlinien einsetzte, traf er in Bonn focht ihn offenbar Wegener, den deutnicht an. Der Widerstand in den schen GeschäftsPfahls’ EngageBonner Ministerien löste mann mit Wohnsitz ment war ganz im sich langsam auf in Monaco. WeiteSinne Thyssen Henre Zusammenkünfte schels. Zwar hatte das Unternehmen nun einen Liefervertrag folgten in den nächsten Wochen – obwohl mit Saudi-Arabien, aber keine Exportge- doch der Vertrag mit den Saudis unter nehmigung in Deutschland und zu wenig Dach und Fach und damit der vorgebliche Panzer auf Lager. Damit jedoch fehlte dem Arbeitsauftrag von Schreiber und Wegener eigentlich erledigt war. lukrativen Geschäft die Basis. Zur gleichen Zeit wurde Maßmann im Doch wozu hat man Freunde und Vermittler? Am 11. Januar 1991 verfasste Maß- Bonner Regierungsviertel aktiv. Am 28. Jamann eine vertrauliche Notiz. Um mög- nuar stellte Thyssen Henschel im Wirtlichst schnell die 36 Panzer nach Saudi- schaftsministerium den Antrag, die FuchsArabien liefern zu können, notierte der Panzer nach Saudi-Arabien liefern zu dürManager, sei „im Wesentlichen Folgendes fen. Wieder übergab Maßmann postwen56 d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 dend eine Kopie an den Staatssekretär Riedl. In den folgenden Wochen löste sich der Widerstand gegen das Geschäft in den Bonner Ministerien langsam auf: im Wirtschaftsministerium, im Außenministerium, im Verteidigungsministerium und im Bundeskanzleramt. Am 27. Februar 1991 genehmigte der Bundessicherheitsrat die Lieferung der Panzerfahrzeuge nach SaudiArabien. Einen Tag nach dem Beschluss des geheimen Gremiums war Desert Storm, die Aktion zur Rückeroberung Kuweits durch die alliierten Truppen, beendet, der Golfkrieg war vorüber. Zwei Wochen später lag auch die Ausfuhrerlaubnis des Bundesamts für Wirtschaft vor. Noch immer galt es für Maßmann, eine letzte, grundsätzliche Barriere aus dem Weg zu räumen – der Rüstungskonzern war überhaupt nicht in der Lage, fristgerecht 36 Spürpanzer für die Saudis herzustellen. Also wandte sich der Manager wieder einmal an die hilfreichen Geister – dieses Mal an den Verteidigungsstaatssekretär Pfahls. Man müsse der saudischen Regierung, ließ Maßmann den CSU-Mann in einem Schreiben vom 12. März 1991 wissen, binnen kürzester Zeit 36 FuchsFahrzeuge liefern. Um dem Ansinnen folgen zu können, „bitten wir darum, uns aus Bundeswehrbeständen Fahrzeuge zur Verfügung zu stellen“. Im Gegenzug erhalte die Bundeswehr später neue Panzerfahrzeuge als Ersatz. Der Staatssekretär bemühte sich um prompte Erledigung, machte er doch schon seit Monaten Lobby für das Thyssen-Projekt im Ministerium: Noch am gleichen Tag genehmigte Pfahls die Thyssen-Bitte und bat die Hauptabteilung Rüstung und den Chef des Heeresstabes im Ministerium, „unverzüglich einen Bericht über die eingeleiteten Maßnahmen“ zu liefern. Der Wunsch von Thyssen Henschel stieß jedoch bei den Militärs der Hardthöhe auf wenig Zustimmung. Im Gegenteil. Bereits zwei Tage später gab die Heeresleitung in einem internen Vermerk ihre Linie aus: „Dieser Vorgehensweise bzgl. Spürpanzer nicht zustimmen.“ Die ablehnende Haltung der militärischen Führung hatte gute Gründe: Während des Golfkriegs hatte die Bundeswehr bereits 79 Spürpanzer an andere Nato-Partner abgetreten. Damit war der eigene Bestand auf 58 Fahrzeuge abge- Werbeseite Werbeseite schmolzen. Schon auf diesem Stand sah Verträge mit den Firmen Ovessim und in Genf wurde die erste Rate von insgesamt die Heeresleitung die „ABC-Abwehr- Linsur, die innerhalb des Konzerns der 35 Millionen Mark überwiesen. Unter der fähigkeit des Heeres“ und die „Ausbil- Umgebung der Vermittler-Gruppe um Schecknummer 231651594 verbuchte Thysdungsfähigkeit der ABC-Abwehrtruppe er- Mansour Ojjeh zugerechnet wurden. Das sen 55 Millionen Mark zu Gunsten der Linheblich beeinträchtigt“. Und nun sollten Vertragsformular war in allen Fällen das sur, ebenfalls bei der CCF in Genf. Doch wie stand es um die Entlohnung weitere 36 Panzerfahrzeuge nach Saudi- gleiche. Mit den Vereinbarungen ernannte der der deutschen Vermittler? Ebenfalls am 18. Arabien geliefert werden. Doch Pfahls wischte alle Bedenken vom Konzern die panamaische Briefkastenfir- Juni unterschrieben TI-VorstandsvorsitTisch. In einer gemeinsamen Sitzung auf ma Ovessim zu seinem „Berater für Mar- zender Eckhard Rohkamm und sein Fider Hardthöhe am 20. März 1991, an der keting-Zwecke in der Golf-Region“. In den nanzvorstand Ernst Höffken einen weiteauch Maßmann teilnahm, entschied der Bereichen Verteidigungs-, Verkehrs- und ren Marketing-Vertrag, diesmal mit der Umwelttechnologie Great Aziz Corp. Über das BriefkastenunStaatssekretär, dass sollte sie Marktana- ternehmen ist so gut wie nichts bekannt; dem Kasseler Unterlysen erstellen oder außer dass es am 12. Mai 1994, drei Monanehmen im Rahmen Die „Operation Fuchs“ auch einfach die te nachdem Thyssen die letzte Rate übereines Sachdarlehens strebte ihrem Höhepunkt Beschreibung von wiesen hatte, in Liquidation ging. innerhalb von 14 Tazu – dem Zahltag Trends. Nur eines Bei einer internen Thyssen-Befragung gen insgesamt 36 sollte sie nicht: Zur 1996 erklärte Maßmann, dass er das UnFahrzeuge der Bundeswehr zur Verfügung gestellt werden Aufgabe der Firma gehöre nicht „der ternehmen damals Rolf Wegener zuordsollten. Zugleich erklärte er sich namens Abschluss und die Vermittlung von Ver- nete. Tatsächlich trägt der Marketing-Vertrag für das Unternehmen die Unterschrift des Ministeriums bereit, später saudische trägen“. Ganz ließ sich der Zusammenhang zum Wegeners. Die Vereinbarung garantierte Soldaten auf dem Gerät in der ABC-Schuheiklen Panzer-Geschäft dennoch nicht für drei Jahre ein Gesamthonorar von le Sonthofen ausbilden zu lassen. Pfahls’ einführende Erläuterung, dass verdecken. Unter Paragraf 8 waren die Ho- 8,93 Millionen Mark – ebenjene zwei Prodieses Vorgehen der „Wunsch des Kanz- norarausschüttungen an die Vermittler an zent des Auftragsvolumens, die bereits Anleramtes und maßgeblicher Kräfte im deut- Zahlungen des saudischen Verteidigungs- fang Oktober des Vorjahres unter dem Kürzel „WE“, das für Wegener stehen sollschen Bundestag“ sei, wurde nachträglich ministeriums gekoppelt. In den so genannten Due Dates of pay- te, in der ersten Provisionsübersicht noaus dem Ergebnisprotokoll gestrichen. Am Mittwoch, dem 20. März 1991, waren ments, den Zahlungsplänen, die am 18. Juni tiert waren. damit Maßmanns Marketing-Anstrengungen von Erfolg gekrönt. Zwar musste noch der Sachdarlehensvertrag mit der Bundeswehr verhandelt, mussten einige Details mit der saudischen Regierung geregelt werden. Doch von diesem Zeitpunkt an war das Panzer-Geschäft mit Saudi-Arabien endgültig unter Dach und Fach. So sahen es die Thyssen-Manager. Bereits am 21. März – einen Tag nachdem Staatssekretär Pfahls die Entscheidung auf der Hardthöhe durchgeknüppelt hatte – saßen Maßmann und ein Mitarbeiter der Finanzabteilung der Thyssen Industrie AG im Flugzeug, um drei der Ojjeh-Verbindungsmänner zu treffen – dieses Mal in London. Mit einem Scheck im Aktenkoffer nahm Maßmanns Kollege die nächste Maschine zurück nach Deutschland. Noch am selben Tag wurde bei der Commerzbank, Essen, der Scheck als erste Rate für das PanzerGeschäft auf einem Thyssen-Konto gutgeschrieben. Wert: 89 275 896 Mark, 20 Prozent der Auftragssumme. Von nun an strebte das Finale der „Operation Fuchs“ seinem eigentlichen Höhe- Oberstaatsanwalt Nemetz: Verdacht auf Untreue, Steuerhinterziehung und Bestechung punkt zu – dem Zahltag. Zu verteilen waunterschrieben wurden, waren die genauBereits drei Tage nach Unterschrift stellren immerhin 220 Millionen Mark. Zuvor aber galt es, das Konstrukt aus en Fälligkeitsdaten für die Einzelraten der te Great Aziz – „entsprechend unseres VerScheinverträgen mit den Vermittlern zu Beraterhonorare festgehalten. Und die trages“ – die erste fällige Rate über fünf vollenden, um die Spuren zu verwischen. nahmen sich üppig aus: Insgesamt erhielt Millionen Mark in Rechnung. Und ebenso Noch immer lagerten die Consulting-Ver- Ovessim zwischen Juni 1991 und Dezember prompt wurde die Summe überwiesen. Die „Operation Fuchs“ lief planmäßig träge mit den Vermittlern, die wegen des 1993 67,5 Millionen Mark, auf das LinsurProvisionsverbots im Liefervertrag eigent- Konto wurden sogar 116,5 Millionen Mark ihrem Ende entgegen – sieht man davon ab, dass noch immer die Kleinigkeit von 24,4 lich gar nicht existieren durften, sicher gezahlt. Noch am Tag der Unterschrift unter die Millionen Mark Beraterhonorar bei Thysverwahrt im Zürcher Bankschließfach. Am 8. Mai 1991 unterschrieben die zuständigen Zahlungspläne floss das erste Geld: Auf sen bereitstanden, aber anscheinend noch Manager der Thyssen Industrie AG die die Ovessim-Konten 269915 und 269914 bei kein Empfänger für das Geld ausgemacht ersten beiden unverdächtigen Marketing- der Crédit Commercial des France (CCF) war. Als Thyssen am 3. Juli 1991 eine Fäl58 d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 DPA Titel „Fuchs“-Panzer in Saudi-Arabien: Mehrfach überhöhte Preise für deutsche Qualitätsgüter ligkeitsliste aus den Zahlungen der Mar- mann und Schreiber vor dem Problem, keting-Verträge erstellte, wird der Betrag, nicht nur den wahren Adressaten des Gelder später über die Beratungsfirma ATG des nach außen verschleiern zu müssen, an Schreiber ging, unter „NN“ als Glo- auch innerhalb des Konzerns durfte er balsumme aufgeführt – fällig seit dem nicht bekannt werden. Bei dieser Aktion geriet wohl einiges 10. Juni 1991. Das Verwirrspiel um die Schreiber-Mil- durcheinander. Am 7. Mai 1991 hatte lionen macht Sinn, wenn man der Ansicht Schreibers Unternehmen BBC bereits der Augsburger Staatsanwälte folgt. Diese Thyssen Henschel 2,4 Millionen Mark in gehen davon aus, dass ein Teil des Geldes Rechnung gestellt; das zugesagte Honorar zurück nach Deutschland ging; zum Bei- für die angebliche Kontaktanbahnung mit spiel an die CDU. Schreiber hatte den da- ATG, die jedoch bis zu diesem Zeitpunkt maligen Schatzmeister der Partei, Walther noch keinen Marketing-Vertrag unterLeisler Kiep, in einem Schreiben vom 20. schrieben hatte. Allerdings fanden sich Februar 1991 um Hilfe bei der politischen gleich zwei BBC-Rechnungen über denselben Betrag, aber Durchsetzung des mit unterschiedliPanzer-Geschäfts gechen Begründungen: beten. Der Panzer-Deal war Mal ging es um Mögen die andefür alle Beteiligten ein Beraterleistungen im ren Zahlungen auch gutes Geschäft Zusammenhang mit moralisch verwerfdem Nahen Osten, lich sein, aus Sicht des Konzerns waren sie rechtmäßig, mal in „fernöstlichen Ländern“. Abgeschließlich gingen die Gelder an so ge- bucht wurde das Geld bei Thyssen Hennannte Steuerausländer. Und auch bei den schel schließlich am 11. Juni mit dem VerSchreiber-Millionen ging man in den Chef- merk: „Für Thailand“. Die Zahlung stand etagen von Thyssen davon aus, dass diese aber offensichtlich im Zusammenhang mit Gelder ins Ausland flossen, um das Panzer- der Vermittlung von Kontakten im saudiGeschäft zu befördern – weder die Staats- schen Geschäft. Schreiber erhielt nach eigenen Angaben anwälte noch interne Thyssen-Prüfer fanden für das Gegenteil einen Beleg. Ge- im Zusammenhang mit dem Panzer-Gegenüber den Thyssen-Managern und dem schäft ausschließlich diese 2,4 Millionen zuständigen Finanzamt Düsseldorf erklär- Mark plus die zuvor gezahlten 1,35 Milliote der Geschäftsmann standfest, dass alle nen Mark, die er ordnungsgemäß versteuGelder letztendlich an Steuerausländer ge- ert habe. In diesen Tagen hatte Maßmann bei all gangen seien. Nur so konnte Thyssen die Provisionszahlungen als „nützliche Ausga- der Geschäftigkeit anscheinend den Überblick verloren. Allem Anschein nach ben“ absetzen. Wenn die Ermittlungsergebnisse der wurden mehrere Adressaten für das noch Staatsanwälte also zutreffen, standen Maß- ausstehende Honorar über sechs Prozent d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 des Auftragsvolumens erwogen und wieder verworfen. Am 24. Juli 1991 war schließlich der letzte noch fehlende Vertragspartner gefunden. An diesem Tag trafen sich der Thyssen-Justiziar Pigorsch und Maßmann mit dem Treuhänder Wullschläger, um den Marketing-Vertrag mit ATG zu unterschrieben. Am 2. August überwies der Konzern die ersten 11 Millionen von insgesamt 24,4 Millionen Mark auf das Konto Nummer 47252 der Swiss Bank Corp. in Zürich. Am Ende konnten alle zufrieden sein: Zwischen Juli und Dezember 1991 verschiffte die United Arab Shipping Company die 36 Fuchs-Panzerfahrzeuge nach Saudi-Arabien. Damit hatte der arabische Staat – allerdings zu einem mehrfach überhöhten Preis – endlich lang ersehnte deutsche Qualitäts-Rüstungsgüter, deren Lieferung vorher undenkbar schien. Durch den Sachdarlehensvertrag zwischen dem Verteidigungsministerium und Thyssen Henschel vom 26. Juli 1991 erhielt die Bundeswehr 10 neue Spürpanzer und 26 Transportpanzer. Trotz der horrenden Provisionszahlungen machte Thyssen Henschel bei dem Panzer-Deal noch ein gutes Geschäft, mit einer Umsatzrendite von über 15 Prozent. Am 8. Februar 1994 gingen 430 000 Mark auf das Konto der Gesellschaft Great Aziz ein. Mit dieser allerletzten Provisionsrate waren insgesamt rund 217 Millionen Mark an die vier Briefkastenfirmen gelaufen. Wären 1995 nicht die hartnäckigen Ermittler der Provinzstaatsanwaltschaft Augsburg auf den Plan getreten, die „Operation Fuchs“ wäre für alle Akteure ein voller Erfolg geworden. Markus Dettmer 59 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite F. DARCHINGER P. LANGROCK / ZENIT Deutschland Bonner Verteidigungsministerium, Zweitsitz Bendler-Block in Berlin: Systematisch geplante Arbeitserschwerung H AU P T S TA D T „Hallo, wo seid ihr?“ Bonn und Berlin sollten sich die Regierungsarbeit teilen. Doch nun erledigen die Minister alles Wichtige an der Spree. Den getrennten Apparaten hilft auch Hightech nicht weiter. F transferieren. Wütend brachen die Abgeordneten daraufhin am nächsten Tag ihre Sitzung ab: Erst nachmittags waren zehn Bonner zur Stelle. Regieren im Herbst 1999. Das ist der Versuch, eine systematisch geplante Erschwernis zu ignorieren: die Spaltung des Regierungsapparates. Zwei Drittel der insgesamt rund 18 000 Arbeitsplätze sowie 6 von 14 Ministerien sollen mit ihrem „1. Dienstsitz“ dauerhaft am Rhein bleiben. Nur mit diesem Zugeständnis war den Umzugsgegnern einst ihre Zustimmung abzuringen. Doch nur zwei Monate nach dem Einzug von Parlament und Regierungsspitzen in Berlin hat sich das politische Geschäft beinahe vollständig in die Hauptstadt verla- BACH & PARTNER ür die Debatte der Gesundheitsreform wollte der zuständige Bundestagsausschuss sich gerade mal 45 Minuten Zeit nehmen. Da müsse es doch reichen, wenn fünf Bonner Beamte zwecks Beratung eingeflogen würden. Das jedenfalls meinte Werner Sipp, Leiter des Parlaments- und Kabinettsreferates von Gesundheitsministerin Andrea Fischer. Doch am Nachmittag vor der Sitzung verabredeten die Politiker für den folgenden Tag eine mehrstündige Debatte. Sie verlangten nun gleich die Präsenz von zwölf Ministerialen in Berlin. Und bescherten damit dem Referatsleiter Sipp eine kaum lösbare Aufgabe: So schnell lassen sich so viele Beamte offenbar nicht aus Bonn in die neue Hauptstadt Videokonferenz im Berliner Arbeitsministerium*: Sog gen Osten 62 d e r s p i e g e l gert. Prompt zeigt sich: Die Arbeit der zersplitterten Bürokratie wird noch schwerfälliger, noch teurer und kostet mehr Nerven. Auch Minister mit offiziellem Hauptsitz am Rhein führen am liebsten in Berlin ihre Geschäfte. Sie mühen sich zwar redlich, die strengen Personalräte nicht wegen seltener Anwesenheit zu verärgern. Trotzdem kreuzt etwa Gesundheitsministerin Fischer höchstens alle zwei Wochen in ihrem Bonner Hauptsitz auf. Bei Abwesenheit des Chefs aber leidet die Arbeitsmoral der Truppe, fürchtet zum Beispiel Verteidigungsminister Rudolf Scharping. Deshalb streift der SPDPolitiker in sitzungsfreien Wochen inzwischen häufiger über die Flure der Hardthöhe. Wenn allerdings das Parlament tagt, reicht die Zeit noch nicht einmal zur Stippvisite. In den Sitzungswochen hingegen hasten viele Bonner durch den Reichstag und das umliegende Regierungsviertel. Abteilungsleiter Hermann Schulte-Sasse aus dem Gesundheitsressort, zum Beispiel, lebt dann oft tagelang aus dem Koffer, fliegt mehrfach zwischen Köln und Berlin hin und her und absolviert von 8 Uhr bis 23 Uhr pausenlos Termine. Wie sehr die kleine Stadt am Rhein für das politische Kerngeschäft abgemeldet ist, illustrieren die Treffen zwecks Absprachen zwischen den Ressorts: Sie finden fast nur noch in Berlin statt. „Sogar die Bonner Ministerien müssen nach Berlin einladen“, berichtet Jürgen Trittins Abteilungsleiter Rainer Hinrichs-Rahlwes, „die Berliner kommen sonst nicht.“ Und der Sog gen Osten wird noch stärker. Freie Stellen vor allem im gehobenen und höheren Bonner Dienst sind nicht mehr leicht zu besetzen. Seit längerem findet zum Beispiel Finanzminister Hans Ei* Mit Staatssekretär Werner Tegtmeier (M.). 4 6 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Deutschland P. LANGROCK / ZENIT Viele Fragen, glaubt Haushaltsausschuss-Vorsitzender Adolf Roth (CDU), ließen sich mit den Berliner Kopfstellen klären. Wenn er sich da mal nicht täuscht. Auf Hochtouren kann die Regierungsmaschine an der Spree nur dienstags bis donnerstags arbeiten. Freitags ab 14 Uhr und montags vor Mittag geht so gut wie nichts, weil die Pendler unterwegs sind. Sie müssen, wie bei einer Pauschalreise nach Katmandu, „am Flughafen bis 90 Minuten vor Abflug“ ankommen, hat das Kölner Bundesamt für Güterverkehr verfügt, um die Beamten-Bomber der beauftragten Fluglinien zu besteigen. Mit An- und Abreise wird auch aus einem halbstündigen Palaver eines hochdotierten Regierungsnomaden flugs ein voller Arbeitstag, zum Ärger der ohnehin gestressten Berliner Bürokraten. „Dieses Durcheinander kann kein Dauerzustand bleiben“, ärgert sich Verteidigungsstaatssekretär Walter Stützle. Insgeheim hat seine Truppe bereits ausgemessen, dass in dem riesigen Bendler-Block am Landwehrkanal, wo nach dem Umbau Scharping mit 350 Ministerialen residieren soll, sogar 2000 Personen Platz fänden. Raum genug also für ein verkleinertes, aber ungeteiltes Ministerium. Auch im Kanzleramt verspüren Schröders Mitstreiter teilweise einen „hohen Druck, das bestehende Modell zu verändern“, sagt ein Spitzenkader. Schon laufen Wetten, wie lange das Experiment mit der Doppelkopf-Regierung noch geht. Der Haushaltsausschuss-Vorsitzende Roth ist da ziemlich skeptisch: „Die Illusion, der momentane Zustand sei ewig haltbar, schwindet rasch.“ Doch die rot-grüne Koalition fürchtet, wie ihre Vorgänger, das einflussreiche Nordrhein-Westfalen. Vor den Landtagswahlen im kommenden Frühjahr soll eine Debatte möglichst nicht hochkommen. Vorsorglich hat Innenminister Otto Schily (SPD) im Entwurf einer umfangreichen Kabinettsvorlage „Moderner Staat, moderne Verwaltung“ darauf verzichtet, das Thema überhaupt zu erwähnen. Die Bonner haben sich allerdings schon längst auf den Verlust eingestellt und finden durchaus Ersatz für die fehlende Hauptstadtfunktion. An Silvester können bei Beethovens Neunter Sinfonie 800 Gäste, so haben es die Stadtoberen beschlossen, unter dem Bundesadler im ehemaligen Plenarsaal feiern. Gegen Mitternacht will der vor Ort prominente Kabarettist Konrad Beikircher ans Rednerpult treten, zur „Neujahrsansprache 2000“. Petra Bornhöft, Pendelnde Ministerialbeamte (in Berlin): Regierungsmaschine auf Hochtouren chel keine geeigneten Kandidaten für drei Spitzenjobs in Bonn. Dabei schien Deutschlands politischer Doppelkopf optimal organisiert. Was Menschen und Orte trennt, soll die Technik zusammenführen. Der Einsatz von E-Mail, Videokonferenzen und elektronischer Akte, versprachen die Leute des regierungsamtlichen „Informationsverbundes Berlin-Bonn“ (IVBB), werde die 600 Kilometer Distanz praktisch vergessen machen. Leider aber funktioniert die interne Kommunikation schlecht, besonders in den Bonn-Ressorts. Auf den zwei Kreuzberger Etagen des Entwicklungshilfe-Ministeriums – erster Dienstort Bonn – liegen die Räume von Ministerin, Staatssekretären und Pressesprechern eng beieinander. Doch selbst einfache telefonische Anfragen landen im Nichts, „seit das Berlin-Ding läuft“, wie eine Sprecherin einräumt. Ministeriale in allen Ressorts tun sich schwer, Informationen per E-Mail auszutauschen. Scharpings Staatssekretäre im Berliner Bendler-Block etwa, von den Stäben der Hardthöhe auf diesem Wege mit Vorlagen versorgt, mögen die Texte nicht selber ausdrucken. Sie erwarten, dass Untergebene, wie es in Bonn Brauch war, die Papiere in die dafür vorgesehenen Mappen einsortieren. Dafür freilich fehlt in Berlin das Personal. Besprechungen per Videokonferenz sind auch nicht sehr verbreitet und beschränken sich auf unkomplizierte Themen. Im Berliner Arbeitsministerium, dessen Personal zu 80 Prozent in der Bonner Außenstelle zurückblieb, bittet Walter Riesters Sprecherin, Franziska Fitting, einige Öffentlichkeitsarbeiter zum virtuellen Treffen unter dem Porträt des Bundespräsidenten. Kaum hat sie die auf dem Bildschirm unscharf erkennbaren Kollegen begrüßt, scheppert es aus dem Lautsprecher: „Hallo, wo seid ihr?“ Die Bonner 64 können nichts sehen, und die Berliner haben ihre Fernbedienung für die Kamera unter irgendeine Aktenmappe rutschen lassen. Auf der Tagesordnung stehen Absprachen über Filme und Broschüren des Ressorts. Ein Deckblatt, das der Bonner Beamte in die Kamera hält, lässt Fitting heranzoomen – auf der Mattscheibe erscheint auch die Hand des Bonners immer größer. „Du hast wohl gestern im Garten gegraben“, lästert ein Berliner. Für Heiterkeit sorgt der Umgang mit dem ungewohnten Medium allerorten. Bild- und Tonqualität sind teilweise noch so schlecht, dass Gesundheitsstaatssekretär Erwin Jordan zu Beginn der virtuellen Konferenzen die Beamten ermahnt: „Meine Herren, bitte sprechen Sie langsam und bewegen sich nicht so schnell.“ Selbst in Häusern, wo die vom IVBB zugesagte Leitungskapazität inzwischen installiert ist, die Technik funktioniert und gar probeweise Akten am Bildschirm bearbeitet werden, hat sich die Zahl der Dienstreisen zwischen den Städten drastisch erhöht. In der neuen Hauptstadt erwarten die Abgeordneten den gleichen Bürokraten-Service wie früher. Der Aufwand mutet schon mal grotesk an. So mussten unlängst 70 hohe Militärs und Zivilisten des Verteidigungsministeriums mitsamt Aktenbergen in einer „Transall“ an die Spree fliegen, um dort vier Parlamentariern Rede und Antwort zu stehen. Dass bei der Einbringung des Etats im Plenum hinter der Regierung kein hoher General gesessen habe, bedauert der CDUWehrexperte Paul Breuer heftig. Doch was „früher immer üblich“ war, erscheint heute als schierer Reiseluxus. Wenigstens die sparsamen Haushälter wollen sich von einigen Gewohnheiten trennen und nicht mehr zu jedem Tagesordnungspunkt Bonner Beamte bestellen. d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 Alexander Szandar Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Deutschland S P I E G E L - G E S P R ÄC H „Abschied von der alten BRD“ M. URBAN Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reinhard Höppner (SPD) über die Wahlniederlagen seiner Partei, das Verhältnis zur PDS und die Identitätsprobleme der Westdeutschen nach neun Jahren Einheit SPIEGEL: Herr Ministerpräsident, Gerhard Schröder hat versprochen, den Aufbau Ost zur Chefsache zu machen.Haben Sie davon schon etwas bemerkt? Höppner: Der Kanzler nimmt sich der Sache inzwischen deutlich an. Trotz der Sparmaßnahmen sind 2,3 Milliarden Mark mehr für den Aufbau Ost im Haushaltsplan 2000 eingestellt als bei der letzten Regierung Kohl. Die Koalition lässt keinen Zweifel daran, dass der Solidarpakt auch nach 2004 fortgesetzt wird. SPIEGEL: Sind die Ost-Wähler zu dumm, dies als Wohltat zu begreifen? Höppner: Unser dramatischer Einbruch bei den Landtagswahlen im Osten lag daran, dass wir uns um die Fragen der Gerechtigkeit nicht genug gekümmert haben. Das ist zwar sachlich nicht ganz berechtigt. Denn unter dem Strich sind die kleinen und mitt- 68 Reinhard Höppner regiert seit 1994 mit einem Minderheitskabinett in Sachsen-Anhalt – toleriert von der PDS. In der DDR war der studierte Mathematiker in der evangelischen Kirche engagiert und Vizepräsident der letzten, frei gewählten Volkskammer. Seit den Wahlniederlagen der SPD im September sind er und der niedersächsische Ministerpräsident Gerhard Glogowski die einzigen Sozialdemokraten, die ohne Koalitionspartner ein Bundesland regieren. Nach dem Auseinanderbrechen des SPDSpitzenduos Regine Hildebrandt und Manfred Stolpe in Brandenburg gilt nun der wesentlich jüngere Höppner, 50, zunehmend als Vormann der ostdeutschen Sozialdemokraten. d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 leren Einkommen entlastet worden. Aber die SPD hat zugelassen, dass im Land der Eindruck entstand, die Gerechtigkeit wäre uns nicht mehr so wichtig. Und da ist der Osten nun besonders empfindlich. SPIEGEL: Wodurch entstand dieser Eindruck? Höppner: Durch falsche Symbole. Oskar Lafontaines Rückzug war eines davon … SPIEGEL: … die Zigarre des Kanzlers ein weiteres. Höppner: Schwerer wog Lafontaines Abgang. SPIEGEL: Vor einem Jahr errang die SPD einen furiosen Wahlsieg. Inzwischen sind Kanzler, Regierung und SPD beim Wahlvolk unten durch. Wie konnte das passieren? Höppner: Wir haben uns ein paar Fehler zu viel geleistet. Werbeseite Werbeseite ARIS Deutschland Kanzler Schröder*: „Ein paar Fehler zu viel“ SPIEGEL: Zum Beispiel? Höppner: Als Norbert Blüm eine neue Ren- * Oben: beim Besuch des Eko-Stahlwerks am 1. September in Brandenburg; unten: Horand Knaup, Hans-Jörg Vehlewald und Stefan Berg im WillyBrandt-Haus in Berlin. 70 M. URBAN tenformel vorlegte, haben wir von Rentenkürzung gesprochen, obwohl das Modell nur die Steigerungsraten verringern sollte. Wir haben an dieser Stelle absichtsvoll ungenau gesprochen, und das fällt uns jetzt auf die Füße. Daraus kann man nur eine Lehre ziehen: Wir müssen auch in Wahlkämpfen so genau reden, dass die Dinge bis ins Letzte stimmen. Aber es gab eine Reihe von konkreten Zusagen, die wir eingehalten haben. Das darf nicht vergessen werden. Doch wir haben im Wahlkampf nicht genug über die Größe der Herausforderungen geredet, die vor uns stehen. SPIEGEL: Warum endeten manche Gesetzesprojekte so kläglich wie die Reform der 630-Mark-Jobs? Höppner: Wir haben manchmal Lösungen für Probleme angeboten, die die Leute noch gar nicht als Probleme erkannt hatten. Man kann sagen: Die Problemlösungen wurden zum Problem. Beispiel: Scheinselbständigkeit oder 630-Mark-Jobs. Da gab es wirklich Handlungsbedarf, weil die 630-Mark-Jobs so ausuferten, dass im Grunde genommen eine breite Grauzone entstanden ist zur Steuervermeidung. SPIEGEL: Das haben die Finanzminister begriffen, nicht aber die Wähler. Höppner: Richtig. Wir hätte den Leuten sagen müssen, was wirklich dahinter steckt. Wenn die Menschen das Problem erkannt und wir dann eine Lösung vorgelegt hätten, hätten die Leute gesagt: Gott sei Dank, jetzt haben die Sozialdemokraten diese Frage geklärt. SPIEGEL: Kann die SPD diese Schnitzer ausgleichen? Höppner: Was den Osten betrifft, müssen wir ein Thema endlich anpacken, das hohen Symbolwert hat: die Angleichung der Löhne im Öffentlichen Dienst. SPIEGEL: Berlins Regierender Bürgermeister Eberhard Diepgen – ein CDU-Mann – hat das hinbekommen. Höppner: Er ist aus der Tarifgemeinschaft der Länder ausgestiegen. Das ist starker Tobak für einen, der stets nach Bundeshilfen ruft. Ich habe jetzt einen Plan unterbreitet, den ich als das Minimum ansehe. In den nächsten neun Jahren müssen wir die Angleichung schaffen: Zwei Jahre lang sollten wir die Arbeitszeiten angleichen, die im Westen immer noch niedriger sind als im Osten; sieben Jahre lang die Gehälter. Dann gibt es endlich gleichen Lohn für gleiche Arbeit. SPIEGEL: Wird sich der Kanzler dafür erwärmen? Höppner: Ich bin darüber im Gespräch mit dem Bundesfinanzminister. Und ich setze darauf, dass der Bundesregierung das Problem jetzt noch bewusster wird, wo sie in Berlin sitzt und den Tarif-Wirrwarr zwischen Ost und West erlebt. Der Umzug nach Berlin kann dazu beitragen, dass ein Bewusstsein für gemeinsame Herausforderungen, für eine gemeinsame Identität von Ost- und Westdeutschen entsteht. SPIEGEL: Identität entsteht in der Regel eher durch Abgrenzung. Höppner, SPIEGEL-Redakteure*: „Saubere Partei“ d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Deutschland Wir können im vereinten Deutschland unsere Identität nicht mehr dadurch gewinnen, dass wir Schuld anderen zuschieben. Identität durch Abgrenzung zu finden ist eine gefährliche Geschichte. Das ist durchaus im Moment im Gange, aber überhaupt kein reines OstProblem. Auch die Westdeutschen haben ein Identitätsproblem. SPIEGEL: Das dürfte dem Westen bislang entgangen sein. Höppner: Die Westdeutschen haben lange in der Illusion gelebt, sie bräuchten sich nicht zu verändern in diesem gemeinsamen Deutschland. Man redet immer von der „ehemaligen DDR“, was Unsinn ist. Es gibt nämlich keine neue DDR. Aber man könnte mit gutem Grund von der „ehemaligen Bundesrepublik“ sprechen, denn es gibt ja eine neue seit 1990. Das nehmen die Westdeutschen noch nicht wahr, aber vielleicht dämmert es ihnen langsam. SPIEGEL: Den Schuldenberg hat die neue Bundesrepublik aber vor allem der alten DDR zu verdanken. Höppner: Den Reformstau jedoch der alten Bundesrepublik. Die Schwierigkeiten, heute Reformen durchzuführen, werden oft mit der Einheit erklärt. Also ist wieder der Osten schuld. Das ist eine schöne westdeutsche Legende, mit der man dem Osten die Schuld am nötigen Konsolidierungsprogramm zuschieben kann. SPIEGEL: Schadenfreude, wenn’s jetzt auch im Westen ans Eingemachte geht? Höppner: Nein, ich bin überhaupt nicht schadenfroh. Ich halte es bloß für nötig, dass die Westdeutschen diesen Lernprozess im Zuge der deutschen Einheit nun tatsächlich auch vollziehen. Aber auch unsere Lernprozesse sind ja nicht abgeschlossen. SPIEGEL: Was kommt noch auf den Osten zu? Höppner: Bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit muss die Sonderbehandlung Ost aufhören. Strukturschwachen Regionen im Westen muss genauso geholfen werden wie strukturschwachen Gebieten im Osten.Viele Ostdeutsche müssen endlich zur Kenntnis nehmen, dass auch im Westen Arbeitslose und Sozialhilfempfänger leben. Nur wenn wir diese Ost-West-Denkbarrieren überwinden, werden wir die Einheit erfolgreich gestalten. SPIEGEL: Haben Sie sich für dieses Projekt nicht einen etwas seltsamen Partner ausgesucht? Die PDS lebt von der Abgrenzung vom Westen. Höppner: Jede Partei muss sich die Frage gefallen lassen: Was tragt ihr denn zum Zusammenwachsen bei? Diese Frage ist zweifellos für die PDS eine besonders dringende. Es geht nicht an, dass eine Partei ihre Hauptzustimmung aus den Unterschieden zwischen Ost und West saugt. Das darf man der PDS nicht durchgehen lassen. Wenn sie jetzt in ganz Deutschland anHöppner: 72 d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 kommen will, muss sie sich von diesem Ost-Gejammer verabschieden. SPIEGEL: Damit gewinnt sie aber derzeit im Osten Wahlen. Höppner: Wir in Sachsen-Anhalt haben andere Erfahrungen mit der PDS gemacht. Wir mussten etwa Gelder für Kinderbetreuung kürzen. Die PDS hat diese Entscheidung zwar erst torpediert, dann aber mitgetragen. Da hat die PDS eine harte Lernstrecke hinter sich gebracht. SPIEGEL: Nachdem Sie mit dem Ende des Magdeburger Modells, der Tolerierung, gedroht hatten. Höppner: Ich glaube, dass diese Erfahrung bei der PDS nachhaltig gewesen ist. Das ist in Mecklenburg-Vorpommern ähnlich. Auch Ministerpräsident Harald Ringstorff hat die PDS dazu gebracht, die Haushaltskonsolidierung mitzutragen. SPIEGEL: Sie sind also nicht generell der Meinung, dass die PDS im Osten koalitionsfähig ist, sondern nur da, wo die SPD über Pädagogen wie Sie und Ringstorff verfügt? Höppner: Generell ist festzustellen, dass die DDR-Vergangenheit der Parteien bei der Wahlentscheidung der Menschen keine entscheidende Rolle mehr spielt. Weder PDS noch CDU wird angelastet, dass SED und Ost-CDU mitverantwortlich waren für Mauer, Stacheldraht und Schießbefehl. Und es hilft uns auch nicht, dass die SPD im Osten eine neu gegründete, schöne, saubere Partei ohne diese Vergangenheit ist. Wir kriegen keinen Bonus mehr. SPIEGEL: Die PDS lebt im Osten vom Thema DDR-Biographien. Wie will die SPD ihr dieses Thema nehmen? Höppner: Die Frage, wie die Ostdeutschen als akzeptierte Partner im gemeinsamen Deutschland ankommen können, sollten Sozialdemokraten offensiver angehen. Davor haben sich manche gescheut, was mit unserer Geschichte zu tun hat. Diese Scheu müssen wir überwinden, weil wir das Feld nicht der PDS überlassen dürfen. SPIEGEL: Also Stasi-Überprüfungen abschaffen? Höppner: Darüber will ich mit den ande- ren Ministerpräsidenten im Osten reden. Wir brauchen vergleichbare Spielregeln in allen neuen Bundesländern. Wenn die Bildung einer terroristischen Vereinigung nach zehn Jahren verjährt, darf auch das Ausspionieren nach zehn Jahren keine Nachteile für jemanden mehr haben. Wir brauchen da schnell eine Lösung. SPIEGEL: Die einfachste wäre die Schließung der Gauck-Behörde, oder? Höppner: Nein, ich will keinen Schlussstrich. Ich halte es übrigens auch für völlig abwegig, die Gauck-Behörde dem Bundesarchiv zuzuordnen. SPIEGEL: Befürworten Sie eine Amnestie für Egon Krenz? Höppner: Nein. Der Rechtsstaat hat aufs Ganze gesehen seine Möglichkeiten sinnvoll genutzt. Eine Amnestie kommt für mich nicht in Frage. SPIEGEL: Ist die PDS im Osten eine Volkspartei? Höppner: Volksparteien gibt es im Osten nicht, wenn man darunter Parteien mit großen Mitgliederzahlen versteht. Wenn man sich fragt, wie tief die Parteien in der Bevölkerung verwurzelt sind, so würde ich schon sagen: Es gibt inzwischen drei Volksparteien – SPD, PDS und CDU. SPIEGEL: Können Sie sich vorstellen, dass einmal die SED-Nachfolger eine PDS-SPDKoalition anführen? Höppner: Sie meinen, dass Sozialdemokraten einen PDS-Ministerpräsidenten wählen? SPIEGEL: Die PDS ist schon jetzt in OstBerlin, Sachsen und Thüringen stärker als die SPD. Höppner: Glücklicherweise ist Ost-Berlin kein eigenes Bundesland. Dass Sozialdemokraten einen PDS-Mann zum Ministerpräsidenten wählen, halte ich für ausgeschlossen. SPIEGEL: Warum? Höppner: Ich jedenfalls könnte das nicht befürworten – auf lange Zeit nicht. Landesregierungen müssen so gebildet werden, dass sie im gesamtdeutschen Konzert des Föderalismus durchsetzungsfähig sind. Und genau das wäre eine solche Regierung nicht. SPIEGEL: Wenn die PDS in einem Landtag die Mehrzahl der Abgeordneten stellt, geht der Regierungsauftrag an sie – ob föderal akzeptiert oder nicht. Höppner: Die Situation, in der die PDS einmal stärkste Partei ist, wird hoffentlich nie eintreten. SPIEGEL: Halten Sie die PDS im Bund für koalitionsfähig? Höppner: Nein, weil sie bundesweit nicht akzeptiert ist. Man braucht für Koalitionen nicht nur im Parlament eine Mehrheit, sondern auch in der Gesellschaft. Und im Westen ist diese Partei bis heute eben nicht akzeptiert. SPIEGEL: Aber auch dort gewinnt sie an Prozenten hinzu. Höppner: Die PDS träumt davon, eine Linkspartei zu werden, vergleichbar mit den Kommunisten in Frankreich oder Italien. Richtig ist: In fast allen europäischen Ländern gibt es solche Parteien links von der Sozialdemokratie, in mehreren Ländern regieren sie sogar mit. Die PDS ist davon noch weit entfernt. Solange noch der Block von alten Funktionären diese Partei wesentlich mitbestimmt, sind die Chancen, eine moderne Linkspartei zu werden, nicht sehr groß. SPIEGEL: Herr Höppner, wir danken Ihnen für dieses Gespräch. d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 73 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite INNERE SICHERHEIT Guck und Greif In Dresden und Leipzig überwacht die Polizei Teile der Innenstadt per Video. Andere Städte wollen folgen. Ob Kameras Kriminelle abschrecken, ist umstritten. D 76 d e r Überwachungskamera an der Prager Straße in FOTOS: S. DÖRING / VISUM / PLUS 49 er neue Job von Polizeihauptmeister Lothar Arndt ist in der Regel ziemlich langweilig: Nach einem vom Computer festgelegten Kurs schwenken zwei Videokameras über die Dresdner Fußgängerzone hinter dem Hauptbahnhof. Arndt verfolgt das Treiben in der Einkaufsstraße auf zwei Monitoren in der Einsatzzentrale. Bemerkt der Beamte etwas Auffälliges, dirigiert Arndt mit einem Joystick das elektronische Auge dorthin, wo Sicherheit und Ordnung auf der Dresdner Flaniermeile Prager Straße in Gefahr sind. Per Funk wird ein Streifenpolizist zum Tatort gelotst. Passiert ist das, seit die Dresdner Fußgängerzone elektronisch überwacht wird, noch nie. „Verbrechen haben wir keine aufgeklärt“, sagt Arndt. Er und zwölf Kollegen sind seit dem 5. Oktober abkommandiert zum Videogucken – von zehn Uhr morgens bis zwei Uhr nachts. Nach zwei Stunden werden die Teams, immer zwei Personen, abgelöst. Vor ihrem Einsatz mussten die Beamten Datenschutzbestimmungen pauken: keine Aufzeichnungen, ohne dass ein konkreter Tatverdacht vorliegt. Bestätigt sich der Verdacht nicht, muss sofort gelöscht werden. Polizeisprecher Karsten Schlinzig hört das Wort Videoüberwachung gar nicht gern: „Das klingt so nach Stasi, Horch und Guck.“ Er spricht lieber von „Bildübertragung mit präventivem Charakter“. Die Landeshauptstadt ist nicht der einzige Ort im Sächsischen, wo Hightech das „subjektive Sicherheitsgefühl der Bürger erhöhen soll“ (Schlinzig). Seit drei Jahren wird das Areal rund um den Leipziger Hauptbahnhof elektronisch observiert. Das SPD-regierte Niedersachsen schuf vor fünf Jahren in seinem Gefahrenabwehrgesetz erstmals die juristischen Voraussetzungen für Guck und Greif. In Braunschweig, Osnabrück, Melle und Lehrte wurden Überwachungsanlagen in dunklen Unterführungen und Tunneln – meist in Bahnhofsnähe – installiert. Ein Jahr später folgten die Sachsen. Erwogen wird der Einsatz der Videotechnik in Berlin, Halle und in der Hessen-Metropole Frankfurt. Polizei-Praktiker sind skeptisch, ob Überwachungskameras tatsächlich die Straßenkriminalität eindämmen können. Zwar sind etwa in Leipzig die Autodiebstähle rund um den Hauptbahnhof um die Hälfte zurückgegangen. Doch ob das Kontrollmonitore in Dresden „Bei Schnee alles grisselig“ nur auf die Fernseh-Dauerüberwachung zurückzuführen ist, weiß Polizeisprecher Günter Pusch nicht: „Eine richtige Untersuchung über die Wirksamkeit der Technik gibt es nicht.“ Kritiker argwöhnen, die Kameras führten bloß dazu, dass die Diebe woanders in der Stadt zuschlagen. In Dresden sind dem amtlichen Voyeurismus zudem technische Grenzen gesetzt. Bei Platzregen liefert die Kamera Bilder in derart bescheidener Qualität, dass der Beamte am Monitor nur noch erahnen kann, was auf der Prager Straße vorgeht. „Bei Schneetreiben“, schwant einem Schutzmann, „wird das wohl die Qualität vom Westfernsehen zu DDR-Zeiten haben: alles grisselig.“ Bei der ostdeutschen Bevölkerung indes findet der Einsatz von Kameras auf Plätzen und in Fußgängerzonen vorbehaltlose Zustimmung – als hätte es die einst allgegenwärtige Stasi nie gegeben. Bei einer Telefonumfrage des Mitteldeutschen Rundfunks sprachen sich 86 Prozent der Anrufer für die Videoüberwachung aus. Die Polizei im sachsen-anhaltinischen Halle möchte denn auch möglichst bald s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 Deutschland den Marktplatz mit Videokameras überwachen lassen. Doch noch lässt das Sicherheits- und Ordnungsgesetz des Landes die elektronische Observation öffentlicher Areale nicht zu. Das will nicht nur die oppositionelle CDU im Magdeburger Landtag ändern, auch Innenminister Manfred Püchel (SPD) gewinnt dem Kameraeinsatz positive Seiten ab. An Kriminalitätsschwerpunkten, so der Minister Anfang Oktober vor dem Magdeburger Landtag, sei „der gezielte Einsatz von Videoüberwachungstechnik ein sinnvolles, notwendiges polizeiliches Mittel“. Die PDS, der Tolerierungspartner der SPD-Minderheitsregierung, hält von einer Gesetzesänderung indes nichts. „Da wird es zum Showdown zwischen Püchel und uns kommen“, droht ein führender PDSGenosse. Mit Unbehagen beobachten auch die Datenschutzbeauftragten des Bundes und der Länder den wachsenden Drang der Politiker, Straßenkriminalität per Bild- schirm bekämpfen zu wollen. Auf ihrer Jahrestagung Anfang Oktober in Rostock forderten sie den Gesetzgeber auf, Vorkehrungen zu treffen, „damit der schmale Grat zum Missbrauch“ nicht überschritten wird. In vielen Städten sind öffentliche Plätze und Privatwohnungen mittlerweile die einzigen Orte, die nicht elektronisch überwacht werden. In Kaufhäusern, Tankstellen, Tiefgaragen, Banken, Bahnhöfen und Flughäfen haben elektronische Augen den Passanten längst im Dauervisier. 100 Kameras sind allein auf dem Frankfurter Hauptbahnhof installiert. „Wer kann denn wirklich noch garantieren“, klagt ein Datenschützer, „dass die Technik nicht missbraucht wird.“ Andernorts sind die Behörden nicht so pingelig. Im Londoner Stadtteil Newham etwa kontrollieren 250 Kameras nahezu jeden Winkel (SPIEGEL 27/1999). Nach Berechnungen von britischen Bürgerrechtsorganisationen geben staatliche Stellen fast B. KOBER / PUNCTUM Dresden: „Wer kann garantieren, dass die Technik nicht missbraucht wird?“ Polizeiwarnung am Leipziger Hauptbahnhof Sponsoren aus der Wirtschaft? 900 Millionen Mark pro Jahr für immer ausgefeiltere Videotechnik aus. Mehr als das Lamento der Datenschützer lassen die Kosten viele Kommunen in Deutschland vor einer Totalüberwachung ihrer Innenstädte zurückschrecken. Abhilfe könnte von der Wirtschaft kommen: Die 100 000 Mark teure Dresdner Videoanlage sponserte ein örtliches Kaufhaus. Hans-Jörg Vehlewald, Andreas Wassermann Deutschland K R I M I N A L I TÄT Nur Taschengeld Ein Richter steht in Kiel vor Gericht: Er soll mehrere Banken um Millionen gebracht haben. A C. AUGUSTIN ls der Beschuldigte im März verhaftet wurde, sackte ihm vor Schreck der Kreislauf weg. Zwar hatten drei Staatsanwälte und bis zu zwölf LKA-Beamte ein Dreivierteljahr lang gegen ihn ermittelt, doch Klaus-Dieter Jöcks, 55, wähnte sich stets sicher. Kein Wunder – der Mann ist Richter. Am Donnerstag dieser Woche beginnt vor der 6. Großen Strafkammer am Landgericht Kiel der Prozess gegen den ehemaligen Richter am Amtsgericht im schleswig-holsteinischen Neumünster. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm in ihrer 420 Seiten umfassenden Anklageschrift (Aktenzeichen 590 Js 27508/98) unter anderem gefährliche Körperverletzung, Bedrohung, Veruntreuung, Betrug, Urkundenfälschung, Rechtsbeugung und Bestechlichkeit vor. Damit wird erstmals in der neueren deutschen Justizgeschichte einem Richter wegen einer ganzen Reihe schwerer Straftaten der Prozess gemacht. Jöcks drohen bis zu zehn Jahre Haft. Jöcks und sein Anwalt mochten sich gegenüber dem SPIEGEL zu der Anklage vergangene Woche nicht äußern. Als Amtsrichter bekam der Angeklagte nach Besoldungsgruppe R 1 9076 Mark Grundgehalt im Monat. Vor Juristenkollegen brüstete er sich, das sei für ihn „ja nur ein Taschengeld“, wie sich der Neumüns- Strohmänner, die mit ein paar tausend Mark abgefunden werden sollten – bekommen haben sie nichts. Unter anderem soll Jöcks eine Protokollführerin des Amtsgerichts Neumünster benutzt haben, die aufgrund „ihres grenzenlosen Vertrauens“ (Anklageschrift) zum Amtsrichter mehrere Kaufverträge unterschrieb. Die Frau steht nun bei der Bank mit einer sechsstelligen Summe in der Kreide. Mit gefälschten Papieren und dem guten Namen des Amtsrichters sollen die Banken von der Seriosität des Geschäfts überzeugt und zur Gewährung von Krediten in sechsstelliger Höhe bewogen worden sein. Als von den Strohmännern kein Geld kam, wurden die Objekte zwangsversteigert, die VIM Möller GmbH konnte sie billig zurückkaufen. „Kick-back-Geschäfte“ nennen das die Ermittler. Mit einigen Dutzend solcher Deals sollen Jöcks und seine Truppe einen Schaden von mehreren Millionen Mark verursacht haben, Schätzungen gehen bis zwölf Millionen. Genauere Zahlen gibt es bislang nicht. Anfang 1997 geriet die VIM Möller GmbH weiter ins Schleudern: Die Sparkasse Kiel forderte Kredite über sieben Millionen Mark zurück. In ihrer Not erschienen einige Komplizen Jöcks’ beim Notar Preuß: Die VIM Möller GmbH wollte das Stadthaus am Kieler Lorentzendamm und ein Mehrfamilienhaus auf Sylt an den „gut betuchten Reederssohn“ (Preuß) Gernot Fischer aus Hamburg verkaufen. Der Kaufpreis sollte rund 9,4 Millionen Mark betragen – der tatsächliche Wert lag laut Anklage bei etwa 6 Millionen. Nach Einschätzung der Ermittler wurde Reederssohn Fischer vom weiteren Mitangeklagten Günter S. gespielt, der Beschuldigter Jöcks sich mit einem gefälschten Reisepass legitimierte. Mit den Kaufverträgen sollte der Gläubigerbank Liquidität vorgetäuscht werden – was tatsächlich gelang. Die Sparkasse Kiel verzichtete darauf, ihre Millionenforderung sofort geltend zu machen. Nach vier Wochen wurden die Verträge bei Preuß wieder aufgehoben. Wenn Kaufinteressenten Probleme machten, sollen Jöcks’ Leute auch schon mal brutal geworden sein. Als man sich mit einem Interessenten nicht über den Verkauf der Sylt-Immobilie einig wurde, hätten Jöcks und Farzin S. laut Anklageschrift einen türkischen Mitarbeiter beauftragt, den Mann zusammenschlagen zu lassen. Der wurde kurz darauf von zwei Unbekannten mit Baseballschlägern verprügelt. Die Pflichten seines Amtes scheint Richter Jöcks immer weiter aus den Augen verloren zu haben: Im Sommer 1995 meldete er sich für drei Wochen krank – und machte Urlaub auf Sylt. Seine ZeitschriftenAbos hatte er zuvor auf die Sylter Ferienadresse umgemeldet. Florian Gless teraner Ex-Notar Andreas Preuß erinnert. In Justizkreisen der holsteinischen Provinz habe man sich, so Preuß, „immer schon“ gewundert, wie Jöcks Jahr für Jahr den neuen Mercedes finanziert habe. Nach Ansicht der Staatsanwaltschaft mit unsauberen Geschäften. Neben seiner Richtertätigkeit war Jöcks Alleingesellschafter und, so die Anklage, auch Geschäftsführer einer Immobilien-Gesellschaft, der Kieler VIM Möller GmbH. Eine solche Nebentätigkeit ist Richtern gesetzlich untersagt. Laut Anklage geriet die VIM Möller GmbH Ende 1995 in finanzielle Schwierigkeiten. Beim Kauf einer Millionen-Immobilie in bester Lage am Kieler Lorentzendamm hatte sich die Gesellschaft übernommen. Daher habe Jöcks mit einigen Bekannten den Entschluss gefasst, Immobilien der Firma zu weit überhöhten Preisen zu verkaufen. Nach Zeugenaussagen bildeten die Beteiligten eine Gruppe, in der die Aufgaben klar verteilt waren: Jöcks soll der Chef gewesen sein. Zwei Geschäftsleute seien für die Finanzierungen und die Kontakte zu den Banken verantwortlich gewesen. Der Mitangeklagte Farzin S., ein in der Kieler Halbwelt bekannter Schläger, sollte als Geschäftsführer auftreten. Zudem wurde, so berichtet ein Zeuge, ein ehemaliger Kriminalbeamter aus Neumünster hinzugezogen, der Jöcks und seine Komplizen über mögliche Ermittlungen der Justiz auf dem Laufenden halten sollte. Die Deals liefen, so die Anklage, immer nach dem gleichen Muster: Die VIM Möller GmbH veräußerte Immobilien stark überteuert an mittellose Stadthaus am Kieler Lorentzendamm: Verkauf an falschen Reederssohn? 78 d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Deutschland H AU P T S TA D T Unesco-Schutz für Hitlers Bunker? Bauarbeiter stießen im Berliner Regierungsviertel auf Teile des „Führerbunkers“ – und belebten die Diskussion über den Umgang mit der Vergangenheit neu. Historiker fordern die Freilegung und Einrichtung einer Gedenkstätte, Nazi-Forscher Daniel Goldhagen möchte die Betonruine gar unter internationale Protektion stellen. D ie Genossen wollten gründlich aufräumen. Mit Bohrgerät aus Schweden und reichlich Gelamon-22-405Dynamitstäben aus dem VEB Sprengstoffwerk Schönebeck rückte die DDR im Mai 1988 dem geheimnisumwitterten Bollwerk im Todesstreifen zwischen Ost- und WestBerlin zu Leibe. Die Detonation ließ Fensterscheiben in der Umgebung bersten. Doch die 3,50 Meter starke Stahlbetondecke des „Führerbunkers“, erinnert sich der Ost-Berliner Augenzeuge Erhard Schreier, habe dem staatlich verordneten Anschlag weitgehend standgehalten. In mühseliger Kleinarbeit wurde schließlich das Dach zertrümmert. Doch dann, Ende 1988, kapitulierte der Bautrupp ebenso vor dem Trumm wie einst die ruhmreiche Sowjetarmee. Bodenplatte und Außenwände – an die 400 Zentimeter stark – blieben weitgehend heil. Über der mit Kies verfüllten Ruine entstand ganz unverfänglich ein Parkplatz. Das Staatsbegräbnis brachte dem Mythos um den letzten Zufluchtsort Adolf Hitlers nicht die erhoffte ewige Ruhe. Ausgerechnet der Bauboom im wieder vereinigten Berlin belebt die Angst vor der Vergangenheit neu: Bei Ausschachtarbeiten für eine Straße in den früheren Ministergärten nahe des Brandenburger Tores stießen Arbeiter Mitte Oktober in vier Meter Tiefe erneut auf Fundamente und Stahlarmierungen des Bunkers, in dem Hitler und Goebbels mit ihren Frauen, Kindern und Hunden Ende April, Anfang Mai 1945 ihr Ende fanden. Um die „Reichs-Betondecke“ („Frankfurter Allgemeine“) entstand binnen weniger Tage ein Streit, der symbolisch ist für die Ratlosigkeit des neuen Berlin im Umgang mit den im einstigen Niemandsland immer wieder auftauchenden Spuren aus der Zeit des Dritten Reiches. Während in Bayern auf dem Obersalzberg, der als Hitlers zweiter Regierungssitz galt, inzwischen ein Dokumentationszentrum eröffnet wurde, zu dem auch Bunkeranlagen gehören, wollen die Berliner das dunkle Kapitel der deutschen Geschichte im Sand verstecken. „Sprengen“, forderte Lea Rosh, Chefin des Fördervereins zur Errichtung des Holocaust-Mahnmals, nach der Wiederentdeckung des Hitler-Bunkers. Das Mahnmal soll in Sichtweite der Betonklotzreste ent80 Hitler (r.) in der verwüsteten Reichskanzlei (im April 1945): Ort der Schande stehen. „Sand drüber und zuschütten“, riet schen und politischen Ziele das Schicksal der Chef der obersten Denkmalbehörde dieses Bunkers bestimmen“. von Berlin Helmut Engel. Weil Hitler ein Mann von globalem ZerDer zuständige Senator für Stadtent- störungsgeist gewesen sei, solle der Führerwicklung, Peter Strieder (SPD), diagnosti- bunker „nicht allein als deutsche Stätte, zierte umgehend, dass „keine Veranlas- vielleicht nicht einmal als nur europäische sung“ bestehe, „die Bunkeranlage zu öff- Stätte behandelt werden“. Stattdessen regt nen“. Die Bauarbeiten an den Minister- der amerikanische Politologe an, die Begärten, wo die Vertretungen der Länder Nie- tonruine freizulegen und der Schirmherrdersachsen, Schleswig-Holstein, Rheinland- schaft der Unesco zu unterstellen. Denn: Pfalz, Saarland, Hessen, Brandenburg und MecklenburgVorpommern entstehen, würden „wie vorgesehen durchgeführt“. Über Teilen des Führerbunkers wird eine Straße gebaut, die auf den Bauplänen ganz schlicht „Kleine Querallee“ heißt. Die Vergangenheitsbewältigung mit der Dampfwalze stößt bei Historikern im In- und Ausland auf Kritik. So spricht Daniel J. Goldhagen („Hitlers willige Vollstrecker“) den Deutschen das Recht ab, allein zu entscheiden, „welche Symbole, welche Werte, welche prakti- NS-Bunker im Regierungsviertel: „Chaotische Zustände“ d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 „Alle Ebertstraße Wandmalereien, denen Experten Bei verantwortungsvollem Umeine Mischung aus Herrenideologang könne der Ort der Schande Historisch kontaminiert Bunkerreste in Berlins Mitte gie und Kitsch bescheinigten. als „Schule der Abschreckung, des Am nördlichen Ende der eheNachdenkens und des Lernens Pariser Platz Brandenmaligen Gärten, wo jetzt das Hodienen“. burger Tor locaust-Denkmal entstehen soll, In der Frage des angemessenen wurde 1992 der gut erhaltene Umgangs mit den Überresten des Goebbels-Bunker freigelegt. Ein Hitler-Verstecks zeichnet sich inwenig südlich fand sich unter zwischen eine Allianz der ehedem Sand das Marmorbad des maligen Sieger ab. Für den Mosehemaligen Reichspräsidentenpakauer Historiker Lew Besymenski, e ß Goebbelsnstra e r lais. Archäologen entdeckten zuder für die Sowjetführung nach h Be Bunker dem Teile des Innenhofs der NeuKriegsende in einer Geheimaktion en Reichskanzlei – verkleidet mit das Bauwerk erforschte, wäre es Kellerreste geschliffenen und zweifach profi„unverzeihlich, die Bunkerreste des ehemaligen lierten Muschelkalksteinplatten. einfach zu bebauen“. Die Anlage Geplantes ReichspräsidentenFür den Wissenschaftler Alfred müsse „als lebendige Erinnerung Holocaustpalais Kernd’l, inzwischen pensionierter an die Schrecken des Krieges“ Mahnmal Direktor des Archäologischen freigelegt werden, auch wenn sie Landesamtes Berlin, liefert gerade nur in Fragmenten erhalten sei. Manndieses belastete Areal eine besonAuch der Kölner Historiker Jost schaftsTiefgarage quartiere dere Verpflichtung zur UnterDülffer warnt davor, die Kataschutzstellung: „Eine geschichtskomben im Umfeld der früheren Länderentsorgte Brache als Platz ausgeNS-Kommandozentrale einfach zu vertretungen „Führer-rechnet für das Holocaust-Denknegieren. An den Originalschau“ „Kleine Querallee Bunker“ mal wäre eine peinliche Flucht vor plätzen sollten die Spuren der der Vergangenheit.“ Nazi-Zeit sichtbar gemacht werDoch im Umgang mit dem Kulden. Für ihn ist der Bunker ein Ge„Fahrerturschutt der NS-Diktatur blieben schichtsort, der Bestandteil eines Bunker“ Bunker Neue die Berliner so konsequent wie daGeschichtspfades durch die BerliReichskanzlei Garage vor schon bei dem steingewordener Mitte werden könne. Bunker nen Zeugnis des SED-Regimes. So Als Musterbeispiel für den Uman der Terrasse Voßstraße wie der Senat der eiligen Zergang mit architektonischen Resten Kartengrundlage: GrafikBüro Adler & Schmidt trümmerung der Mauer nichts entdes Nazi-Regimes in Berlin gilt die gegensetzte, wurde der Bunker „Topographie des Terrors“. Dort, an der ehemaligen Prinz-Albrecht-Straße, die Senatsverwaltung noch im Januar 1996 der Neuen Reichskanzlei, von dem 29 Räuwerden Reste der Berliner Gestapo-Zen- gegenüber den Abgeordneten abgab. Da me erhalten blieben, versiegelt und mit räumte die Behörde ein, dass „über Zu- Erdreich bedeckt. Auch die übrigen NStrale für Besucher zugänglich gemacht. Der Berliner Senat hingegen will sich stand und Beschaffenheit“ der Reste des Katakomben, wie der Goebbels- und der des Themas möglichst schnell entledigen. Führerbunkers „keine gesicherten Er- Fahrerbunker, sind nicht mehr zugänglich. Ihn treibt ganz offensichtlich die Angst, kenntnisse“ vorlägen. Es könne daher zum Die Überbleibsel des Marmorbades wurdass der schon 1992 nur halbherzig ausge- jetzigen Zeitpunkt keine Bewertung vor- den entsorgt, die jetzt entdeckten Reste tragene Streit zwischen Politikern, Ar- genommen werden, ob der Bunker unter des Führerbunkers verschwanden umgechäologen und Denkmalschützern über Denkmalschutz-Aspekten zu erhalten hend wieder unter dem Sand. Dabei hat der Bunker in der Mitte Berden Umgang mit den unseligen Überresten wäre. Zugleich wurde den Abgeordneten aber versichert: „Die Reste des Führer- lins, in dem sich Hitler mit seinem Gefolim Boden wieder neu entfacht wird. Vorbeugend erklärte Senator Strieder bunkers werden nicht überbaut, überdies ge kurz vor Kriegsende vor den anrückenden Alliierten verkroch, von jeher eine jetzt, der Führerbunker sei „seit 1990 kar- befinden sie sich in großer Tiefe.“ Dabei geht es nicht nur um Hitlers Bun- eigentümliche Faszination ausgeübt. So tografisch erfasst und wurde 1993 detailliert dokumentiert“. Neue Untersuchungen sei- ker allein. Die Mauerbrache, auf der vor wurde Lew Besymenski im Juni 1945 vom en damit unnötig. Diese Behauptung steht zehn Jahren nur Kaninchen hoppelten, ist späteren sowjetischen Innenminister Sergej im Widerspruch zu einer Erklärung, welche seit der Wiedervereinigung für die Politik Kruglow in den Bunker geschickt, um das zum minenverseuchten Gelände Bauwerk genauestens zu dokumentieren. geworden. Denn das mehr als Der Russe, der für den Armee-Geheim40000 Quadratmeter große Areal dienst arbeitete, entdeckte eine „leicht anin Berlins bester Lage ist hoch- gebrannte weiße Uniformjacke mit einer gradig historisch kontaminiert. roten Binde am rechten Ärmel“: Hitlers Im Einheitstaumel 1990 wur- Parteiuniform. In großen Mahagoniden beim Aufbau des Pink- schränken fand sich Hitlers Sammlung von Floyd-Spektakels „The Wall“ Architekturliteratur. „Alle Räume erstauder Zugang zu einer erhaltenen nen durch ihre geringe Größe, in ihnen Bunkeranlage der ehemaligen kann man sich buchstäblich kaum umdreNeuen Reichskanzlei und ein hen“, hielt Besymenski fest. Das ArbeitsBunker der Fahrbereitschaft zimmer Hitlers wurde mit 10,7 QuadratHitlers im Sand freigelegt. metern vermessen – Zellenformat. Im so genannten FahrerbunAuch die Stasi interessierte sich für den ker, den seit Kriegsende nie- Bau, der nach 1961 im Todesstreifen zwimand mehr betreten hatte, schen Ost- und West-Berlin lag. Weil die „Führerbunker“ (1988): „Die Geschichte wurde ausgelöscht“ fanden sich acht naive SS- Mielke-Truppe im halb zerstörten BunE. SCHREIER rten“ tergä aße lmstr Minis Wilhe f den e au d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 81 Deutschland mit mehr als 400 Zeichnungen die Phasen der Geschichtsentsorgung und hielt seine Erlebnisse im Führerbunker in einem Tagebuch fest: „In 9,50 Meter Sohlentiefe stand das Wasser hüfthoch, klebrig-bräunliche Färbungen waren an Wand und Decke erkennbar. Teile der Zwischendecke lagen zerborsten im Wasser. Stahlarmierungen ragten in alle Himmelsrichtungen, die Temperatur lag bei 13 Grad.“ „Die Geschichte wurde zu DDR-Zeiten mit der teilweisen Sprengung des Bunkers ausgelöscht“, sagt Hans Stimmann, Staatssekretär für Stadtentwicklung in Berlin. Ohnehin sei die heikle Bunkerruine in bestehende Gedenkorte der Stadt „nicht integrierbar“, auch nicht in einen Geschichtspfad. In der ablehnenden Haltung der Politik schwingt auch die Angst mit, der ausge- K. MEHNER kersystem unterirdische Fluchtwege in den Westen vermutete, wurden die Räume, die bis auf einen halben Meter unter die Decke geflutet waren, von 1973 an erkundet. Ein Unterleutnant Nickel berichtete der Verwaltung für Staatssicherheit Groß-Berlin, dass mehrere Räume des unterirdischen Bauwerkes „mit einer schlammartigen Masse ehemaligen Bunkerinventars knöcheltief bedeckt“ seien. Von dem Schlamm gehe ein unangenehmer Petroleumgeruch aus, im Bunker herrschten „chaotische Zustände“. Die Suche der Stasi-Leute lohnte sich dennoch: Zwar wurde kein Fluchtweg entdeckt, doch fanden sich im Papierschlamm 13 500 Blätter. Diese wurden einer Grobund Feinwäsche unterzogen, dann „zwischen Fließpapier“ getrocknet. Die Bedeutung des Fundes erfuhr die Welt erst Freigelegte Fundamente in den Ministergärten: Angst vor Wallfahrten von Neonazis nach dem Fall der Mauer. Die Genossen hatten Teile des Tagebuchs von Propagandaminister Joseph Goebbels gefunden. Nach der Erkundung verschwand der Bunker wieder unter der Erde, bis die DDR Ende der achtziger Jahre Luxus-Plattenbauten für verdiente Genossen an der damaligen Otto-Grotewohl-Straße, der heutigen Wilhelmstraße, errichten wollte. Für die Fundamente mussten auf dem geschichtsträchtigen Gelände alte Mauerreste tiefenenttrümmert werden. Dafür brauchte selbst die Stasi eine Genehmigung, weil das Baugebiet unmittelbar an die Grenzsicherungsanlagen anschloss. Schließlich rückten Bautrupps dem weitgehend erhaltenen Führerbunker zu Leibe, ein Teich sollte über Hitlers letztem Unterschlupf entstehen. Was sich damals im Sperrgebiet abspielte, kann der Berliner Erhard Schreier beschreiben. Der Maler dokumentierte, mit Erlaubnis der Ost-Berliner Baudirektion, 82 d e r grabene Bunker in der Nachbarschaft des geplanten Holocaust-Denkmals könnte Neonazis aus aller Welt als Wallfahrtsstätte dienen. „Eine selbstbewusste Republik wie die unsere sollte dem gelassen entgegensehen“, meint hingegen der Kölner Historiker Dülffer. Falls Neonazis an den Bunker strömen, sagt sein amerikanischer Kollege Goldhagen, „dann lasst die Menschen in Deutschland und Europa das heutige Übel sehen, lasst sie darüber erschrecken, es bekämpfen und mit unbeirrbarem Sinn, den es vor 60 Jahren nicht gab, besiegen“. Hitler- und Speer-Biograf Joachim Fest jedoch hält die Bunkerruine nicht für „einen Ort der Erinnerung“. Sie zu sprengen, findet der Feingeist zwar albern, doch mit der Idee, den Bunker unter Schutz zu stellen, kann Fest auch nichts anfangen: „Um Gottes Willen. Wir ersticken fast an Gedenk-Orten.“ Wolfgang Bayer, s p i e g e l Steffen Winter 4 6 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Deutschland JUSTIZ „Einladung zum Strafantritt“ ACTION PRESS Der wegen der Mauermorde verurteilte Ex-DDRRegierungschef Egon Krenz hofft auf Hilfe vom Verfassungsgericht und vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte – wohl vergebens. Verurteilter Krenz*: „Kalter Krieg im Gerichtssaal“ * Mit seinem Anwalt Robert Unger am vergangenen Montag im Bundesgerichtshof in Leipzig. 84 geschickt. Dann folgt, frühestens Ende des Jahres, die „Einladung zum Strafantritt“. Doch der letzte Staatsratsvorsitzende der DDR hofft, diese Einladung nicht annehmen zu müssen, und baut auf die Rechtsmittel seiner Anwälte. Die bereiten nach Angaben von Krenz-Anwalt Robert Unger eine Verfassungsbeschwerde gegen das Urteil des Bundesgerichtshofs vor. Schon im Juni 1998 hatte Krenz zudem Klage beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte erhoben, weil er sich durch die Verurteilung in seinen Menschenrechten verletzt sieht. P. RONDHOLZ K aum war in Leipzig das Urteil gegen die Politbüro-Mitglieder Günter Schabowski, Günther Kleiber und Egon Krenz verlesen, griff der Berliner Oberstaatsanwalt Bernhard Jahntz hektisch zum Handy. Die Anwälte von Krenz, der wegen Totschlags für sechseinhalb Jahre ins Gefängnis muss, waren aufgeschreckt. „Wir dachten, der bestellt jetzt die Aufhebung der Haftverschonung für Krenz“, so Dieter Wissgott, „und wenn wir zurückfahren, wartet in Pankow schon ein Kommando mit Handschellen auf ihn.“ So schnell arbeitet die deutsche Justiz auch wieder nicht. Nachdem der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs (BGH) am vergangenen Montag den Spruch der Vorinstanz gegen die Verantwortlichen für den Schießbefehl an der deutsch-deutschen Grenze bestätigt hat, werden erst mal die Akten nach Berlin Grab eines Mauertoten: Wenn notwendig, vernichten d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 Das Straßburger Gericht, für die Einhaltung der Menschenrechte in 41 europäischen Staaten zuständig, betrachtet sich selbst als europäischen Verfassungsgerichtshof, der auch schon mal anders entscheidet als das Bundesverfassungsgericht. Auf ihn setzten ebenfalls der DDR-Verteidigungsminister Heinz Keßler und sein Vize, Generaloberst Fritz Streletz, nachdem sie 1996 rechtskräftig zu siebeneinhalb und fünfeinhalb Jahren Haft verurteilt worden waren. Erste Signale aus Straßburg stimmen die Krenz-Verteidiger zuversichtlich. Denn die Richter haben vor kurzem vorgeschlagen, vor der Großen Kammer über die Politbüro-Fälle zu verhandeln. „Es kommt äußerst selten vor, dass ein Fall so wichtig und schwerwiegend erscheint, dass er nur vom Plenum entschieden werden kann“, sagt der Londoner Anwalt Piers Gardner, der Krenz und Kollegen in Straßburg verteidigt. Die Frage, ob sich die Taten eines deutschen Unrechtsregimes mit den Mitteln eines deutschen Rechtsstaats aufarbeiten lassen, wird damit auf europäischer Ebene behandelt. Mord und Totschlag waren auch in der DDR strafbar – doch die politische Führung der DDR schuf sich passend zum Mauerbau Rechtfertigungsvorschriften, um Todesschüsse an der deutsch-deutschen Grenze von der Strafverfolgung auszuschließen. Die Grenz- und Polizeigesetze erlaubten den Schusswaffengebrauch, zahlreiche Befehle und Dienstvorschriften sollten den Grenzsoldaten verdeutlichen, dass „Grenzverletzer in jedem Fall als Gegner gestellt, wenn notwendig, vernichtet werden müssen“, wie es in einem Beschluss des Nationalen Verteidigungsrats vom September 1962 hieß. Mehrere hundert Tote forderte dieses blutige Grenzregime. Sie wurden zerfetzt von Minen, erschossen von Grenzern und Selbstschuss-Automaten. Die vier MauerOpfer Michael-Horst Schmidt, Michael Bittner, Lutz Schmidt und Chris Gueffroy kamen um, als die Politbüro-Mitglieder Krenz, Schabowski und Kleiber „neben der politischen Verantwortung auch die strafrechtliche Verantwortung“ trugen, wie die Vorsitzende Richterin Monika Harms in Leipzig das BGH-Urteil begründete. In den Prozessen nach der Wende erklärten die Gerichte die Rechtfertigungsgesetze regelmäßig für unwirksam. Das Werbeseite Werbeseite Deutschland J. GIRIBAS REUTERS AP Schabowski Kleiber Streletz Schießbefehl-Verantwortliche: Hintermänner der Grenzer DPA Grenzregime, stellte der BGH 1993 in einer Grundsatzentscheidung zur Strafverfolgung von Mauerschützen fest, habe gegen den „Kernbereich des Menschlichen verstoßen“. Auch im Fall der vom Landgericht Berlin im August 1997 verurteilten Krenz, Schabowski und Kleiber hat der BGH entschieden, dass das DDR-Grenzregime nicht zu rechtfertigen sei. Den Mitgliedern des Politbüros komme deshalb als „Hintermännern“ hinter den Grenzern eine „mittelbare Täterschaft“ zu. Wie gewohnt schimpfte Krenz nach der Leipziger Verkündung über die „Siegerjustiz“: Das sei „Kalter Krieg im Gerichtssaal“. Weil die BGH-Richter das einschlägige DDR-Recht nicht anerkennen, seien ihre Strafurteile rechtswidrig, so Krenz: „Sie widersprechen dem Grundgesetz, in dem das Rückwirkungsverbot klar definiert ist.“ Nach diesem Verfassungsartikel kann man nur wegen einer Tat verurteilt werden, „wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde“. Doch das Bundesverfassungsgericht, das Krenz jetzt anrufen will, hat schon 1996 in den Fällen Keßler und Streletz erkannt, das Rückwirkungsgebot gelte „nicht mehr un- Europäischer Menschenrechtsgerichtshof Rettung vor dem Gefängnis? eingeschränkt“ bei Taten wie den Mauerschüssen, gerade weil dafür nach dem Einigungsvertrag DDR-Recht anzuwenden sei. Nur im Rechtsstaat dürfe man auf Straflosigkeit vertrauen, so die Argumentation der Verfassungsrichter, nicht aber, wenn ein Staat wie die DDR zum eigenen 86 Strafrecht Ausnahmeregeln aufstelle, die gegen die Menschenrechte verstießen. Den Polit-Größen des SED-Regimes wurde dabei auch zum Verhängnis, dass sich die DDR in internationalen Abmachungen zur Einhaltung der Menschenrechte verpflichtet hatte: „Jedermann steht es frei, jedes Land einschließlich seines eigenen zu verlassen“, heißt es im Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte, dem auch die DDR beigetreten war. Ausgerechnet die Menschenrechte sollen nun auch Krenz vor dem Gefängnis retten. Sein Anwalt Gardner will vor dem Menschenrechtsgerichtshof vorbringen, dass „das innerstaatliche deutsche Recht nicht in Übereinstimmung mit der Europäischen Menschenrechtskonvention ist“. Denn das Rückwirkungsverbot ist in der Konvention in Artikel 7 verankert und zählt damit selbst wiederum zu den Menschenrechten. Allerdings steht dort auch die so genannte Nürnberg-Klausel, eine Lehre aus den Nazi-Verbrechen, die sich gegen Krenz und Konsorten richten ließe. Dieser Zusatz besagt, dass trotz fehlender geschriebener Strafregeln eine Tat bestraft werden kann, „die zur Zeit ihrer Begehung nach den von den zivilisierten Völkern anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätzen strafbar war“. Doch für die Bundesrepublik gilt zu dieser Klausel der so genannte Adenauer-Vorbehalt: Kanzler Konrad Adenauer hatte erklären lassen, dass die Nürnberg-Klausel nur greifen soll, soweit die deutsche Verfassung das zulässt. Die Krenz-Anwälte rechnen sich deshalb beim Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg „höhere Chancen“ aus als in Karlsruhe. Doch da könnten sie sich täuschen. Denn der Adenauer-Vorbehalt bedeutet nur, dass die Bundesrepublik nicht verpflichtet werden kann, Strafen auszusprechen, die über ein strenges Rückwirkungsverbot hinausgehen. „Das heißt nicht“, so der Münchner Völkerrechts-Professor Bruno Simma, „dass sie es nicht darf.“ Mittlerweile hat die Bundesrepublik zudem im internationalen Bürgerrechtspakt eine identische Klausel anerkannt – ohne einen solchen Vorbehalt. Und auch der Adenauer-Vorbehalt selbst, so Simma, sei mittlerweile „gegenstandslos ged e r worden“: Schließlich hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Mauerschützen-Rechtsprechung die internationale Nürnberg-Klausel nachgebildet. Die einzige Chance für Krenz und seine SED-Kollegen liegt somit in der „Ironie“ (Simma), dass ausgerechnet der europäische Menschenrechtsgerichtshof das DDR-Grenzrecht für legitim erklären könnte. Das aber halten deutsche Völkerrechtler für sehr unwahrscheinlich. „Der Sinn der Menschenrechte liegt doch darin“, so auch Simmas Kollege Ulrich Fastenrath, „dass man die Staatsführung an sie binden will und nicht, dass die Staatsführung ihr rechtswidriges Verhalten selbst legitimieren kann.“ Auf eine generelle Amnestie in Deutschland dürfen Mauertäter wie Krenz nicht hoffen. Kanzler Gerhard Schröder will „keinen Schlussstrich unter die geschichtliche und gerichtliche Aufarbeitung“ ziehen. Auch im Justizministerium gilt die Amnestie-Debatte als „megatot“ – Ressortchefin Herta Däubler-Gmelin (SPD) meint: „Nach dem Rechtsverständnis der Bundesrepublik steht die Einzelfallprüfung im Vordergrund und nicht die Amnestie.“ Viele Mauertäter würden ohnehin nicht von einem staatlichen Straferlass profitieren. Nur in wenigen Fällen wurden Haftstrafen verhängt – die meisten Mauerschützen kamen mit Bewährung davon. Dass Krenz nicht aus seiner Verantwortung kommt, befriedigt die DDR-Bürgerrechtler, die den Fall der Mauer mit bewirkt haben. „Die Mauerschützen zu bestrafen und die Herren des Schießbefehls ungestraft hinter ihren Nebelwänden aus Ausflüchten verschwinden zu lassen“, sagt der Ex-Dissident Wolfgang Templin, „hätte die Opfer noch einmal gedemütigt.“ Doch vielen Bürgerrechtlern reicht das Urteil gegen die Politbüro-Mitglieder als Anerkennung des DDR-Unrechts schon aus – ob die alten Männer wirklich hinter Gitter müssen, ist vielen nicht so wichtig. Die Klagen in Straßburg werden das vorerst nicht verhindern – sie haben keine aufschiebende Wirkung. Und auch das Verfassungsgericht wird Krenz den Haftantritt kaum ersparen. Dennoch wird der Verurteilte es vergleichsweise bequem haben. Der Ex-Staatschef kommt in den offenen Vollzug, vermutlich in die Justizvollzugsanstalt Hakenfelde in Berlin-Spandau, wie früher auch Keßler und Streletz. Tagsüber könnte Krenz wie andere Delinquenten das Gefängnis verlassen und einer Arbeit nachgehen – solange keine Fluchtgefahr besteht oder ein Rückfall des Täters befürchtet werden muss. „Angesichts des Falls des Mauer“, so Krenz-Anwalt Wissgott ironisch, „ist eine Wiederholungstat nicht zu befürchten.“ s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 Carolin Emcke, Dietmar Hipp Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Deutschland LAUE J. H. DARCHINGER B. BOSTELMANN / ARGUM der Robert Apon, der 1995 das Wörtchen „Euro“ eintragen ließ, war der Pionier der Branche, wurde berühmt und vermutlich richtig reich; die Beteiligten, Apon und das Finanzministerium in Den Haag, schweigen über den Handel. Seither ist ein gewaltiger Markt entstanden. Makler zocken mit, die beispielsweise den Namen der früheren DDR-Fluggesellschaft Interflug für 20 000 Mark anbieten. „Nietzsche“, „Winnetou“ und das „Oktoberfest“ sind inzwischen vergriffen, „Lady Di“ ging noch am Todestag der Prinzessin weg. Und ein Berliner Geschäftsmann hat sich im Sport umgeschaut und entdeckt, dass „Werder Bremen“ oder „GWD Minden“ noch frei waren; vor allem im Fußball sind beim Geschäft mit Fanartikeln Millionen im Spiel. Ohne Streit geht es selten ab. Bäcker aus Dresden kämpfen seit Jahren um das Monopol auf „Dresdner Christstollen“. Auch Konditoren in München und Hamburg verwenden den Namen für ihre Waren. Ein freier Journalist hatte sich die „Chemnitzer Morgenpost“ sichern lassen, wurde eingestellt, trat den Namen ab und flog nach der Probezeit wieder raus. Zu fetten Gewinnen kommen beim Rechtehandel aber nur wenige, denn die, die sich geprellt fühlen, verstehen zunehmend weniger Spaß. Die Telekom führt momentan auch Prozesse gegen eine TouchNet GmbH, die in ihrer Internet-Adresse den Namen „T-Net“ verwendet – so heißt der Anrufbeantworter-Dienst der Telekom. Auf die Liechtensteiner Polarius ging der Konzern mit geballter juristischer Kraft los: Da wurde der Streitwert auf drei Millionen Mark festgelegt; allein für Prozesskosten musste Polarius 250 000 Mark zahlen. „So etwas können Privatleute kaum durchhalten“, sagt Advokatin Hartmann. Darum ist der Rechtsstreit wohl bald vorbei. „Polarius hat sich verpflichtet, die Einwilligung in die Löschung des Namens ,Deutsche Telekom T‘ zu geben“, sagt Telekom-Anwalt Michaeli. „Noch ist nichts gelöscht, aber der Fall ist wohl bald erledigt“, gibt Polarius-Anwältin Hartmann zu. Doch die Polarius-Leute wollen so schnell nicht aufgeben. Sie suchen sich einen potenten Partner, der die Gerichtskosten übernimmt und einen Anwalt mitbringt – „dann können wir die Sache noch mal richtig aufziehen“. Mit einem Kompagnon in Amerika haben sie bereits einen Vorvertrag erarbeitet. Der könnte es mit der Telekom aufnehmen und versteht etwas vom Pokern – TelekomInsidern zufolge ist es der Boxmanager Don King. Klaus Brinkbäumer Umstrittene Markennamen: Zu fetten Gewinnen kommen nur wenige MARKENSCHUTZ Ötzi und Lady Di Clevere Geschäftsleute sichern sich die lukrativen Rechte an ungeschützten Namen. Jüngstes Opfer ist die Telekom. D ie Firma hat ihren Sitz im liechtensteinischen Vaduz, Postanschrift Städtle 20. In dem Unternehmen arbeiten keine Menschen, es gibt nicht einmal ein Telefon. Die Polarius HandelsAnstalt hat nur einen Daseinszweck: Sie besitzt den Namen „Deutsche Telekom T“. Seit drei Jahren liegt Polarius im Clinch mit der deutschen Telefongesellschaft. Es geht in diesem juristischen Scharmützel um die Namensrechte an der beim Deutschen Patentamt in München eingetragenen Marke Nr. 39 603 139. Zuerst sicherte sich im Januar 1996 Helgard Janson die Rechte, die Ehefrau des Schauspielers Horst Janson („Der Bastian“). Sie habe, erinnern sich Eingeweihte, nicht wirklich die Gründung einer Telefonfirma geplant; sie habe viel mehr auf ein Geschäft mit der Telekom gehofft – den Namen gegen Bargeld. Doch der Konzern, der sich im Februar 1996 den Namen „Deutsche Telekom“ – ohne „T“ – schützen ließ, berief sich auf seine „Benutzerrechte“ und konterte mit Klagen. Entnervt reichte Helgard Janson im August 1996 die Rechte an die Firma Polarius weiter, mit deren Vollmacht nun zwei Münchner Brüder agieren. An diesem Vorgang sei nichts verwerflich, sagt die Polarius-Anwältin Birgit Hartmann: „Die Telekom war dumm, sich die90 sen Namen nicht selbst schützen zu lassen.“ Die Telefongesellschaft sieht den Vorgang anders, nämlich als Abzockerei; deren Advokat Klaus-Jürgen Michaeli spricht von „Markengrabbing“ und meint ein bizarres Phänomen: Überall im Lande und – seit es das Internet mit seinen Abermillionen Adressen gibt – zunehmend auch weltweit lassen sich clevere Zeitgenossen die Namen von Firmen oder toten Berühmtheiten patentieren, weil sie hoffen, sie gewinnbringend wieder veräußern zu können. Ein Gelsenkirchener Geschäftsmann hat sich beispielsweise „Johann Sebastian Bach“ schützen lassen. Leipzig will im nächsten Jahr den 250. Todestag des Komponisten vermarkten. Das Kalkül des Händlers aus dem Kohlenpott: Die Stadt müsse ihm erst mal den Namen abkaufen. Andere Firmen haben sich den Begriff „Ötzi“ eintragen lassen und produzieren nun Hygieneartikel oder Babynahrung im Namen des Mannes aus dem ewigen Eis. In Bozen, wo Ötzi ausgestellt ist, streiten sich inzwischen die Stadtväter darüber, wer das Geschäft verschlafen und vergessen hat, den Namen zu schützen. Historische Namen, darauf bauen Geschäftemacher, verleihen jedem Produkt Seriosität. Franz-Martin Heder aus Brandenburg besitzt „Theodor Fontane“ und „Martin Luther“; Werner Weßeler aus Issum (bei Duisburg) setzt auf „Frank Sinatra“. Und Schnapsbrennereien verkaufen Hochprozenter mit den geschützten Markennamen „Friedrich von Schiller“ oder „Ludwig van Beethoven“. Seit 1995 gilt das neue Markenrecht, und nun „kann jeder die Eintragung eines Namenspatents beantragen“, sagt Norbert Haugg, Präsident des Deutschen Patentamts; je nach Umfang des Schutzes kostet das mindestens 500 Mark. Der Niederländ e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Deutschland S TA S I „Die Quelle ist zuverlässig“ FOTO RECHTS: SVEN SIMON Erich Mielkes Ministerium benutzte zum Spitzeln bevorzugt Journalisten. Jetzt erschüttern Enthüllungen über Stasi-Zuträger in den eigenen Reihen die „Bild“-Zeitung. Drei Redakteure sind gegangen. Stasi-Chef Mielke (1982), Einmarsch der DDR-Olympiamannschaft in Montreal 1976: Subversive Aktivitäten abgewehrt J ahrelang hatte sie nur eine Ahnung, mehr nicht. Irgendjemand musste der Staatssicherheit verraten haben, dass Ellen Thiemann 1972 aus der DDR fliehen wollte; am Schlagbaum warteten damals die Sicherheitsbeamten. Zweieinhalb Jahre lang saß sie deshalb im Frauengefängnis von Hoheneck, gequält mit Schlafentzug, Zwangsarbeit und von einem Verdacht: Hatte ihr Ehemann Klaus der Stasi den Fluchtplan verraten? Fast 20 Jahre später fand Ellen Thiemann in Akten der Gauck-Behörde einen Brief an eine Tante in Westdeutschland, den sie dem Ehemann einst mitgegeben hatte, um ihn in der ostdeutschen Provinz in einen Briefkasten zu werfen.Wie kam das Schreiben in die Ordner der Stasi? 92 Dann stieß sie auf den Tarnnamen „Klaus“ eines Inoffiziellen Mitarbeiters (IM) der Staatssicherheit. Sie beantragte die Offenlegung des Klarnamens. Die Antwort: „Name: Thiemann, Vorname: Klaus, geb. am: 19.02.1935, Geburtsort: Dippoldiswalde.“ Es war ihr Mann, die Personalien stimmten; nur der Tarnname Klaus war veraltet: Der Sportjournalist Klaus Thiemann wirkte in Wahrheit fast zwei Jahrzehnte lang als IM „Mathias“ – und danach als Fußballreporter für „Bild“ und „Bild am Sonntag“ mit dem Spezialgebiet Hansa Rostock. Als der SPIEGEL „Bild“-Chefredakteur Udo Röbel mit den Informationen über den IM Mathias konfrontierte, war der überrascht: „Das ist uns neu, aber bei uns d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 gilt das rechtsstaatliche Prinzip der Einzelfallprüfung.“ Drei Tage später war Reporter Thiemann in den Ruhestand verabschiedet. „Das war planmäßig vorgesehen“, so Röbel; Thiemann ist 64 Jahre alt. Der IM-Fall Thiemann ist der dritte in einer Kette. Ende Oktober hatte der Deutschlandfunk den „Bild“-Reporter Manfred Hönel (IM „Harro“) und den stellvertretenden Chefredakteur KlausDieter Kimmel (IM „Fuchs“ und IM „Manfred Meinel“) als Stasi-Zuträger enttarnt. Beide schieden vorvergangenen Mittwoch „auf eigenen Wunsch“, so der SpringerVerlag, aus den Diensten des Blattes. Führende Springer-Leute sagen, dass Informationen über die Spitzel im Haus seit etwa fünf Jahren vorlägen. Verlagsspre- gestellt wurde, bekam neTeile der Hönel-Akte sind ben „Sportecho“-Redakteur verschwunden. „Ich kann Kimmel auch der „Junge nichts erklären“, so Hönel, Welt“-Reporter Hönel, heute „ich habe mich gegenüber 62, einen Vertrag bei „Bild“. Springer verpflichtet, darüSelbstverständlich, sagt der ber nicht mehr zu reden.“ damalige Sportchef Hans Auch die Stasi-Karriere Reski, der „die Genossen einvon Kimmel, heute 52, hat gekauft“ hat, „wäre die eine ihre Besonderheiten. Der oder andere Stasi-Geschichte Sportredakteur der Berliner zu erwarten gewesen, aber da „Jungen Welt“ hatte sich 1974 hat sich kein Mensch drum der Stasi verpflichtet und sich gekümmert“. den IM-Namen „Fuchs“ geDass zuerst ausgerechnet geben. Anfänglich war er ein der gutmütige Kollege Hönel so guter Informant, dass sich als langjähriger IM überführt das MfS die Mitarbeit einiges wurde, bedauerten nicht nur kosten ließ. Er bekam zwidie Journalisten der eigenen schen 1974 und 1976, so steht Redaktion – der „Manne“, es in der Akte, Honorare von der für Radprofi Jan Ullinsgesamt 2350 Ost- und 300 rich dessen „Bild“-Kolumnen West-Mark, eine ganze Menschrieb, war immer lieb und ge für die knauserige Stasi. nett, wenn ein Neuling nicht Redakteur Kimmel (1990) Ausdrückliches Lob gab es weiterwusste. auch: „Die Informationen Seine Nähe zu alten SED-Größen war waren wertvoll“, heißt es etwa über Kimallerdings bekannt. Als er 1997 zusammen mel-Berichte aus den Jahren 1975/76. mit dem „Bild“-Kolumnisten Rudolf ScharÜber einen Kollegen hatte IM Fuchs im ping von der Tour de France berichtete, Oktober 1976 beispielsweise gemeldet, der sagte Hönel, die enge Zusammenarbeit pla- junge Mann habe als Student für „Bild“ eige ihn wenig – schließlich habe er bereits nen Artikel über die ostdeutsche Fußball„mit dem Krenz Liegestütz jemacht. Ick nationalmannschaft verfasst – und dafür musste immer verlieren“. vom Klassenfeind „300 bis 400 West-Mark“ Hönel geriet nach Aktenlage schon früh bekommen. Solche Petzereien konnten das in die Hände der Staatssicherheit. Im Sep- Opfer die Karriere kosten und Gefängnis tember 1969 machte sich das MfS daran, einbringen.„Die Quelle ist zuverlässig“, den damals 31-Jährigen anzuwerben. Erich notierte ein Major Heiner von der Stasi-BeMielkes Leute waren sehr zufrieden mit zirksverwaltung Groß-Berlin. ihrem IM „Harro“. 1984 sollte der SportAber dann verlor Kimmel sein Interesse reporter laut Protokoll als „Dank für sei- am Spitzeln, und er bekam 1977 von seinem ne langjährige Zusammenarbeit mit dem Führungsoffizier die „Entpflichtung“. 1988, MfS“ die „Medaille für Treue Dienste der als Kimmel für eine internationale HandNVA in Gold“ erhalten. ballzeitung arbeiten wollte, erklärte er sich Denn Hönel arbeitete gut. Er lieferte de- „im Interesse der Sicherheit unserer Reputaillierte Berichte über die Republikflucht blik“ erneut zur Kooperation bereit. Allerdes DDR-Eiskunstläufers Günther Zöller. dings, so erklärt „Bild“-Chefredakteur Er erzählte, wie eine Erfurterin im Urlaub Röbel den Vorgang, habe Kimmel eine „Eham Plattensee mit Westdeutschen anban- renerklärung“ geleistet, „nie Informatiodelte, und vor allem betätigte er sich als nen über Personen abgegeben zu haben, Aufpasser für DDR-Athleten im Ausland. die diesen Schaden zugefügt haben“. Was IM Harro sonst noch getrieben hat, Das stützen weniger die frühen, eher die bleibt weitgehend im Verborgenen – große späten Akten. „Bei den zuletzt genannten Aufgaben konnten keine wesentlichen Ergebnisse erlangt werden“, steht da, „insgesamt weigert sich der IM, Informationen und Angaben zu DDR-Bürgern zu geben.“ Am engsten kooperierte offenbar der Kollege Thiemann mit den Regimeschützern. IM Mathias unterzeichnete am 10. Oktober 1973 eine Verpflichtungserklärung, wonach die Zusammenarbeit mit der Stasi „alle Bereiche meines Wirkens, einschließlich des Freizeitbereichs, und alle Möglichkeiten meinerseits auf Grund der journalistischen Fähigkeit“ umfasste. So war es dann auch. Thiemann belauschte die Nationaltrainer Georg Buschner (Ost) und Helmut Schön (West), und er schrieb Berichte über geflohene Hochzeitspaar Thiemann (1960) Fußballer wie Norbert Nachtweih und Die Flucht der Ehefrau verraten? cherin Edda Fels dementiert: „Darüber ist uns nichts bekannt.“ Zumindest vom Spitzel Thiemann hätte die Haus-Spitze schon länger wissen können: Im November 1998 hatte Ellen Thiemann nach eigener Aussage das Schreiben der Gauck-Behörde über ihren früheren Ehemann Klaus an den Axel-Springer-Verlag weitergeleitet. „Das haben wir nie gesehen“, sagen Röbel und Michael Spreng, Chefredakteur der „Bild am Sonntag“, unisono. Also schrieb Klaus Thiemann weiter über den FC Hansa Rostock. Die Affäre um die Stasi-Zuträger begann zwar im Sportressort, beschäftigte aber rasch die gesamte Redaktion. Kein Mitarbeiter, hieß es zunächst, dürfe öffentlich Kommentare abgeben; viele Ost-Kollegen waren auf einmal wieder verdächtig. Gerade Sportreporter waren schließlich eine ideale Klientel für das Ministerium für Staatssicherheit: Sie begleiteten die erlesene Clique der DDR-Sportler auf Auslandsreisen, eigneten sich daher bestens als Aufpasser der eigenen Leute und als Kontaktpersonen zu den für die Stasi interessanten Sportlern und Funktionären des Westens. Was die SED-Oberen von ihren Reportern erwarteten, stand in der „Kleinen Enzyklopädie – Körperkultur und Sport“. Sie sollten „den Aufbau der sozialistischen Körperkultur in der DDR vollenden. Der verantwortungsbewusste Sportjournalist stellt reaktionäre Auffassungen an den Pranger“. Die Stasi formulierte es prosaischer: Aufgabe der Sportjournalisten sei die „politisch-operative Absicherung“ der Sportler bei Olympischen Spielen und internationalen Massenveranstaltungen. Zu deutsch: Die Genossen Redakteure sollten mithelfen, Kontakte zwischen den Aktiven und dem Klassenfeind zu unterbinden. Das funktionierte während des Kalten Krieges so: Die Ost-Reporter drängten Kollegen aus dem Westen in den Wassergraben, wenn diese im Stadion DDR-Asse wie die Sprinterin Renate Stecher befragen wollten. Bei Gesprächen unter Journalisten aus Ost und West ging Klaus Huhn dazwischen, Sportchef des „Neuen Deutschlands“ und oberster Aufpasser im Trupp der Aufpasser – „und wenn Huhn nieste, waren alle Ossis krank“, so erinnert sich der Westdeutsche Franz-Hellmut Urban, damals Reporter und heute Sportchef der Münchner „Abendzeitung“. Männer wie Huhn und Hönel waren auch nach der Wende gefragt, da Ost-Stars wie Katrin Krabbe, Ulf Kirsten oder Katarina Witt lieber mit denen redeten, die sie kannten. „Bild“ wollte besonders flink neue Märkte erschließen. Als 1990 die OstZeitung „Deutsches Sportecho“ von Springer gekauft und neun Monate später ein- 93 Deutschland BONGARTS Lutz Eigendorf. „Der IMS wurde nochmals orientiert, Möglichkeiten für eine Verbindung in das Operationsgebiet aufzuklären und zu schaffen, um an die Verräter direkt heranzukommen“, notierte Thiemanns Führungsoffizier. Der Stasi gelang es, den geflüchteten Lutz Eigendorf zu finden – der kam im „Bild“-Reporter Hönel, Radstar Ullrich „Mit dem Krenz Liegestütz jemacht“ März 1983 unter mysteriösen Umständen bei einem Verkehrsunfall zu Tode. Die Gerüchte über ein Stasi-Attentat verstummten nie; die Berliner Staatsanwaltschaft ermittelt noch immer. IM Mathias stand, so sein Führungsoffizier, „auch in schwieriger Situation voll zu seiner Verpflichtung“. Solch schwierige Situationen traten ein, wenn er Kollegen vom West-Fachblatt „Kicker“ aushorchte, die Büros seiner Chefs durchsuchte – oder wenn Thiemann den Chefredakteur der ostdeutschen „Fußballwoche“, Günter Simon, zu Gesicht bekam. Den mochte er nicht, und das schrieb er auch: Simon sei „Großsprecherei“ vorzu* Bei der Erstürmung der Stasi-Zentrale in der Berliner Ruschestraße am 15. Januar 1990. werfen, „eine Haltung, die einem Genossen nicht zukommt“; „ihm mangelt es an Verantwortungsbewusstsein, an Leitungsqualitäten, an Organisationsvermögen, Disziplin, aber auch schlichtweg an Kollegialität“. Für so viel Offenheit spendierte die Stasi schon mal eine Flasche Whisky. Am Ende wollte Thiemann mit all dem überhaupt nicht mehr aufhören. Noch am 15. Dezember 1989, die DDR war längst verloren, empfing er seinen Führungsoffizier Radeke und bekam 200 Mark Prämie, wofür er sich laut Protokoll „herzlich bedankte“. Gegenüber dem SPIEGEL mochte Thiemann seine Vergangenheit nicht kommentieren. Spitzel wie Thiemann gab es unter den DDR-Reportern offenbar eine ganze Menge. Ob Sportjournalisten in der Provinz arbeiteten oder mit Stars auf Reisen gingen: Irgendwann bekamen alle Kontakt mit der Stasi, auch die Großen der Zunft – das hat Giselher Spitzer nachgewiesen, der an der Universität Potsdam die Zusammenhänge von Stasi und Sport erforscht. Das MfS führte beispielsweise den Fernsehreporter Heinz-Florian Oertel, heute 71, als Gesellschaftlichen Mitarbeiter Sicherheit (GMS), Deckname: „Heinz“. Die Stasi notierte, dass Oertel ein „gutes Vertrauensverhältnis zum MfS“ hatte. Doch der „Harry Valérien des Ostens“ erwies sich wohl als zu berühmt, um im Verborgenen zu wirken. „Auf Grund der exponierten Stellung“, schrieb ein Stasi-Mann im Dezember 1989 in die Akte, „besteht seit 15 Jahren kein Kontakt mehr zu dem GMS.“ Nur noch 31 Seiten über Oertel befinden sich in der Gauck-Behörde. „Das ist die dünnste IM-Akte, die ich je gesehen habe“, so Wissenschaftler Spitzer. Klaus Huhn, der mächtige Sportchef des „Neuen Deutschland“, unterschrieb am 6. Januar 1960 eine Verpflichtungserklärung als Inoffizieller Mitarbeiter „Heinz Mohr“. H.-J. HORN / BACH & PARTNER DDR-Reporter Hönel (Kreis)*: Medaille für treue Dienste Der Stasi meldete er Sportler, bei denen „nach wie vor Verdacht auf Republikflucht“ bestehe. Manchmal trug er auch Banalitäten weiter: 1973 habe sich der CSU-Politiker Peter Gauweiler bei ihm gemeldet und nach Eintrittskarten für die Weltfestspiele der Jugend gefragt. Huhn kann sich nicht erinnern, „jemals etwas unterschrieben zu haben“. Und der Sportchef der FDJ-Postille „Junge Welt“, Volker Kluge, der nach der Wende als Persönliches Mitglied ins Nationale Olympische Komitee (NOK) geholt wurde, hat nach Aktenlage als IM „Frank“ im MfS-Auftrag unter anderem die Eiskunstläuferin Witt bespitzelt. Noch kurz vor dem Mauerfall erhielt er eine Geburtstagsprämie von 95 DDR-Mark. 1995 kam Kluges Vergangenheit heraus, er dementierte, aber das NOK untersagte ihm, weiter im Verbandsorgan zu schreiben. Jährlich legte das MfS in Berlin detailliert fest, welche „massenwirksamen Sportwettkämpfe“ besonderer Aufmerksamkeit bedurften. Dann entwickelten die Spezialisten des Ministeriums konkrete Maßnahmen, um „gegnerische Störversuche und Provokationen“ zu verhindern. Zu den Olympischen Spielen 1976 in Montreal entsandte die DDR 585 Sportler, Funktionäre und Reporter. 77 Reisekader, also jeder achte DDR-Abgesandte, berichteten nach Aktenlage als IM an die Stasi, dazu gesellten sich drei hauptamtliche Offiziere Erich Mielkes. Immerhin acht Spitzel kamen aus dem Kreis der Journalisten – und die leisteten gute Arbeit. Trotz „subversiver Aktivitäten“ des Feindes, heißt es im Abschlussbericht, sei es „kaum zu nennenswerten Kontakten“ zwischen Ost-Sportlern und der bösen Welt des Westens gekommen. Die Sportjournalisten kundschafteten nicht nur Athleten und Funktionäre aus, sie mussten sich auch untereinander kontrollieren. So berichtete Roland Sänger (IM „August“), Sportredakteur beim „Freien Wort“ in Suhl, dem MfS, welcher Kollege sich im Ausland mit „so genannten Sex- und Pornografieheften“ eindeckte. Und einmal schwärzte IM August eine Friseurin an; die hatte beim WM-Siegtor von Gerd Müller 1974 vor Freude „zweimal den Teppich geküsst“. Als Sängers Berichte 1995 bekannt wurden, war er seinen Job los. Ellen Thiemann, inzwischen längst von IM Mathias geschieden, kam 1975 aus Hoheneck, dem berüchtigten Frauenknast im Erzgebirge, frei. Ihr Ehemann Klaus habe zwei Geliebte gehabt, erzählt sie, und ihr kühl zur Ausreise geraten. Er komme nicht mit, weil er beim „Sportecho“ inzwischen Karriere gemacht habe, die könne er drüben nicht machen. Nach der Wende ging es dann doch: 1991 heuerte Klaus Thiemann bei „Bild“ an. Klaus Brinkbäumer, Udo Ludwig, Georg Mascolo, Thomas Purschke Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite BILDERBERG CORBIS SYGMA Deutschland Umstrittene Bauprojekte*: Widerstand einer großen Volksbewegung B U N D E S H AU S H A LT Heimliches Risiko Ohne Kontrolle des Parlaments bürgt der Bund für oft zweifelhafte Exportgeschäfte. Die von Rot-Grün geplante Reform des Vergabesystems droht zu scheitern. D er Ort verführt zum Schwärmen. Hoch über dem Tal des Tigris thront eine Burg auf einem Felsen, um den sich hunderte uralter Häuser und mehrere Moscheen drängen. In Hasankeyf, der einzigen noch vollständig erhaltenen mittelalterlichen Siedlung im türkischen Kurdistan, vermischten sich schon vor 2000 Jahren die Kulturen Mesopotamiens, Innerasiens und des alten Rom – für Archäologen eine einzigartige Fundstätte. Doch bald könnte Hasankeyf in den Fluten versinken. Flussabwärts in der Region Ilisu plant die türkische Regierung die Errichtung eines 130 Meter hohen Staudamms. Im künstlichen See dahinter würden neben dem antiken Handelszentrum über 100 Dörfer und Kleinstädte untergehen. An die 30 000 Menschen drohe die Vertreibung, protestieren kurdische Menschenrechtler. Das Ilisu-Projekt verschärfe den schwelenden Bürgerkrieg in der Region. Zudem beschwert sich die syrische Regierung, die Türkei wolle mit dem Damm dem feindlichen Nachbarn die wichtigste Wasserquelle abdrehen. Der Damm sorgt nicht nur im Nahen Osten für Konflikte, sondern auch am Kabinettstisch der rot-grünen Koalition in * Links: Sardar-Sarovar-Damm im Narmada-Fluss in Indien; rechts: Atomkraftwerk „Rowno“ in der Ukraine. 98 Berlin. Die Minister müssen demnächst entscheiden, ob sie einem der mit dem Bau des Wasserkraftwerks beauftragten Unternehmen, einer Tochterfirma des Elektrotechnik-Konzerns ABB, eine so genannte Hermes-Bürgschaft gewähren. Mit solchen „au- Meistens Miese Jährliches Defizit bei Bundesbürg- schaften (Hermesgarantien)* in Millionen Mark 585 846 17 – 82 – 973 – 1300 – 1578 – 1586 – 2623 – 3943 * inkl. binnenwirtschaftlicher Gewährleistungen, Quelle: Finanzministerium – 4944 Prognose 1980 82 84 86 88 90 92 94 96 98 2000 d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 ßenwirtschaftlichen Gewährleistungen“ (so der Budget-Titel) übernimmt der Bund das Risiko für den Fall, dass die Auftraggeber von Exportgeschäften nicht zahlen können. Das beschert der Regierung aber indirekt auch die Verantwortung für die Folgen der geförderten Projekte. Weil das Vorhaben die Spannungen in der Krisenregion anheize, „sollten wir bei dem Ilisu-Damm nicht mitmachen“, meint darum Entwicklungshilfeministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD) und weiß sich darin einig mit mehreren Abgeordneten beider Koalitionsfraktionen. Sowohl der parteilose Wirtschaftsminister Werner Müller als auch Außenamtschef Joschka Fischer (Grüne) signalisierten dagegen bereits ihre Zustimmung. „Das wird noch eine harte Auseinandersetzung“, schwant einem der beteiligten Beamten. Mit dem Streit um den Tigris-Damm kommt ein weiterer Konflikt um ein rotgrünes Reformprojekt zum Vorschein: Die Außenwirtschaftsförderung sollte laut Koalitionsvertrag „unter ökologischen, sozialen und entwicklungsverträglichen Gesichtspunkten“ umgebaut werden – daraus wird wohl nichts. Es geht um jährlich über 30 000 Bürgschaften, die das Hamburger Versicherungsunternehmen Hermes AG, eine Tochter des Allianz-Konzerns, gegen die Zahlung von Gebühren im Auftrag des Bundes für Exporte in wirtschaftlich instabile Länder der Dritten Welt oder Osteuropas übernimmt. Eine solche Risiko-Absicherung zu Lasten des Steuerzahlers ist in allen westlichen Industriestaaten eine gängige Methode der Exportförderung. Vielfach werden aber auf diesem Weg Projekte ermöglicht, die in den Importstaaten erhebliche ökologische und soziale Probleme verursachen. Die bettelarme Slowakei etwa ließ mit Hermes-Deckung für 130 Millionen Mark Werbeseite Werbeseite Deutschland M. URBAN K.-B. KARWASZ / ARGUS Gouvernanzinstrument maein Atomkraftwerk sowjetichen“, meint nun auch scher Bauart durch den SieSPD-Fraktionsvize Ernst mens-Konzern fertig stellen, Schwanhold. Darum seien obwohl die Anlage wichtige die alten Reformvorschläwestliche Sicherheitsstange nicht zu verwirklichen. dards nicht erfüllt. In China „Die Entscheidungen der bürgt der Bund für einen Importländer“ seien zu „regroßen Teil der Bauleistunspektieren“. gen am so genannten DreiDen Vorschlag des grünen Schluchten-Damm. Dessen Haushälters Metzger, mit Errichtung erzwingt die Umdem neuen Haushaltsgesetz siedlung von mehr als einer dem Budget-Ausschuss des Million Menschen, ist techBundestags ein Mitentscheinisch hoch riskant und fördungsrecht bei Bürgschaften dert die Ausbreitung tödlivon über 50 Millionen Mark cher Parasitenkrankheiten. einzuräumen, schmetterte Britische Wissenschaftler bedie SPD in der koalitionsinzeichneten das Vorhaben als ternen Arbeitsgruppe Hausdas „Tschernobyl der Washalt vergangene Woche serkraft“. rundheraus ab. Zugleich verführt die beDoch die bisherige Lässigqueme Staatsgarantie zu un- Hermes-Zentrale*: Jährlich 100 Millionen Mark für die Allianz keit bei der Vergabe von soliden Kalkulationen in den Bürgschaften wird die Koalition genau wie Käuferstaaten. Knapp ein Drittel der Schulbei Rüstungsexporten in immer neue Konden von Entwicklungsländern gegenüber flikte stürzen. Neben dem Ilisu-Damm steDeutschland sind Forderungen aus fällig hen in der nächsten Zeit zwei weitere kniffgewordenen Handelsbürgschaften. lige Entscheidungen an: Die Rechnung wird mit Steuergeldern π Die Ukraine will zwei Atomkraftwerke beglichen. Die Versicherungsgebühren und sowjetischer Bauart mit westlichen die ausgezahlten Schadenserstattungen Krediten durch ein Konsortium aus Sielaufen direkt durch den Bundeshaushalt. mens und dem französischen StaatsAn die 100 Millionen Mark im Jahr kassiert konzern Framatome fertig stellen lasdabei die Allianz für die Verwaltung. sen. Ohne Hermes-Deckung würde die Das System macht meistens Miese. Je Finanzierung platzen, die ukrainische nach Krisenlage der Weltwirtschaft und Grüner Haushälter Metzger Betreibergesellschaft gilt als zahlungspolitischen Umbrüchen in den Importlän- Von der SPD abgeschmettert unfähig. Bundeskanzler Gerhard Schrödern muss der Steuerzahler für Schäden der hat allerdings gegenüber dem von bis zu fünf Milliarden Mark im Jahr ge- Verbands World Economy, Ecology and Hauptfinanzier, der Londoner Osteuradestehen (siehe Grafik Seite 98). Seit Development (WEED) fordert daher seit ropabank, Deutschlands Zustimmung 1983 lief ein Defizit von über 26 Milliarden langem die Öffnung des Verfahrens und schon avisiert. Mark auf. ein Anhörungsrecht für kritische WissenOb und wann die Gelder von den schaftler sowie Vertreter der betroffenen π In Indien will ein privater Konzern das Wasserkraftwerk Maheschwar bauen. Schuldnerländern wieder eingetrieben Bevölkerung aus den Importländern. Das Projekt, zu dem auch ein riesiger werden können, vermag niemand zu saDafür haben die Aktivisten ein überraStaudamm im Narmada-Fluss gehört, gen. „Auch für die kommenden Jahre ist schendes Vorbild – die US-Regierung. stößt auf den Widerstand einer großen mit relativ hohen Ausgaben für politische Deren Exportgarantie-Behörde hat sich Volksbewegung (SPIEGEL 30/1999). ObSchäden zu rechnen“, kündigte das Fi- die strengen ökologischen und sozialen wohl die staatliche Elektrizitätsgesellnanzministerium vergangenen Mai in ei- Standards der Weltbank zu Eigen geschaft die Stromabnahme voraussichtnem als „Verschlusssache“ deklarierten macht und fordert Kritiker bei strittigen lich gar nicht bezahlen kann und der Bericht zu den Hermes-Finanzen an. Vorhaben öffentlich per Internet zu StelMünchner Viag-Konzern sich aus dem Den Milliardenposten im Etat kann der lungnahmen auf. Projekt zurückzog, wollen die zuständiBundestag praktisch nicht kontrollieren. Bis zum Regierungsantritt konnten sich gen Beamten des WirtschaftsministeriDie Bürgschaften im Zeichen des Götter- die Anti-Hermes-Streiter denn auch der ums den Bund für die Bezahlung der bei boten Hermes vergibt ein Ausschuss von Unterstützung von Grünen und SozialdeSiemens bestellten Elektrotechnik bürBeamten aus Wirtschafts-, Finanz-, Außen- mokraten sicher sein, die mehrfach entgen lassen. und Entwicklungshilfe-Ministerium, im sprechende Anträge im Bundestag einDamit steht vor allem für die Grünen Streitfall entscheidet das Kabinett. „Der brachten. Bund zahlt Milliardensummen aus, und wir Seit dem Machtwechsel befiel die rot- viel auf dem Spiel. Insbesondere die Haushaltspolitiker sind dabei völlig ohn- grünen Reformer aber Furcht vor der ei- Untätigkeit von Außenminister Joschka Fimächtig“, beklagt der grüne Abgeordnete genen Courage. „Das Hermes-System ist scher sorgt für Irritation bei der grünen Oswald Metzger. kein Instrument der Entwicklungshilfe, Klientel. In Sachen Ilisu-Damm böte die Zudem sind alle Vorhaben grundsätzlich sondern soll die deutsche Industrie im Konfliktlage in Kurdistan eigentlich ausgeheim. Zweifelhafte Projekte kamen bis- internationalen Wettbewerb effizient un- reichend Grund für ein Veto des Auswärtilang stets nur an die Öffentlichkeit, wenn terstützen“, argumentiert Michael Kruse, gen Amts. Hinter der Reformkampagne, mahnt Umwelt- und Solidaritätsgruppen Proteste der für Hermes zuständige Referatsleiter und Kritik aus den Importstaaten publik von Wirtschaftsminister Müller. Man kön- WEED-Sprecherin Barbara Unmüssig, machten. ne die Bürgschaftsvergabe „nicht zu einem „stehen Organisationen mit über einer Million Mitgliedern, darunter sicher viele GrüEin Bündnis von 120 solcher Nichtregienen-Wähler“. rungsorganisationen unter Führung des * In Hamburg. Harald Schumann 100 d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Deutschland DPA zösischen Lens, wo am 21. Juni 1998 anlässlich der Fußball-WM Deutschland gegen Jugoslawien spielte. Das Foto des in seinem Blut liegenden Nivel kennt jeder. Auch ein paar Haftjahre mehr „hätten an der Sache nichts geändert“, sagte Lorette Nivel, die mit ihrem Ehemann und einem der Söhne zur Urteilsverkündung gekommen war, weil sich die Medien, so der die Nebenklage vertretende Anwalt, an ihrer Anwesenheit und Reaktion interessiert zeigten. Nivel, er ist 44, wird für sein Leben schwerst behindert bleiben, ein Mensch, der nicht mehr aufnimmt, was geschieht, und mit dem man sich nicht mehr austauschen kann. Ein Journalist fragte den Sohn, ob er den Tätern verzeihen könne. Er kann es nicht, welch eine Frage. Eine unerträgliche Frage wegen ihrer kalkulier- Angriff auf den Gendarmen Nivel 1998: Wie Monster verhalten STRAFJUSTIZ AFP / DPA Was fasziniert so an Gewalt? Im Hooligan-Prozess hat das Landgericht Essen hohe Strafen verhängt – eine abschreckende Wirkung werden sie kaum erzielen. Von Gisela Friedrichsen Angeklagte Renger, Zawacki Missachtung von Tabus 104 AP D er Generalsekretär des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) Horst Schmidt hofft, das Essener Urteil werde in der Hooligan-Szene als „eindeutige Botschaft“ begriffen. Und der beim DFB für die Medien zuständige Wolfgang Niersbach setzt auf die „abschreckende Wirkung“ des Richterspruchs. Die Gerichte, so sehen es die Funktionäre der Weltmacht Fußball, richten es schon. Die Auffassung, hohe Strafen schreckten ab, hat ein zähes Leben. Nicht einmal von der Todesstrafe haben sich Mörder oder Totschläger aufhalten lassen. Dass die Essener Angeklagten des versuchten Mordes an dem französischen Gendarmen Daniel Nivel beschuldigt wurden, dass zumindest ein Lebenslang und hohe Haftstrafen drohten – die Krawallmacher trieben bis heute unbeeindruckt ihr Unwesen. Und sie treiben es weiter. Die 2. Große Strafkammer des Landgerichts Essen ist mit ihrem Urteil zwar unter den Strafanträgen der Anklage geblieben. Doch milde gestraft hat sie nicht: für André Zawacki, 28, zehn Jahre Freiheitsstrafe statt der beantragten 14 Jahre; für Tobias Reifschläger, 25, sechs Jahre, beantragt waren acht Jahre; für Frank Renger, 31, fünf statt sieben Jahre; für Christopher Rauch, 24, drei Jahre und sechs Monate statt sechs Jahre. Zawacki wurde wegen Angeklagte Rauch, Reifschläger Das Gericht hat kein Exempel statuiert versuchten Mordes und wie alle Mitangeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung verurteilt. Das Gericht hat kein Exempel statuiert, weil dies die Achtung vor der Würde auch des Menschen verbiete, der sich schuldig gemacht hat. Die Angeklagten wurden daher auch nicht für die „Schande“ bestraft, die sie angeblich über die Fußballnation Deutschland gebracht haben, was die Öffentlichkeit, von den Medien in beispielloser Weise munitioniert, gern gesehen hätte. Die Anklageschrift war schon weit vor Prozessbeginn in einer Zeitung ausgebreitet worden. Es gab Filme und Fotos ohne Ende von den Schreckensszenen im frand e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 ten Publikumswirksamkeit. Drei der Angeklagten haben bereut, einer hat die schrecklichen Folgen bedauert. „Was haben Sie von den Angeklagten erwartet?“ „Ich glaube nicht, dass ich etwas von ihnen erwarte“, sagt Frau Nivel leise. „Hatten Sie schon Zeit, mit Ihrem Mann über das Urteil zu sprechen? Wie ist seine Reaktion?“ Jeder weiß, dass er nicht mehr reagieren kann. „Ich habe ihn gefragt, ob es ihm gut geht“, antwortet sie. Die Angeklagten sind nicht Monster, sondern Menschen, auch wenn sie sich an jenem unseligen Tag wie Monster verhalten haben, sagt der Vorsitzende Richter Rudolf Esders, 59, in der Urteilsbegründung. Wie soll ein Gericht solche Menschen bestrafen? Adolf Arndt, der Jurist und SPD-Rechtspolitiker, hat das Unheil beschrieben, das, angerichtet von Menschenhand, sich durch Menschenhand nicht wieder gutmachen lässt: „Die Frage des Strafens erhebt sich dort vor uns, wo Gerechtigkeit unerreichbar wurde.“ „Man kann sie nur nach ihrem Handeln verurteilen“, sagt Esders. Und bedrückt, nicht ohne Resignation fährt er fort: „Sie werden ein paar Jahre weggesperrt. Das kann ein Strafgericht erledigen. Wir können dann mit dem Finger auf sie zeigen und ihr Tun und ihren Charakter be- Werbeseite Werbeseite schimpfen und zur Tagesordnung überge- Michael Eder hat in der „Frankfurter Allhen im Gefühl, besser zu sein als sie.“ Un- gemeinen“ beschrieben, wie Spieltag für überhörbar die Ratlosigkeit, die schmerz- Spieltag „hoch bezahlte Bundesligaprofis lichen Erfahrungen im Sinne Arndts, die ihre Aggressivität zu Markte“ tragen. „Die auch ein erfahrenes Gericht und einen Tendenz zur Gewalt auf dem Platz wird Richter auf dem Höhepunkt seines An- verharmlost statt verurteilt.“ Es ist kein sehens nicht loslassen. Kavaliersdelikt, wenn ein Spieler dem anWas fasziniert so an Gewalt? Warum er- deren ins Gesicht tritt und wenn dieser liegen ihr gerade junge Menschen? Warum Ausschnitt dann in Großaufnahme auf dem suchen sie Geborgenheit ausgerechnet un- Bildschirm zu konsumieren ist. ter Gewalttätern? Welche Instinkte werMan wolle nicht dem Druck einer „verden dabei angesprochen? Müssen wir uns schwindend kleinen Gruppe“ von Tätern abfinden damit, dass Gewalt Spaß macht? Dass es eine Lust gibt am Abbau von Hemmungen, an der Missachtung von Tabus und Normen? Manche Fragen, die Esders ausspricht, sind schon die Antwort. Die Strafgerichte befinden sich heute in einer prekären Situation. Eine populistische Politik, die sich den von Medien allzu oft geschürten Ängsten vor dem Verbrechen zu empfehlen sucht, indem sie Strafmaße erhöht, überfüllt die Strafanstalten. In denen geschieht nichts, was der Einsicht und Reue der Verurteilten, und damit dem Leid der Ehepaar Nivel: Den Tätern verzeihen? Opfer, dient. Die Gerichte werden bedrängt von Erwartungen, sie nachgeben, heißt es von den Funktionären werden dazu angehalten vom Gesetzge- des Millionengeschäfts Fußball. Doch die ber, immer höhere Strafen zu verhängen Lust an der Gewalt fährt nicht wie die bib– doch dem Hooliganismus und anderen lischen bösen Geister in eine Herde verFehlentwicklungen stehen nur dürftige abscheuungswürdiger Säue. Die Gefahr, Bemühungen entgegen. In Essen etwa ka- dass es im Zusammenhang mit dem robusmen erhebliche Zweifel am Nutzen von ten Kampfsport Fußball zu Katastrophen Fanprojekten, Szenebeobachtern und Be- kommt, wird auch genährt von dem, was treuern auf. immer wieder ungerügt im Spiel und daDas Fußballspiel ist schon längst nicht nach geschieht. Der Nationalstürmer Enrimehr die schönste Nebensache der Welt co Chiesa vom AC Parma jubelte im Mai und auch keine bloß sportliche, friedliche nach dem Sieg über Olympique Marseille: Veranstaltung. Die Geschichte der Kra- „Marseille wurde massakriert!“ Zu sich walle rund um den Fußball und ihrer Op- endlos wiederholenden Untaten – der Ton, fer wird verdrängt: 1964 in Lima – mehr als der dazu passt. 300 Tote nach einem Länderspiel zwischen Das Essener Urteil wird voraussichtlich Peru und Argentinien. 1971 in Glasgow – 66 die Revision zu bestehen haben. Die VerTote anlässlich eines Spiels zwischen den teidiger Peter Kruse (für Zawacki) und Ortsrivalen Rangers und Celtic. Mai 1985, Henning Plähn (für Rauch) haben rechtliBrüssel, Heyselstadion – 39 Tote bei einem che Argumente für ihre Mandanten vorgeSpiel zwischen einer britischen und einer bracht, die sie, zunächst, für nicht ausreiitalienischen Mannschaft. Die Liste lässt chend berücksichtigt halten. Man mag sich vorwärts wie rückwärts verlängern. kritisieren, dass in der mündlichen BeDie Niederlande und Belgien, Gastge- gründung nicht auf die schwierige Beweisber der EM im Jahr 2000, werden immer lage eingegangen wurde, nicht auf die verwieder von schwersten Krawallen mit To- wirrende Wirkung der Fotos, nicht auf die ten und Schwerverletzten heimgesucht, die vielen schweigenden Zeugen, die an dem Polizei greift zu Schusswaffen. Während Unglück von Lens auch ihren Anteil hades Essener Prozesses wusste sich Borussia ben, nicht auf den aus unserer Sicht unDortmund vor einem Spiel in Rotterdam gewöhnlichen Umgang mit Asservaten in nicht mehr anders zu helfen, als die dem Frankreich. Verein zustehenden Karten zurückzuDoch dies mindert, so oder so, nicht schicken, nachdem vor einem Großangriff den Appell des Gerichts, nachzudenken, auf die Fans gewarnt wurde. wieso Menschen sich so schwer schuldig Die Gewalt ist mittlerweile bis in den machen. Und ob es genügt, sich damit abJugendfußball vorgedrungen, wo sich El- zufinden – dass gestraft wird, wenn es zu tern auf den Zuschauerplätzen prügeln. spät ist. ™ 106 d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 AP Deutschland S P I E G E L - G E S P R ÄC H „Ich habe lernen müssen“ M. DARCHINGER Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) über die Kritik an seiner Asylpolitik und eine neue Regelung der Zuwanderung Minister Schily: „Debatte auf europäischer Ebene“ SPIEGEL: Warum aber dieses Thema in dieser Tonlage zu einem Zeitpunkt, da es im rot-grünen Bündnis ohnehin an allen Ecken brennt? Schily: Ich halte eine freundliche und sachliche Tonlage ein. Europa hat sich ein gemeinsames Regelwerk für Asyl-, Bürgerkriegsflüchtlings- und Migrationsfragen zur Aufgabe gemacht. Deutschland kann sich aus dieser Debatte nicht heraushalten. SPIEGEL: Und doch ist es eine gründliche Abkehr von der Haltung, die bisher als politisch korrekt in Sachen Asylrecht galt. Verfolgte bei uns Zuflucht finden sollen, wird dadurch nicht in Frage gestellt. SPIEGEL: Und nun ist der Artikel mit der Wirklichkeit nicht mehr in Übereinstimmung zu bringen? Schily: Die gegenwärtige Rechtslage führt zu einer jährlichen Zuwanderung von rund 100 000 Menschen, verbunden mit äußerst kostspieligen und aufwendigen Verwaltungs- und Gerichtsverfahren, von den Sozialhilfekosten ganz abgesehen. Und nur zwischen drei und vier Prozent werden als Asylberechtigte anerkannt. Ein weiterer geringer Prozentsatz erreicht die Anerkennung auf dem Klagewege. SPIEGEL: Wollen Sie allen Ernstes dabei bleiben, dass 97 Prozent der Asylsuchenden in Deutschland „Wirtschaftsflüchtlinge“ sind, wie Sie sie genannt haben? Schily: Der Ausdruck „Wirtschaftsflüchtlinge“ war unglücklich gewählt. Wir spre- tionspartner wirft Ihnen nach Ihrem Vorstoß, das Asylrecht zu überdenken, einen „Frontalangriff auf Flüchtlinge“ vor. Wird der Innenminister zur Belastung für die rot-grüne Koalition? Schily: Die Aufregung ist völlig überflüssig. Die nervösen Reaktionen sind mir unverständlich, ich habe keinen Gesetzentwurf oder gar ein verfassungsänderndes Gesetz auf den Tisch gelegt. Ich habe über eine Perspektive gesprochen. Es sollte wenigstens ausnahmsweise einmal erlaubt sein, in langen Linien zu denken. SPIEGEL: Sie tasten nicht nur ein Kernthema der Bündnisgrünen an; immerhin stellen Sie auch einen Artikel des Grundgesetzes in Frage. Schily: Sich auf Symbolpolitik zu reduzieren, mag der eigenen Befindlichkeit dienen. Davon haben aber die Menschen herzlich wenig. Im Übrigen: Wer meint, er habe die besseren Argumente, der soll sie geltend machen. Wir müssen doch in der Lage sein, ohne Unruhe einen gesellschaftlichen Diskurs zu führen. SPIEGEL: Nicht ganz einfach, wenn der Innenminister eine grundsätzlich neue Position einnimmt und nebenbei an einem Tabu rührt. Schily: Sie ist gar nicht so nagelneu. Schon bei der Debatte um den sogenannten Asylkompromiss 1993 hat der Abgeordnete Otto Schily diese Position vertreten. DPA SPIEGEL: Herr Minister Schily, Ihr Koali- Abschiebung von Kosovo-Albanern (1998)*: „Straftäter zuerst“ Schily: Ich war früher selbst ein vehementer Befürworter der alten Fassung von Artikel 16 des Grundgesetzes, aber ich habe lernen müssen, dass die Norm in der Wirklichkeit anders ankommt, als sie gemeint war. Der Grundsatz, dass politisch * Auf dem Münchner Flughafen. d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 chen besser von „Armutsflüchtlingen“. Dass Menschen aus Gründen, die mit politischer Verfolgung nichts zu tun haben, versuchen, nach Deutschland zu gelangen, ist moralisch nicht zu verurteilen. Ich frage nur, macht es Sinn, diese Zuwanderung de facto über das Asylverfahren zu ermöglichen? Sollten wir nicht besser frei 107 Deutschland 438 191 Abschied von Deutschland Anträge und Abschiebungen von Asylbewerbern in Deutschland VERSION entscheiden, wen wir unter bestimmten Voraussetzungen bei uns aufnehmen wollen und wen nicht? SPIEGEL: Also ein Zuwanderungsgesetz? Schily: Möglicherweise. Vielleicht reicht aber eine Überarbeitung des Ausländergesetzes aus. Wichtig ist, dass wir auf europäischer Ebene zu einer Angleichung des formellen und materiellen Rechts kommen. Sicherlich ist auch der Hinweis richtig, dass unter denen, die Asyl beantragen, einige sind, denen zwar kein Asyl, aber Abschiebeschutz zuerkannt wird. Gleichwohl steht fest, dass die weitaus überwiegende Zahl der Asylbewerber Menschen sind, die keinen Asylschutz genießen. SPIEGEL: Müssen Sie deswegen gleich einen Verfassungsartikel über Bord werfen? Schily: Es geht um die schlichte Frage, wie wir mit weniger Verwaltungs- Kirchenschutz für Flüchtlinge*: „Zielgenaue Entscheidungen“ Eine Entscheidung, die aus freien Stücken getroffen wird Anträge und nicht über ein Gericht erzwungen werden Quelle: Bundesinnenministerium 256 112 kann, ist deshalb kein Gnadenerweis. Das gilt auch für das Asyl. Die Vorstellung, durch ein Klagerecht sei die Richtigkeit und Zielgenauig104 353 keit der Entscheidung 98 644 eher garantiert, beruht 80 620 auf einem Irrtum. Jan. bis SPIEGEL: Gibt die Genfer Abschiebungen Okt. 38 205 1999 Flüchtlingskonvention 10 798 21 000 nicht ein unmittelbar Erstes Halbj. 1998 einklagbares Recht auf 8232 Asyl? 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 Schily: Die Genfer Flüchtlingskonvention regelt aufwand zu zielgenauen Entscheidungen das „Recht im Asyl“, sie begründet aber gelangen, Beschwörungen von Tabus sind kein Recht „auf Asyl“. Aus der Genfer Flüchtlingskonvention ergeben sich ledigdabei wenig hilfreich. SPIEGEL: Ihr Koalitionspartner sieht das lich bestimmte Rechte auf Abschiebeschutz, die allerdings auch gerichtlich gelanders. Schily: Wir sollten die Diskussion nicht tend gemacht werden können. auf den nationalen Rahmen verengen. SPIEGEL: Sollten wir einfach selbst entDie Debatte gehört auf die europäische scheiden, wem wir helfen? Ebene. In diesem Zusammenhang stellt Schily: Meiner Meinung nach sollten wir sich die Frage, ob die Richtigkeitsgewähr mehr der moralischen Integrität der zur einer Entscheidung positiv oder negativ Entscheidung Berufenen vertrauen als umdadurch beeinflusst wird, ob sie mit ei- ständlichen Verwaltungs- und Gerichtsvernem subjektiven Klagerecht verbunden fahren. Jedoch muss verfassungsrechtlich ist. Es fordert beispielsweise ja niemand abgesichert werden, dass eine unabhängiein einklagbares Recht auf Zuwanderung ge Institution geschaffen wird, der die entoder auf Gewährung von Entwicklungs- sprechenden Entscheidungen zu übertrahilfe. gen sind. SPIEGEL: Dann wird Asyl zum Gnaden- SPIEGEL: Welcher Institution wollen Sie recht. eine solche Entscheidung anvertrauen? 108 d e r Schily: s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 Schily: Das könnte ein unabhängiger Asylbeauftragter sein mit einem Beirat, in dem die Kirchen und Gewerkschaften vertreten sind. SPIEGEL: Was wären die konkreten Vorteile? Schily: Dieses Verfahren hätte den Vorteil der größeren Flexibilität, zum Beispiel bei der umstrittenen Frage der Abgrenzung von staatlicher und nichtstaatlicher Verfolgung als Asylgrund. Das von uns bisher praktizierte starre Verfahren bietet diese Flexibilität nicht. SPIEGEL: Die Väter des Grundgesetzes haben sich doch etwas dabei gedacht, als sie das Asylrecht in die Verfassung geschrieben haben. Haben die sich geirrt? Schily: Nein. Der Grundgedanke war im Rückblick auf die Vergangenheit, nicht zuletzt auf das Schicksal jüdischer Emigranten aus Deutschland, richtig. Der Grundgedanke, politisch Verfolgten Schutz zu gewähren, bleibt auch heute richtig. Es ist nur die Frage, wie man ihn am besten verwirklicht. Ich glaube nicht, dass die Mütter und Väter des Grundgesetzes mit dem Asylartikel ein Zuwanderungsrecht schaffen wollten. Für mich gilt nach wie vor, was mir vor langer Zeit ein Vertreter des Uno-Flüchtlingskommissars in Zirndorf gesagt hat: „Ihr Deutschen habt das liberalste Zugangsrecht in Europa und zugleich die illiberalste Anerkennungspraxis.“ SPIEGEL: Ohne Verfassungsrang bleibt das Asylrecht der Willkür und politischen Beliebigkeit überlassen. Schily: Die Gefahr ist nicht zu bestreiten. Aber wodurch begegne ich ihr? Durch * Kurden in der Bonner Kreuzkirche 1998. Werbeseite Werbeseite Asylbewerber in Abschiebehaft: „Besser von Armutsflüchtlingen sprechen“ Verwaltungsvorschriften und Gerichtsentscheidungen oder durch die moralische Autorität einer solchen unabhängigen Institution? Das ist doch die Frage. SPIEGEL: Und wer garantiert eine solche Institution? Schily: Institutionelle Garantie kann nicht heißen, dass man nur einen Programmsatz in die Verfassung schreibt. Die Institution muss in der Verfassung verankert sein und dadurch die Garantie dafür werden, dass dem Schutzbedürfnis für politische Flüchtlinge auch entsprochen wird. SPIEGEL: Würden dann mehr oder weniger Fälle positiv beschieden werden als heute? Schily: Es könnte sein, dass im begrenzten Umfang mehr Menschen Asyl gewährt wird, weil das Verfahren flexibler und nicht mit einer Präjudizwirkung verbunden wäre. SPIEGEL: Fakt bleibt aber: Die Abschaffung des Asylartikels, für die Sie eigentlich plädieren, ist ein Tabubruch für das gesamte rot-grüne Lager. Schily: Ich respektiere ja, dass viele Leute Schwierigkeiten mit dem Thema haben. Allen, die am subjektiven Recht auf Asylgewährung festhalten wollen, ist gewiss eine idealistische und ehrenwerte Haltung zu attestieren. Ich hoffe, dass es gelingt, die Debatte wieder zu versachlichen. SPIEGEL: Ihr Koalitionspartner kann sich nach wie vor mit dem Flughafenverfahren nicht anfreunden, also dem Abfangen von Asylsuchenden, bevor sie deutsches Rechtsgebiet betreten können. Schily: Um das klar zu sagen: Das Flughafenverfahren bleibt bestehen. Wir werden jedoch die Unterbringungsmöglichkeiten auf dem Frankfurter Flughafen verbessern. SPIEGEL: Für Kinder ist das Verfahren aber auch dann nicht geeignet. 110 Eindruck erwecken, als ob die Ausreisepflicht nur auf dem Papier besteht. SPIEGEL: Ist das humanitäres Handeln? Schily: Um die Bereitschaft der Bevölkerung zur Aufnahme aufrechtzuerhalten, muss garantiert sein, dass der Aufenthalt für Flüchtlinge vorübergehend ist. SPIEGEL: Den Ländern haben Sie mitgeteilt, dass der Bund vom kommenden April an die Kosten für die Kriegsflüchtlinge nicht mehr trägt. Das heißt, spätestens dann wird zurückgeschoben. Schily: Richtig. SPIEGEL: Auch der UNHCR hat Schwierigkeiten mit Ihrer Flüchtlingspolitik. Schily: Mit dem UNHCR gibt es da und dort Meinungsverschiedenheiten. Aber in der Regel arbeiten wir sehr gut zusammen. SPIEGEL: Mehr noch: Ihr Haus hat die Länderministerien aufgefordert zu prüfen, ob auch bei anerkannten Asylbewerbern die Aufenthaltserlaubnis widerrufen werden kann. Schily: Das gilt nur für straffällig gewordene Kosovo-Albaner, und das auch nur, soweit es sich nicht um Bagatelldelikte handelt. SPIEGEL: Die Innenminister von Bund und Ländern denken darüber nach, KosovoAlbaner, bei denen der Verdacht krummer Geschäfte nahe liegt, zuerst nach Hause zu schicken. Schily: Das könnte eine Überlegung sein, aber dafür sind die Länder zuständig. In der ersten Phase werden sicherlich Abschiebungen vorgezogen, denen ein Ausweisungstatbestand aufgrund strafbaren Schily: Ich befolge den Grundsatz, dass Minderjährigkeit nicht gleichbedeutend mit einem Einreiserecht ist. SPIEGEL: Aber ein bestimmtes Lebensalter verpflichtet auch zu einer besonderen Behandlung. Schily: Das ist gewiss richtig. Aber das heißt nicht, dass Minderjährige, die auf dem Luftweg bei uns ankommen, grundsätzlich einreisen dürfen. SPIEGEL: Das wollen die Kritiker dieses Verfahrens auch nicht unbedingt. Schily: Wer von Kinderknast mit Teddybär redet, will eine bestimmte emotionale Reaktion in der Öffentlichkeit hervorrufen. Das muss ich aushalten. SPIEGEL: Sie wollen sämtliche bisher hier geduldeten Kosovo-Albaner in Deutschland nach Hause abschieben. Wann werden alle das Land verlassen ha- Schily beim SPIEGEL-Gespräch*: „Denken in langen Linien“ ben? Schily: Wir gehen die Sache sehr behutsam Verhaltens zugrunde liegt. Es wird schon in und sehr pragmatisch an. Es geht doch in den nächsten Wochen zu einigen Abschieerster Linie um die Förderung der freiwil- bungen kommen. Außerdem werden wir ligen Rückkehr. Man muss aber auch dar- im Einverständnis mit dem UNHCR diejeauf bestehen, dass die, die ausreisepflichtig nigen zurückschicken, die nach Beendigung der Militäraktionen zu uns kommen. sind, auch wirklich ausreisen. SPIEGEL: Also keine Ausreisepflicht in den SPIEGEL: Und bei Leuten, bei denen zwar kommenden zwölf Monaten? kein Urteil, aber ein entsprechender VerSchily: Vielleicht war es eine etwas zu op- dacht vorliegt? timistische Erwartung, dass die Verfahren Schily: Wir müssen leider sagen, wir haben im kommenden Jahr abgeschlossen sind. unter den Kosovo-Albanern einige unerAber es muss so schnell wie möglich gehen. freuliche Gestalten. Die sind der deutschen Wir dürfen in der Öffentlichkeit nicht den Bevölkerung nicht zuzumuten. Da darf man die Toleranz nicht überbeanspruchen. SPIEGEL: Herr Schily, wir danken Ihnen für * Mit Redakteuren Stefan Aust, Georg Mascolo und Horand Knaup in Berlin. dieses Gespräch. d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 M. DARCHINGER A. PACZENSKY / IMAGES.DE Deutschland Werbeseite Werbeseite Deutschland G E WA LT „Wie im falschen Film“ Nachdem in Meißen ein Schüler seine Lehrerin erstochen hat, fordern Berufsverbände mehr Sicherheit in den Schulen, Experten warnen vor Panik. 112 gen“ Familie. Die Eltern haben sich vor dem Medienrummel versteckt, die Mutter ist in der Neuapostolischen Gemeinde, einer Sekte, aktiv. Gerüchte, der Junge gehöre zur Grufti-Szene, erwiesen sich als Unsinn. Die Meißner Tragödie scheint das Alarmsignal für eine gefährliche Entwicklung: Die Gewalt an Sachsens Schulen hat nach Angaben des Landeskriminalamtes in den vergangenen zwei Jahren zugenommen. Die Polizei registrierte in diesem Zeitraum 1440 leichte und schwere Körperverletzungen. In Thüringen wurden 1998 an den Schulen 2676 Straftaten gezählt, darunter 429 Fälle von Körperverletzung. „Die Hemmschwelle zur Gewalt ist in den vergangenen Jahren mehr und mehr gesunken“, glaubt Cornelia Franke vom Regionalschulamt Riesa. Schon fordern Lehrer aus Sachsen und Thüringen professionelle Sicherheitskräfte nach US-Vorbild an den Schulen, verschärfte Strafen, Metalldetektoren und Videoüberwachung auf den Schulhöfen. In FOTOS: DRESDNER MORGENPOST D ie Vorlesung wird zur Gedenkveranstaltung. Gebannt lauschen etwa 100 angehende Lehrerinnen und Lehrer den Worten ihres Professors. Wolfgang Melzer hat „aus gegebenem Anlass“ das im Semesterprogramm angekündigte Thema „Sozialisation und Schule“ gegen „Gewalt in der Schule“ ausgewechselt. Die beklemmende Aktualität – zwei Tage zuvor hatte an einem Gymnasium im nahen Meißen ein Schüler seine Lehrerin getötet – war auch im Hörsaal 136 der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät an der TU Dresden zu spüren. „Als ich von dem Attentat hörte“, sagt nachdenklich eine Studentin, „da hab ich schon gegrübelt, ob ich auch den richtigen Beruf gewählt habe.“ Am vergangenen Dienstagmorgen war der Schüler Andreas S., 15, maskiert während des Unterrichts in seine neunte Klasse des Meißner Gymnasiums Franziskaneum gestürmt und hatte mit zwei Messern 22-mal auf die Geschichtslehrerin Sigrun Leuteritz, 44, eingestochen. Die Lehrerin, die ihre Schüler als „streng“ empfanden, starb nur wenige Sekunden später in den Armen einer Kollegin. Bei seiner Festnahme kurz nach der Tat sagte Andreas S., der gefasst und ruhig wirkte: „Ich habe sie gehasst.“ Die in der deutschen Kriminalgeschichte einmalige Bluttat war seit langem vorbereitet. Und, kaum fassbar: Andreas S. hatte Mitschüler in die Mordpläne gegen seine Lehrerin eingeweiht. „Er hat immer wieder gesagt, ich bring sie um“, erzählt ein Freund, „aber wir haben ihm nicht geglaubt.“ Staatsanwalt Michael Respondek ermittelt nun nicht nur gegen Andreas S. „wegen heimtückischen Mordes“, sondern auch gegen Mitschüler „wegen Nichtanzeige geplanter Straftaten“. Lehrer, Schüler, Eltern und Kultusbürokraten fragen sich entsetzt, wie es zu der kaltblütigen Tat kommen konnte. Sie stehen vor einem Rätsel. Die Tat von Meißen passt in kein Klischee: Die Schule soll – bis auf ein paar Rangeleien auf dem Pausenhof – bisher keine Gewalttaten erlebt haben. In Meißen gibt es kaum soziale Brennpunkte. Der Täter war bisher noch nicht auffällig geworden. „Er musste uns nichts beweisen“, erzählt ein Mitschüler, „er war ein guter Kumpel, und wir mochten ihn.“ Andreas stammt aus einer so genannten „anständi- einem offenen Brief an den sächsischen Kultusminister Matthias Rößler fragt der Religionslehrer Matthias Werner: „Müssen denn noch mehr Lehrerinnen und Lehrer sterben, bis man im Ministerium konkrete Schritte unternimmt, um dem Phänomen Aggression auf den Leib zu rücken?“ Der Erziehungswissenschaftler Wolfgang Melzer warnt vor Panik (siehe Interview). In einer Langzeitstudie hat er mit Kollegen aus Westdeutschland jeweils über 3000 Schüler zwischen 12 und 16 Jahren in Hessen und Sachsen mehrfach zum Thema Gewalt befragt. Die Studie stuft immerhin 175 000 Schüler der Sekundarstufe I als gewalttätig ein, das sind von fünf Millionen Schülern in Deutschland 3 bis 4 Prozent. An der Spitze stehen verbale Aggression, Prügeleien und sexuelle Belästigung. Zur Waffe wie in Meißen greifen Deutschlands Schüler bisher nur höchst selten. Im ersten Stock des Franziskaneums, eines Baus aus der Jahrhundertwende, welken an der Stelle, an der die Lehrerin verblutete, Lilien, Rosen und Asternsträuße. Kerzen, Briefe, Zettel stehen und liegen auf dem Boden. Hier konnten die Schüler mit Psychologen über das traumatische Erlebnis sprechen. Doch die meisten haben sich von dem Schock noch nicht erholt. „Es war, als ob wir im falschen Film waren, als ob wir neben uns stehen“, das äußern sie immer wieder. „Wir sitzen mit den Schülern mit unserer gemeinsamen Trauer gewissermaßen in einem Boot“, sagt Dietmar Liesch, Direk- Täter Andreas S. Opfer Sigrun Leuteritz d e r s p i e g e l Abtransport der toten Lehrerin vor dem Franziskaneum in 4 6 / 1 9 9 9 „Aggressionen nehmen zu“ Der Dresdner Erziehungswissenschaftler Wolfgang Melzer, 51, über Ursachen und Folgen der Bluttat von Meißen S. DÖRING / VISUM / PLUS 49 autoritärer als WestSPIEGEL: Sollen die LehLehrer, üben sie nach rer an Deutschlands Ihren Beobachtungen Schulen jetzt kugeleinen größeren Leissichere Westen tragen? tungsdruck aus? Melzer: Der Meißner Fall darf, so tragisch Melzer: Im Osten er ist, nicht bewirken, Deutschlands wurde dass sich Lehrer bloß nach der Wende die noch als Opfer sehen. bürokratische StaatsUntersuchungen zeischule fortgesetzt, die gen, dass mehr als 40 Lehrer-Schüler-Rollen Prozent der Schüler werden immer noch unter Schulangst leiviel traditioneller geden. Lehrer, von denen sehen als im Westen. ja der Leistungsdruck Die Erfahrungen der meist ausgeht, werden Jugendlichen von Freials mächtig empfunheit und Autonomie den, zum Teil auch als außerhalb der Schule ungerecht. Die grausaspiegeln sich in der me Tat darf Lehrer Gewalt-Experte Melzer Schule kaum wider, das nicht davon abhalten, erzeugt Konflikte. auch nach ihrem Anteil an der Eskala- SPIEGEL: Lehrerverbände fordern schärtion der Gewalt zu fragen. fere Maßnahmen an den Schulen, SachSPIEGEL: Wie kam es zum Mord von sens Kultusminister propagiert seit dem vergangenen Sommer die „SicherheitsMeißen? Melzer: Noch fehlen uns detaillierte In- partnerschaft“ mit der Polizei und führformationen über die Hintergründe. Ty- te gerade die so genannten Kopfnoten, pisch ist, dass ein männlicher Jugend- etwa für Betragen, wieder ein. Halten licher die Tat beging, dass Sie solche Vorstöße für probate Mittel, Gleichaltrige ihn vielleicht be- der wachsenden Gewalt an Schulen zu stärkten und dass die Umge- begegnen? bung seine Drohungen wohl Melzer: Mit Sanktionen und Abnicht ernst nahm. Untypisch schreckung kann man Gewalt nicht abist, dass die Bluttat an einem bauen. Von Ranzenkontrollen und ViGymnasium geschah.Absolut deoüberwachung auf dem Schulhof lasuntypisch ist das Ausmaß: sen sich potenzielle Gewalttäter nicht Mordfälle kommen in der Ge- abhalten. Und die Kopfnoten, die ich waltstatistik der Schulen bis- für fragwürdig halte, wurden kurz vor lang nicht vor, und das werden der Landtagswahl eingeführt, weil sie sie auch künftig wohl nicht. hier in Sachsen bei der Bevölkerung SPIEGEL: Die Meißner Tat hät- gut ankommen. te wohl auch im Westen pas- SPIEGEL: Was aber soll geschehen, um sieren können. Ihre jahrelan- die Aggressionen bei Schülern zu zügen Untersuchungen über geln? Gewalt an den Schulen in Melzer: Wenn die Schülerinnen und Sachsen und Hessen belegen, Schüler das Gefühl haben, die Lehrer dass das Ausmaß der Aggres- gehen auf sie ein, das Lerntempo ist sionen im Osten nicht höher ausgerichtet auf ihre Bedürfnisse, wenn ist als im Westen. sie gefragt und auch ernst genommen Melzer: Es gibt eine Aus- werden, wenn nicht mehr so viel von nahme: Aggressionen ge- Fordern, sondern mehr von Fördern die gen die eigenen Lehrer sind Rede ist, dann wird sich nicht nur die in den neuen Ländern ganz Fachleistung steigern, sondern dann klar größer, und sie neh- werden auch Aggressionen eingemen zu. dämmt. Nur die Schule selbst, Eltern, SPIEGEL: Sind die Ost-Lehrer Lehrer, Schüler, können langfristig auf Grund ihrer Ausbildung präventiv wirken. Das ist der einzige und Praxis zu DDR-Zeiten Schutz vor Gewalt. ACTION PRESS tor des Franziskaneums, auf einer Veranstaltung vergangene Woche im Meißner Theater. Makabres Zusammentreffen von Fiktion und Wirklichkeit: Zwei Tage nach dem Mord von Meißen lief in über 200 Kinos der Bundesrepublik ein Spielfilm an, der scheinbar dem wahren Leben gleicht: Drei sympathische Teenager schwingen sich in der Hollywood-Komödie zu Rächern ihrer High School auf. „Tötet Mrs. Tingle!“ (freigegeben ab zwölf) heißt der Streifen. Der Geschichtslehrerin Mrs. Tingle, ein fieses Scheusal, das Schülern, Lehrerkollegen und selbst dem Direktor gleichermaßen verhasst ist, wird eine Lektion erteilt. Der Film läuft auch im 25 Kilometer von Meißen entfernten Dresden. Das vorwiegend jugendliche Publikum amüsiert sich königlich im Kinosaal 6 des riesigen Cinema-Centers im Elbepark. „Geradezu pervers“ nennt Josef Kraus, Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, den Start des Films gerade jetzt. Es sei doch nur eine „Komödie mit schwarzem Humor“, verteidigt sich der Filmverleih, hat allerdings vielerorts die Plakate „Tötet Mrs. Tingle!“ durch eine positive Variante ersetzt: „Rettet Mrs. Tingle!“ Im Film wird Mrs. Tingle von ihren Schülern tagelang im eigenen Haus ans Bett gefesselt. Es fließt zwar Blut, Pfeile fliegen aus einer Armbrust, doch die verhasste Lehrerin wird – immerhin – nicht umgebracht, wie es der Titel verspricht. Ganz anders als im wirklichen Leben. Almut Hielscher Meißen: „Ich habe sie gehasst“ d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 113 Werbeseite Werbeseite Wirtschaft Trends S TA AT S F I N A N Z E N DRESDNER BANK Bundesländer steigern Neuverschuldung Bayern planen Übernahme I M. VOLLMER ntensiv beschäftigt sich der Vorstand der HypoVereinsbank mit einer Übernahme der Dresdner Bank. Hochrangigen Managern des bayerischen Instituts zufolge hat Markus Fell, Leiter der Abteilung Konzernstrategie, mögliche Varianten des Deals ausgearbeitet. Fell buche seit Wochen seine Flüge selbst, auch seine Sekretärin wisse oft nicht, wo er sich aufhalte, so Insider aus der Bank. Nach ihren Informationen trifft sich Fell regelmäßig mit Vorstandschef Albrecht Schmidt. Auch die Allianz, die an beiden Häusern beteiligt ist, habe grünes Licht gegeben, berichten die Banker. Das neue Institut werde weder von Schmidt noch von Dresdner-Bank-Chef Bernhard Walter geleitet. Stattdessen werde ein Banker aus einer deutschen Bank antreten, eventuell für einige Monate zusammen mit Schmidt. Die Banker halten es für möglich, dass die Übernahme noch in diesem Jahr verkündet wird. Wahrscheinlicher sei aber eine Bekanntgabe Anfang nächsten Jahres. DPA Dresdner-Bank-Zentrale in Frankfurt, Schmidt Schneller nach Berlin? D ie Deutsche Bahn könnte die Fahrtzeiten zwischen Hamburg und Berlin unter zwei Stunden drücken, wenn die Züge von derzeit 160 bis auf 200 Kilometer pro Stunde beschleunigt würden, so das Fazit eines bahninternen AlternativSzenarios für den Fall, dass der Transrapid nicht gebaut wird. Bei einem Spitzentempo 230 wären sogar Rekordfahrten von rund 90 Minuten möglich. Doch dagegen steht das „Eisenbahnkreuzungsgesetz“. Geschwindigkeiten über 160 Kilometer pro Stunde genehmigt das Eisenbahnbundesamt aus Sicherheitsgründen nur für kreuzungsfreie Trassen. Auf der Strecke gibt es jedoch fast 70 Bahnübergänge. Deshalb hoffen die Eisenbahner auf eine Ausnahmegenehmigung. Für rund 700 Millionen Mark sollten die Übergänge durch Vollschranken verstärkt und die Fernsteuerungstechnik LZB (Linienzugbeeinflussung) ausgebaut werden. Der Kompromiss ist halbd e r herzig. Denn von Hamburg nach Hannover und von dort nach Berlin gibt es bereits schnelle Trassen. Durch einen Ausbau der Abkürzung von Uelzen nach Stendal könnten ICE-Züge auf einer reinen Hochgeschwindigkeitsstrecke in weniger als 90 Minuten von Hamburg bis zum Bahnhof Zoo fahren. BACH & PARTNER DEUTSCHE BAHN rotz des Sparpakets werden die öffentlichen Haushalte in Deutschland im nächsten Jahr mehr Schulden machen als noch 1999. Statt bisher 64 Milliarden Mark werden Bund, Länder und Gemeinden rund 75 Milliarden Mark an Krediten aufnehmen. Dafür sind, so weist es die interne Vorlage des Bundesfinanzministeriums für den „Arbeitskreis Finanzplanungsrat“ aus, vor allem die alten Bundesländer verantwortlich, deren Neuverschuldung drastisch steigen wird. Demnach wird das Minus in den Kassen der Westländer von 15 auf 21,5 Milliarden Mark wachsen – ein Anstieg von über 40 Prozent. Bundesfinanzminister Hans Eichel dagegen reduziert das Defizit des Bundes um vier Milliarden Mark. Dennoch rechnen die Berliner Haushaltsexperten damit, dass Deutschland im nächsten Jahr gemäß der MaasEichel tricht-Kriterien besser dastehen wird als noch 1999. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass die Wirtschaft im Jahr 2000 mit nominal 3,5 Prozent kräftig – und damit noch schneller als die Schulden – wachsen soll. So sinkt, laut Vorlage für den „Arbeitskreis Finanzplanungsrat“, die deutsche Neuverschuldung gemäß Maastricht demnach von 1,5 auf 1,25 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. ICE-Zug in Berlin s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 115 M. DARCHINGER T Lufthansa-Maschine (in Frankfurt) TOURISTIK Lufthansa verprellt D er Einstieg bei der Bahn-Touristik-Tochter Deutsches Reisebüro (DER) könnte Rewe-Chef Hans Reischl noch ungeahnte Probleme bereiten. Als neuem Eigentümer drohen dem demnächst drittgrößten Urlaubskonzern (ITS, Airconti, Atlas-Reisebüros, DER) zweistellige Millioneneinbußen beim Verkauf von LufthansaTickets in seinen Reisebüros. Mit den geplanten Provisionskürzungen könnte die Lufthansa, deren Touristiktochter C & N beim Poker um DER unterlag, den Konkurrenten empfindlich schwä- Reischl chen. Lufthansa hatte noch bis vergangene Woche gehofft, den Zuschlag für den Bahnableger zu bekommen. Bereits im Oktober trafen sich Lufthansa-Chef Jürgen Weber und der KABELNETZ Fallstricke der Telekom neue Bahnchef Hartmut Mehdorn, um Möglichkeiten einer Zusammenarbeit auszuloten. Weber wollte für DER zwar deutlich weniger bieten als Rewe. Dafür sollte die Bahn aber Zugang zu den Call-Centern, den Ticketautomaten und zum Miles & More-System der Lufthansa erhalten. Gemeinsame Arbeitsgruppen tüftelten noch bis zuletzt an den Details der Kooperation, die Anfang Dezember verkündet werden sollte. Stattdessen musste Weber aus der Zeitung vom Deal mit Rewe erfahren. Die Lufthansa überlegt nun, DER freiwillige Zusatzprovisionen zu kürzen – für Reischl ein schwerer Schlag: Seine Reisebüros setzen mit dem Verkauf von Lufthansa-Tickets fast 800 Millionen Mark um. unkündbaren Zehn-Jahres-Vertrag der Telekom-Tochter MSG zugeschanzt worden. In so genannten Konzernleistungsvereinbarungen ist vorgesehen, is Ende November erwartet die Deutsche Telekom für ihr TV-Kabelnetz in Hessen und Nordrhein-Westfalen definitive Kaufangebote. Doch die potenziellen Bieter Microsoft, Deutsche Bank, Murdoch und die Kabelnetzbetreiber NTL und UPC entdeckten bei der Durchsicht der Telekom-Verträge einige Fallstricke, die die künftige Nutzung des Kabelnetzes stark behindern können. So ist die Einspeisung der bisher über das Kabel verfügbaren digitalen Fernsehkanäle durch einen neuen, 116 J. BITTNER / JOKER B Telekom-Zentrale in Bonn d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 V E R B R AU C H E R Krieg um Cola F rankreich streitet mit Großbritannien nicht nur über BSE-Fleisch, es verbietet auch den Verkauf von ColaGetränken mit englischer Aufschrift: Weil die französische Supermarktkette Casino aus Großbritannien eingeführte Coca-Cola-Flaschen mit englischen Etiketten verkauft hat, wurde ein CasinoGeschäftsführer vor ein französisches Strafgericht gestellt. Dort wurde er zu einer Geldbuße von 50 Francs (etwa 15 Mark) je Flasche verurteilt. Nach Ansicht der französischen Richter verstieß der Supermarkt gegen Vorschriften, wonach Lebensmittel ausschließlich in der Landessprache beschriftet sein dürfen. Ein normal informierter Franzose müsse den Aufdruck „soft drink with vegetable extracts“ nicht verstehen können. Die Supermarktkette, die inzwischen ein französisches Appellationsgericht anrief, meint dagegen, der von den Behörden geforderte Vermerk „kohlensäurehaltiges Getränk mit Pflanzenextrakten“ sei auf französisch auch nicht verständlicher als im englischen Original. Inzwischen befasst sich der Europäische Gerichtshof (EuGH) mit dem Cola-Streit; er prüft, ob die von Frankreich vorgeschriebene Sprachtümelei überhaupt mit dem EUGrundsatz des freien Warenverkehrs vereinbar ist. Am 25. November will der EuGH-Generalanwalt seinen Schlussantrag vorlegen. Coca-Cola-Flaschen GAMMA / STUDIO X FOTOS: J. WISCHMANN / AGENTUR FOCUS ( ob.); J. DIETRICH / NETZHAUT ( u.) Trends dass die Regionalgesellschaften hunderte von Telekom-Mitarbeitern übernehmen und Miete für das Glasfasernetz der Telekom zahlen sollen. Auch sonst will die Telekom die Kontrolle über ihr Kabelnetz (geschätzter Wert: bis zu 35 Milliarden Mark) möglichst behalten. In der vergangenen Woche hatte sie verkündet, dass sie nur 35 statt 75 Prozent ihrer Anteile an strategische Investoren abgeben, 40 Prozent später an die Börse bringen und die restlichen 25 Prozent selbst behalten will. „Damit sind wir immer auf das Wohlwollen der Telekom angewiesen“, sagt einer der potenziellen Käufer. Das werde die Kaufgebote deutlich drücken. Geld Quelle: Datastream Aktienindizes in Europa 5000 5800 Frankreich CAC 40 4100 Deutschland Dax 7400 Europa DJ Euro Stoxx 50 6700 Schweiz SMI Großbritannien FTSE 100 4000 5600 6500 7200 3900 4800 5400 3800 5200 6300 7000 4600 6100 3700 6800 4400 3600 5000 4200 Juni Nov. 5900 Juni AKTIENMÄRKTE Beginn einer Rallye? D ie europäischen Börsen im Höhenflug: Seit Ende Oktober legte der Dax um zehn Prozent zu, aber auch der französische Index CAC 40, der englische FTSE sowie der schweizerische SMI und der Dow Jones Euro-Stoxx stiegen um rund neun Prozent. Deutsche Analysten halten den Trend für nachhaltig. Zwar könne es bis zum Jah- Nov. Juni Nov. Juni resende noch Kurskorrekturen geben. Die aber sollten Anleger zum Einstieg nutzen, raten beispielsweise Experten der WestLB Panmure in ihrer jüngsten Studie über eine „Pan-Europäische Aktienstrategie“. Auch für Harald Schmidlin von der Commerzbank zeigen die Indikatoren nach oben. „Der überzogene Anstieg der Rentenmarktzinsen scheint gestoppt“, so Schmidlin, „und im kommenden Jahr werden sich die weltwirtschaftlichen Wachstumsraten synchronisieren und beschleunigen. Nov. Juni Hinzu kommen Gewinnsteigerungen der Unternehmen im zweistelligen Bereich.“ Für den Analysten ist der momentane Aufschwung an den Börsen bereits der Beginn einer Jahr-2000-Rallye – die aber von einigen Risiken begleitet werde. Nach wie vor bleibt etwa das Risiko dramatischer Computer-Abstürze zur Jahrtausendwende. Aber auch eine veränderte Politik des IWF gegenüber Russland könnte das ehemalige Weltreich in eine Krise stürzen und damit den Finanzmärkten schaden. LEBENSVERSICHERUNGEN WERBE-AKTIEN Schlechte Anlage Gewinn mit Reklame-Papieren B ei Versicherungsvertretern laufen die Geschäfte so gut wie selten zuvor: Von nächstem Jahr an sollen die Erträge von Lebensversicherungen steuerpflichtig werden, wer aber zuvor einen Vertrag (Mindestlaufzeit zwölf Jahre) abschließt, braucht später die Zinsen nicht zu versteuern. Doch auch eine Lebensversicherung mit steuerfreien Erträgen bleibt zumeist eine schlechte Kapitalanlage. Zur Absicherung von Familienangehörigen empfehlen Experten eine preisgünstigere Risiko-Lebensversicherung, die nur im Todesfall zahlt. Zur Altersvorsorge sollte der 3500 eingesparte BeAllianz-Aktie trag besser in ei3000 Veränderung nen Aktienfonds seit 1980 gesteckt werden: in Prozent Wer vor 20 Jah2500 ren für 10 000 Mark Allianz-Ak2000 tien gekauft hätte, käme heute 1500 auf ein Vermögen von fast 300 000 Mark; der gleiche 1000 Betrag, als EinQuelle: Datastream malprämie in eine 500 Versicherung einbezahlt, würde 100 30 000 bis 40 000 1980 1990 1999 Mark einbringen. d e r Nov. Z u einem Aktien von Werbeagenturen in Euro Renner an 800 320 der Börse entHavas Saatchi & WPP wickeln sich die 300 Saatchi internationalen 280 700 Werbeagentu260 ren. Kreativhäu240 600 ser wie WPP, 220 Havas oder Saatchi & Saat500 200 180 chi stiegen seit Quelle: Jahresbeginn Datastream mit dreistelligen 160 400 140 1999 1999 1999 Zuwachsraten. Jan. Nov. Jan. Nov. Jan. Nov. Auch Omnicom (mit den Tochteragenturen BBDO und DDB) in New York zog kräftig an. Die Großagenturen profitieren von der guten Konjunktur insbesondere in den USA, auf die allein fast 40 Prozent des internationalen Werbebudgets entfallen. Die Aussichten bleiben günstig: In diesem Jahr sollen die weltweiten Werbeausgaben um rund vier Prozent und im Jahr 2000, so eine optimistische Prognose der Agentur McCannErickson, um fast sieben Prozent steigen. Zudem bringt auch die Globalisierung mit zahlreichen Fusionen und Firmenübernahmen den Werbern Vorteile. Davon profitieren in erster Linie die internationalen Agenturen. In Deutschland hingegen halten sich die Kreativschmieden noch von der Börse zurück. Preisgekrönte und hoch profitable Agenturen wie Jung von Matt oder Springer & Jacoby kassieren ihre Gewinne lieber allein. s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 117 Wirtschaft T E L E KO M M U N I K AT I O N Vom Jäger zum Gejagten B. CORR / FINANCIAL TIMES Der Mobilfunkkonzern Vodafone plant eine feindliche Übernahme von Mannesmann, und selbst die Deutsche Telekom kann vor Aufkäufern nicht sicher sein: In der Welt der globalen Telefonkonzerne werden die Fusionen immer gigantischer – und die Methoden immer brutaler. Vodafone-Chef Gent: „Dann schnappen wir zu“ R on Sommer setzte sein breitestes Lächeln auf, dann stichelte er los: „Wenn ich der Chef von Vodafone wäre“, ließ der Telekom-Chef seinen Erzkonkurrenten Klaus Esser im noblen Berliner Hotel Adlon vor rund 200 geladenen Gästen wissen, „würde ich Ihnen in den nächsten Tagen einen Besuch abstatten und neben einem Strauß Blumen auch ein dickes Scheckbuch mitbringen.“ Der nicht ganz ernst gemeinte Seitenhieb, den Sommer vor knapp vier Wochen auf der Geburtstagsparty der Mannesmann-Handy-Tochter D2 austeilte, ist inzwischen fast Realität geworden. Fieberhaft bereitet sich Mannesmann-Chef Esser mit wenigen Vertrauten in der Zentrale des Düsseldorfer Traditionskonzerns auf eine Attacke des englisch-amerikanischen Mobilfunkgiganten Vodafone Airtouch vor. Zwar liegt den Mannesmann-Aktionären bisher noch kein offizielles Angebot zum Tausch ihrer Papiere vor. Und auch Chris Gent, Chef des aggressiven angloamerikanischen Handy-Riesen, hat noch keinen persönlichen Besuchstermin vereinbart, um dem Vorstand Blumen und Scheck zu überreichen. Dass seine Truppen aber bereitstehen, den ehemaligen Verbündeten zu schlucken, daran ließ der englische Ma- 118 nager vergangene Woche bei einem Essen mit europäischen Telekommunikationsmanagern keinen Zweifel aufkommen. Wenn die Gelegenheit halbwegs günstig ist, so der Vodafone-Chef im vertrauten Kreis, „dann schnappen wir zu“. Hatten Esser und seine Kollegen solche Äußerungen noch vor zwei Wochen als „taktisches Geplänkel“ abgetan, so ist die Ernsthaftigkeit der Übernahmepläne inzwischen auch bei ihnen zur Gewissheit geworden. Die Stimmung in der über hundert Jahre alten Mannesmann-Zentrale nahe der Düsseldorfer Altstadt ist gespannt wie nie zuvor. Fast täglich gehen dort neue Hiobsbotschaften aus London ein, enthüllen deutsche und englische Wirtschaftszeitungen Details des geplanten Vodafone-Coups. In London und Frankfurt, so heißt es, seien große Anwaltskanzleien bereits damit beschäftigt, die Übernahmeverträge auszuarbeiten. Danach ist Gent bereit, die Rekordsumme von 140 Milliarden bis 190 Milliarden Mark für die Übernahme von Mannesmann zu bezahlen. Gent kommt wahrscheinlich nicht allein, sondern hat sich France Télécom als Partner für die bevorstehende Übernahmeschlacht gesichert. Die Franzosen wollen d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 Gent nach dem Sieg einige MannesmannTöchter wie die deutsche Festnetzgesellschaft Arcor oder das britische Mobilfunkunternehmen Orange abnehmen, da die in den Plänen von Vodafone keine Rolle spielen. Sollte der Deal tatsächlich klappen, würde erstmals in der Geschichte der deutschen Wirtschaft ein Großkonzern durch eine feindliche Übernahme in ausländische Hände fallen. Und das Opfer wäre ausgerechnet das Unternehmen, das sich in den vergangenen Jahren zu einem der wenigen deutschen Vorzeigekonzerne und zum Börsenliebling gemausert hatte. Die Übernahme- und Fusionswelle im internationalen Telekommunikationsmarkt nimmt immer groteskere Formen an: Kein Unternehmen, und sei es noch so gesund, ist vor den Attacken der Konkurrenten sicher. Wer heute noch Jäger ist, wird morgen zum Gejagten. Am Ende wird wohl nur eine Hand voll so genannter Global Player übrig bleiben. Längst sind die Preise für Übernahmekandidaten in astronomische Höhen gestiegen, die mit rationalen betriebswirtschaftlichen Kriterien nicht mehr zu rechtfertigen sind: Es geht um die Macht in der Schlüsselbranche des Informationszeitalters. Weltweit fallen Preise und Telefongebühren und damit auch die Gewinnmargen der Konzerne. Gleichzeitig aber steigen die Möglichkeiten, jedem Kunden neue, profitable Leistungen zu verkaufen – über das Internet und über das Handy. Dann, so hoffen die Telefonkonzerne, werden sich auch die strategischen Preise für die Übernahmen von heute rechnen. Von dieser Entwicklung konnte der Mannesmann-Konzern nichts ahnen, als er vor zehn Jahren als erstes Privatunternehmen in Deutschland die Lizenz für ein Mobilfunknetz-Netz bekam. Mit einem kleinen Team versuchte er, dem vormaligen Monopolisten Telekom Konkurrenz zu machen. Mit Erfolg: Das Mannesmann-D2 hängte die Konkurrenz von D1 ab. Seither wurde der ehemalige Röhrenkonzern mit Milliardeneinsatz zum florierenden Telefonkonzern umgebaut. Erst in der vergangenen Woche konnte Esser neue Rekordzahlen melden. Der Umsatz in der Telefonsparte, so der Vorstand, sei von Ja- Alte und neue Sparten +15% Unternehmensbereiche bei Mannesmann 1998 +10% +5% MASCHINENBAU 12,9 Mannesmann 0 Veränderung gegenüber dem Vorjahr – 20 % seit dem 12. Oktober –5% AUTOMOBILTECHNIK 10,7 + 29 % TELEKOMMUNIKATION 9,1 –10% Vodafone +34 % Okt. Nov. RÖHREN 4,6 998 rund Erzielte 1 s Konzern80 % dsevon 1,23 gewinn Mark Milliarden 45 500 –32 % 14 100 12 200 Beschäftigte Beschäftigte 42 850 Beschäftigte nuar bis September auf 11,3 Milliarden Mark gestiegen – ein Sprung um mehr als 70 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Der Mannesmann-Chef setzt voll auf die Wachstumsbranche Telekommunikation. Nicht nur in Deutschland, sondern „in ganz Europa“, so Essers Ziel, solle Mannesmann zu einem „führenden Anbieter von Telekommunikationsdienstleistungen“ werden. Entsprechend legte der frühere Finanzvorstand los: Im Februar sicherte er sich für rund 15 Milliarden Mark eine Beteiligung an dem boomenden italienischen HandyUnternehmen Omnitel und der Festnetzgesellschaft Infostrada. Wenige Wochen später übernahm er von den im Kommunikationsgeschäft glücklosen Energiekonzernen RWE und Veba deren Telefontochter Otelo für gut 2,25 Milliarden Mark. Die Einkaufspolitik wurde von Analysten und Anlegern belohnt. Der Kurs der Mannesmann-Aktie stieg – genauso wie die Begehrlichkeiten der wirklich großen Player auf dem internationalen Telekommunikationsmarkt. Besonders VodafoneChef Gent hat seit langem ein Auge auf die Handy-Aktivitäten von Mannesmann geworfen. Der Engländer hat großen Ehrgeiz und strebt eine weltweit dominierende Stellung im Mobilfunk an. Seinen bisher größten Erfolg landete er im Januar dieses Jahres. Da nämlich schluckte der Firmenchef, der Vodafone durch geschickte Zukäufe zahlreicher Beteiligungen an jungen Mobilfunkfirmen bereits zum bedeutendsten europäischen Handy-Konzern ausgebaut hatte, auch noch das US-Unternehmen Airtouch. Damit hatte Gent nicht nur die globale Spitzenposition der Mobilfunkbranche erreicht (rund 29 Millionen Kunden). Gleichzeitig bekam er einen Fuß in die Tür von Mannesmann. Denn die US-Firma Airtouch war von Anfang an als Partner von Mannesmann beim Aufbau der wichtigsten Mobilfunktöchter D2 und Omnitel beteiligt. Die Rolle des Junior-Partners (35 Prozent an D2) bei Mannesmann reicht Gent aber nicht. Schon früh machte er den Deutschen durch dezente Andeutungen klar, dass Vodafone Airtouch gewillt sei, seine Anteile langfristig aufzustocken – notfalls Düsseldorfer Mannesmann-Zentrale, Chef Esser Hektische Abwehrreaktionen FOTOS: S. WIELAND / LAIF (gr.); VARIO-PRESS ( kl.) Umsatz in Milliarden Mark Kursentwicklung Wirtschaft Telekom-Chef Sommer „Blumen und ein dickes Scheckbuch“ Ärmel zaubert, ein Unternehmen also, das mit dem Düsseldorfer Konzern fusioniert, um eine feindliche Übernahme durch Vodafone Airtouch zu verhindern. Aber selbst wenn es Mannesmann gelingen sollte, die Attacken vorerst abzuwehren, ist die Gefahr damit nicht gebannt. Globale Talkshow Die großen Konzerne in der Telekommunikation... ...und im Bereich Mobilfunk Umsatz 1998 in Milliarden Dollar NTT Bell Atlantic/GTE* AT&T MCI-Worldcom/Sprint SBC/Ameritech* Deutsche Telekom British Telecom France Télécom Telecom Italia China Telecom *Zusammenschluss 81,6 57,0 53,2 47,6 45,9 41,8 29,4 28,8 27,5 24,1 120 Mobilfunk-Teilnehmer in Millionen Vodafone AirTouch NTT DoCoMo China Telecom Telecom Italia Mobile BellSouth SBC/Ameritech* AT&T Bell Atlantic Mannesmann Mobilfunk T-Mobil Deutsche Telekom weltweit 29,0 26,3 23,6 15,1 10,3 10,1 10,1 9,9 8,1 7,7 geplant setzliche Hürden wie die Mitbestimmung der Arbeitnehmerseite im Aufsichtsrat und eine Beschränkung des Stimmrechts für Einzelaktionäre von fünf Prozent überwinden. Ausgeschlossen ist in dem MilliardenPoker nichts. Auch nicht, dass sich Esser in letzter Minute mit dem Angreifer einigt oder sogar einen „weißen Ritter“ aus dem internationales Geschäft zu verstärken. Da die Claims auf dem amerikanischen Markt durch MegaDeals wie den Zusammenschluss von AT&T und Media One oder der Fusion von Sprint und Worldcom bereits weitgehend abgesteckt sind, konzentrieren sich die Telefongiganten zunehmend auf den europäischen Markt, in dem Deutschland eine wichtige Schlüsselposition einnimmt. Fast im Monatsrhythmus werden neue Fusions- und Übernahmepläne geschmiedet, wechseln junge Telefonunternehmen wie die deutsche Mobilfunk-Firma E-Plus zu Fabelpreisen ihre Besitzer. Erst in der vergangenen Woche bot beispielsweise BT den Managern der geplanten Stromallianz Veba/Viag an, deren Anteil am dritten deutschen Mobilfunkbetreiber Viag Interkom zu übernehmen. Für die restlichen 55 Prozent des Unternehmens, an dem die Briten seit 1995 bereits mit 45 Prozent beteiligt sind, würden sie rund fünf Milliarden Pfund zahlen. Selbst Ron Sommer, der noch in Berlin über seinen Konkurrenten Esser spöttelte, könnte mit seiner immerhin größten Telefongesellschaft Europas schon bald ein Opfer der globalen Übernahmeschlachten werden. Bisher brauchte sich der ehemalige Sony-Manager über feindliche Übernahmeversuche keine Sorgen zu machen, weil der Bund den Großteil seiner Aktien hält. Doch im Mai nächsten Jahres wird sich diese Situation schlagartig ändern. Dann kann Finanzminister Hans Eichel ein rund 22 Prozent großes Aktienpaket mit einem Wert von derzeit über 60 Milliarden Mark an die Börse bringen, das bei der Kreditanstalt für Wiederaufbau geparkt ist. Schon haben sich erste ausländische Interessenten gemeldet, die bereit sind, dem Finanzminister das Aktienpaket mit einem kräftigen Aufschlag abzukaufen. Eichel könnte das Geld gut gebrauchen. Für Sommer wäre der Verkauf an einen ausländischen Konkurrenten dagegen ein harter Schlag. „Für die Telekom“, sagte er vor wenigen Tagen im kleinen Kreis, könnte es dann „richtig eng werden“. Eine Hoffnung bleibt dem Telekom-Chef jedoch noch, den Ausverkauf abzuwenden. Die Privatisierer der Bundesregierung arbeiten auch an einer Alternative, bei der das Paket an ein deutsches Konsortium geht, das sich im Gegenzug verpflichtet, die Aktien über mehrere Jahre zu halten. Als heißeste Kandidaten gelten die Allianz und die Deutsche Bank. W. v. BRAUCHITSCH auch über den Weg einer Übernahme des gesamten Mannesmann-Konzerns. Doch auf die Offerten des mächtigen Engländers ging Esser nicht ein. Er entschloss sich zum Gegenschlag. Vor gut drei Wochen verkündete er, dass Mannesmann den drittgrößten britischen Mobilfunkbetreiber Orange für den Rekordpreis von über 60 Milliarden Mark erwerben wolle (SPIEGEL 43/1999). Die „vergiftete Pille“, wie Analysten solche Abwehrmaßnahmen nennen, mit denen der Preis für einen Angreifer hochgetrieben wird, könnte für Esser nun selbst zu einer Gefahr werden. Der VodafoneChef empfindet den Mannesmann-Vorstoß auf die britische Insel als Angriff auf seinen Heimatmarkt und sinnt seitdem auf Rache. Noch ist völlig offen, ob Gent dabei so weit geht, in den nächsten Tagen tatsächlich ein Übernahmeangebot zu unterbreiten, wie es die meisten Experten erwarten. Es habe, hieß es vergangenen Freitag in London, noch keine Entscheidung für irgendeine Option gegeben. Und das hat gute Gründe: Denn selbst für das teuerste Mobilfunkunternehmen der Welt (Börsenwert: rund 285 Milliarden Mark) wäre Mannesmann ein schwerer Brocken. So stieg der Kurs der Mannesmann-Aktie in den vergangenen Tagen durch die Übernahmegerüchte um mehr als 28 Prozent auf über 360 Mark an. Um den verwöhnten Aktionären einen Verkauf ihrer Papiere schmackhaft zu machen, müsste Gent damit schon einen Preis von deutlich über 180 Milliarden Mark bieten. Außerdem müsste er viele technische und ge- Denn nicht nur Gent wird dann auf jeden Ausrutscher Essers lauern, um zu einem deutlich niedrigeren Kurs doch noch bei Mannesmann einzusteigen. Auch zahlreiche US-Telefongiganten wie MCI-Worldcom, AT&T, SBC oder europäische Ex-Monopolisten wie die spanische Telefónica und die englische BT stehen bereit, um durch gezielte Zukäufe ihr d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 Frank Dohmen, Klaus-Peter Kerbusk Echter Weltbürger Seit Wochen wirbt Bundesfinanzminister Eichel bei seinen Kollegen für die Wahl eines Deutschen an die Spitze des IWF – mit Aussicht auf Erfolg. A F. OSSENBRINK M. SIMON / SABA m Montag dieser Woche führt Bundesfinanzminister Hans Eichel (SPD) im hessischen Städtchen Hattersheim ein Bewerbungsgespräch in fremder Sache. Beim 25. Deutsch-Französischen Finanz- und Wirtschaftsrat will Eichel seinen neuen französischen Amtskollegen Christian Sautter davon überzeugen, dass es für den Chefsessel des Internationalen Währungsfonds (IWF) nur einen überzeugenden Kandidaten gibt: Eichels Staatssekretär Caio Koch-Weser. Die angeschlagene Berliner Koalition, der zu Hause nichts so recht gelingen will, braucht einen Erfolg auf internationalem Parkett. Unterstützung erhält sie dabei von der Bundesbank: „Koch-Weser hat eine hervorragende internationale Reputation, hat hervorragende internationale Erfahrung“, macht Bundesbank-Vize Jürgen Stark Reklame für den Spitzenbeamten. Nach dem keineswegs überraschenden Rücktritt des bisherigen IWF-Direktors Michel Camdessus stehen die Chancen tatsächlich so gut wie nie, dass zum ersten Mal ein Deutscher an die Spitze der wichtigsten internationalen Finanzinstitution rückt. Traditionsgemäß steht der Chefposten einem Europäer zu. Bislang kamen schon Belgier, Schweden, Niederländer und dreimal die Franzosen zum Zuge, die Deutschen gingen immer leer aus. Das soll nicht wieder passieren. Seit Wochen antichambriert Eichel bei den europäischen Kollegen für seinen Staatsse- Kandidat Koch-Weser Sechs Sprachen und zwei Pässe plantage auf. Koch-Wesers Großvater Erich war einer der führenden liberalen Politiker in der Weimarer Republik, vor den Nazis floh er 1933 mit der ganzen Familie nach Brasilien. Abitur und Studium der Volkswirtschaft absolvierte Caio Koch-Weser, der einen deutschen und einen brasilianischen Pass besitzt, in Deutschland. Karriere machte er in Washington bei der Weltbank. Dort fing er 1973 als Trainee an und stieg bis zum Mitglied des Vorstands auf. Im Frühjahr berief ihn Eichel zu seinem Staatssekretär für Internationales. Seine in 25 Jahren bei einer internationalen Institution erworbene diplomatische Unverbindlichkeit wurde Koch-Weser im Finanzministerium zuweilen als Entscheidungsschwäche ausgelegt. „Deutschland bezieht in vielen Fragen nicht mehr eindeutige Positionen“, klagten Ministeriale mehrmals. Immerhin gelang es Koch-Weser aber unspektakulär, das durch das Wirken seines Vorgängers Heiner Flassbeck angeschlagene Image Deutschlands in der internationalen Finanzwelt wieder herzustellen. Koch-Wesers Vergangenheit als Entwicklungspolitiker dürfte dem angestrebten Job nicht im Wege stehen, im Gegenteil. Früher galt eine klare Rollenverteilung zwischen Weltbank und IWF. Die Weltbank war für die Wohltaten zuständig, sie verteilte Entwicklungshilfe in den armen Ländern. Der IWF dagegen gab Geld nur gegen Wirtschaftsreformen, und die fielen meist schmerzhaft aus. Seit dem Sommer gilt diese Linie nicht mehr. Der IWF-Zentrale in Washington: Korrektur am Image ungeliebte IWF will sich, Zudem wollen die Franzosen Koch- vor allem auf Betreiben des britischen Weser unterstützen, um den Engländer Schatzkanzlers Gordon Brown, eine ImageAndrew Crockett, Chef der Bank für In- korrektur verpassen und sich künftig auch ternationalen Zahlungsausgleich, zu ver- stärker auf die Entwicklungshilfe konzenhindern. Der erfahrene Technokrat gilt den trieren. Diesen Politikwechsel könnte KochFranzosen als zu amerikafreundlich. „Wir Weser gut verkörpern. Deshalb dürfte seine Nominierung, so wollen einen Europäer an der Spitze des IWF“, signalisierten sie Eichels Beamten. hofft Eichel, auch nicht an den Briten Dabei lässt sich die Biografie Koch-We- scheitern. Die Amerikaner, denen als sers nicht auf einen einzigen Erdteil be- größter Anteilseigner des IWF eine Art grenzen. Der Staatssekretär ist ein echter Veto-Recht zusteht, haben ebenfalls nichts Weltbürger, in sechs Sprachen, darunter gegen den Deutschen einzuwenden. Die Chinesisch, kann er sich verständlich ma- Beamten im amerikanischen Finanzmichen. Geboren wurde der Spross einer nisterium kennen den Finanzfachmann deutschen Emigrantenfamilie 1944 in Bra- seit 25 Jahren – und halten ihn für einen silien und wuchs dort auf einer Kaffee- Brasilianer. Christian Reiermann kretär. Die Italiener haben Unterstützung zugesagt. Sie versprachen, auf einen eigenen Kandidaten zu verzichten, wenn die Deutschen den wichtigen Posten wollten. Auch Sautters Vorgänger Dominique Strauss-Kahn hatte der deutsche Finanzminister schon auf seine Seite gezogen. Vom Neuling erwarten Eichels Gehilfen nun ebenfalls keinen ernsten Widerstand. Die in Personalfragen traditionell zum Egoismus neigenden Franzosen haben erkannt, dass sie den IWF-Chefposten nach jahrzehntelanger Vorherrschaft nicht noch einmal für sich beanspruchen können. WÄ H R U N G S F O N D S d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 121 Wirtschaft Unternehmen, beim E-Commerce ähnlich rabiat vorzugehen wie in der VergangenS O F T WA R E heit etwa gegen den Newcomer Netscape. Unter den strengen Augen des Gerichts löste Microsoft viele der so genannten Exklusiv-Verträge mit PC-Herstellern. Die Idee eines freien E-Mail-Zugangs starb still leise, Zugang zu Audiosoftware wurNach dem Richterspruch gegen Microsoft schien eine Einigung und de nicht mehr an Bedingungen geknüpft. im Kartellverfahren gegen den Konzern greifbar nahe. Der überraschend scharfe Richterspruch Doch Bill Gates setzt auf Zeit, er hofft auf die Hilfe der Politik. erschütterte Gates allerdings nur kurz. Zwar bekundete er in einer ersten Stelit dem Verlieren tat sich Bill Gates Leute veränderten eigenmächtig die vom lungnahme hastig den Willen zur schnellen als Kind schon schwer. Wenn die Konkurrenten Sun entwickelte Internet- Einigung. Doch als in den Tagen darauf der Kurs der Microsoft-Aktie gegen alle ErFamilie ein Spiel spielte, kämpfte Programmiersprache Java. Wird Gates nun gezwungen, den gehei- wartungen nicht abstürzte, war Gates er immer am verbissensten. „Er nahm das sehr ernst“, erinnert sich sein Vater. „Ge- men „Windows“-Code offen zu legen? schnell wieder der Alte. Hartleibig wie eh und je präsentierte winnen war ihm wichtig.“ Wenn es ums Oder wird der Software-Monopolist gar – Siegen ging, kannte Bill keine Verwandten. wie in der Vergangenheit Standard Oil und sich der Software-Zar am Mittwoch auf Dieser Charakterzug hat aus Bill Gates AT&T – zerschlagen? Alles ist möglich, der Microsoft-Hauptversammlung. Zwar den erfolgreichsten Unternehmer des Jahr- wenn Richter Jackson wahrscheinlich im betonte er seine Bereitschaft, der Regierung ein Stück entgegenzukommen – doch hunderts gemacht, den reichsten Mann der März sein endgültiges Urteil verkündet. Der Rechtsstreit hat die Macht von nur, wenn er die Richtung bestimmen darf. Welt. Und, wie nun richterlich festgestellt So lehnte er praktisch alle möglichen Forwurde, einen rücksichtslosen und erpres- Microsoft bereits gehörig eingeschränkt. Die ständige Beobachtung verbot es dem derungen der Regierung ab: Weder würde serischen Monopolisten. Microsoft eine Einschränkung in der Gestaltung Computerbranche fest im Griff der Software hinnehmen noch ein Verbot, InternetMicrosoft-Produkte Ausstattungen einzufügen. mit dominanter „Wenn wir die Präsentation Marktstellung MarktUmsatz von ‚Windows‘ auf dem anteil in Millionen Dollar Schirm nicht definieren PC-Betriebssysteme können, wenn nicht alle ‚Windows‘-Maschinen gleich Windows 90 % 3605 95/98 19747 funktionieren, dann wird die Marke ‚Windows‘ absolut bedeutungslos.“ Server-Betriebssysteme Gates spielt offenbar auf Zeit. Jahre können vergeWindows NT 55 % 2080 hen, bis die Klage in letzMicrosoft-Chef Gates ter Instanz beim Obersten Öffentliche Meinung unterschätzt Gerichtshof entschieden wird. Bis dahin ist längst Gates’ Firma Microsoft, so befand der Büro-Software ein Nachfolger zum inkriWashingtoner Richter Thomas Penfield Microsoftminierten „Windows 98“ Jackson, besitze über ihr Betriebssystem Office-Paket 93 % 4785 beinhaltet u. a. auf dem Markt. „Windows“ ein Monopol, das sie nutze, Textverarbeitung, Zudem hofft Gates auf um Konkurrenten zu verdrängen und deTabellenkalkulation einen Regierungswechsel. ren Innovationen zu stoppen. 90 Prozent Jahrzehntelang hatte der aller PC laufen weltweit auf „Windows“. Internet-Browser brillante Stratege den EinJackson schloss sich damit der Meinung Internet fluss Washingtons und auch an, die vom US-Justizministerium und von 64 % Explorer der öffentlichen Meinung 19 Staaten vertreten wird, die im Mai 1998 unterschätzt. Mehr Comden Konzern wegen wettbewerbswidrigen für Windows7785 puterfreak als Konzernchef, Käufer kostenlos Verhaltens verklagt hatten – bislang die glaubte er, ein gutes Proschwerste Niederlage in Gates’ beispiel6075 dukt und Kontrolle über loser Karriere. Umsatz die Mitspieler würden reiMicrosoft hat laut Jackson den selbst chen, um das große Wirtentwickelten Internet-Browser „Explorer“ und schaftsspiel zu gewinnen. einzig aus dem Grund an das Betriebs- Gewinn Erst als das Justizmisystem „Windows“ gekoppelt, um den ab 1990 nisterium seine Firma atKonkurrenten Netscape – erfolgreich – aus in Millionen tackierte und niemand ihm dem Markt zu drängen. PC-Hersteller wie Dollar 1453 zu Hilfe eilte, wurde Gates IBM, Apple und Compaq wurden genötigt, aktiv. Hastig korrigierte Microsoft-Programme als Startseite auf 1186 der publikumsscheue Mann ihre Computer zu laden. Der Prozessorsein Image, lachte vor TVHersteller Intel sah sich von der Firma aus 279 Kameras und spendete Redmond drangsaliert, sich aus dem Soft1991 1993 1995 1997 1999 kurz vor Weihnachten verware-Markt rauszuhalten. Und Microsoft- Das Ende eines Monopols? FOTOS: AP M 122 d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 gangenen Jahres 100 Millionen Mark für ein Kinderimpfprojekt. Und er organisierte den Widerstand. So schaltete etwa das konservative Independent Institute Anzeigen, in denen sich akademische Experten für Microsofts Auffassung im Kartellverfahren aussprachen. Kürzlich enthüllte die „New York Times“, dass Microsoft der größte Sponsor des angeblich unabhängigen Instituts war. Schon 1998 hatte Gates die Ausgaben für Lobbyarbeit auf 3,7 Millionen Dollar verdoppelt. In den ersten neun Monaten 1999 flossen weitere 800 000 Dollar aus der Software-Firma in die Politik – fast sechsmal so viel wie im gleichen Zeitraum vor der letzten Wahl, meldet das unabhängige Center for Responsive Politics. Allein 331 000 Dollar gingen an die Parteien, vorwiegend an die Republikaner. Schließlich sandte der 44-jährige Software-Magnat ein Heer von Lobbyisten nach Washington, um Stimmen zu sammeln für eine Kürzung des KartellamtsEtats. Ein großer Fauxpas: Racheakte Richter Jackson (r.) Überraschend scharfes Urteil während eines laufenden Verfahrens sind verpönt. Gates’ Vorstoß wurde als Attacke auf die Unabhängigkeit der Justiz gewertet. Jack Krumholtz, verantwortlicher Microsoft-Mann für Regierungsangelegenheiten, hält es dennoch für schlau, wie seine Firma „mit diesem Washington“ umspringt. Sein Indiz: Kaum hatte Richter Jackson seine Beurteilung abgegeben, meldeten sich etwa 30 wütende Abgeordnete zu Wort und traten für Microsoft ein. Solcher Gegenwind soll die Regierungsanwälte entmutigen, allzu aggressive Sanktionen gegen das Software-Haus zu verlangen. Die Staatsanwälte reagierten empfindlich auf Gates’ Lobbyaktivitäten. „Wenn Microsoft denkt, dass sie im Kongress gewinnen, was sie vor Gericht nicht gewinnen können, liegen sie bemitleidenswert falsch“, sagt der Justizminister von Iowa, Tom Miller. Selbst wenn eine neue Regierung den Fall begraben wollte, würden die Staaten weiter klagen. „Wir werden nicht aufgeben“, kündigte Miller an. Noch ist offen, wer das Spiel am Ende gewinnt. Michaela Schießl d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 Wirtschaft S P I E G E L - G E S P R ÄC H „Wir sind mitten in einem Sturm“ Philips-Chef Cor Boonstra über die Probleme beim Umbau des niederländischen Traditionskonzerns und die Zukunft der Unterhaltungselektronik SPIEGEL: Vielleicht liegt es ja auch am Image. Insbesondere unter jüngeren Leuten gilt Philips, im Gegensatz etwa zu Sony, als ziemlich langweilige Firma. Empfinden Sie das als ein Handicap? Boonstra: Ja, aber dieses Handicap schwindet. In Amerika zum Beispiel machen wir gewaltige Fortschritte durch eine sehr aggressive Werbestrategie, durch bessere Produkte und moderneres Design. Ein Imagewandel ist jedoch eine langfristige Aufgabe. Deshalb sage ich: Wir marschieren in die richtige Richtung, aber unser Ziel werden wir wohl erst in fünf Jahren erreichen. SPIEGEL: Viele Investoren haben offensichtlich ebenfalls Vorbehalte. Obwohl zahlreiche Analysten die Philips-Aktie zum Kauf empfehlen, ist die Kursentwicklung längst nicht so gut wie bei anderen Hightech-Firmen. Was ist der Grund dafür? Boonstra: Das liegt daran, dass wir von den Börsianern nicht als reine Hightech-Fir- Boonstra, 61, leitet seit Oktober 1996 als erster branchenfremder Vorstandschef den niederländischen Philips-Konzern. re residierte Philips in Eindhoven. Nun haben Sie kurzerhand die Konzernzentrale nach Amsterdam verlegt. Ist es so schwierig geworden, gute Manager in die verschlafene Provinzstadt zu locken? Boonstra: Alles, was ich sage, bringt mindestens 20 000 Menschen in Eindhoven, darunter unsere besten Forscher und Entwickler, gegen mich auf. Also muss ich mit meiner Antwort sehr vorsichtig sein. Aber es ist kein Geheimnis, dass vor allem gute Marketingexperten lieber in Amsterdam arbeiten als in Eindhoven. Außerdem haben wir über 200 000 Mitarbeiter außerhalb Hollands, und für die ist es nun mal einfacher, nach Amsterdam zu reisen. SPIEGEL: An der Philips-Spitze ist von dieser globalen Ausrichtung nichts zu sehen. Unter den 13 Mitgliedern der beiden obersten Philips-Gremien befindet sich nur ein Ausländer. Boonstra: Das ist kein spezifisches PhilipsProblem, Siemens oder Veba stehen auch nicht besser da. Selbst US-Firmen haben große Schwierigkeiten, ihre Vorstände international zu besetzen. Ich bedauere es aber sehr, dass nicht mehr Ausländer im Philips-Vorstand sind. Nicht weil Ausländer unbedingt kompetenter sind, sondern weil sie den kulturellen Horizont erweitern. G. DUBBELMAN / HOLLANDSE HOOGTE Das Gespräch führten die Redakteure Frank Dohmen und Klaus-Peter Kerbusk. Philips-Turm in Amsterdam, Chef Boonstra „Gemischtwarenladen aufgeräumt“ 124 WOWE / AGENTUR FOCUS SPIEGEL: Herr Boonstra, mehr als 100 Jah- ma, sondern als ein Konglomerat angesehen werden. Weltweit gibt es außer dem US-Konzern General Electric keine Firma mit diesem Zuschnitt, bei der die Börse dafür keinen Abschlag berechnet. Und im Vergleich mit unseren direkten Konkurrenten aus Japan ist unsere Kursentwicklung der letzten fünf Jahre meist sogar deutlich besser. SPIEGEL: Der Hinweis auf das Konglomerat reicht wohl kaum aus als Erklärung für die relativ mäßige Kursentwicklung. Boonstra: Sicher haben wir in der Vergangenheit die Anleger auch verwirrt durch sehr unterschiedliche Finanzergebnisse und einen Mangel an Transparenz über unsere Zukunftsstrategie. Aber das ist jetzt vorbei. Unser Börsenwert hat sich in den vergangenen drei Jahren verdreifacht. Wir haben den früheren Gemischtwarenladen gründlich aufgeräumt und unsere Kernbereiche von zwölf auf sieben reduziert, bei Geknickte Bilanz 68,0 61,6 UMSATZ 49,6 50,7 59,7* 57,4 in Milliarden Mark 52,1 52,4 54,3 *Verkauf der Tochtergesellschaft Polygram im Sommer 1998 GEWINN in Milliarden Mark 4,4 3,3 3,6 2,7 2,3 1,6 1,1 1,3 –2,1 MITARBEITER in Tausend 277 244 257 244 253 265 263 268 234 1990 91 92 93 94 95 96 97 98 denen wir weltweit zu den führenden Herstellern gehören. SPIEGEL: Es hat mehr als zehn Jahre gedauert, bis Philips die heutige Form gefunden hat. Warum war es so schwierig, alte Traditionen über Bord zu werfen und einen neuen klaren Kurs zu finden? Boonstra: Jede Firma mit einer mehr als hundertjährigen Geschichte hat dieses Problem. Denn ihre Infrastruktur basiert auf dem ökonomischen System der fünfziger und sechziger Jahre. Philips zum Beispiel hatte Fabriken in 80 Ländern. Die Voraussetzungen, unter denen einst die Standorte für diese Fabriken gewählt wurden, haben sich aber in den letzten 20 oder 30 Jahren dramatisch verändert. SPIEGEL: Zum Beispiel? Boonstra: Österreich, wo wir unter anderem Videorecorder produzieren, war bis vor wenigen Jahren ein Land mit niedrigen Lohnkosten. Heute ist es teuer, und der Vergleich mit einem Werk im Nachbarland Ungarn ist wie der Unterschied zwischen Tag und Nacht. Und solche Beispiele gibt es dutzende. Wir waren deshalb gezwungen, den Konzern von Grund auf umzubauen, und das hat uns eine Menge Zeit und viele Milliarden Mark an Investitionen gekostet. SPIEGEL: Ist der Umbau nun beendet? Boonstra: Keineswegs. Die ökonomische Weltordnung ist ja weiterhin in Bewegung. Wir werden auf die Herausforderungen dynamisch reagieren und zum Beispiel einfache Arbeiten aus Belgien, Deutschland, Frankreich und Holland weiter abziehen. Dort sind nur Produktionen mit hohen technischen Anforderungen und gut ausgebildeten Mitarbeitern sinnvoll. SPIEGEL: Andere europäische Unternehmen mit starken Traditionen wie Nokia oder Mannesmann haben den Wandel viel gend. Wir brauchen uns damit nicht einmal hinter den Firmen aus der Computerbranche, die bis gestern als die Helden der Industrie angesehen wurden, zu verstecken. SPIEGEL: Mit dem Verkauf des Film- und Schallplattenkonzerns Polygram haben Sie für großes Aufsehen gesorgt. Viele Analysten halten nach dieser überraschenden Entscheidung sogar eine Aufteilung des Konzerns in drei oder vier selbständige Unternehmen für möglich. Was ist dran an diesen Gerüchten? Boonstra: Solche Überlegungen muss ein Konzern mit einem so breiten Produktspektrum natürlich immer wieder anstellen. Aber konkrete Pläne gibt es im Moment nicht, und ich persönlich bin ein Gegner von solchen Ideen. SPIEGEL: Durch den Verkauf von Polygram verfügt Philips nun sogar über eine Kriegskasse von einigen Milliarden Mark. Was werden Sie mit dem Geld machen? Boonstra: Völlig neue Märkte wollen wir nicht erschließen. Wir versuchen allerdings, noch einige Firmen dazuzukaufen, um unser PortFirmenwert 600 folio, etwa in der Unter(Panasonic, Technics) verdreifacht haltungselektronik, abzurunden. Gleichzeitig den500 Aktienkurse der Unterhaltungselektronik; ken wir aber auch daran, Veränderungen seit weitere Firmen zu verkau1. Januar 1995 400 fen, denn wir wollen in in Prozent keinem Bereich tätig sein, 300 in dem wir nur eine Nebenrolle spielen. SPIEGEL: Gehört dazu auch 200 der Mobilfunkbereich? Boonstra: Nein. In dieser 100 Branche zählen wir zwar noch nicht zu den führen0 den Anbietern. Aber wir werden diesen Wachstumsmarkt, anders etwa als – 100 Quelle: Datastream Bosch in Deutschland, nicht 1995 1996 1997 1998 1999 aufgeben – mit oder ohne Partner. SPIEGEL: Als eines der Hauptprobleme von SPIEGEL: Im Mobilfunk ist Philips zwar als Philips galt die Beamtenmentalität vieler Chiphersteller und einer der HauptliefeMitarbeiter. ranten von Nokia und Ericsson erfolgreich. Boonstra: Philips ist heute ein anderes Un- Der Versuch, mit eigenen Handys im booternehmen als vor zehn Jahren. Die meis- menden Mobilfunkmarkt Fuß zu fassen, ten Manager haben erkannt, wie drama- hat Ihnen aber bislang nur herbe Verluste tisch sich die Welt verändert hat. Sie wis- eingebracht. Wie ist diese Diskrepanz zu sen nun: Draußen tobt ein Sturm, und wir erklären? stehen genau in dessen Mittelpunkt. Boonstra: Wir hatten einen ganz schlechten SPIEGEL: Eine große Umfrage unter den Be- Start, weil wir uns zu sehr auf die Allianz schäftigten, die Sie jetzt zum dritten Mal mit der amerikanischen Firma Lucent kondurchgeführt haben, zeigt ein anderes Bild. zentriert haben. Diese GemeinschaftsaktiIn vielen Bereichen sehen die Philips-Mit- vität war ein Fiasko, und deshalb haben arbeiter nur wenig Fortschritte, und bei wir sie im vergangenen Jahr beendet. SeitAspekten wie „Kundenorientierung“ oder dem geht es bergauf, unser Marktanteil bei „unternehmerisches Verhalten“ gab es GSM-Handys in Europa hat sich 1999 fast überhaupt keine Verbesserung seit 1996. verdoppelt. Boonstra: Es kommt immer auf den Maß- SPIEGEL: Wann wird die Handysparte endstab an. Bei einem Vergleich mit neuen Fir- lich Gewinne einbringen? men aus der Internet-Szene stehen wir Boonstra: Ich bin optimistisch, denn die schlechter da. Gemessen an Konzernen wie Fortschritte sind klar zu sehen. In dieSony und Matsushita, sind die Ergebnisse sem Jahr haben wir den Verlust schon unserer Mitarbeiterbefragung hervorra- um mehr als 300 Millionen Gulden verrin- schneller geschafft und wurden Lieblinge der Börsianer. Warum nicht Philips? Boonstra: Der Vergleich hinkt. Diese Firmen haben sicher eine großartige Leistung vollbracht. Aber ihre Schwierigkeiten waren auch viel kleiner als unsere. Nehmen Sie nur die internationale Produktionsbasis, die bei diesen Firmen viel geringer ausgeprägt war als bei uns. Aber vielleicht war bei diesen Firmen auch der Zwang zur Veränderung stärker als bei uns. SPIEGEL: Der aktuelle Philips-Slogan lautet: „Let’s make things better“. Was haben Sie denn besser gemacht als Ihre Vorgänger? Boonstra: Zunächst einmal haben sich die finanzielle Situation und die Kostenstruktur extrem verbessert. Die Zeit zwischen Forschung und einem marktfähigen Produkt ist kürzer geworden. Wir haben eine Reihe erfolgreicher Produkte herausgebracht, und wir haben unsere Marktanteile im Gegensatz zu unseren japanischen Konkurrenten ausgeweitet. d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 125 A. TEICHMANN / PHILIPS Wirtschaft Bildröhrenproduktion bei Philips (in Aachen): „Renaissance der Unterhaltungselektronik“ gert. Nächstes Jahr werden wir mit Sicherheit schwarze Zahlen schreiben. SPIEGEL: Vor zehn Jahren sah es so aus, als würden die Riesen der japanischen Unterhaltungselektronik die europäische Konkurrenz überrollen. Inzwischen ist es wieder ziemlich still geworden. Ist die japanische Gefahr vorbei? Boonstra: Unterschätze niemals deine Konkurrenten, wenn sie still sind. Das gilt ganz besonders für die Japaner, die immer noch sehr wettbewerbsfähig sind. Viele europäische Konzerne sind vor ihnen in die Knie gegangen, und nur die besten haben den ersten Angriff überstanden. Wir haben überlebt und werden weiterhin in diesem hart umkämpften Markt mitmischen. SPIEGEL: Was ist für Sie so attraktiv an diesem Markt, in dem die Firmen seit Jahren erfolglos nach einem Megaseller suchen, wie es in den achtziger Jahren die CD war? Boonstra: Es gab sicher einige harte Jahre, und die Branche hat auch Irrwege gemacht. Aber durch die Digitalisierung bekommt die Unterhaltungselektronik in den kommenden Jahren enormen Schub. Dieser Branche steht eine Renaissance bevor. SPIEGEL: Auf welche Geräte setzen Sie Ihre Hoffnungen? Boonstra: Die DVD zum Beispiel ist ein unglaublicher Erfolg. Zwei Jahre nach ihrem Start liegen die Verkaufszahlen schon fünfmal höher als die Zahlen im zweiten Jahr der CD-Geschichte. Auch unsere CD-Recorder, mit denen man eigene CDs bespielen kann, laufen blendend. Wir sind total ausverkauft. Und dann steht das Digitalfernsehen vor dem Durchbruch. Dadurch wird zunächst das Geschäft mit Settop-Boxen angekurbelt. Schließlich kommt der Übergang von der traditionellen Bildröhre zum Matrix-Bildschirm, wie Sie ihn vom Laptop her kennen. Auf diesem Gebiet sind wir durch unsere Beteiligung an der koreanischen LG-Electronics weltweit führend. Viele dieser neuen Produkte werfen noch nicht genug Profit ab, aber das 126 d e r wird sich jetzt mit den wachsenden Stückzahlen schnell ändern. SPIEGEL: Die jüngste Herausforderung für Sie ist das Internet. Welche Rolle wird Philips im elektronischen Handel spielen? Boonstra: Das Internet hat für uns vor allem im Verkehr mit Geschäftspartnern und Lieferanten große Bedeutung. An Endkunden werden wir vorerst nicht verkaufen, denn dann würden wir unsere traditionellen Handelspartner gegen uns aufbringen. SPIEGEL: In den vergangenen drei Jahren hat eine beachtliche Anzahl von Führungskräften das Haus verlassen, darunter auch Ihr so genannter Kronprinz Roel Pieper. Sind Sie ein so unbequemer Chef, oder ist der Exodus ein Zeichen dafür, dass der interne Streit um die richtige Zukunftsstrategie noch immer nicht entschieden ist? Boonstra: Gehen Sie mal davon aus, dass ich ein unausstehlicher Chef bin. Doch im Ernst: Der so genannte Kronprinz war nie ein Kronprinz. Ich finde es zwar schade, dass er uns verlassen hat, aber ich denke, wir können den Verlust verschmerzen. SPIEGEL: Wenn Sie sich selbst ein Arbeitszeugnis ausstellen müssten, wie würden Sie Ihre Leistung der vergangenen drei Jahre bewerten? Boonstra: Diese Frage trifft mich nicht ganz so überraschend, wie Sie vielleicht vermuten, denn ich habe so etwas schon mal bei einem Manager-Treffen im Juli gemacht. SPIEGEL: Wie lautete das Ergebnis? Boonstra: Ich hatte damals meine Leistung in vier Kategorien auf einer Skala von eins bis zehn eingeschätzt. In der Rubrik Shareholder-Value habe ich mir eine Acht plus gegeben, für die Kundenorientierung etwas weniger. Für die Verbesserung der firmeninternen Abläufe stehen mir wohl nur sechs Punkte zu. Und für die Führungsqualität habe ich aus meiner Sicht die Bewertung Sechs plus verdient. Das ist ganz gut, aber es könnte noch besser sein. SPIEGEL: Herr Boonstra, wir danken Ihnen für dieses Gespräch. s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Wirtschaft STEUERN Montis neue Waffen EU-Zinssteuer werde internationale Investoren auf die Bahamas treiben, ließ Brown seine Kollegen lakonisch wissen. Solange die EU den britischen Bankern diese Sorge nicht nehmen könne, werde die Regierung Ihrer Majestät sich quer legen. Die Londoner Regierung sehe zudem keine Möglichkeit, die beiden Kanalinseln Jersey und Guernsey, bei Steuerflüchtlingen begehrte Anlaufplätze, zur Einhaltung von noch zu beschließenden EU-Steuerregeln zu zwingen. Jersey und Guernsey sind politisch und in ihrer Währung Großbritannien verbunden, gehören aber nicht der EU an. Das war dem luxemburgischen Zwergstaaten-Premier Jean-Claude Juncker gerade recht. Er könne es nicht verantworten, sagte er, seinen Wählern Schaden zuzufügen, indem er einer EU-Zinssteuer zustimme und die Anleger damit geradezu auf die Kanalinseln dränge. Seine Zusage stünde nur für den Fall, dass sämtliche Schlupflöcher in Europa gestopft würden. Subventionsgegner Monti Das Übel an der Wurzel packen machen. Belgische Steuerkonstruktionen, Leimruten für steuerscheues Kapital, tauchten auf dem von der Expertengruppe erstellten Pranger unerwünschter Verhaltensweisen besonders häufig auf. Nachdem das Königreich Belgien die schmutzige Arbeit getan hatte, brauchten die anderen Sünder – vor allem Niederländer und Iren, in deren Hauptstadt Dublin viele EU-Konzerne ihren steuerlichen Sitz genommen haben – sich gar nicht mehr als Gegner des viel gepriesenen Verhaltenskodex zu outen. Aber Monti gibt nicht auf. Er will die neuen Waffen, die ihm als Wettbewerbs- DPA THE SLIDE FILE J ahrelang verfolgte Mario Monti nur ein Ziel: Spätestens auf dem Dezember-Gipfel in Helsinki sollten die Staats- und Regierungschefs der EU europäische Mindeststeuern auf Zinsen beschließen und unfaires Steuerdumping ächten. Inzwischen hat der vormalige Steuerkommissar den Job gewechselt, er ist in Brüssel jetzt für Wettbewerbsfragen zuständig. Sein Ziel aber ist dasselbe geblieben. Montis ursprüngliches Konzept hat allerdings kaum eine Chance mehr, auch wenn noch einige Beratungen bevorstehen. Die zahlreichen Sünder in der Runde, keineswegs Briten und Luxemburger allein, sind nicht bereit, nationalen Profit einem weit weniger handfesten Gemeinschaftsnutzen zu opfern. Dabei hatten sich die Staats- und Regierungschefs beim Gipfel in Luxemburg vor knapp zwei Jahren grundsätzlich verschworen, mit unfairen Steuerpraktiken REUTERS In unfairem Steuerdumping von EU-Mitgliedern sieht der Brüsseler Kommissar Mario Monti eine Wettbewerbsverzerrung – nun will er es bekämpfen. Finanzparadiese Jersey, Dublin, Luxemburg: Die Sünder sind nicht bereit, nationalen Profit dem Gemeinschaftsnutzen zu opfern zum Nutzen aller endlich Schluss zu machen. Eine allgemeine Mindest-Quellensteuer auf Zinseinkommen solle den Drang wohlhabender, privater Anleger in Steuerparadiese mit fiskusfestem Bankgeheimnis stoppen. Auch der grenzüberschreitende Fluss von Zinsen und Lizenzgebühren innerhalb eines Konzerns sollte nicht länger durch nationalstaatliche Abschöpfungen behindert werden. Doch Großbritanniens Schatzkanzler Gordon Brown scherte bereits vor Wochen aus – und setzte damit eine Kettenreaktion in Gang. Die Londoner City fürchte, eine 128 Junckers Intervention gab dem nächsten Dominostein den Kick. Wenn eine europäische Zinssteuer in weite Fernen rückt, wollen Spanier und Portugiesen den informell bereits abgehakten steuerfreien Fluss von Zinsen und Lizenzaufwendungen zwischen europaweit operierenden Mutterund Tochterunternehmen wieder zurücknehmen. Und schließlich ließ auch noch der belgische Finanzminister Didier Reynders die Brüsseler Experten wissen, sein Land werde bei dem bis dahin am wenigsten umstrittenen Reformwerk nicht mehr mitd e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 kommissar zur Verfügung stehen, nutzen, um die Staats- und Regierungschefs doch noch zu Wohlverhalten zu zwingen. Montis Trick: Die EU-Kommission soll Steuervergünstigungen als staatliche Beihilfen einstufen, die nach EU-Regeln nicht erlaubt sind – sei es, weil sie wettbewerbsverzerrend wirken, sei es, weil sie in Brüssel nicht angemeldet wurden. Dann kann, ja muss der Kommissar diese Praktiken von Gesetzes wegen unterbinden. Den Regierungschefs bliebe dann nichts anderes, als zum Europäischen Gerichtshof zu laufen. VARIO-PRESS Doch dort sind ihre Chancen gering, denn Montis Vorgänger Karel Van Miert hat bereits Fakten geschaffen: Der Flame hinterließ seinem Nachfolger eine von der Kommission gebilligte amtliche „Mitteilung“ über die Anwendung der geltenden Beihilfe-Vorschriften „im Bereich der direkten Unternehmensbesteuerung“. Darin definieren die EU-Funktionäre, in welchen Fällen Steuervorschriften zu unerlaubten Beihilfen werden, ohne die Steuerhoheit der Mitgliedstaaten zu berühren. Das ist etwa dann der Fall, wenn eine Steuervorschrift „bestimmte Unternehmen oder Produktionszweige selektiv“ begünstigt. Van Miert hat bereits für – noch nicht rechtskräftige – Präzedenzfälle gesorgt. Im Februar dieses Jahres untersagte die Kommission der Stadt Vitoria im Baskenland, dem koreanischen Multi Daewoo den Bau einer Kühlschrankfabrik mit kräftigen Steuervorteilen zu erleichtern. Wesentliche Begründung Brüssels: Die Steuerparagrafen könnten zum Teil nur von neu gegründeten, zum Teil nur von besonders großen Unternehmen genutzt werden. Sie seien damit „selektiv“, verzerrten den Wettbewerb und dürften ab sofort nicht mehr angewendet werden. Ende März eröffnete Van Miert das Verfahren in einem zweiten baskischen Fall. Die Regierung der Provinz Alava hatte die Firma Ramondín S. A. – Weltmarktführer bei Zinnkapseln, zum Beispiel für Bierflaschen – mit Niedrigsteuerangeboten dazu verlockt, ihren Sitz um fünf Kilometer zu verlagern, von der Provinz Rioja in die Nachbarregion Alava. Die Zahlung der in ein steuerliches Gewand gekleideten Beihilfen setzte Van Miert bis zur Entscheidung über deren Rechtmäßigkeit aus. Warum, fragt sich nun Monti, sollte im Verhältnis etwa zwischen Belgien und Deutschland das steuerliche Abwerben von Firmen erlaubt bleiben, wenn es spanischen Provinzen untereinander untersagt ist? Die Beneluxstaaten hoffen, dass ihre vielen Finanz- und Koordinationszentren, die mit Niedrigsteuern ausländische Firmen anlocken sollen, auch dem neuen Angriff des Kommissars standhalten werden. Schließlich haben die EU-Wettbewerbshüter vor Jahren bereits einmal diese Konstruktion akzeptiert. Montis Leute betrachten ihre Entscheidung von damals heute als „unrühmlichen Sündenfall“. Für den möchten sie in einer neuen Entscheidung nur zu gern Buße tun. Van Mierts Nachfolger Monti muss dem Steuerdumping nicht mühevoll durch Prüfen jedes Einzelfalls zu Leibe zu rücken. Die Beihilferegeln der Gemeinschaft geben es auch her, das Übel an der Wurzel zu packen, den Mitgliedstaaten beihilfeverdächtige Steuerparagrafen zu verbieten. Das war bislang nicht geschehen, weil nied e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 mand in der Kommission genau wusste, was in dem nationalen Paragrafengeflecht so alles an Beihilfen verborgen war. Auf diese Sumpfblüten hat die so genannte Primarolo-Gruppe nun die Scheinwerfer gerichtet – Monti braucht sich nur zu bedienen. In zweijähriger Arbeit haben Experten aus allen Hauptstädten der Union unter Vorsitz der britischen Staatssekretärin Dawn Primarolo, immer wieder angetrieben von dem damaligen Steuerkommissar Monti, untersucht, auf welch phantasievolle Weise die EU-Mitglieder versuchen, steuerscheues Kapital anzulocken. In vielen Ländern fanden sich zum Beispiel raffiniert geschnittene Gesetze, die alle eines gemeinsam haben: Sie erlauben Deutschland würde vom neuen Monti-Kurs profitieren, andere müssten mehr opfern es ausländischen Firmen, ihre Finanzgeschäfte zu verlagern und dabei Steuern zu sparen, ohne ihre tatsächlichen Aktivitäten kostspielig vom eigentlichen Produktionsstandort verlagern zu müssen. Auf der Basis der Primarolo-Erkenntnisse hat die Wettbewerbsbehörde inzwischen Fragebögen an die Mitgliedstaaten verschickt. Die Prozedur soll schon bald in Verbotsverfahren einmünden, wo immer es die Beihilfevorschriften hergeben. Ganz unbemerkt blieb das Manöver nicht. In Großbritannien, wo Ex-Finanzminister Oskar Lafontaine wegen seiner Steuerharmonisierungsideen gleich als „gefährlichster Mann Europas“ zu Ruhm kam, beschäftigte sich bereits im Sommer ein Unterkomitee des Oberhauses mit dem Treiben der Primarolo-Gruppe. Den Lords kam bereits im Juli der Gedanke, die Arbeit könne in einem den Staats- und Regierungschefs nicht genehmen Sinne schließlich doch noch Früchte tragen. Misstrauisch fragten die Briten deshalb in ihrem Bericht, ob die „Verhaltens-Kodex-Gruppe“ am Ende unfaire Steuerpraktiken nur zu dem Zweck identifiziere, „damit die Kommission diese unter Nutzung der Beihilfevorschriften angreifen“ könne. Im Bonner Finanzministerium erkundigte sich Minister Hans Eichel bereits bei seinen Fachleuten, ob der neue Monti-Kurs Gefahren für die Berliner Steuerpolitik berge. Frohgemut versicherten die Beamten, selbst wenn auch in Deutschland einige Spezialvorschriften fallen müssten, sei das Land unterm Strich Profiteur, weil andere viel mehr opfern müssten. Die Zuversicht ist vielleicht voreilig. Monti hat bereits angekündigt, in engem Kontext mit seinem Kampf gegen das Steuerdumping auch die Steuerhilfen für den Osten der Berliner Republik noch einmal streng zu prüfen. Winfried Didzoleit 129 G. SCHLÄGER Wirtschaft Kaffee-Bar (in Hamburg): Hauch der großen, weiten Welt MARKETING Schwarz, kalt und kultig A bgestanden, übrig geblieben, Bodensatz: Lange Zeit war kalter Kaffee das Synonym für Langeweile und Lustlosigkeit. Nun soll alles anders werden. Kalter Kaffee ist cool, glaubt die Industrie, der die jungen Konsumenten abhanden kamen. Produkte wie „K-fee“, „Mr. Brown“ oder „Nescafé Xpress“ werden als trendy vermarktet, aus Omas Kaffee soll ein Lifestyleprodukt werden: schwarz, kalt, kultig. Denn in Deutschland hat der gute alte Filterkaffee ein Generationsproblem: Zwar trinken die Deutschen im Schnitt 160 Liter pro Jahr – mehr als Cola oder Bier. Doch Jugendliche lassen sich kaum noch zu einem Kaffeekränzchen locken. Bereits vor fünf Jahren gab schon fast ein Viertel der Befragten in der Altersgruppe von 16 bis 24 Jahren an, „nie“ oder „seltener als einmal im Monat“ Bohnenkaffee zu trinken. Inzwischen, so das Münchner Marktforschungsinstitut IconKids & Youth, ist diese Zahl um über 27 Prozent auf 2,42 Millionen Abstinenzler gestiegen. Der Grund: Jungen Leuten ist Kaffee schlicht zu bitter. Schlimmer noch: Er steht für 130 C. SCHROTH Die Kaffeeindustrie im Jugendwahn: Schrill verpackt und eiskalt serviert, soll aus dem Traditions- ein Kultgetränk werden. K-fee-Importeure Radtke, Sprungala Den kalten Kaffee lieb gewonnen „Spießertum, Konventionalität, Konformismus und Langeweile“. So viel Konsumverweigerung ist für die erfolgsgewohnte Kaffeeindustrie natürlich unakzeptabel. Sie hält dagegen – mit neuen Produkten, Sponsoring-Aktionen und Coffee-Bars. Mit Millionenaufwand soll das Image des braunen Koffeingetränks aufpoliert werden. Bei Nestlé heißt das Ergebnis jahrelanger Feldforschung „Nescafé Xpress“: Kalter Kaffee trinkfertig in Dosen, black wie schwarz und white mit Milch. Eine Dose mache so wach wie zwei Tassen starker Kaffee, sagt der Hersteller. Für die Markteinführung drang Nestlé tief in die Diaspora vor und pirschte sich an Rudel jugendlicher Kaffeeverweigerer heran. Spezielle Kühlschränke sollten zunächst in Clubs, Kinos und Plattenläden und dann in Tankstellen die junge Szene d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 erobern. Und mit dem Slogan „Kipp die Tradition“ räumt Nestlé auch in der Werbung mit dem Tante-Frieda-Image auf. In diesem Jahr rechnet der Konzern mit Verkaufszahlen im zweistelligen Millionenbereich. „Im Oktober haben wir bereits dreimal so viel verkauft wie zur gleichen Zeit im Vorjahr“, sagt Kajetan Gressler, Xpress-Manager. Frieder Rotzoll, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Kaffee-Verbands, pflichtet bei: „Die Doseninvasion ist längst überfällig.“ Der coole Fertig-Kaffee ist eigentlich eine Erfindung aus Japan. Schon seit 1972 verkauft die Firma Pokka dort kalten Kaffee in Dosen. Alle paar Meter wartet in japanischen Metropolen ein Automat und spuckt auf Anforderung Produkte wie „Wonda Coffee“ oder „Santa Maria“ aus. Bei einer zweijährigen Weltumseglung haben auch der Investmentbanker Richard Radtke, 34, und der Unternehmensberater Hubertus Sprungala, 35, den kalten Kaffee lieb gewonnen und daraus eine Geschäftsidee entwickelt. Unter dem Namen „Kfee“ begannen sie im August, Kaltkaffee der Firma Pokka nach Deutschland zu importieren. K-fee sei „frisch“ gebrüht und „das Original“, protzt das K-fee-Etikett. Daran störte sich Nestlé und funkte dazwischen. Mit einer einstweiligen Verfügung ist der Vertrieb der Newcomer ab Ende Januar 2000 lahm gelegt: Das Versprechen, K-fee sei „frisch“ gebrüht, führe den Verbraucher in die Irre. Außerdem sei K-fee nicht „das Original“, sagt Nestlé. Wie der Kaffee-Kosmos für junge Menschen im Idealfall aussehen soll, hat eine Studie von IconKids & Youth definiert: Für einen Bohnen-Boom bei Jugendlichen sollte „eine eigene, junge Kaffeewelt mit jungen Produkten geschaffen werden“. Die Kaffeeindustrie gibt ihr Bestes: Tchibo veranstaltet für das Produkt „Gran Cafe“ Kino-Partys mit Filmstar Hugh Grant in neun deutschen Großstädten. Nescafé lässt das „Café Mobil“ touren: Mit dreirädrigen Kaffee-Bars, auf Basis einer italienischen Piaggio Vespa konstruiert, kommt Kaffee zu Partys und Konzerten. Auch stationär soll Kaffee vermehrt unters Jungvolk gebracht werden. CoffeeShops gelten als urban, schnell und weltoffen. Sie bringen einen Hauch der großen, weiten Welt – auch nach Münster und Bad Oldesloe. Tchibo hat sein „Aroma House“, Nestlé das „Café Nescafé“, hinzu kommen Ketten wie die „World CoffeeShops“, von denen es in Deutschland bereits 16 Filialen gibt. Wenn es nach dem Gründer Roman Koidl geht, sind es in vier Jahren 235 Läden. Die Coffee-Shops werden der deutschen Kaffeekultur nicht helfen, meint dagegen der Frankfurter Doktorand Peter de Vries, 24, ein gebürtiger Niederländer – zu viel Milch, zu wenig Kaffee: „Deutsche sind Weicheier. Sie tun alles, um den Kaffeegeschmack loszuwerden.“ Karen Naundorf Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Medien Trends S SPRINGER J. DIETRICH / NETZHAUT Larass kommt Fischer, Larass TV-Journalistin Anne Will, 33, über ihren Job als erste Moderatorin der ARD-„Sportschau“ SPIEGEL: Sie schleifen die letzte Män- nerbastion im deutschen Fernsehen – Glückwunsch. Will: Mir schwant erst allmählich, dass das womöglich etwas Besonderes ist. Jedenfalls fühle ich mich sehr geehrt. SPIEGEL: Warum entdeckt die ARD erst jetzt die Frauenquote? Will: Weil es zu oft hieß, das hat der Kollege XY schon seit hundert Jahren gemacht. Da werden nun alte Pfründen aufgebrochen. SPIEGEL: Sportchef Heribert Faßbender sagte, Sie seien begabt, hübsch und intelligent. Hätte begabt und intelligent nicht gereicht? Will: Wahrscheinlich nicht. Da habe ich aber kein Problem mit – solange es nicht wie bei den Privaten zugeht, bei denen jedem, der gut aussieht, ein prima Text auf den Teleprompter geschrieben wird. Wir arbeiten ohne – und deswegen ist es gut, wenn man nicht nur hübsch ist. SPIEGEL: Was reizt Sie an der „Sportschau“? Will G A M E S H OW S tungsrechte für die Bundesliga hat sie nach wie vor starke Beiträge. Wenn man als Reporter aufgefordert ist, für die „Sportschau“ einen Beitrag zu machen, gibt man sich besonders viel Mühe. Das sieht man der Sendung an. SPIEGEL: Die Journalistin Carmen Thomas ging in die Fernseh-Geschichte ein, weil sie als Moderatorin des „Aktuellen Sportstudios“ Schalke o5 sagte. Will: Dafür moderiere ich schon zu lange den „Sportpalast“ beim SFB. Da musste ich schon sehr oft Schalke o4 sagen. SPIEGEL: Wie wollen Sie denn Faßbenders „Gutenabendallerseits“ vergessen machen? Will: Ich sag meistens: „Hallo und willkommen.“ Die Kandidaten zahlen I d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 m nächsten Jahr sollen in Deutschland erstmals Fernsehproduktionen über Telefongebühren der Zuschauer finanziert werden. Dieses Konzept („Call TV“) fährt der Unterhaltungskonzern Endemol bereits mit „Veronica live“ im niederländischen Fernsehen; nun soll der größere deutsche Markt dem Endemol-Chef John de Mol rasch steigende Umsätze bringen. Geplant ist eine tägliche GameShow am VorLinda und John de Mol mittag, bei der TV-Zuschauer per Anruf über eine 0190er-Nummer Spielkandidaten werden können. Die Telefoneinnahmen, die pro Teilnehmer bei maximal einer Mark liegen sollen, fließen bis zur Deckung aller Kosten an die Produktionsfirma Hurricane, an der Endemol und die Deutsche Telekom (mittelbar über den neuen Konzernableger Digame) beteiligt sind. Nach Finanzierung der Grundkosten teilt Hurricane die Telefongelder mit dem ausstrahlenden Sender – hierfür sind RTL oder RTL 2 vorgesehen. F. KRUG / ACTION PRESS „Hallo und willkommen“ Will: Trotz des Fehlens der Erstverwer- T & T M O D E R AT O R E N pätestens zum 1. Januar 2001 soll Ex-„Bild“-Chef Claus Larass, 55, die Führung beim Springer-Verlag übernehmen. Der bisherige Zeitungsvorstand wird den Schweizer August („Gus“) Fischer, 60, ablösen, dessen Vertrag Ende nächsten Jahres ausläuft und nicht verlängert wird. Nachdem sich die beiden Großaktionäre Friede Springer (50 Prozent plus eine Aktie) und der Münchner Filmhändler Leo Kirch (40 Prozent) bereits im Sommer in aller Stille auf den Wechsel verständigt hatten (SPIEGEL 38/1999), hat sich jetzt auch der Arbeitsausschuss des Springer-Aufsichtsrates entsprechend geeinigt. An der entscheidenden Sitzung am 28. Oktober in Berlin nahmen die drei ständigen Mitglieder des Gremiums teil: Springer-Aufsichtsratschef Bernhard Servatius, Friede Springer und der Kirch-Vertraute Joachim Theye. Als Gast war außerdem Kirch selbst anwesend. Anschließend informierte Servatius die übrigen Mitglieder des Aufsichtsrates über die Einigung, die das Kontrollgremium auf seiner nächsten Sitzung am 14. Dezember offiziell beschließen wird. Vorstandschef Fischer, der noch vor kurzem signalisiert hatte, an einer Vertragsverlängerung interessiert zu sein, hatte auf einen entsprechenden Antrag dann doch verzichtet. Im Konzern rechnet man nun damit, dass er bereits vorzeitig seinen Stuhl räumen wird. „Wir haben ihm kein Abfindungsangebot unterbreitet“, heißt es dazu im Eigentümerkreis, aber: „Traditionell war das Haus bei Abfindungen immer sehr großzügig.“ 133 Medien JOURNALISMUS Domino vobiscum 134 Riccardo Ehrmann, 69, italienischer Journalist der Nachrichtenagentur Ansa, über seine Rolle auf der Pressekonferenz vom 9. November 1989, die den Anstoß zum Mauerfall gab SPIEGEL: Sie haben mit Ihrer Frage an Günter Schabowski zum Reisegesetzentwurf den Mauerfall ausgelöst? Ehrmann: So scheint es, ja. SPIEGEL: Sind Sie darauf nicht stolz? 쒆 DPA on diesem Sturz träumt die TVBranche. Vorvergangenen Freitag purzelten auf RTL 2 472 480 Dominosteine um, und 14,02 Millionen Zuschauer, mehr als die Hälfte aller 14- bis 49-Jährigen, waren dabei. Das schafft kein gewöhnliches Champions-League-Spiel, das bringt kein Krimi zu Wege, da muss selbst die Volksmusi passen. Domino vobiscum, der Quotengott war mit euch, ihr Planer in Köln. Was 70 Helfer in sieben Wochen auf einer Fläche von 4000 Quadratmetern in einer Halle aufgebaut hatten, stürzte um, weil Newtons Gravitationsgesetz es so will. Und die 27 500 Steine, die stehen blieben, ändern an den Grundfesten der Physik nichts, da hatte der Mensch versagt. Die Natur beim Vollzug ihrer Gesetze zu beobachten ist ja längst Gegenstand des Mediums Fernsehen, und nach dem Riesenerfolg des „Domino Day“ wird die Phantasie der Macher in dieser Richtung weitergehen: Reality zu zeigen, einfach so. In der Kultsendung des Bayerischen Rundfunks, der „Space-Night“, sind Weltraum und Erde vom Satelliten aus bereits in ihrer schlichten Erhabenheit zu bewundern. Kriege kommen, Sensationen gehen, aber das Tote Meer bleibt aus großer Höhe immer ein großer Anblick. So was schätzt der TV-Zuschauer wie die täglichen Schwenks auf 3Sat über die Gipfel der Alpen. Die TV-Vermarktung der physikalischen Gesetze und der Naturschauspiele findet nicht nur Freunde. Der Osnabrücker Baumforscher HansDieter Warda verurteilte letzte Woche TV-Pläne, ein Waldstück mit Kameras zu überziehen und das Wachsen der Pflanzen über die Jahreszeiten hinweg zu übertragen. Dadurch, schimpfte der Professor, ginge bald gar kein Mensch mehr in die Natur. Das wäre zwar schade, aber ein schöner Sonntagsspaziergang, bei dem man im Bett bleiben kann, was spricht dagegen? Und wenn ein Titel „Das Schweigen der Lämmer“ verspricht, könnte es sich demnächst um eine Live-Außenübertragung handeln. Die würde die Nerven schonen. Journalist Ehrmann, Schabowski (r., 1989) Ehrmann: Doch. Oscar Wilde sagte einmal: Das Leben ist eine schlechte Viertelstunde mit ein paar guten Momenten. Diese Pressekonferenz war einer der besten Momente meines Lebens. SPIEGEL: Hatten Sie sich auf diese Frage vorbereitet? Ehrmann: Ich hatte keine Ahnung vorher. Ich wollte an einer Pressekonferenz teilnehmen – wie an vielen anderen – und Fragen stellen. Aber so eine Wirkung war nicht beabsichtigt. SPIEGEL: Ihre berühmte Frage an Schabowski enthielt den Satz, das geplante Reisegesetz sei „ein großer Fehler“. Das war ziemlich meinungsstark. QUOTEN 7,4 Kerner vorn E in Monat ist es her, da musste Johannes B. Kerner mit seiner Prominenten-Show „JBK“ zu Gunsten von Maybrit Illners neuer Polit-Talkrunde „Berlin Mitte“ auf einen 23-UhrTermin weichen. Der Umzug in die Nacht hat Kerner nicht geschadet – er erreicht einen höheren Marktanteil als die Ex-Frühstücks-TV-Frau Illner. d e r s p i e g e l 7,3 7,3 6,9 Johannes B. Kerner 6,2 Maybrit Illners „Berlin Mitte“ 5,6 5,1 4,6 SVEN SIMON/ TEUTO V „Kurze Frage, enorme Wirkung“ Ehrmann: Ich war sehr verärgert über die SED-Mitglieder, weil sie versucht haben, mit Bürokratie Reisen zu verhindern. SPIEGEL: War Ihnen damals bewusst, wie folgenreich Ihre Frage sein konnte? Ehrmann: Für die Frage war mir das nicht klar, aber für die Antwort. Schabowski sprach von Reisefreiheit – und die Mauer war weg. Nach der Konferenz traf ich Willy Brandt. Er gratulierte mir und sagte: kurze Frage, enorme Wirkung. SPIEGEL: Ein Italiener, der die deutsche Geschichte vorangetrieben hat – haben Ihre deutschen Kollegen geschlafen? Ehrmann: Vielleicht. Ein deutscher Kollege von der dpa sagte mir, dass er im Konferenzraum geblieben war, um das Chinesisch der Kommunisten besser zu verstehen. SPIEGEL: Wie hat die Ansa-Zentrale in Rom auf Ihre Meldung, die Mauer sei gefallen, reagiert? Ehrmann: Für ein oder zwei Minuten haben die geglaubt, ich sei verrückt geworden. Irgendwie verständlich. Es gab ja keine Ankündigung vorher. Aber der Chefredakteur ließ es drucken. SPIEGEL: Und danach? Ehrmann: Habe ich die ganze Nacht gearbeitet. Ich bin später an den Bahnhof Friedrichstraße gegangen, wurde dort erkannt und gefeiert. Ich wusste nicht, dass die Pressekonferenz im Fernsehen live übertragen worden war. SPIEGEL: Hätten Sie die Frage trotzdem gestellt? Ehrmann: Selbstverständlich, das ist meine Arbeit. Herr Schabowski sagte mir vor wenigen Tagen, ich hätte ihm das Stichwort gegeben. Allerdings hoffe ich sehr, dass die Menschen, die mich damals gefeiert haben, jetzt nicht zuschlagen werden. SPIEGEL: Hat man Sie zur Feier des Mauerfalls nach Berlin eingeladen? Ehrmann: Leider nein. Ich war schon etwas enttäuscht. Ich liebe Berlin, ich wäre gern hingefahren. 4 6 / 1 9 9 9 Marktanteile in Prozent bei den 14bis 49-Jährigen 14. Okt. 4,4 3,4 21. Okt. 28. Okt. 4. Nov. 11. Nov. Fernsehen Vorschau Einschalten Urlaub im Orient – Und niemand hört dein Schreien Mittwoch, 20.15 Uhr, RTL Sicherlich setzt dieser Film (Buch: Oliver Simon, Regie: Michael Wenning) keine neuen Maßstäbe im Genre Abenteuerfilm. Aber die Geschichte von dem geheimnisvollen Hotel in Marokko, wo nichts ahnenden deutschen Touristinnen die Embryos aus dem Leib operiert werden, um Todkranken zu helfen, liefert soliden Nervenkitzel. Besonders gelungen ist die Einbeziehung der marokkanischen Umgebung: Ein deutscher Arzt (Felix Eitner) hetzt mit Hilfe seines einheimischen Freundes (Said Taghmaoui) durch enge Stadtquartiere auf der Suche nach seiner verschwundenen Freundin (Floriane Daniel), die derweil durch die Wüste irrt und in einem Nomadenzelt malerische Zuflucht findet. Gründgens, Flickenschildt im Film „Faust“ Faust Dienstag, 21.40 Uhr, Arte Aus den guten alten Tagen, da die Berserker des Regietheaters ihr Hinrichtungswerk an den Klassikern noch nicht begonnen hatten: Arte zeigt in deutscher und französischer Erstausstrahlung die Verfilmung einer „Faust“-Aufführung des Deutschen Schauspielhauses von 1960 mit Gustaf Gründgens in der Rolle des Mephisto, mit Will Quadflieg als Faust, Ella Büchi als Gretchen und Elisabeth Flickenschildt als Marthe Schwerdtlein. Im Anschluss um 23.50 Uhr gibt es ein Gründgens-Porträt von Petra Haffter. Polizeiruf 110: Kopfgeldjäger Sonntag, 20.15 Uhr, ARD Daniel (l.) in „Urlaub im Orient“ Der Wortwitz funkelt, und der Verstand hat Arbeit. Was will man mehr? Wolfgang Limmer (Buch) und Ulrich Stark (Regie) haben eine spannende Geschichte zusammengebracht über den Irrsinn von Trainingsprogrammen für Manager. Im Psychospiel werden ständig Sein und Schein verwechselt, für ein armes Würstchen mit tödlichem Ausgang. Den einarmigen Kommissar (Edgar Selge) bei der Arbeit zu sehen ist eine Lust. Er mischt die schlamperte Bayernpolizei mit preußischer Frechheit auf. Und muss sich im Gegenzug Behindertenwitze anhören: „Wie soll man mit dem Arm des Gesetzes reden, wenn keiner dran ist?“ Nur einer dieser unkorrekten Kalauer hat ein Richtungsproblem: „Gehen Sie nach rechts, wo der Daumen links war“, wird dem Polizisten ohne linken Arm der Weg zur Toilette gewiesen. Wer geschmunzelt hat, sollte mal nachdenken: Der Witz klingt schön, leidet aber an Links-Rechts-Verwechslung. Ausschalten Ricky! Montag, 14.00 Uhr, Sat 1 Sanften Talk und manierliches Auftreten versprach der Moderator Ricky Harris. Doch das war, wie in der Branche üblich, die Lüge zum Beginn der Sendung. Denn wenn einer die deutsche Sprache so perfekt wie Ricky misshandelt, warum sollte der sich dem Grundgesetz des Genres verweigern, die Schamgrenzen immer neu zu überschreiten? Mit der Selbstverstümmlung, im Flottsprech „Branding“ geheißen, einer Kandidatin, die während einer Aufzeichnung vor Schmerz zusammenbrach, hat die quotenschwache Sendung endlich auch ein heißes Eisen in der Talkhölle: „Bild“ kann sich entrüsten, der Sender große Zerknirschung zeigen und beide können hoffen, dass Auflage und Quote steigen. … die man liebt Samstag, 20.15 Uhr, Südwest III Es war einmal eine berühmte HipHopSängerin, die in den Streik trat, als ihre böse Managerin sie vor den grölenden Massen in einem Fußballstadion singen lassen wollte. Die Sängerin stieg aus dem Tourneebus aus und landete in einer kleinen Pizzeria voll schrulliger Menschen. Der „Cheffe“, strenger Vertreter italienischer Lebensart, glaubte auf Grund fingierter Postkarten an die Zuwendung seines verlorenen Sohnes. Der Neffe träumte von der Gründung eines Schnellimbisses, und die Kellnerin d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 hatte ein ungezogenes Kind, das gern mit Bellen die Umgebung nervte. Der Rapstar liebte auf Zeit den Neffen und kehrte, ein Kind unterm Herzen, in die Glitzerwelt zurück, derweil Onkel am Infarkt hinschied und dem Neffen Geld und Lokal vermachte. Solche Märchen gibt man an der Filmakademie Baden-Württemberg offenbar als Geschichten aus, die das Leben schreibt. Warum die renommierte Redaktion der renommierten Reihe „Debüt im Dritten“ dieses obendrein noch vollkommen humorlose Drehbuch für den Abschlussfilm nicht zur Überarbeitung zurückgereicht hat, bleibt schleierhaft. Schade um die Schauspieler, schade um die teilweise wunderschönen Bilder. 135 Medien JOURNALISTEN Die Clip-Schule vom Lerchenberg Mit Geschichtsfernsehen für ein Massenpublikum stieg Guido Knopp zum TV-Quotenstar und Bestsellerautor auf – trotz harscher Kritik von Historikern. Nun plant der ZDF-Journalist weitere Produktionen rund um sein Hauptthema Adolf Hitler. 136 T. WEGNER / LAIF P rominenz schüchtert ein. Erst nach einigem Zögern fasst der Rentner aus der ZDF-Besuchergruppe den Mut, geht vor dem Studio des Mainzer Senders entschlossen auf den Hünen im schwarzen Anzug zu, den er seit vielen Jahren vom Bildschirm kennt. „Sie sind ja noch schöner als in der Glotze“, umschmeichelt der Mann sein Idol und hakt nach: „Warum sieht man Sie in letzter Zeit so selten?“ Der promovierte Historiker lächelt, als seien ihm gerade geheime Tagebücher aus der Nazi-Zeit anvertraut worden. „Ach, wissen Sie“, sagt er, „Dokumentationen erfordern viel Zeit, da komme ich kaum noch vor die Kamera.“ Der Bewunderer nickt und trottet zurück zu seiner Kaffeefahrt-Runde. Guido Knopp, 51, ist mit heiklen Themen rund um die braune deutsche Vergangenheit zum TV-Star geworden. Er steht heute im Zentrum eines quoten- und umsatzträchtigen Imperiums, das den Deutschen jene Vergangenheit näher bringt, die nicht vergehen will. Hauptsächlich der Faszination des Bösen verdankt der Redaktionsleiter Zeitgeschichte des öffentlich-rechtlichen Senders Zuschauerzahlen zwischen fünf und sieben Millionen zur besten Sendezeit. Mittlerweile laufen Knopps TV-Spiele in 50 Ländern, allein sein Video „Hitler – Eine Bilanz“ verkaufte sich knapp 160 000-mal. Er sei „ein Flaggschiff für ein bestimmtes Genre“ geworden, „jeder weiß, was Knopp ist“, sagt Alexander Coridaß, Chef der Sendertochter ZDF Enterprises, über den Exportknüller. In TV-Schlüsselmärkten wie den USA, Großbritannien, Frankreich oder Australien habe sich der Historiker „großes Renommee“ erworben. So stiegen Knopp und sein Heer von Helfern zum Markenzeichen auf. Im Gedenkjahr 1999 stehen seiner Redaktion so viele Sendeplätze wie noch nie zur Verfügung, etwa zu Jahrhundertereignissen wie den Weltkriegen sowie dem Bau und Fall der Mauer. Parallel zu seinen TV-Serien publizierte der Historiker Jahr für Jahr Buch-Bestseller am Fließband, im vergangenen Jahr gleich drei. Damit war der ZDFAngestellte (Gesamtverkauf aller Druckwerke: über eine Million Exemplare) der erfolgreichste deutsche Sachbuchautor. Medienstar Knopp: „Wir arbeiten auch für den Arbeiter von der Werkbank“ d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 Keiner hat beim Massenpublikum mehr Deutungsmacht in Sachen Drittes Reich. Der Ex-Wissenschaftler, der seine Doktorarbeit über Debatten zwischen SPD und USPD nach dem Ersten Weltkrieg abgeliefert hatte, stieg über Kurzgastspiele bei „Bunte“, „Welt am Sonntag“ und „Frankfurter Allgemeine“ in den Journalismus ein. Doch es drängte ihn zum Fernsehen. 1978 landete er beim ZDF und überzeugte sechs Jahre später Senderchef Dieter Stolte, eine eigene Redaktion Zeitgeschichte zu gründen. Nun sitzt Knopp bei Presseterminen im lichtdurchfluteten Clubraum des Intendanten, streckt vor einem Kolossalgemälde über die Vertreibung der Juden aus Ägypten pathetisch die Arme aus und doziert über die Aufgabe, „ein großes Publikum für Geschichte zu gewinnen“. In der Vergangenheit habe die britische BBC eine Vorrangstellung bei historischen Produktionen gehabt, „jetzt aber spielen wir mit, haben vielfach sogar Standortvorteile – durch größere Nähe zum Material und zu den Zeitzeugen“. Dem egostarken Geschichte-Erzähler vom Mainzer Lerchenberg schwebt eine regelrechte „Pyramide“ zur NS-Deutung vor: Erst versendete er 1995 in einem Sechsteiler den Diktator selbst („Hitler – eine Bilanz“), dann den inneren FührerKreis („Hitlers Helfer“), schließlich die Generäle und Soldaten („Hitlers Krieger“). Als Nächstes sind im Frühjahr 2000 die Jugendlichen der NS-Zeit („Hitlers Kinder“) dran und im Herbst die Opfer: In der Serie, auf dem Weltmarkt verkaufsträchtig als „Hitlers Holocaust“ annonciert, sollen neue Archivfunde zur Judenverfolgung präsentiert werden, etwa Bilder von Pogromen im Baltikum. Diesmal will Knopp streng chronologisch erzählen und Bilder penibel den Ereignissen zuordnen. Das Werk werfe, wirbt das ZDF, „ein neues Licht auf die dunkelste Seite des 20. Jahrhunderts“. Für 2001 plant Knopp dann eine Serie über Magda Goebbels, Eva Braun, Zarah Leander und andere Frauen aus der NS-Zeit, eine Reihe über die Vertreibung Kanzler 1999 3,2 10,6% Serien im ZDF * Top-Spione 1994 2,2 12,3 % ■ Zuschauer in Millionen ■ Marktanteil Unser Jahrhundert 1999 2,2 12,9 % Quoten-Hit Hitler Knopps Zeitgeschichte im Fernsehen und in Büchern Vatikan 1997 4,2 13,5 % Verkaufte Bücher in Deutschland Der dritte Weltkrieg 1998; *Einzelsendung 4,4 13,7% Hitlers Helfer II 1998 4,4 15,0 % Hitlers Krieger 1999 5,2 16,2 % Der verdammte Krieg 1995 3,8 18,3 % Hitlers Helfer I 1997 6,9 Der verdammte Krieg Unser Jahrhundert Kanzler Top-Spione Hitlers Krieger Hitler – Eine Bilanz Vatikan 21,1 % Hitlers Helfer 50000 75000 80000 90000 110000 160000 180000 200000 Hitler – Eine Bilanz 1995 5,0 22,1 % am Kriegsende sowie, zum Finale, eine Gesamtschau über die Verstrickung der Deutschen („Hitlers Volk“). Wer sich derart intensiv mit der deutschen Düsternis zwischen 1933 und 1945 befasst, braucht sich um Kritik nicht zu sorgen. So viel Aufmerksamkeit für die Nazi-Zeit empfindet „FAZ“-Herausgeber Frank Schirrmacher längst als Exzess. Er entdeckte bei Knopps NS-Arbeiten „einen fast rauschhaften Steigerungs- und Überbietungswillen“, der einen „Zug ins Irrwitzige“ bekommen habe. Der Grund der ausführlichen und scheinbar nie enden wollenden TV-Aufarbeitung ist dabei simpel: Hitler sorgt für Quote. Zwar hat sich Knopp an vielen Stoffen versucht, etwa über die Kanzler der Republik und die Päpste des Vatikan, doch jedes Mal lagen die Zuschauerzahlen deutlich unter den NS-Stücken. Auch sein bizarres Waswäre-wenn-Dokumentarspiel „Der Dritte Weltkrieg“ fiel spürbar ab. Nur wenn das Hakenkreuz auftaucht, ist Knopp seinem Ziel ganz nah, um 20.15 Uhr gegen Hollywood-Filme, Arztschnulzen, Actionreihen und Fußballübertragun- Quellen: ZDF; Bertelsmann ZDF FOTOS: CH. POPKES (M.); ZDF ( re.) gen bestehen zu können. Dagegen setzt er ein Potpourri aus kurz geschnittenen Schwarzweißsequenzen alter Filme, nachgestellten Szenen in Farbe (das Prinzip übernahm Knopp von der BBC) und Kurzbefragungen von grell ausgeleuchteten Zeitzeugen vor dunklem Hintergrund. Als Untermalung dienen dramatische Musik und eine raue Kommentarstimme, bevorzugt vom Synchronsprecher des MafiosoDarstellers Robert De Niro. Das schöne Styling und die meist in osteuropäischen Archiven akquirierten teuren Senderechte für Alt-Filme treiben die Kosten gewaltig nach oben. Während die ARD im Frühjahr für eine Folge von „20 Tage im 20. Jahrhundert“ zwischen 90 000 und 140 000 Mark ausgab, kostet einmal Knopp bis zu einer Million Mark. Davon trägt das ZDF knapp die Hälfte, den Rest steuern internationale Koproduzenten bei, etwa Arte aus Straßburg, RAI aus Italien und History Channel aus den USA. „Bewegte Bilder und bewegende Zeitzeugen sind die Pfunde, mit denen wir wuchern können“, sagt Knopp über seine Populärfilme: „Wir arbeiten nicht nur für den Knopp-Produkte: „Bewegte Bilder und bewegende Zeitzeugen sind die Pfunde, mit denen wir wuchern können“ d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 137 Medien 138 d e r Unentwegt sammeln Knopps Mitarbeiter Erinnerungen älterer Deutscher. So interviewten sie in einem „Jahrhundert-Bus“ überall in Deutschland 6000 Leute zur Nazi- und Nachkriegszeit – eine „Katharsis-Box“ (Knopp), die an Steven Spielbergs Shoah-Stiftung erinnern und künftig in einem „Jahrhundertstudio“ auf dem Mainzer ZDF-Gelände zur Dauereinrichtung werden soll. Auch für die Bücher zu den Fernsehhits sind die vielen fleißigen Mainzelmännchen im ZDF-Trakt FR Ost 2 stark eingespannt. Ein großer Teil der Werke stammt von je einem halben Dutzend von Koautoren. Für die Forschung hatten die Bände keinen Effekt – wohl aber für die Bilanzen von Verlagen, Buchhändlern und für Knopp selbst. So brachte allein der Spitzentitel „Hitlers Helfer“ (Verkaufsauflage: 200000) dem Autorenteam schätzungsweise eine Dreiviertel Million Mark Erlöse. Das Geld werde, so Knopp, „nach einem festen Schlüssel“ zwischen ZDF, ZDF Enterprises und der Redaktion aufgeteilt. Der Löwenanteil dürfte bei Knopp bleiben, Koautoren werden schon mal pauschal mit 5000 Mark abgegolten. Er sei „teils als Autor aktiv, teils als Herausgeber“, sagt die Hauptfigur über seine Rolle, „dann machen meine Mitarbeiter Vorlagen, die ich redigiere, umschreibe oder auch nicht“. Sein Stammverlag Bertelsmann hat mit dem umtriebigen TV-Promi bereits acht Bücher publiziert. Nur für das aktuelle Werk „100 Jahre – Die Bilder des Jahrhunderts“ ließ das Medienhaus seinen Top-Autor zur Konkurrenz ziehen, es erschien den Buchmanagern zu verwechselbar mit dem zuvor veröffentlichten „Unser Jahrhundert“. Nun erscheint das Bilderbuch zur täglichen ZDF-Abendsendung bei Econ und hat reichlich redaktionelle Schützenhilfe vom Boulevardblatt „Bild“, das ebenso wie der Econ Verlag zum Axel-Springer-Konzern gehört. Zu Silvester soll die Reihe sogar nonstop 16 Stunden auf dem Spartenkanal Phoenix laufen – der totale Knopp. Längst ist der Mann aus Aschaffenburg ein Star geworden, so sieht er sich, und so sollen ihn andere sehen. Seinen 50. Geburtstag feierte der Historiker 1998 denn auch standesgemäß mit einer Riesenparty auf einem alten Studiogelände in Wiesbaden, unter den vielen prominenten Gästen war auch der israelische Botschafter. ZDF-Chefredakteur Klaus Bresser hielt vor über 200 Leuten eine launige Rede, in der er beziehungsreich über die Allüren seines Mitarbeiters scherzte: „Als kleiner Angestellter kann ich mir eine solche Feier nicht leisten.“ Hans-Jürgen Jakobs s p i e g e l REUTERS Universitätsprofessor, sondern auch für den Arbeiter von der Werkbank, der abends müde nach Hause kommt und sich unterhalten will.“ Volksfernsehen statt Volkshochschule – unter Historikern und Dokumentarfilmern ist dieser Quotenjournalismus höchst umstritten. Knopp erkläre wenig, verzichte auf Zusammenhänge und setze vor allem „auf Tempo sowie die Suggestivkraft von Bildern und Musik“, kritisiert Wissenschaftler Hans Woller vom Münchner Institut für Zeitgeschichte, alles zerfließe „in einem großen Brei“. Das Niveau für Geschichts-TV werde so systematisch gesenkt. Der ZDF-Mann gelte „unter Historikern so viel wie Jürgen Fliege unter Bibelforschern“, spottet das Satireblatt „Titanic“. Besonders umstritten ist das Inszenieren, im Fachjargon „Nachdreh“ genannt, von historischen Szenen, für die es keine Bilder gibt, etwa vom erzwungenen Selbstmord des Generalfeldmarschalls Erwin Rommel oder von frühen Treffen Winston Churchills mit NS-Größen. Zu sehen sind schwarze Limousinen, blank geputzte Schaftstiefel, Häuserfronten mit dunklen Figuren oder eine Hand, die mit der Schreibmaschine etwas tippt („gez. Adolf Hitler“). Bei vielen Wissenschaftlern ist auch die Art der Präsentation von Zeitzeugen verpönt, die Knopps Filmen Authentizität verleihen sollen. „Da werden laufend irgendwelche Leute aus der Nähe Hitlers interviewt, die relativ wenig Einblick hatten und lauter ZDF-Chef Stolte Belanglosigkeiten erzählen“, wettert Historiker Woller: „Ein apologetisches Geraune.“ Über die Masche wird selbst im KnoppKreis gelästert. „Bei uns gilt das Prinzip: Kein Zeitzeuge über 20 Sekunden, nur der Heilige Vater bekommt 30“, erzählt ein Mitarbeiter. „Ein Satz und dann die Schwarzblende“, kommentiert WDR-Chefhistoriker Klaus Liebe die Arbeit der ClipSchule vom Lerchenberg. Die Kritik perlt an dem Chefhistoriker des ZDF freilich ab. „Da schwingt auch manchmal Neid mit“, sagt Knopp. „Wir recherchieren sehr penibel und lassen uns umfassend wissenschaftlich beraten.“ Dann schiebt er nach, dass er im Übrigen „Journalist für Zeitgeschichte“ sei und kein Dokumentarfilmer. Seinen Erfolg verdankt der „Experte für Geschichte und Gefühl“ („Stuttgarter Zeitung“), der derzeit über einen ZDF-Kanal für Historisches im Internet nachdenkt, einer 30-Personen-Truppe aus fest angestellten Redakteuren, Zuträgern, Rechercheuren, Dokumentaristen und Praktikanten. 4 6 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Medien REGISSEURE Bald wieder Gott Nach dem Sat-1-Film „Der König von St. Pauli“ arbeitet Dieter Wedel jetzt fürs ZDF – an einem Mehrteiler über unbarmherzige Steuerfahnder und getriebene Politiker. S Talkshow-Sessel, und jetzt ist er für den Rest der Woche in München, um die letzten Rollen für das neue Projekt zu besetzen. Viel Zeit bleibt nicht mehr. Im Februar soll es schon losgehen: 165 Drehtage für die fünf bis sechs Teile, die das ZDF Ende 2001 zeigen will. Und wie immer ist es sein teuerster Film: Bis zu 25 Millionen Mark zahlt der Mainzer Sender. Den Mädchen im Besetzungsstudio wird er erst einmal erzählen müssen, worum es überhaupt geht. Das macht sie lockerer. Alle wollen sie zu ihm, aber alle haben sie Angst. Vor ihm, dem großen Wedel, der sich gern mit seinem Doktortitel anreden lässt. „Doc“, hat ihm sein Kameramann gesagt, „bald sind Sie wieder Gott.“ Da sitzen die Kandidatinnen mit weit aufgerissenen Augen und frösteln. Sind blass, obwohl die Maskenbildnerin sie gerade frisch geschminkt hat. „Sicher haben Sie gelesen, dass ich ein Feuer speiendes Monster bin“, säuselt Wedel, dessen Tobsuchtsattacken bei Dreharbeiten legendär sind. „Glauben Sie es bloß SAT 1 o, das war’s für heute. Das Finanzamt sieht keinen Pfennig mehr. Nicht von ihm. Sechseinhalb Stunden hat er bis jetzt gearbeitet – nur für die Steuer. Es ist nachmittags um halb drei, und erst von jetzt an verdient er Geld, das er in die eigene Tasche stecken kann. Seit etlichen Legislaturperioden versprechen die Regierenden eine Steuerreform. Und was passiert? Eine Erhöhung nach der anderen! Dieter Wedel löffelt Kokosmilchsuppe mit Shrimps und frischem Koriander. Seine Lieblingssuppe. So viel Zeit muss sein. Manchmal lässt er sich eine ganze Terrine auf seine Suite im Münchner Hotel Vier Jahreszeiten bringen. Doch jetzt drängt der Fahrer – wenn auch sanft. Im Studio warten sie und heulen. Irgendjemand hat die Termine durcheinander gebracht. Wedel kichert. Die Armen. Aber wo bleibt nur das Carpaccio? Was für eine Woche! Gerade noch hat er in Mallorca am Drehbuch geschrieben, dann am vergangenen Montagabend Auftritt in Hamburg bei „Beckmann“ auf dem nicht“, könnte er noch sagen. Sagt er aber nicht. Lieber erzählt der nette Doktor, wie es draußen zugeht in der Welt, die bald in seinem neuen Film zu sehen sein wird. Krieg herrscht da, ein erbarmungsloser Stellungskrieg zwischen hoch bezahlten Wirtschaftsprüfern und erbarmungslosen Finanzbeamten. Die einen verdienen eine halbe Million, die anderen vielleicht 80 000 im Jahr. Aber man hat Respekt voreinander. „Oooh“, sagt die blonde Jungschauspielerin, die gerade beim Detmolder Stadttheater abgelehnt worden ist. „Oooh!“ Wedel lehnt sich zurück. Wippt mit seinen schwarzen Stiefeletten. Nein, im Finanzamt gebe es noch nicht den „Beamtenschlaf“, da herrsche Korpsgeist, obwohl die Beamten im Durchschnitt jeden Tag ein neues Gesetz auf den Tisch bekämen – also 360 neue Steuerregeln pro Jahr. Er war beim Leiter einer großen Steuerfahndungsabteilung. „Die sind schwer gesichert“, sagt der Regisseur und lässt die Bedeutung seiner Worte sacken. „Ooh“, seufzt die blonde Jungschaupielerin. In Wilhelmshaven hat sie es auch schon versucht. „Der oberste Steuerfahnder sieht runter auf die Straße und sagt: ‚Alle sind schuldig: 98 Prozent, zu 100 tendierend.‘“ Bei Beckmann hat er die Geschichte am Abend vorher auch erzählt. Das Publikum war beeindruckt. Er wird die Semmelings in seinem neuen Film auferstehen lassen. Anfang der siebziger Jahre hatte er die Geschichte von Bruno und Trude Semmeling erzählt, deren Eigenheimbau im Kampf gegen die Handwerker zum Alptraum wurde. „Manche Theaterregisseure waren damals stolz, wenn sie ihr Publikum so verärgert hatten, dass der Zuschauerraum am Ende leer war“, sagt er, „und ich hatte Einschaltquoten von 63 Prozent.“ Der Dreiteiler machte Wedel zum Shootingstar des NDR. Schnell gehörte er zu den erfolgreichsten TV-Regisseuren der Nation. Er wechselte zum ZDF, drehte für Sat 1. Seine Mehrteiler „Der große Bellheim“, „Der Schattenmann“ und „Der König von St. Pauli“ wurden von Millionen gesehen – und kosteten viele Millionen. „Aber erst mit dem Bellheim bin ich aus Regisseur Wedel*: „Sicher haben Sie gelesen, dass ich ein Feuer speiendes Monster bin“ 142 d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 * Mit Julia Stemberger bei den Dreharbeiten für „Der König von St. Pauli“. Werbeseite Werbeseite Medien 144 d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 CORONA Politikern, Steuerfahndern, Unternehmern, Anwälten. „Versuchen Sie nie, mit gewagten Firmenkonstruktionen Ihr Geld ins Ausland zu bringen“, hat ihm ein bekannter Steueranwalt geraten, „der Steuerfahnder darf am Freitagnachmittag, kurz vor Dienstschluss, keinen Gedanken mehr auf Sie verschwenden.“ Sonst erwacht der Jagdinstinkt. Selbst Helmut Kohl hat er auf die „beispiellose“ Machtfülle der Steuerfahnder angesprochen. Da könne er nichts machen, habe ihm der damalige Regierungschef geantwortet. Er sei schließlich nur Kanzler. Manchmal hat er Mitleid mit den Politikern, die „im Ansehen nur kurz vor den Kinderschändern rangieren“. Sein Hauptinformant für den „Schattenmann“, der bei der Frankfurter Kripo gegen das organisierte Verbrechen ermittelte, ist inzwischen Landrat in Hessen. Der habe auf einmal gemerkt, wie schwer es sei, auch nur den Anschein von Korruption zu vermeiden. Er, der früher immer der Unbestechliche gewesen sei. Gut, dass er nur Regisseur ist. Mit vielen Millionen kann er seine Visionen verwirklichen. „Keiner quatscht mir rein, wenn ich meine elektrische Eisenbahn aufbaue.“ Und keiner nimmt ihm übel, wenn Mercedes ihm während der Dreharbeiten einen Wagen kostenlos zur Verfügung stellt. Neulich hat er auf Anraten seines Freundes Mario Adorf bei Armani angerufen und gefragt, ob man vielleicht ins Geschäft kommen könne. Wo doch allgemein bekannt ist, dass er nur Armani-Anzüge trägt. Leider ist er mit seinem Vorschlag ins Leere gelaufen. Kein Interesse. Wäre auch zu schön gewesen. Aber auch er hat seinen Ärger. Das ZDF will ihn auf 90 Minuten pro Folge festnageln. Will, dass er lieber eine Folge mehr dreht, als das Sendeschema zu sprengen. Sendeschema. Er muss das Wort nur hören, um schon die Wut zu bekommen. „Ich mache doch keine Würstchen“, hat er den Leuten vom ZDF gesagt. Ein Gärtner, der einen Baum pflanzt, weiß doch auch nicht, wie groß der wird. Er hat getobt wie sonst nur bei seinen Dreharbeiten. Wedel denkt nach. „Na ja“, sagt er dann, „es kann natürlich auch sein, dass ich mich irre.“ D. SCHMIDT / BILDERBERG dem Schatten der Semmelings herausge- Machtfülle, diese Steuerfahnder. „Manchtreten“, sagt er, „jetzt bin ich so weit, sie mal eine Schnüffelinquisitionsbehörde, fast wieder auftreten zu lassen.“ Mit Fritz Lich- so wie die Stasi. Ein Großteil ihrer Hintenhahn und Antje Hagen hat er die Schau- weise stammt von Denunzianten.“ spieler von damals engagiert. Die Steuerfahnder können einen fertig Sie werden das alternde Ehepaar spie- machen. Da ist er sich sicher. Einmal hätlen, das von einem Onkel, der während ten sie beinahe gegen den eigenen Finanzder Steuerprüfung vor Aufregung gestor- minister ermittelt. Nur wegen eines Kontos ben ist, ein Haus geerbt hat. Bald darauf in Luxemburg. Doch dann sei ihnen noch haben die Semmelings selbst Ärger mit den in letzter Minute aufgegangen, dass der Finanzbehörden. Systematisch werden sie Minister seine Einkünfte ordnungsgemäß in den Ruin getrieben. Die Steuerfahnder versteuert habe. kompensieren mit dieser Aktion ihren Frust, weil sie im Falle einer dubiosen Firmenfusion nicht tätig werden dürfen. Es gibt kein politisches Interesse daran. Sohn Sigi, den es als Referent ins Vorzimmer des Hamburger Bürgermeisters verschlagen hat, hilft den Eltern – muss dafür aber den Beistand eines reichen Unternehmers in Anspruch nehmen. Das wird ihm und der ganzen Regierung später zum Verhängnis, als er es schließlich bis zum Wirtschaftssenator gebracht hat. „Haben Sie die Western über Doc Holliday und Wyatt Earp gesehen?“ Die Mario Adorf und Stefan Kurt in „Der Schattenmann“ blonde Jungschauspielerin sieht betreten auf den blauen Teppichboden. Muss man gesehen haben. Western sind wie Shakespeares Königsdramen. Doch inzwischen spielen sich die Western nicht mehr in Dodge City, sondern in den Vorstandsetagen der Großkonzerne ab. Wenn in Bayern die Banken fusionieren, dann hat das Shakespeare-Qualität. Oder wenn der Münchner Filmhändler Leo Kirch steuersparende Milliarden-Deals mit dem Schweizer MetroGründer Otto Beisheim abschließt. Das ist der Stoff, Heinz Hoenig und Julia Stemberger in „Der König von St. Pauli“ aus dem seine Geschichten Wedel-Filme: „Keiner quatscht mir rein“ sind. „Manchmal ist es besser, gar nichts zu leOder der Fall in einer Großstadt, wo die sen als immer nur den Kultur-Teil der Zei- Steuerfahndung einen Unternehmer auf tung“, ermahnt Wedel seine Kandidatin- Grund eines falschen Verdachts fast in den nen. Wirtschaft ist spannender. „Viel span- Ruin getrieben habe. Alle hätten sich nach nender als das Feuilleton.“ Da lernt man einer unberechtigten Durchsuchung von mehr über die Menschen. Die Geschichte ihm abgewandt: die Bank, die Kunden, die mit Walther Leisler Kieps Steuer-Million. Lieferanten. Und? Hat man sich entschul„Haben Sie das gelesen?“ Verlegenes Kopf- digt? „Man hat nur gedroht, die Ermittschütteln. lungen auszuweiten, sollte sich der UnterNa ja, dann erzählt er den Mädchen lie- nehmer an die Öffentlichkeit wenden.“ ber etwas von der Steuerfahndung. Als er Sein Film wird diese Fälle schildern. in Frankfurt für den „Schattenmann“ reMonatelang hat er recherchiert. Er hat cherchiert hat, ist er auf das Thema ge- bei Ministerpräsidenten gesessen, oft über stoßen. Die Kripo-Leute haben ihn darauf Stunden. Allein drei Stunden hat er mit aufmerksam gemacht. Unvorstellbare Doris Schröder-Köpf geredet, er war bei Konstantin von Hammerstein Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite FOTEX Medien ACTION PRESS Mertes Medientrainerin Amado, Kursteilnehmer: „Immer die Hand aus der Tasche nehmen“ KARRIEREN Kleine Tricks und Strategien Unternehmer, Manager und Lokalpolitiker lassen sich in Schnellkursen für Medienauftritte schulen – eine Goldgrube für ausgediente und aktive TV-Moderatoren. P rovokant solle er sein, hat Marijke Amado gesagt. Also faltet Christian Turck, promovierter Philologe aus Bonn, folgsam seinen schlaksigen Körper in ein rotes Plüschsofa, setzt eine ernste Miene auf und guckt entschlossen in die Kamera. Nach Entrichtung einer Kursgebühr von 2500 Mark durfte der 31-Jährige fünf Tage lang lernen, wie man flüssig Statements abgibt und telegen schaut – eine Investition für den Einstieg als Werbemanager bei einer Düsseldorfer Agentur, für die er multimediale Produkte vermarkten will. Den Abschluss bildet ein Tag im Fernsehstudio mit gestellter Talkshow und echter Fernsehprominenz. Die hat so kostbare Karrieretipps auf Lager wie: „Immer die Hand aus der Tasche nehmen, das wirkt besser!“ Was beim Zuschauer gut ankommt, scheinen ausgerechnet die zu wissen, die ihre besten Zeiten vor der Kamera längst hinter sich oder nie erlebt haben. Eine wachsende Schar mehr oder minder begabter Moderatoren arbeitet als „Medientrainer“, „Persönlichkeitsberater“ oder „TV-Coach“ für jene Klientel, der sie einst journalistisch zu Leibe rückte. Wenn überhaupt: Amado, 45, reichte die Qualifikation als Einheizerin der Kinder148 Travestie „Mini Playback Show“, um vor zwei Jahren gemeinsam mit der Lokalpolitikerin und Fernsehredakteurin Marlis Robels-Fröhlich in Köln-Hürth eine Moderationsschule zu gründen. „Step To Future“, so der Firmenname, beschäftigt immerhin renommierte Trainer wie den ehemaligen „Zak“-Interviewer Wolfgang Korruhn. Der überfällt anreisende Seminarteilnehmer schon beim Aussteigen aus dem Taxi mit einem Kamerateam und der Frage: „Was hat zu Ihrem Misserfolg geführt?“ Chefin Amado, laut Lebenslauf früher Reiseleiterin bei Neckermann, berät vorwiegend in Stil-Fragen und begleitete eine ostdeutsche Elevin jüngst sogar zum Friseur. Ihr unternehmerisches Geschick beweist die Niederländerin nicht nur mit der Vermarktung eines esoterischen Brettspiels für das Jahr 2000. Mitte Oktober verlangte sie 18 000 Mark pro Kopf und Woche als Gastgeberin eines Seminars am Comer See, das ein europäischer Elektrokonzern dort für sieben seiner Mitarbeiter spendierte. Die Geschäfte der selbst ernannten Experten gehen gut. Schon ein bescheidenes Zwischenspiel beim Fernsehen reicht, um möglichen Medienopfern beizusted e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 FOTEX CH. KURZ Bethge Nowottny hen. Christoph Teuner, 36, kurzfristig bekannt aus dem Info-Magazin „Newsmaker“ (Sat 1), brachte Beamten des Umweltministeriums von Nordrhein-Westfalen „kleine Atemtricks und Nervositätsvermeidungsstrategien“ bei. Teuner: „Da mussten Fortbildungsgelder verbraten werden.“ Seine Künste, mit 10 000 Mark honoriert, waren auch Teil eines Gesamtpakets, das der Siemens AG zusammen mit neuen Bildtelefonen von PictureTel verkauft wurde. Die Reihe lässt sich fortsetzen: Eva Massmann, 39, deren Fernsehlaufbahn sich auf „Kinderkram“ (Vox) und „Gut schmeckt’s“ (RTL) stützt, lehrt heute für 1500 Mark pro Tag telegene Rede. Ebenso ihre Kollegin Manina Ferreira-Erlenbach, 34, zuletzt in einem Casting für eine Nachfolge-Talkshow von „Bärbel Schäfer“. Sie coacht demnächst die Direktoren der Berliner Landesfeuerwehr. Werner Schulze-Erdel, bekannt als Präsentator des langjährigen Hausfrauen-Hits „Familienduell“ bei RTL, durfte zuletzt die Chefredakteure eines Großverlags an den Umgang mit der Studiokamera gewöhnen – mit anfänglichen Autoritätsproblemen: „Aber spätestens wenn der erste in meinem Kurs drangenommen wird, legt sich das Vorurteil, ich sei nur ein Unterhaltungsfuzzi.“ So viel unerschütterliches Selbstvertrauen ärgert die Konkurrenz. „Eine schnelle, kurze Popularität reicht nicht aus, um solche Seminare zu machen“, behauptet Claus Hinrich Casdorff, 74, der auf „über 1000 Live-Sendungen“ („Monitor“, „Ich stelle mich“) verweist. Als er 1988, noch zu WDR-Zeiten, mit dem Teletraining begann, habe er sich „im eigenen La- Werbeseite Werbeseite Medien den nicht nur Freunde gemacht“. „Es hieß: ‚Du machst den Gegner stark.‘ “ Heute gehört der Kölner mit zwei Kursen pro Monat zu den meistbeschäftigten ARD-Pensionären und erfreut sich prominenter Kundschaft: Zuletzt machte er Beate Uhse für den Börsengang fit. Für Carmen Thomas, bis 1994 Galionsfigur von „Hallo Ü-Wagen“ beim WDR, begann die Medientrainer-Karriere als Medienopfer. Die für ihren legendären Versprecher („Schalke 05“) verspottete Ex„Sportstudio“-Moderatorin geriet auf die falsche Seite und fand es „schrecklich, in- TV-Trainer Korruhn: Überfall-Taktik vor der terviewt zu werden“. Die Konsequenz: Sie bildete sich zur Kommunikationsfachfrau weiter und entdeckte das Coaching. Jetzt plant die 53-jährige Buchautorin („Ein ganz besonderer Saft – Urin“) eine eigene Moderationsakademie. Gescheiterte Sat-1-Größen wie Armin Halle, 62, oder Heinz Klaus Mertes, 57, fühlen sich ebenfalls zum Medientrainer berufen. Halle durfte bereits einen früheren Ministerpräsidenten von der Strumpffarbe bis zur Rhetorik beraten. Mertes, bis 1995 Sat-1-Programmdirektor, widmet sich in „Medienklausuren“ oder an einem „intensiven Nachmittag“ Wirtschaftsleuten aus der Energiebranche oder der Life-Science-Industrie. Sein Ziel: „Unternehmensziele mit Kommunikationszielen in Zusammenhang bringen, wenn sich neue Unternehmensidentitäten erstellen“. „Mit dem Sprachschatz von vor 20 Jahren“ agierten die einstigen Bildschirmfüller, kritisiert Medientrainer Wolf-Henning Kriebel, 56, von „Image Consult“ in Düsseldorf. Seiner Meinung nach eignen sich gerade Fernsehleute am wenigsten dazu, Menschen ihr Medium zu erklären: „Moderatoren verbringen das Leben auf der anderen Seite der Kamera als die Manager. Zwischen den eineinhalb Metern liegen Welten.“ d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 CH. KURZ TV-Moderatoren als Trainer beanspruchten zu viel Platz für sich, „manche sind aufgeblasen und neurotisch“, meint Sabina Bolender-Wachtel, deren Agentur „Expert“ sprechwissenschaftlich ausgebildete Lehrer vermittelt. Auch fachlich hinken die vermeintlichen Praktiker nach Meinung der Fachfrau hinterher: „Denen gehen häufig Methodik und Didaktik ab.“ Die Kritisierten setzen auf andere Qualitäten. Vier Führungskräfte der Bundesbahn erlernten bei NDR-Plauderer Reinhard Münchenhagen, 58 („DAS!“), im Drei-Tage-Kurs mit Rollenspiel verbale Ausweichmanöver als Rüstzeug für die Live-Schaltung oder den Talkshow-Auftritt bei „Sabine Christiansen“ – für den gestandenen Journalisten kein Widerspruch. „Letztendlich profitieren beide Seiten davon, wenn Leute nicht in gestanzten Blocksätzen reden und Wortnebel verbreiten“, argumentiert der ehemalige Moderator der Talkrunde „Je später der Abend“. Ideologische Probleme hatten selbst die Großen seiner Zunft nicht. Friedrich Nowottny führte vor über 20 Jahren nicht nur die Vogelfutterfirma Vitakraft an die Tücken des TV-Geschäfts heran, sondern nahm sich auch den gesamten Kamera Vorstand der Deutschen Bank zur Brust. „Alfred Herrhausen war ein Talent vor der Kamera“, schwärmt der ehemalige WDR-Intendant. Auch Hanns Joachim Friedrichs stellte sich jahrelang über die Unternehmensberatung Kienbaum der Industrie zur Verfügung. Von 1991 bis 1996 trat Ulrich Wickert in dessen Fußstapfen, bis die Kritik an seiner Werbetätigkeit für die Versicherung Deutscher Herold auch unter diesen Nebenverdienst einen Schlussstrich zog. 5500 Mark mussten Seminarteilnehmer laut Kienbaum für die Anwesenheit des vorwiegend Anekdoten darbietenden „Tagesthemen“-Moderators berappen. Von solchen Preisen träumt Désirée Bethge, 49, bislang noch. Die kühle ExFrontfrau von „Zak“, „Stern TV“ und „Focus TV“, die im Herbst vergangenen Jahres vom Bildschirm verschwand, investierte 100 000 Mark Startkapital für Beta-Kamera, Büro, edlen Designer-Prospekt und 500 Anschreiben, „immer an den Vorstand“. Zehn Prozent der Unternehmen von Audi bis Bertelsmann reagierten und werden wochenendweise in Tagungshotels trainiert. Jetzt hat die ehemalige TV-Moderatorin nur noch ein Ziel: „reich werden“. Anke Richter d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite FOTOS: P. M. SCHÄFER Medien Schäfer-Bilder aus Bosnien (1992)*: „Vielleicht ist Zivilisation nur eine dünne Lackschicht über latenter Zerstörungsbereitschaft“ Angriffswut und Mordlust Ein Student der Fotografie reiste auf den Balkan, um den Alltag des Krieges zu dokumentieren. Das Ergebnis: ein monumentales Archiv des Schreckens. D er Mitarbeiter der internationalen Bilderagentur Corbis kündigte höflich seinen Besuch an. „Ich habe von Ihnen gehört“, sagte er, „vielleicht kommen wir ins Geschäft.“ Der Essener Fotograf und Kommunikationsdesigner Peter Maria Schäfer, 38, empfing den Agenten in einem Hinterhof, wo er sein Institut für Kultur und Medien hat. Hier befinden sich auf zwei Etagen Fotostudio, Labor und ein Computer- sowie ein Archivraum. Der Corbis-Mann zeigte sich beeindruckt von dem, was Schäfer ihm präsentierte, machte deutlich, dass Corbis zum Imperium des Bill Gates gehöre, und fragte schließlich, ob Schäfer verkaufen wolle. „Ich glaube, die Gates-Leute gehen auf Reisen und kaufen sämtliche Archive, die sie kriegen können“, sagt Schäfer. Er entschied sich, vorläufig nichts wegzugeben, „denn mein Herz hängt doch sehr an diesem Projekt“. Das begehrte Projekt, an dem Schäfer hängt, besteht aus einer eindrucksvollen Fotodatenbank: 5000 Bilder dokumentie* Kroatischer Soldat in Grude; Brotausgabe in einem zentralbosnischen Flüchtlingslager; bosnischer Soldat mit Sohn in Mostar. 154 ren den Schrecken des Balkan-Krieges seit 1991. Es sind aufrüttelnde, eindringliche und auch ganz stille Bilder, sie erzählen von Demütigung, Vernichtung und Hoffnungslosigkeit, von Hunger, Not und verzweifelten Überlebensversuchen, aber auch von Momenten der Würde und des Stolzes – ein ungewöhnliches Kompendium, traurig, bewegend, ganz ohne Pathos. Die Hälfte der Aufnahmen ist bereits in eine CD-Rom-Fotodatenbank aufgenommen, dazu kommen Filmdokumente, Interviews, Texte über einzelne Menschen, deren Schicksale Schäfer über einen längeren Zeitraum verfolgte. Eine Auswahl der Bilder ist übers Internet abrufbar (www.ifkm.de), die vollständige Sammlung übergäbe Schäfer gern einem Museum, „nicht um zu schockieren und anzuklagen, eher um aufzuklären und zu informieren“ – ein Multimediaprojekt, zur Ansicht für Schulklassen etwa und andere Interessentengruppen. „In den letzten Jahren ist dieser Krieg zu meinem Lebensthema geworden“, sagt Schäfer. Er geriet Anfang der neunziger Jahre in den Balkan-Krieg, zusammen mit W. BELLWINKEL FOTOGRAFEN Fotograf Schäfer „Sehr viel Schwein gehabt“ d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 seinem Kollegen Wolfgang Bellwinkel. Beide waren damals noch Studenten der Fotografie, und ihr Anliegen war, andere Aufnahmen des Krieges zu machen als die professionellen Berichterstatter. „Wir wollten den Alltag des Krieges dokumentieren und hatten dabei keinerlei kommerzielles Interesse“, sagt Schäfer. Die beiden Studenten besorgten sich schusssichere Westen und einen alten Jeep, in den sie sich eine Panzerglasscheibe einsetzen ließen. Dann fuhren sie los. Sie landeten zusammen mit Journalisten aus aller Welt auch vor Mostar, als die Stadt gerade eingekesselt war – die angespannte, ja explosive Stimmung machte die Situation für unerfahrene Fotografen gefährlich. „Wir haben uns vollkommen naiv in diese Situation begeben und sehr viel Schwein gehabt“, sagt Schäfer leise, noch im Nachhinein sichtlich erschrocken. Bellwinkel und er kamen unverletzt von ihren ersten Reisen zurück, und von da an fuhr Schäfer immer wieder ins Kriegsgebiet. Er fotografierte Soldaten an der Front und Heckenschützen in beiden Lagern, serbische Gefangene im Knast von Sarajevo, Frauen, die mit starrem Blick unter dem Weihnachtsbaum sitzen, Kinder, die, von Granatsplittern getroffen, mit zerfetzten Leibern im Krankenhaus liegen, zerstörte Häuser und Moscheen. „Mich interessiert, was während eines Krieges auf den verschiedenen Ebenen passiert“, sagt Schäfer. Folgerichtig fuhr er auch nach Genf, machte Bilder der Jugoslawien-Verhandlungen und fotografierte den damaligen Uno-Generalsekretär Butros Butros Ghali in Bonn. Was, so fragte Schäfer sich und andere, treibt Männer, die vor nicht langer Zeit friedlich und zivilisiert lebten, ein Dorf zu stürmen, die Männer dort zu erschlagen, die Frauen zu vergewaltigen, die Häuser zu plündern und schließlich abzubrennen? Woher kommt diese immense Angriffswut, die rasende Tötungsbereitschaft? Häufigste Antworten: Achselzucken, verdrossenes Schweigen, hämisches Grinsen. Ein deutscher Söldner, der für 350 Mark im Monat mordete, erklärte, dass ihm die Kinder des Krieges Leid täten – geschossen hat er dennoch unterschiedslos auf alles, was sich bewegte, Frauen und Kinder waren auch dabei. „Ich hatte den Befehl, zu vergewaltigen und zu töten, wie die anderen auch. Wenn ich es nicht getan hätte, wäre ich selbst dran gewesen“, erklärte ein junger Serbe. „Mein Vorgesetzter hätte mich kaltgemacht.“ Morden und Vernichten auf Befehl, morden schließlich im Kollektiv, weil es alle machen, weil man sich daran gewöhnt hat, weil es schließlich sogar Spaß macht? Schäfers Menschenbild änderte sich dramatisch. „Vielleicht laufen wir in Wirklichkeit alle als Tiere durch die Welt, und die Zivilisation ist nichts weiter als eine dünne Lackschicht über latenter Zerstörungsbereitschaft.“ Rund 30-mal war Schäfer im Krieg. Später verkaufte er etliche seiner Bilder und machte auch Filmbeiträge, unter anderem für das Fernsehmagazin „Zak“. Mit Hilfe und Geldern verschiedener Einrichtungen organisierte er eine Ausstellung von 40 Fotos, die sehr erfolgreich in Sarajevo, Tuzla und Oberhausen gezeigt wurde. Dann, nach sechs Jahren, war plötzlich Schluss, Schäfer brauchte Abstand vom Krieg, Zeit, sich psychisch zu erholen. Es fiel ihm zunächst schwer, an sein früheres Leben anzuknüpfen, dafür hatte er zu viel Grauen erlebt und zu viele Menschen sterben sehen und auch zu oft den eigenen Tod vor Augen gehabt. Schäfer spricht von einem „Bruch in seiner Psyche“, einer Art Traumatisierung. Wer soll das nachvollziehen von denen daheim? Ist es nicht zwecklos, darüber zu reden? Er erzählt trotzdem von seinen Erlebnissen und erfährt mehr Anteilnahme als erwartet. Er beginnt mit der Arbeit an seiner Fotodatenbank, plant weitere Ausstellungen, sucht nach einem kompetenten Friedensmuseum. Irgendwann, da ist er sicher, wird er ins befriedete Sarajevo fahren, um Freunde zu besuchen. Aber bis jetzt ist er noch nicht so weit. Immerhin: Seine Bilder werden inzwischen vom Den Haager Kriegsverbrechertribunal zur Identifizierung von Tätern angefordert. Die Verurteilung von Verbrechern kann, denkt er, zwar nichts ungeschehen machen, mindert aber vielleicht die kollektive moralische Verstörung, die Krieg immer verursacht. Angela Gatterburg d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Gesellschaft Szene MODE Berliner Maschen M. WITT as Rasseln der großmütterlichen Strickmaschine wurde für Frieda von Wild, 37, zu einem traumatischen Erlebnis: „Immer wenn Musik schön wurde oder ein Gespräch spannend, fuhr dieses Ritschratsch mitten hinein.“ Später wurde aus der Hassliebe zur „Knittax“ Freundschaft: „Stoff selbst herzustellen macht besessen“, erzählt die Berliner Modemacherin. Wilds Pullover, Kleider und Hosenanzüge werden in Form gestrickt, und was man tun muss, dass sie ihre Form auch bewahren, lernte sie von der Strick-Designerin Claudia Skoda. „Extrem geeignet für die schnelllebige Großstadt“, lobte eine Stammkundin die (an einer leisen, modernen Strickmaschine angefertigten) Kreationen: „Man muss bloß die Schuhe wechseln und ist nicht mehr bloß gut, sondern elegant gekleidet.“ Seit Friedas Mutter, die Ost-Berliner Fotografin Sibylle Bergemann, die Mode der Tochter fotografiert, hält die Produktion mit der Nachfrage nicht mehr Schritt. Für Sibylle Bergemann völlig logisch: „Was sonst, bitte, soll man denn anziehen?“ Zitti-Hopper Schenkel VERKEHR Chauffeur mit Mokick er die Wahl hat, hat die Qual, besonders wenn es darum geht, ob man nach der Party mit dem eigenen Auto nach Haus fährt – und dabei riskiert, ohne Führerschein aufzuwachen – oder ob man ein Taxi bestellt und dann allerdings ohne sein Auto aufwacht. Das eine ist fatal, das andere lästig. In Hamburg müssen sich Feiernde mit diesem Gewissenskonflikt nicht mehr herumschlagen: Die Zitti-Hoppers bringen Auto und haltlosen Halter heim. Faltbare motorisierte Zweiräder – genannt Mokick –, die sich bequem im Kofferraum verstauen lassen, machen den Service möglich. Am Ende der Dienstfahrt brettert der Hopper auf seinem Spezialgefährt zum nächsten angetrunkenen Kunden. Mit acht Mokicks können die fünf Hamburger Chauffeure den Bedarf noch nicht decken, die nächste Lieferung der italienischen Fahrzeuge wird dringend erwartet. Hopper Randolf Schenkel, 35, setzt auf die Zukunft des Kundendiensts: „Die Leute haben eines begriffen: Es tut dem dicken Kopf gut“, am nächsten Morgen „nicht auch noch sein Auto suchen zu müssen“. A. HAUSCHILD / OSTKREUZ W S. BERGEMANN / OSTKREUZ D Model mit gestricktem Hosenanzug Modeschöpferin Wild H AU P T S TA D T Annäherung im Schummerlicht Z OSTKREUZ u ungewöhnlichen Maßnahmen treibt die Hauptstädter die immer noch zögerliche Verständigung zwischen Ost und West: Am vergangenen Samstag wurden rund 250 Berliner in einen Wilmersdorfer Strahlenschutzbunker geladen, um dort bei klammer Kälte und wässriger Suppe 25 Stunden in dreistöckigen Eisenbetten auszuharren. Ausgedacht haben sich die Aktion die Ausstellungsmacher der Multimediaschau „Story of Berlin“. Der dafür verantwortliche Hans Maierski, 50, hält die „Extremsituation im Bunker absolut ideal für eine Begegnung zwischen Ost und West“. Sollte die kühne Behauptung sich bewahrheiten, haben Ossis und Wessis auch an den kommenden Wochenenden Gelegenheit, im blauen Schummer der Notlampen zueinander zu finden. Organisator Maierski ist guten Mutes: „Das ist die richtige Methode, endlich die Mauer in den Köpfen einzureißen, dabei können lebenslange Beziehungen entstehen.“ Bunkerraum mit Gasmasken 157 Gesellschaft Marathonläufer Fischer in New York: „Bleib locker, Alter, du hast dich doch optimal vorbereitet“ A. HASSENSTEIN / BONGARTS K Ö R P E R K U LT Wer läuft, schwitzt Joschka Fischer hat den New-York-Marathon hinter sich gebracht und in einem Buch beschrieben, wie er sich darauf vorbereitete und wie es sich lebt als schreibender Läufer und laufender Außenminister und dünner Mensch. Von Alexander Osang Z weiundvierzig Kilometer sind zweiundvierzig Kilometer. Auch so eine Wahrheit. Sie segelt sanft wie ein chinesischer Papierdrachen durch die Lobby des UN Plaza Hotels in Manhattan, wo ein paar Sessel und Sofas zwischen moosgrünem Marmor und verwirrenden Spiegelflächen verteilt sind. In einem Sessel sitzt der deutsche Außenminister. Er liegt mehr, als er sitzt. So sehr liegt er, dass er sich jetzt in einem der Deckenspiegel beobachten könnte. Er würde dort einen schlanken, irgendwie biegsamen Mann mit grauen Haaren und großen Ohren sehen, der zu meditieren scheint. Die Frage war, ob der New-York-Marathon für ihn etwas Besonderes sei. Der Mythos, die hohen 158 Häuser, die vielen Zuschauer, er wisse schon. Seine Antwort lautet: „Zweiundvierzig Kilometer sind zweiundvierzig Kilometer.“ Das stimmt natürlich. Es ist wohl nicht spöttisch gemeint, auch nicht bockig oder ärgerlich, nein, Joschka Fischer lächelt. Er lächelt, als stecke in dieser Auskunft alle Weisheit der Erde. Er lächelt gelassen, entrückt irgendwie, aber souverän. Ein Moment lang herrscht Ruhe. Gelegenheit, den Zweiundvierzigkilometersatz nach seinem tieferen Sinn zu durchforsten. Es muss doch einen Sinn geben. Der Mann ist Außenminister, und das hier ist das UN Plaza Hotel im Herzen der Welt. d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 Es ist der Abend vor dem New-YorkMarathon. Der zweite Marathon seiner Karriere. Vor einer Stunde ist er durch den Central Park gelaufen. Eine Art Abschlusstraining. Wie es war? „Ganz locker“, murmelt Fischer, der jetzt beinahe waagerecht liegt, sein Blick ist weit weg. Vielleicht auf der Strecke. „Locker. Keine Anstrengung mehr jetzt. Locker.“ Die letzten Worte sind kaum noch zu verstehen. Man muss befürchten, dass der deutsche Außenminister gleich in seinem flauschigen, grauen Dreiteiler verschwinden wird, so entspannt wirkt er. Der Sprecher des Auswärtigen Amts hatte angekündigt, dass sich sein Chef bereits in der mentalen Vorbereitung AP REUTERS Außenminister Fischer, Albright in Washington: „Die Amis sind keine Läufertypen“ befinde. Womöglich kann man nur noch schwer zu ihm vordringen. Fischer gähnt. Was denkt er gerade? Joschka Fischer hat ein Buch geschrieben, in dem steht, was er bei gewissen Anlässen denkt. Es heißt „Mein langer Lauf zu mir selbst“ (erschienen bei Kiepenheuer & Witsch), und man kann dort nachlesen, was ihm eine Woche vor seinem ersten Marathonlauf in Hamburg durch den Kopf ging. „,Au weia‘, dachte ich mir, ,wenn das bloß gut geht.‘“ Oder: „Auf was hast du dich da nur eingelassen, Fischer?“ Aber auch: „Bleib locker, Alter, du hast dich doch optimal vorbereitet.“ Denkt er das? „Bleib locker, Alter?“ Am anderen Ende der Halle klumpen sich acht gedrungene, kahlköpfige Männer um eine Sitzgruppe. Fischer schenkt seinem Sprecher einen lässigen Buddy-Blick. Lächeln, Schweigen, Wissen. Die beiden sind zusammen durch die Welt gelaufen. Sie sind in Dakar gerannt, in Jerusalem, in Paris, am Polarkreis. In Finnland begleitete sie ein Marathonläufer durch die Tundra. Fischer hat sich einen Pulk von Jüngern herangezogen, der ihn auf seinen Läufen begleitet. Sie folgen ihm, sie umspülen ihn, sie tragen ihn voran. Auf den Fotos in seinem Buch läuft Joschka Fischer meist in der Mitte der Gruppe, kaum sichtbar vor ihr. Aber vor ihr. The Leader of the Pack. „Manche sind richtig süchtig geworden“, sagt er stolz. Beim New-York-Marathon knobelten die Sicherheitsleute darum, wer ihn die ganze Strecke lang begleiten darf. Darf. So sieht er das. „Er ist eben eine starke Persönlichkeit“, sagt sein Sprecher. „Er entwickelt einen Sog.“ Läufer auf der Verrazano-Narrows-Bridge „Wurst und Wein verloren an Attraktivität“ d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 Joschka Fischer wird munterer. Sein Blick klärt sich. Er erzählt, wie er Sicherheitsbeamte in aller Welt abgehängt hat. Sein Sprecher lächelt. „Die haben das alle unterschätzt“, sagt Fischer. „Das war für einige sehr bitter.“ „Aber sie lernen dazu“, sagt sein Sprecher. „Die Franzosen lernen. Sie haben jetzt einen Läufer geschickt.“ „Die Österreicher auch“, sagt Fischer und schaut zu den bulligen Security-Leuten am anderen Ende der Lobby. „Die Amis sind nicht dafür gebaut. Das sind keine Läufertypen. Die können vielleicht ’ne Kneipe leer räumen. Ist ja auch nicht schlecht“, sagt er. Konfuzius ist jetzt John Wayne. „In der Halle ist niemand, der nicht meinetwegen hier ist.“ Der deutsche Außenminister gibt an. Er dreht auf wie ein Junge. Nicht zufällig ist er auf dem Schutzumschlag seines Buches mit kurzen Hosen zu sehen. Er spreizt die Beine und lacht. Er ist stolz, dass er so viel abgenommen hat, so schnell und so lange laufen kann. Er weiß, dass die anderen neidisch sind, die Kollegen, die saufen, während er läuft. Es ist gut, einen gesunden Außenminister zu haben, man kann stolz auf ihn sein. Und er hat eine Position, in der ihn niemand mehr warnt. Seine Leute wagen nicht, ihn zu überholen. So hält er vieles von dem, was ihm so durch den Kopf fährt, für mitteilungswürdig. „Beim Laufen passieren im Kopf bisweilen die erstaunlichsten Dinge“, sagt Joschka Fischer. Fischer als schreibender Läufer ist ein Glücksfall. Er zeigt, wie banal es da oben zugeht. Wie eitel. Und wie unspektakulär. „Wer läuft, schwitzt und wird ergo nass“, schreibt Fischer. Besser kann man es nicht sagen. Sein Buch hätte in einen Glückskeks gepasst. Aber Fischer ist kein Chinese, er ist deutscher Außenminister. Also macht er weiter. Man erinnert sich an die ziegelsteindicken Memoiren von HansDietrich Genscher. „Der Gewichtsverlust hielt weiter an, und ich achtete jeden Morgen sehr akkurat auf die neuesten Ergebnisse des Wiegens“, schreibt er. „Fleisch, Wurst und Wein verloren an Attraktivität“, schreibt er. „Nicht das Körperfett ist unser Problem, sondern vielmehr dessen Überfluss“, schreibt er. „Und meine Laune war, bedingt durch die Anstrengungen und Entsagungen, ebenfalls nicht immer von frühlingsduftender Heiterkeit“, schreibt er. „Ich habe seit längerer Zeit viel zu wenig Schlaf, denn der Tag hat für den deutschen Außenminister einfach nicht genügend Stunden, ich fühle mich heute bereits seit Stunden erschöpft, den Kopf ausgelaugt, körperlich schlapp und wie durch eine Pfütze gezogen, müde und zerschlagen.“ Er will loyal sein, diplomatisch, und er ist so stolz wie ein Kind. So ist ein Buch ent159 A. HASSENSTEIN / BONGARTS Gesellschaft Läufer Fischer, Ehefrau Nicola*: „Der Tag hat nicht genügend Stunden“ standen, das sich liest, als hätten es der Politiker, und er hat kürzlich von einem Nichtraucherprediger Allen Carr, Genscher Berliner Orthopäden erfahren, dass die und Konrad Kujau gemeinsam geschrie- Füße nach einem Marathonlauf eine Numben. Der Inhalt ist schnell erzählt. Erst war mer größer sind. Gehört das nicht alles zusammen? ich dick, dann war ich dünn. Dünn ist besEr isst kein Fleisch mehr. Nur noch Fisch, ser. Wer Marius Müller-Westernhagens Song „Dicke“ kennt, braucht das Buch zweimal in der Woche. „Als wir in Tampere waren, haben mich nicht mehr. „Ich habe es von der ersten bis zur letz- die Finnen nach dem französisch-britischen ten Seite selbst geschrieben“, sagt Fischer Beefkrieg gefragt“, sagt Fischer. „Aber das geht mich nichts mehr an.“ Er lächelt. Aber tapfer. „Ich denke, es wird gut gehen.“ Das wird so sein, aber er weiß, dass es nicht so, als habe er gerade einen Witz nichts bedeutet. Ratgeberbücher gehen gut, erzählt. Die Welt ist eine Laufstrecke geworden. Ratgeberbücher mit Prominenten vorne drauf gehen noch besser. Und Ratgeber- Sie scheint umrundbar. Der Central Park ist bücher mit Prominenten in kurzen Hosen anspruchsvoller, als man denkt, Bonn war nicht schlecht, im Kosovo-Krieg ist er oft gehen am besten. „Ich weiß noch, wie wir nachts von nachts gelaufen, über den Berliner Tiergardeutsch-russischen Konsultationen aus ten kann er nur lachen. Da kriegt er „nicht genug Kilometer unter die Moskau zurückflogen“, sagt der Hufe“, und im Kreis rennen ist Sprecher des Auswärtigen Amts. „Den langweilig. Er muss wohl auf die „Es war halb zwei. Wir waren LafontaineStraße ausweichen. Im Augenalle hundemüde. Aber Joschka Rücktritt blick lebt er ja noch am StadtFischer hat seinen Laptop rausgeholt und an dem Buch ge- habe ich kurz rand, da geht es, aber bald zieht er nach Mitte. „Sie müssen bloß schrieben.“ vor der die Wohnung sicher maMuss ein Buch, das unter solWendemarke noch chen“, sagt Fischer lässig. Auch chen Umständen entsteht, nicht erfahren“ so ein neuer, ungewohnter Satz bedeutend sein? Auf dem Rückauf seinem langen Lauf zu sich flug von Moskau? Sind da nicht auch die fast 40 Kilo, die er verlor, irgend- selbst. Die Wohnung sicher machen. Er wie von außenpolitischer Relevanz? Ges- kostet ihn aus, er probiert ihn wie seine tern war er bei Madeleine Albright in Wa- Anzüge und seine Gesten. Fischer läuft und shington, morgen läuft er Marathon, und läuft zu sich selbst, aber wo ist das? Natürlich gibt er an, aber mitunter sieht danach gibt’s ein Essen mit Richard Holbrooke. Er ist der beliebteste deutsche es auch so aus, als suche er Rat. Manchmal schaut er wie Mütterchen Fischer, manchmal wie ein Feldherr, manch* Am Ziel des Marathonlaufs in New York. 160 d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 mal wirkt seine Lesebrille eitel, manchmal wirkt sie, als schütze er sich damit vor den Intellektuellen. Wenn er seinen Erfolg beschreibt, steht das Wort Erfolg manchmal zwischen Anführungszeichen, manchmal verzichtet er darauf. Oft redet er von sich in der dritten Person, nennt sich Fischer, aber auch Außenminister, wenig später empfiehlt er: „Brustwarzen mit Pflaster abkleben, Achseln, Schritt und Füße mit Vaseline eincremen.“ Fischer pendelt zwischen Nähe und Distanz, zwischen früher und heute, zwischen dem Hammer bei Kilometer 30 und der Krise in Tschetschenien. Er sitzt im UN Plaza, bewacht von acht amerikanischen Sicherheitsleuten, und beschreibt Altersplattfuß und den „starken Flüssigkeitsverlust im Schritt“. Er betrachte Jörg Haider, der auch läuft, nicht als Konkurrenten, sagt Fischer. „Ein Österreicher ist ein Österreicher“, sagt er. Was immer das heißen mag. Das Laufen sei nicht so wichtig, sagt er, und bauscht es drei Minuten später wieder auf. Und manchmal verknüpft er es mit der Politik. „Der Fischer-Plan ist mir an einem Freitag beim Laufen am Rhein eingefallen“, sagt er. „Ich hatte schwere Beine. Als ich zurückkam, habe ich sofort meine Leute zusammengetrommelt.“ „Den Lafontaine-Rücktritt habe ich auch beim Laufen erfahren. Kurz vor der Wendemarke war der Kanzler am Apparat.“ Er erzählt es wie ein Paparazzo, der sich im Spiegel erwischt. Fischer ist von seinem Leben beeindruckt. „Das wirkliche Geheimnis meines Erfolges war das Auswechseln und völlige Neuschreiben meiner persönlichen Programmdiskette“, schreibt Fischer. Am Morgen des 7. November steht der deutsche Außenminister unter 30 000 Läufern am Fuß der Verrazano-NarrowsBridge auf Staten Island. Es ist kalt und windig. Bürgermeister Rudolph Giuliani begrüßt die Läufer zum aufregendsten Marathon der Welt. Sie applaudieren halbherzig, die meisten sind bei sich. Jemand ruft über ihre Köpfe: „Trinken Sie viel. Trinken Sie, sonst trocknen Sie aus.“ Es hätte aus Fischers Buch stammen können. Vielleicht kann man nicht mehr übers Laufen sagen. Am Abend rollt eine Limousine zwischen zwei Autos in die Garage am Hintereingang des Waldorf-Astoria. Von allen Seiten springen Sicherheitsleute heran. Stiernackige Burschen, keine Läufertypen. Sie eskortieren einen schlanken Mann in einem grauen Anzug. Er ist 3:56:13 gelaufen. Gerade hat sein Sprecher mit der Rennleitung telefoniert, jetzt reden sie mit Holbrooke über den Balkan. Er sieht glücklich aus. Es ist ein langer Lauf, und Joschka Fischer liegt noch im Rennen. Darum geht es. Für einen Moment scheint er bei sich selbst zu sein. ™ Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Gesellschaft JUSTIZ Langer Arm des Staates Immer mehr Bundesländer lassen ihre Gefängnisse von Privatfirmen bewachen – ein Verstoß gegen die Verfassung, sagen Juristen. getrennten Anstalten, Volkmar Lischka im Vollzug und Bernd Hahndorf in der Klinik, würden fortan quasi unter einem Dach Kranke und kranke Straftäter therapieren. Sachsen-Anhalt folgt mit der Ausgliederung des Psychoknastes einem „bundesweiten Trend zur Privatisierung hoheitlicher Aufgaben“, moniert Verfassungsrechtler Hans Peter Bull, ehemals Innenminister in Schleswig-Holstein. Es herrsche allenthalben „das Gefühl: Privat geht alles besser und billiger“. Bei der Justiz jedoch, glauben viele Fachjuristen, verstoße die Privatisierung gegen das Grundgesetz. konstruktionen verleihen etwa TÜV-Prüfern oder Schornsteinfegern staatliche Macht, wenn sie die Bürger kontrollieren. Beim Maßregelvollzug hingegen sei dieses Konstrukt „verfassungsrechtlich nicht hinnehmbar“, kritisiert Verfassungsjurist Bernd Volckart, ehemaliger Richter am Oberlandesgericht Celle – auch wenn das Land alleiniger Besitzer der Salus-Gesellschaft sei. Schließlich, mahnt Volckart, sei die Zwangsbehandlung psychisch Kranker ein Eingriff in die Grundrechte, „der zu den einschneidendsten gehört, die in unserer Rechtsordnung vorkommen“. Vollzugschef Lischka, Klinikchef Hahndorf Kranke und Sexualtäter unter einem Dach 164 FOTOS: B. BEHNKE D er Aushang im „NP“-Supermarkt von Uchtspringe verheißt den Bewohnern des kleinen Ortes nördlich von Magdeburg einen etwas seltsamen Start ins Jahr 2000. Mit der Salus Service GmbH dürfen sie im Gesellschaftsraum einer Einrichtung „ins neue Jahr tanzen“, die vor 105 Jahren als „Heilanstalt für Epileptiker und Blöde“ gegründet wurde. Der Eintritt für den Millennium-Ball: „28 Mark, inklusive Büfett“. Das Ausrichten von Silvesterpartys und Hochzeiten ist für die Salus GmbH freilich nur ein Nebenjob. Die landeseigene Gesellschaft betreibt vor allem Fachhospitäler und Heime für psychisch Kranke in Uchtspringe und Bernburg. Das Geschäft läuft gut, die Patientenzahlen steigen. Derzeit betreuen etwa 520 Mitarbeiter rund 800 psychotische Patienten, Suchtkranke oder Epileptiker. Nach Silvester wird die Firma neue Kundschaft hinzubekommen. Denn in Bernburg und Uchtspringe sitzen, bislang streng getrennt von den anderen Patienten, auch Sexualstraftäter. Die Bewachung obliegt dem Land Sachsen-Anhalt – noch. Ab dem 1. Januar, so will es die Landesregierung unter Reinhard Höppner (SPD), soll der so genannte Maßregelvollzug privatisiert werden. Zuständig für die rund 280 Straftäter wird dann die gemeinnützige Salus GmbH sein, das Land fungiert fortan nur noch als Gesellschafter und Aufsichtsbehörde des Unternehmens, das auch die 282 Beschäftigten des Vollzugs übernimmt. Die Uchtspringer Chefs der noch Gefängnis in Uchtspringe (bei Magdeburg): Besser und billiger? Dem Reiz, Bürokratie und Kosten zu sparen, indem staatliche Aufgaben in private Hände gegeben werden, erliegt nicht nur die hochverschuldete Landesregierung in Magdeburg. In Mecklenburg-Vorpommern etwa werden zwei forensische Kliniken (Stralsund und Ueckermünde) von privaten Gesellschaften unterhalten. Selbst in normalen Gefängnissen engagieren die Bundesländer immer mehr Private. So werden in Hamburg und Büren Abschiebeknäste von Spezialfirmen bewacht. Die CDU-FDP-Koalition in Hessen will mit einer privat betriebenen Anstalt gar den „härtesten Strafvollzug in Deutschland“ praktizieren. Unter Juristen stößt der Trend jedoch zunehmend auf Widerstand. Laut Grundgesetz dürfen normalerweise nur „Angehörige des Öffentlichen Dienstes“ hoheitliche Aufgaben vollziehen. Wer Menschen einschließt oder fesselt, muss also Beamter oder staatlich Angestellter sein. Das Sozialministerium in Magdeburg glaubt jedoch, sich mit einem juristischen Kniff aus der Affäre gezogen zu haben. So tritt die Salus GmbH beim Maßregelvollzug offiziell als eine mit Staatsaufgaben „beliehene“ Gesellschaft auf, die als langer Arm des Staates fungiert. Ähnliche Rechtsd e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 Auch die Aufsichtsfunktion des Ministeriums hält Volckart im Fall der Salus GmbH für unzureichend. Denn der Aufsichtsratsvorsitzende der GmbH, Dieter Schimanke, ist zugleich Staatssekretär im Sozialministerium. Er müsse sich also bei Abwesenheit seiner Ministerin – und in der Praxis – selbst beaufsichtigen. Salus-Geschäftsführer Volker Thesing sieht in der Doppelfunktion des Staatssekretärs dagegen die im Landesgesetz erwünschte „enge Anbindung“ seiner Firma an das Ministerium garantiert. Nur damit sei die umstrittene Privatisierung öffentlich zu vertreten gewesen. Der Dreh hat funktioniert. Zwar protestierten Mitarbeiter der Forensik in Uchtspringe und Bernburg zusammen mit PDSPolitikern wiederholt gegen die Pläne der Landesregierung, aus Angst um ihre Arbeitsplätze. Bei der Abstimmung im Landtag Anfang Oktober blieb aber zumindest auf Seiten der Sozialisten vom Protest wenig übrig: Die meisten PDS-Abgeordneten verließen mit Rücksicht auf den Tolerierungspartner Höppner schlicht den Saal. Salus-Chef Thesing hofft, die Debatte sei damit vorerst erledigt – zumindest so lange, „bis uns hier einer über den Zaun hüpft“. Hans-Jörg Vehlewald Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite M. LAVINE / OUTLINE Gesellschaft Autorin Jong: „Sein Image zu verändern ist sehr viel schwieriger, als sich ihm zu fügen“ S TA R S Fatale Berühmtheit Wie künstlerischer Erfolg zum Fluch werden kann. Von Erica Jong Ihr Roman „Angst vorm Fliegen“ (1973, deutsche Ausgabe 1976) machte sie weltbekannt: Erica Jong, 57, lebt in New York und veröffentlichte zuletzt die biografische Studie „Der Teufel in Person. Henry Miller und ich“ (Hoffmann und Campe Verlag). D er Schriftsteller Vladimir Nabokov soll einmal gesagt haben: „Lolita ist berühmt, nicht ich.“ In meinem Fall ist die Heldin, die mich fast völlig in den Schatten gestellt hat, Isadora Wing, die 1973 den „Spontanfick“ definierte. Irgendwann in grauer Vorzeit, ich glaube, es war 1971, habe ich einen halbfertigen Roman mit dem Titel „Der Mann, der Dichter ermordete“ (der Nabokov viel zu viel zu verdanken hatte) aufgegeben und den Roman begonnen, der für mein Mündigwerden steht und der später einmal als „Angst vorm Fliegen“ bekannt werden sollte. Dem Öffnen der einen Tür ging das Zuknallen einer anderen voraus. Ich hatte 168 gerade einen ersten Gedichtband an einen klugen Verlagslektor bei Holt, Rinehart and Winston verkauft, und er hatte darum gebeten, meinen ersten Roman zu sehen, an dem ich gerade arbeitete. Er las ihn schnell, und sein Urteil lautete so: „Das ließe sich veröffentlichen, aber ich werde es nicht veröffentlichen, und eines Tages werden Sie mir dafür danken.“ Stattdessen schlug er vor: „Warum gehen Sie nicht nach Hause und schreiben einen Roman mit der furchtlosen Frauenstimme Ihrer Gedichte?“ Bis dahin hatte ich mich nicht einmal gefragt, warum ich Belletristik mit der Stimme eines männlichen Verrückten schrieb, eines literarischen Wahnsinnigen, der loszieht, um seinen Doppelgänger umzubringen. Aber auf einmal wusste ich die Antwort. Ich hatte Angst, die forsche weibliche Stimme, die ich in meinen Gedichten entdeckt hatte, könnte unannehmbar sein. Ich hatte Angst, sie laut erklingen zu lassen. d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 Gedichte, das war eine Sache; aber ein Roman könnte vielleicht sogar gelesen werden. Ich hatte schreckliche Angst, mich auf diese Weise zu entblößen. Natürlich war genau dies der Grund für den Erfolg des Buches. Es sagte offen heraus, was viele Frauen leise vor sich hin dachten, und das führte dazu, dass es angestrichen wurde und von Hand zu Hand weitergereicht wurde, mehr wie ein Amulett als ein Buch behandelt wurde. Es wurde geliebt, gehasst und von vielen Reaktionären für den Verfall der westlichen Kultur verantwortlich gemacht. Als das Buch anfing, „ziemliches Aufsehen“ zu erregen, wie die Fernsehjournalisten immer zu sagen pflegen („Sie erinnern sich bestimmt an Erica Jong – ihr erster Roman ,Angst vorm Fliegen‘ erregte ziemliches Aufsehen in den Siebzigern“), war mein erster Gedanke, dass ich lieber mit der Arbeit an meinem zweiten Roman beginnen sollte, bevor ich von dem „Aufsehen“ abgelenkt wurde. Aber die sackweise anfallende Post, die Einladungen zu Interviews, die Fotografen, die im Gebüsch lauerten – sie haben es buchstäblich getan –, all das machte es mir unmöglich, irgendetwas anderes zu tun, als mich auf dieses erste Buch zu konzentrieren. Ich hatte diese kuriose, altmodische Vorstellung, ein Debütroman wäre genau das, ein Debüt, nicht eine ganze Karriere. Aber wohin ich auch ging, „Angst vorm Fliegen“ verfolgte mich. Und das tut es heute noch. Das hat eine gewisse Ironie, denn mein Ideal vom Leben einer Schriftstellerin ist das von Colette: alle Lebensabschnitte einer Frau aufzeichnen; Risiken eingehen, unterschiedliche Ausdrucksformen ausprobieren – vom Roman über Bühnenstücke bis hin zum Journalismus – und sich standhaft weigern, sich in einer einzelnen Persona einfangen zu lassen. Ich habe bislang 19 Bücher geschrieben – Gedichte, Sachbücher und Belletristik –, aber wohin ich auch gehe, ich werde unweigerlich als die Autorin von „Angst vorm Fliegen“ vorgestellt. Auch Menschen, die das Buch nicht gelesen haben, wissen davon und identifizieren mich als die Erfinderin (und Verfechterin) eines gewissen „Spontanficks“ – einer Phantasie von hemmungslosem Sex, die Isadora auf den ersten Seiten des Romans beschreibt. Dieser Ausdruck wird auf meinem Grabstein stehen. Sicher, ich bin für die Liebe und die Wertschätzung, die meinem ersten Roman entgegengebracht werden, dankbar. Es berührt mich immer noch, wenn sich Menschen genau daran erinnern können, wo sie waren, als sie ihn gelesen haben, und wenn sie sagen, „er hat mein Leben verändert“, und mich bitten, Neuauflagen für ihre Töchter und sogar ihre Enkeltöchter zu signieren. Aber wir leben im Zeitalter der 30-Sekunden-Soundclips; so wie ihre Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Erkennungsmelodie anfängt, so bleiben sie auch. Ich habe überlegt, meinen Namen zu ändern, Romane unter einem Pseudonym zu veröffentlichen. Ich habe überlegt, den Beruf zu wechseln. Aber die Wahrheit ist: Der Fluch, ich selber zu sein, ist gleichzeitig auch der Segen, ich selber zu sein. Mein Name ist berühmt, und ein berühmter Name ist wertvoll, auch wenn er aus den falschen Gründen berühmt ist. Man hat mir verlockende Geldbeträge dafür angeboten, für Computer, Vaginalsprays, Vitamine und Atemerfrischer zu werben. Ich habe sie, ohne zu zögern, abgelehnt. (Da Schriftsteller die einzigen Menschen auf der Welt sind, deren Hauptaufgabe es ist, die Wahrheit zu sagen, finde ich, dass Schriftsteller niemals für irgendein Produkt werben sollten, außer für ihre eigenen Worte. Schriftstellerei ist eine Berufung und kein Gewerbe, und alles, was daraus ein Geschäft macht, sollte streng gemieden werden.) Sein Image zu verändern ist unendlich viel schwieriger, als sich ihm zu ergeben. Diese Art von Verrücktheit, die mit Bekanntheit dieser Größenordnung einhergeht, ist wie das Einschlagen eines Blitzes. Es ist unwahrscheinlich, dass er zweimal dieselbe Person trifft. Diane von Fürstenberg könnte für das Wickelkleid gleich zweimal berühmt werden, aber die von ihr entworfenen Halstücher und Gepäckstücke haben sich nie so richtig durchgesetzt. Ruhm ist äußerst vorsichtig. Er ist zwanghaft besessen von Wiederholungen. Schauen Sie nur, was passiert, wenn sich Schauspieler weigern, sich auf eine bestimmte Rolle festlegen zu lassen. Oft bekommen sie keine Arbeit. Es ist schwierig für den Bösewicht, ein romantischer Held zu werden. Tom Berenger wird niemals mit Tom Cruise die Plätze tauschen. Goldie Hawn wird man niemals die Rollen anbieten, die Meryl Streep bekommt. Dieser tiefsitzende Konservatismus des zeitgenössischen Ruhms kommt aus unseren visuell orientierten Medien.Wir dürfen TIME LIFE PICTURE Gesellschaft Autoren Jong, Miller (1976) Ruhm öffnet die Tür zur Prominenz unsere Prominenten immer nur für so kurze Zeit sehen, dass allenfalls Karikaturen bei uns hängen bleiben. Alles, was das Bild komplizierter macht, verwirrt uns unweigerlich. Deshalb ist Greta Garbo „I want to be alone“, Marie Antoinette ist „Lasst sie Kuchen essen“. Und ich bin Erica „Spontanfick“ Jong. Sind Menschen, die vor ihrem Bild in der Öffentlichkeit kapitulieren, glücklicher als diejenigen, die dagegen ankämpfen? Tom Wolfe scheint seinen weißen Anzug mit Gelassenheit zu tragen – und vergisst dabei immer zu erwähnen, dass ihn Mark Twain schon vor ihm getragen hat. Sowohl Wolfe als auch Twain waren schlau genug zu wissen, dass Kleider zwar keine Leute machen, aber sie machen es einem leichter, jemanden wiederzuerkennen. Wolfe lässt zu, dass man ihm ein Markenzeichen verpasst. Er scheint sich sogar darüber zu amüsieren. Ich bewundere die Art, wie er sich mit seinem Ruhm abgefunden hat. In einer Kultur, in der jeder danach giert, berühmt zu sein, ist es seltsam, dass berühmte Menschen ihrem Status als Star keine dauerhafte Sicherheit abgewinnen können. Die Menge mag toben, aber die innere Leere kann sie nicht füllen. Jetzt muss ich aber aufhören, aus Angst davor, den schlimmsten Fehler zu begehen, der den Berühmten widerfahren kann – über den Ruhm zu klagen. Lieber missverstanden werden als missachtet werden. Ruhm hat natürlich auch etwas Gutes, nämlich die Türen, die er einem öffnet. Berühmte Menschen haben es leicht, andere berühmte Menschen kennen zu lernen – und wenn sie es tun, stellen sie fest, dass sie zumindest eines gemeinsam haben: dass sie berühmt sind. Diese Kollegialität ist für einen Romanschriftsteller von unschätzbarem Wert. Wenn ich über die Studioaufnahmen eines Rockstars schreiben möchte, dann rufe ich den Rockstar an, der mich am meisten interessiert, und bitte darum, einer Session beiwohnen zu können. Anstatt zurückgewiesen zu werden, werde ich als Mitglied des Berühmtheitsclubs willkommen geheißen. Und auch zu anderen berühmten Schriftstellern habe ich leichteren Zugang. Wenn ich mich mit Gore Vidal über den Krieg in Jugoslawien unterhalten möchte, rufe ich ihn an. Wenn ich die Cinecittà in Rom besuchen möchte, kann ich Roberto Benigni anrufen und weiß, dass sein italienischer Prominentenclub mich willkommen heißen wird, weil meine Bücher in Italien beliebt sind. Ein Ergebnis meiner langen Bekanntschaft mit dem Ruhm ist, dass ich inzwischen diejenigen bewundere, die es vorziehen, anonym zu bleiben. Während meiner Amtszeit als Vorsitzende des Schriftstellerverbands Author’s Guild hat ein sehr berühmter Schriftsteller Millionen gespendet. Für ihn hatte Wohltätigkeit nur dann eine Bedeutung, wenn sie anonym stattfand. Er würde nie wollen, dass sein Name ein Krankenhaus oder eine Schule ziert. Es reichte ihm, dass er und Gott wussten, dass er großzügig war. nennen wir ihn einmal Humbert – hatte mir wiederholt geschrieben und mich gebeten, bei einer Versammlung seines Vereins für „gut ausgestattete“ Männer als Herrin der Messlatte anzutreten. Ich habe ihm nie geantwortet. Aber eines Tages bat mich Regis Philbin in seiner Morgenshow in Los Angeles, von meiner witzigsten Fanpost zu erzählen. Ich erwähnte die wiederholten Einladungen der „Latten-Jury“. Die Leute fanden es amüsant, aber ich vermute, viele dachten, ich hätte das Ganze nur erfunden. Als ich das Studio verließ, stand ich plötzlich Humbert persönlich gegenüber, der in der Nähe meiner Limousine lauerte. Er kam auf mich zugestürzt und dankte mir dafür, dass ich seinen „Verein“ bekannt gemacht hatte. Und dann verfolgte er mich für den Rest des Tages, von einer Veranstaltung zur nächsten – und lungerte in meinem Schatten herum. Er glaubte anscheinend, jede Reklame sei gute Reklame. Ich glaube das nicht mehr. Ich habe gelernt, dass Sex für so viele Menschen ein solch vertracktes und sie verkrampfendes Thema ist, dass jeder, der mit diesem Thema identifiziert wird, damit rechnen muss, ihre seltsamsten Phantasien zu schüren. Ich bin so weit, dass ich mich anderen Dingen zuwenden möchte. Ich gebe meine Fackel gern an Nicole Kidman in ihrem „Blue Room“ weiter (und nun wieder hüllenlos in „Eyes Wide Shut“) oder an Natasha Richardson in „Closer“. Die Leinwand sein, auf die die Phantasien der Welt projiziert werden, ist eine harte Aufgabe. Unschuldige Nacktheit ist den übel riechenden Hirngespinsten dieser Welt nicht gewachsen. Lolita hat dieselbe Lektion gelernt. Vielleicht ist das der Grund, weshalb sie nie erwachsen wurde. G. COHEN / NETWORK / AGENTUR FOCUS Die Selbstachtung, die eine solche Einstellung erkennen lässt, ist bedauerlicherweise rar. In einer beständigen Welt, in der sich die Werte nicht von einem Jahrzehnt zum nächsten drastisch veränderten, wäre es möglich, Einzelne zu finden, die selbstbewusst genug sind, um anonym zu schenken und sich dadurch selber gestärkt zu fühlen. Die Welt des Ruhms, in der wir heute leben, ist eine Welt der Flüchtigkeit, in der sich jeder fragt, wer „in“ ist und wer nicht, und keiner weiß, wann sich die Regeln vielleicht plötzlich ändern werden. Die Jagd hat alle anderen Metaphern für das Leben ersetzt. Erschöpft von dieser Hatz, wenden wir uns nach innen und suchen unsere Seelen. Und wir stellen fest, dass wir sie verschenkt haben, an die flimmernden Bilder auf unseren Erica Jong, Tochter Molly: „Wir suchen unsere Seelen“ Mattscheiben und Leinwänden. Woody Allens Film „Celebrity“ (Ruhm) Anfangs protestierte ich. Dann, als ich handelt von der Verzweiflung, die un- erkannte, dass es sinnlos war, versuchte sere Anbetung des Berühmten erzeugt. ich, selber meine Heldin zu werden. Die Der glücklose, Woody-ähnliche Journalist Maske passte mir nicht. Jeder BildredakKenneth Branagh verbringt den ganzen teur, der vor der Wahl stand, ein Bild zu Film damit, nach verschiedenen Arten nehmen, auf dem ich mir den Reißvervon Ruhm zu streben, und am Ende sei- schluss der Jeans zuzog, oder eines, auf ner Abenteuer findet er sich noch ver- dem ich an meinem Schreibtisch saß und wirrter und verängstigter denn je wie- schrieb, entschied sich für den Reißverder. Er blickt hinauf, als suchte er Gott, schluss. Und das Bild triumphierte über und entdeckt in den Fetzen der Him- die Wahrheit; eine Romanfigur ist lanmelsschrift das Wort „Help“. Das Bild ge nicht so vielschichtig wie ein echter ist so doppeldeutig wie gehaltvoll: Der Mensch. Ich bereute es, an meinem eigeMensch blickt Hilfe suchend zum Him- nen Verrat selber mitgewirkt zu haben. mel und findet Gott, der ebenfalls um Erlebnisse wie dieses machten mich vorHilfe ruft. sichtig. Ich hörte auf, Briefe zu beantworten. Als ich in meinen Zwanzigern die Idee Ich ließ mir eine geheime Telefonnummer zu Isadora Wing hatte, war sie nicht ein geben. Aber wie hartnäckig Menschen sein Ich, sondern ein Gegen-Ich. Sie war eben- können, die darauf hoffen, durch den Konso dreist und unverschämt, wie ich selbst takt zu einem selbst bekannt zu werden, Angst hatte zu sein. Sie tat all die Dinge, lernte ich erst, als ich einem meiner gerisvon denen ich meist nur träumte. Als die- sensten Fans persönlich in die Falle ging – ses Gegen-Ich zum ersten Mal mit mir sel- einem Mann, der behauptete, der Vorber verwechselt wurde, war niemand so standsvorsitzende eines „Vereins“ namens überrascht wie ich selber. „Die Latten-Jury“ zu sein. Dieser Herr – © Erica Mann Jong 1999. Aus dem Amerikanischen von Daniel Bullinger. Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite SPIEGEL-Serie über Wende und Ende des SED-Staates (8) Die Woche vom 12. 11. 1989 bis zum 18. 11. 1989 »Ich liebe doch alle« P. GLASER „Die Mauer hat ein Loch, aber weg muss sie doch!“, ruft das Volk. Unterdessen versucht Hans Modrow, den SED-Staat zu retten – mit einer Koalitionsregierung, die zur Hälfte aus alten Stasi-Mitarbeitern besteht. Erich Mielke am 13. November 1989 vor der Volkskammer in Ost-Berlin d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 177 100 TAGE IM HERBST: »ICH LIEBE DOCH ALLE« CHRONIK »Stasi in die Produktion« Sonntag, 12. November 1989 Wandlitz Gerhard Schürer, 68, ist ratlos. 24 Jahre lang hat der gelernte Maschinenschlosser aus Zwickau als Chefplaner der DDR die Wirtschaft der Republik gesteuert, und selten hat ihn der Glaube an die Überlebensfähigkeit des Sozialismus verlassen. Doch seit zwei Tagen ist dem Vorsitzenden der Staatlichen Plankommission klar, Schürer, werde schon bald der Internationale Währungsfonds bestimmen, „was in der DDR zu geschehen hat“; dann drohe der Zwang zur „Reprivatisierung von Unternehmen“ und der „Verzicht des Staates, in die Wirtschaft einzugreifen“. Schürers Fazit: „Es ist notwendig, alles zu tun, damit dieser Weg vermieden wird.“ Von Moskau ist kaum Hilfe zu erwarten. Der Planungschef und seine Mitautoren, darunter Devisenbeschaffer Alexander Schalck-Golodkowski, schlugen daher vor, wegs verzichten; die bis 1999 zu erwartenden Transit-Einnahmen gedachten sie dem Kreditgeber als Sicherheit anzubieten. Schürer drängte die Politbüro-Genossen noch unmittelbar vor der unfreiwilligen Maueröffnung zur Eile. „Jetzt vielleicht“ könne die DDR „für solche Ideen noch ökonomisches Entgegenkommen der BRD erreichen“. Doch „wenn die Forderungen erst von der Straße oder gar aus Betrieben gestellt werden, wäre uns die Möglichkeit einer Initiative wieder aus der Hand genommen“. Der Mauerfall jedoch hat die letzte Chance zur Sanierung der DDR-Wirtschaft zerschlagen. Schürer muss erkennen, dass sein Plan nur noch Makulatur ist: „Die politischen Ergebnisse haben die Aussagen der ökonomischen Analyse und ihre Schlussfolgerungen in wenigen Tagen überholt.“ P. GLASER Montag, 13. November 1989 West-Berlin DDR-Chefplaner Schürer, Entwurf für Hightech-„Mauer 2000“: Über Nacht Makulatur dass seine Republik unweigerlich am Ende ist. Unter strengster Geheimhaltung hatte Schürer in den letzten Wochen einen Plan entwickelt, der vorsah, die Berliner Mauer gleichsam an Bonn zu verkaufen, für teures Geld; das sollte dazu dienen, die marode DDR-Wirtschaft zu sanieren und die Auslandsverschuldung abzubauen. Nun ist die Mauer, durch Schabowskis Ungeschick, über Nacht gefallen – und die Verhandlungsmasse perdu. Klar wie kaum jemand sieht Schürer die Konsequenzen: Die Maueröffnung, so, wie sie vorgenommen worden ist, ohne jede Gegenleistung, hat es der DDR unmöglich gemacht, als Staat weiter zu existieren. Ende Oktober hatte der Planungschef das Politbüro in einer 24-seitigen Vorlage auf die „unmittelbar bevorstehende Zahlungsunfähigkeit“ der DDR hingewiesen – und ein abscheuliches Schreckgespenst beschworen: Erzkapitalistische Kontrolleure könnten das Kommando über die kommunistische Wirtschaft übernehmen. Wenn es nicht gelinge, die Pleite abzuwenden, so 178 der Bundesrepublik zu offerieren, „noch in diesem Jahrhundert ... die heute existierende Form der Grenze zwischen beiden deutschen Staaten überflüssig zu machen“. Durch das bisherige Grenzregime, das seit 1949 weit über 900 Todesopfer gefordert hat, ist die DDR seit langem international in Verruf geraten. Daher hatte OstBerlin in aller Stille Pläne für eine Art Hightech-„Mauer 2000“ entwickelt – mit Infrarotmeldern und Schallsensoren statt Minen und Stacheldraht; Blaupausen lagen bereits in der Schublade. Als Gegenleistung für eine Entschärfung der Grenze erhofften sich die Planer Bonner Milliardenkredite. Bei der Bemessung der Höhe müsse die Bundesregierung berücksichtigen, „dass unserem Land in der Zeit der offenen Staatsgrenze laut Einschätzung eines Wirtschaftsinstitutes der BRD ein Schaden von ca. 100 Milliarden Mark entstanden ist“. An einen völligen Verzicht auf die Grenze oder gar an eine Wiedervereinigung haben Schürer und seine Mitautoren freilich nicht gedacht. Auch auf die von Bonn gezahlte Transitpauschale wollten sie keinesd e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 Die Aids-Hilfe rückt zum Sondereinsatz vor West-Berliner Schwulenkneipen aus. Ehrenamtliche verteilen rosa Flugblätter, um die DDR-Bürger in Bleichjeans und Billigturnschuhen über die Gefahren ungeregelten Grenzverkehrs zu informieren: „Ihr werdet hier viel Positives erleben, aber auch vielen Positiven begegnen.“ Überall in West-Berlin – wie auch in Hamburg und Hof, in Kassel und Bayreuth – belegen Trabis Parkplätze und Gehwege, drängen Tagesbesucher in Kaufhäuser und Supermärkte. Für Ostdeutsche gibt’s Freibier; Wurst-Maxe und Kebab-Schnitzler gewähren Nachlass. Und mancher großzügige Geschäftsmann nimmt die AluminiumMark der DDR zum Kurs 1:1 herein. Die alte Hauptstadt hat sich, wenige Tage nach der Maueröffnung, mit atemraubendem Tempo auf die neue Ära eingestellt. Stadtplaner projektieren neue Verkehrswege, BVG-Busse steuern Ziele jenseits der Grenze an. West- und Ost-Uniformierte schirmen Arm in Arm neu geöffnete Grenzübergänge gegen die herandrängenden Massen feierwütiger Menschen ab. Nach 41 Jahren nehmen die Polizeichefs der beiden Stadthälften wieder Kontakt miteinander auf – über zwei schwarze Bakelit-Feldtelefone aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges. Westpräsident Georg Schertz frohlockt, jetzt gebe es „polizeilich wieder ein Berlin, eine gesamte Stadt“. ORBAN / CORBIS SYGMA Montagsdemonstranten in Leipzig „Die Berliner haben’s gut“ Die Wut der Leipziger auf die privilegierten Hauptstädter ist durch die Maueröffnung noch angefacht worden. An einen Baum hat jemand Handgeschriebenes gepinnt: „Die Berliner haben’s gut – die haben erreicht, was sie wollten. Aber unser Leipzig ist immer noch kaputt!“ Die Heldenstadt wird so schnell keine Ruhe geben. A. NOGUES / CORBIS SYGMA Ost-Berlin Mauerabriss für neuen Grenzübergang: „Ihr werdet hier viel Positives erleben“ Hier und da macht sich aber auch schon Unmut breit. Wessis rümpfen die Nase über stinkende Trabis. Viele schimpfen über Besucher aus dem Osten, die sich doppeltes Begrüßungsgeld erschleichen, indem sie – erst der Vater, dann die Mutter – ihre Kinder in den Auszahlungsstellen gleich zweimal präsentieren. Während sich der erste Jubel über die Maueröffnung allmählich legt, bekommt West-Berlins Bürgermeister Walter Momper einen Vorgeschmack von den „sozialen Spannungen“, die über Deutschland heraufziehen werden. Die „gängige“ Reaktion im Westen zum Thema Ost-Hilfe, sagt der Sozialdemokrat, sei die Frage: „Wer gibt mir denn was?“ Leipzig Der schwarze Sarg, den vier Männer über den Leipziger Ring schleppen, trägt die Aufschrift „Machtanspruch der SED“. Trotz bitterer Kälte und beißendem Smog sind eine viertel Million Menschen zur Montagsdemonstration gekommen, um zu zeigen: Sie erwarten von den Regierenden mehr als nur offene Grenzen und öffentliche Selbstkritik. „Deutschland, einig Vaterland“ – die Zeile, derentwegen die DDR-Hymne seit 1974 nicht mehr gesungen werden darf, prangt nun in schwarz-rot-goldenen Lettern auf einem weißen Transparent. Auf einem anderen Tuch ist zu lesen: „Die Mauer hat ein Loch, aber weg muss sie doch!“ d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 Erich Mielke, 81, ist ein kranker Mann. Der Geheimdienstchef leidet – wie in den kommenden Monaten diverse ärztliche Gutachten bestätigen werden – unter „Verwirrtheitszuständen“, „allgemeiner Gefäßverkalkung“ und „seniler Demenz (Altersschwachsinn)“. Dennoch drängt es ihn an diesem Tag, vor der Volkskammer die erste Rede seiner 31-jährigen Parlamentskarriere zu halten. Als er die Abgeordneten „liebe Genossen“ tituliert, protestieren Mitglieder der Blockparteien: „Wir sind keine Genossen.“ Weil die Debatte live übertragen wird, verfolgen Millionen von Fernsehzuschauern, wie der einst gefürchtete Stasi-Chef ein sonderbares Geständnis in die Mikrofone stottert: „Ich liebe, ich liebe doch alle. Ich liebe doch, ich setze mich doch dafür ein...“ Grotesk auch die Abschiedsrede des Parlamentspräsidenten Horst Sindermann, 74, der wochenlang eine Sondersitzung der Volkskammer hinausgezögert hat, um seinen Kopf zu retten. Nun stammelt er, ihm sei zumute, „als rutschten 40 Jahre Sozialismus plötzlich unter unseren Füßen weg“. Peinlich schließlich der Rücktritt von Willi Stoph, 75, der 22 Jahre lang Ministerpräsident war. Jetzt leugnet er jede Mitverantwortung für die ökonomische Misere: „Bekanntlich“ seien seine Kompetenzen „wesentlich eingeschränkt“ gewesen. Erich Honecker und dessen Wirtschaftslenker Günter Mittag, verteidigt sich Stoph, hätten nicht nur Volkskammer und Ministerrat regelmäßig hintergangen, sondern auch alle Parteigremien. Eigenmäch179 tig habe das Duo Investitionen beschlossen, „die wir nachträglich erfahren haben und nachträglich in den Plan hineinbringen mussten“. Im Plenum kommt Unruhe auf. Auf Lug und Trug aufgebaut, so erfahren die Abgeordneten, waren auch die angeblich stets ausgeglichenen Etats: Finanzminister Ernst Höfner bekennt, er habe „nicht deutlich gemacht, dass dieser Ausgleich zum Teil auf der Aufnahme von Krediten beruht“. Die Inlandsverschuldung belaufe sich, erklärt Höfner, mittlerweile auf 130 Milliarden Mark (siehe Analyse Seite 198). Die Höhe der horrenden Auslandsschulden behandelt die Regierung noch immer als Geheimsache. In den Betrieben und Produktionsgenossenschaften der DDR verfolgen ganze Belegschaften die Übertragung der Debatte. Mit jeder Minute wachsen „Bestürzung und Fassungslosigkeit über das Ausmaß der Lügen und des Volksbetruges“, wie die ZKAbteilung „Parteiorgane“ in einem internen Bericht über die „Stimmung in der Bevölkerung“ festhält: „In den Parteikollektiven herrschen maßlose Enttäuschung und Verbitterung.“ Der Zorn überlagert die wichtigste Nachricht des Tages: Gegen Ende der Sitzung beauftragt die Volkskammer, bei einer einzigen Gegenstimme, den Dresdner SED-Bezirkschef Hans Modrow, 61, mit der Bildung einer neuen Regierung (siehe Porträt Seite 194). Der Mann mit dem Reformer-Image und dem guten Draht nach Moskau ist das letzte Aufgebot der Einheitspartei. Doch der promovierte Wirtschaftswissenschaftler und gelernte Maschinenschlosser steht vor einer dreifachen Quadratur des Kreises: Er soll freie Wahlen zulassen – jedoch die in weiten Teilen des Volks verhasste SED an der Macht halten. Er soll die marode Wirtschaft ankurbeln – aber gleichzeitig die Parteiherrschaft über die Produktionsmittel bewahren. JÜRGENS OST + EUROPA PHOTO 100 TAGE IM HERBST: »ICH LIEBE DOCH ALLE« Neuer Regierungschef Modrow Dreifache Quadratur des Kreises Und vor allem: Modrow soll das staatliche Bespitzeln beenden – obwohl sein Kabinett, wie Historiker in den neunziger Jahren herausfinden werden, mit MfS-Agenten durchsetzt und damit in hohem Maße durch die Stasi erpressbar ist. Dienstag, 14. November 1989 Ost-Berlin Nach Mielkes jämmerlichem Auftritt vor der Volkskammer setzt auf den Fluren der Stasi-Zentrale das große Jammern ein. Mitarbeiter der Hauptabteilung IX (Untersuchung) formulieren einen Protestbrief, in dem sie ihrer „Bestürzung, inneren Verzweiflung und Betroffenheit“ über Mielkes Rede Ausdruck geben. Die SED-Grundorganisation der Hauptabteilung III (Funkaufklärung) setzt einen „Offenen Brief“ auf, in dem die Genossen über das „Trauerspiel“ in der Volkskammer Klage führen: „Unserem Ministerium wurde durch den eigenen Minister ein le- bensgefährlicher Stoß, hoffentlich nicht der Todesstoß, versetzt!“ Die Herren der Finsternis, deren mächtigste Waffe die Furcht ist, die sie ihren Untertanen einflößen, sehen sich durch das „makabre Schauspiel“ gleichsam entwaffnet – „der Lächerlichkeit preisgegeben“, wie sich auch die Erfurter Bezirksstelle schriftlich bei Modrow beschwert. Die Geheimen sind schon seit Wochen demoralisiert. In einem Papier („Persönlich!“) vom 13. November über die Bewachung der Bonzensiedlung in Wandlitz und diverser Regierungsgebäude beklagt der Leiter der Stasi-Hauptabteilung Personenschutz, „dass die Einsatzbereitschaft der eingesetzten Sicherungskräfte in psychologischer Hinsicht eingeschränkt ist“: Die Tschekisten zeigten „Anzeichen von Angst“. Zunehmend aggressiv sind die Beschimpfungen, denen sich Stasi-Leute etwa in Leipzig Tag für Tag ausgesetzt sehen: „Parasiten, faules Pack, Volksverräter, ihr seid das Letzte.“ Doch auch in Kleinstädten schallen ihnen, wie die Berliner Auswerter penibel auflisten, Drohungen entgegen: „Stasi in die Produktion“ (Zeulenroda), „Wir verdienen euer Geld“ (Schmalkalden), „Eure Tage sind gezählt“ (Bad Salzungen). Die Desorientierung der Elitetruppe reicht bis in die Parteikontrollkommission hinein, die über die Linientreue im MfS wachen soll. Die Genossen beklagen „einen echten Vertrauensschwund nach hinten und auch nach vorn“. Einer, der auf katholische Pfarrer angesetzt war, verliert die Contenance. Protokollauszug: Wir werden angeschwindelt und schwindeln selber ... Die Regierung und Parteiführung hat über viele Jahre das Volk und uns als Genossen angeschwindelt ... Wir haben die jungen Genossen schizophren erzogen ... Das neue Parlament wird kein MfS mehr haben wollen. Mielke lässt sich zwar wenig später während einer Dienstbesprechung bei seinem Stellvertreter Rudi Mittig für „das Geschehen“ in der Volkskammer entschuldigen. Doch das trägt kaum dazu bei, im MfS Zorn und Zukunftsängste abzubauen. Ein Major notiert, was über das Gespräch nach außen dringt: DER SPIEGEL Minister gesprochen / bedauert / konnte sich nicht mehr steuern / psych. / physisch am Ende. Jagdfreund Mielke (r.)*: Im Waffenschrank 32 Büchsen, Flinten und Maschinenpistolen 180 d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 Zum 18. November soll Mielke in den Altersruhestand versetzt werden. Ein von seinem Vize Schwanitz unterzeichneter „Vermerk“ legt fest, dass Mielke alle „Dienstwaffen sowie Jagdwaffen, die Eigentum des MfS sind“, zurückzugeben hat. Eine Anlage zählt das persönliche Waf* Mit Erich Honecker (2. v. r.). Werbeseite Werbeseite 100 TAGE IM HERBST: »ICH LIEBE DOCH ALLE« Hinter verschlossenen Türen übt die größte Bonner Regierungspartei Kritik an ihrem Kanzler, den die Maueröffnung vor sechs Tagen kalt erwischt hat. Die CDU, warnt Bremens Landesvorsitzender Bernd Neumann im Parteivorstand, dürfe „die historischen Stunden nicht vorbeigehen lassen“. Wirtschaftsexperte Matthias Wissmann rügt: „Wir haben die Situation nicht genügend mit einem politischen Konzept in den Griff bekommen.“ Die Vorstandsherren fürchten, die CDU könnte nach dem Fall der Mauer in den Augen der Wähler als unfähig dastehen – ebenso wie einst, 1961, nach dem Bau der Mauer. Im Bundestag reibt Sozialdemokrat Willy Brandt anderntags Salz in die Wunde: „Es ist unvergessen“, sagt der Ex-Kanzler und ehemalige West-Berliner Bürgermeister, „wie es einen bedeutenden, auf seine Weise großen Bundeskanzler dieser Republik, nämlich Konrad Adenauer, die Mehrheit gekostet hat, dass er nicht zur angemessenen Reaktion auf die Vorgänge in der DDR fand.“ Erkennbar in Richtung Kohl lässt Außenminister Hans-Dietrich Genscher, der heimliche FDP-Vorsitzende, den Satz los: „Die gewaltlose Revolution der Freiheit lässt keinen Raum mehr für Überheblichkeit, für Selbstgerechtigkeit und Trägheit derjenigen, die politische Verantwortung tragen.“ Die geballte Kritik aus Union, Koalition und Opposition trifft auf einen Kanzler, der im Sommer „in nahezu aussichtsloser Position und auf dem persönlichen Tiefpunkt seiner Karriere angelangt“ war, wie der Politikwissenschaftler Karl-Rudolf Korte später die politische Szene beschreiben wird. Attackiert von innerparteilichen Gegnern wie Heiner Geißler, Ernst Albrecht und Lothar Späth, spielte Kohl, so Korte, zeitweise gar „ernsthaft mit dem Gedanken, seine Kanzlerschaft zu beenden“. Weder für Kohl-Freunde noch für KohlFeinde ist absehbar, dass die Wende in der DDR binnen weniger Wochen auch die Karriere des bislang glücklosen Kanzlers wenden wird. D. KONNERTH Mittwoch, 15. November 1989 Bonn treff, Diplomaten-Residenz und AgentenResidentur. Inkognito sind in der Edelherberge schon Berühmtheiten wie der venezolanische TopTerrorist Carlos oder der Kieler CDU-Ministerpräsident Uwe Barschel abgestiegen. Und immer wieder gastieren auch westliche Geschäftsleute in dem 540-Zimmer-Etablissement – nicht zuletzt wegen der Damen am „Sinus“-Tresen im Tiefgeschoss, über deren besondere Qualität ein Barkeeper sagt: „Hier haben die Huren keine Uhren.“ Dafür haben hier die Wände Ohren und die Spiegel Augen. Mit elektronischen Wanzen und versteckten Kameras ist die Stasi-Tapetenkamera AUS DEM BUCH: VEB BORDELL; LINKS VERLAG, BERLIN fenarsenal des Jagdnarren auf: insgesamt 32 Posten, darunter 23 „Repetierbüchsen“ und „Bockbüchsflinten“, „Bockdoppelflinten“ und „Bockdoppelbüchsen“, dazu, für alle Fälle, 7 Pistolen und 2 „Mpi 61“. Behalten darf der Armeegeneral a. D. laut Protokoll lediglich seine „Dienstpistole Sauer und Sohn, Nr. 14382, Kal 635“ und eine letzte „Ehrengabe“ seines Staates – einen „Generalsdolch mit Gravur“. Stasi-Observationsfoto* Hotel-Überwachung in der DDR „Hier haben die Huren keine Uhren“ Ost-Berlin Stasi immer dabei – ob der Ständige Vertreter Bonns in einer Suite im achten Stock Gäste empfängt oder ob libysche Diplomaten in ihrem Zimmer Bombenattentate im Westen planen. In Appartement 8126 gelang Ost-Berlins Dunkelmännern Ende Januar 1989 einer Das Palasthotel gegenüber dem Berliner Dom ist alles andere als ein normales Hotel. Es ist zugleich Bordell und Schieber- * Aus dem Bestand des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes (BStU). 182 d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 ihrer größten Coups. DDR-Außenhändler Siegfried Schürer verständigte sich mit zwei Vertretern des Hanauer TechnologieUnternehmens Leybold heimlich über ein illegales Embargogeschäft: Für drei Millionen Mark offerierten die Westler Konstruktionspläne für den „Plasma-Ätzer MBE 3002/3003“, ein Gerät zur MikrochipFertigung; die Unterlagen hatten sie in ihrer Firma „zur Seite gebracht“ (SchürerNotiz). Der größte aller denkbaren deutschdeutschen Deals steht knapp zehn Monate später im Palasthotel an: Am 15. November ist der CDU-Politiker Walther Leisler Kiep zu Gast – als persönlicher Sendbote von Bundeskanzler Helmut Kohl. Kieps Auftrag: die DDR für westliches Kapital zu öffnen. Diskrete Kontakte mit der SED-Spitze pflegt Kohls Mann fürs Spezielle bereits seit mehr als zehn Jahren. Schon 1975, lange bevor der Pfälzer Kanzler wurde, reiste der CDU-Bundesschatzmeister heimlich nach Ost-Berlin, um im Gespräch mit dem SED-Funktionär Herbert Häber den DDRRegenten die Sorgen vor einer möglichen Abwahl der sozialliberalen Koalition und einem Ende der von Willy Brandt eingeleiteten Ostpolitik zu nehmen. Häber, Leiter der Westabteilung des Zentralkomitees, meldete seinem Generalsekretär Honecker damals, im Vorfeld von Kohls erster Kanzlerkandidatur: „Kiep sagt, die DDR würde angenehm überrascht sein, wie vernünftig eine CDU-Regierung Politik machen würde.“ Wohlwollen lässt Kohl durch seinen bewährten Abgesandten jetzt auch der neuen SED-Führung signalisieren. Bei einem konspirativen Hotel-Treff mit Gunter Rettner, dem Leiter der ZK-Abteilung Internationale Politik und Wirtschaft, soll der Christdemokrat das Terrain ebnen für den am folgenden Montag anstehenden Besuch des Kanzleramtsministers Rudolf Seiters bei DDR-Premier Modrow. Die Begegnung zwischen Kiep, dem smarten Bilderbuchkapitalisten, und Rettner, dem doktrinären Leninisten, verläuft außerordentlich harmonisch. Kiep, so das DDR-Protokoll, schwärmt über die „Revolution von oben und unten“ und rühmt den „radikalen Reformwillen in der politischen Führung“ unter Krenz. An einer Wiedervereinigung, versichert Kiep, sei der Kohl-Regierung nicht gelegen – im Gegenteil. Der Protokollant notiert: Die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten hält Leisler Kiep für unrealistisch; diese würde weder von der Mehrheit der BRD-Bürger und schon gar nicht in der DDR gewünscht. Vier Stunden dauert das Gespräch im Palasthotel. Im vertraulichen Plausch son- Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite B. KOBER / PUNCTUM 100 TAGE IM HERBST: »ICH LIEBE DOCH ALLE« Marode DDR-Industrieanlagen in Espenhain: „Für die Dreher Gage statt Lohn“ K. MEHNER könnten mit den antiquierten dieren Kiep und Rettner diApparaturen noch produzieren. verse neue Formen ökonomiNun soll West-Geld alles scher Kooperation – ein gerawenden. Kiep und Rettner dezu revolutionärer Wandel in sprechen über „Joint Ventuder deutsch-deutschen Zures“, Gemeinschaftsunternehsammenarbeit. men, wie sie in Ungarn und in Denn bisher hat sich Ostder Sowjetunion schon mögBerlin strikt gewehrt, profitlich sind, und über „Wirtgierige Kapitalisten ins Land schaftssonderzonen“. Das sind zu lassen. Die DDR, fürchtet Gebiete mit speziellen Bedie SED, würde anderenfalls günstigungen für „ausländivon der westdeutschen Wirt- SED-Mann Rettner sche“ Firmen. schaft verschlungen – und das Dazu zählen für Rettner, natürlich, auch Ende der Zweistaatlichkeit wäre abzusedie Unternehmen aus dem Westen hen. Nun lockt Kiep mit Vorschlägen, wie das Deutschlands. längst moribunde System zu stabilisieren sei. Helmut Kohl, notiert die DDR-Seite, wolle „den politischen Rahmen für die Un- Donnerstag, 16. November 1989 ternehmen und Institutionen der BRD absichern und ihnen die Sorge für ein politi- Dortmund sches Risiko abnehmen“. Detlev Karsten Rohwedder, 57, der Chef In einem Punkt sind sich Ost- und West- des Stahlkonzerns Hoesch, lässt den BesuVertreter ohnehin einig: Von der Idee, cher aus Dresden anderthalb Stunden lang DDR-Firmen in Formen der „Selbstorga- warten. nisation“ zu überführen, wie es neuerdings Um 16 Uhr ist der ostdeutsche Professor in der Bürgerbewegung gefordert wird, hal- Albert Jugel, 40, mit dem West-Manager ten beide nichts. Die Übergabe an die Be- verabredet. Als Rohwedder ihn schließlich legschaften würde westdeutsche Unter- um 17.30 Uhr empfängt, sagt er gleich, er nehmen abschrecken, jenes Kapital zu in- habe nur zehn Minuten Zeit. Worum es vestieren, das gebraucht wird, um die ver- denn eigentlich gehe? alteten Anlagen zu modernisieren. Unter diesen Umständen brauche er gar Viele Maschinen sind mindestens 40 Jah- nicht erst anzufangen, erwidert Jugel: So re alt und praktisch schrottreif. Neue aber zwischen Tür und Angel lasse sich das Prokönnen sich die Betriebe nicht leisten, weil blem nicht erörtern. Da grinst Rohwedder es an Devisen fehlt. verschmitzt und bittet Jugel zu einem runSeine Dreher müssten eigentlich Gage den Tisch in seinem Büro. statt Lohn bekommen, lästerte schon der Vier Stunden lang reden der Ossi und Meister Hans-Jürgen Mielke vom VEB der Wessi miteinander. Zum ersten Mal Schwermaschinenbau „Georgij Dimitroff“ lässt sich Rohwedder – später Präsident der im „Neuen Deutschland“: Nur „Künstler“ im Februar 1990 gegründeten Treuhandan186 d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 stalt zur Privatisierung der Volkseigenen Betriebe – von einem Insider umfassend über die ökonomische Lage der DDR aufklären. Westdeutsche Unternehmer haben bislang keinen Schimmer, wie desolat die ostdeutsche Wirtschaft wirklich ist. „Sie wissen nicht, worauf sie sich da einlassen“, resümiert der Autor Michael Jürgs, der in seinem Buch „Die Treuhändler“ die Schlüsselszene zwischen Rohwedder und Jugel schildert. Der Professor ist im Auftrag des Dresdner Oberbürgermeisters Wolfgang Berghofer und des Ministerpräsidenten Modrow nach Dortmund gereist. In der Hoesch-Zentrale verspricht der Stahlboss dem Wissenschaftler, beim Aufbau eines Technologieparks in Dresden zu helfen. Nach weiteren Gesprächen in westdeutschen Staatskanzleien fertigt Jugel für Modrow ein Protokoll seiner Westreise: Es wurden erörtert Möglichkeiten der Lohnarbeit von DDR-Betrieben für Hoesch sowie der Kapitalbeteiligung von Hoesch in der DDR. Dr. Rohwedder sagte hier jede erdenkliche Unterstützung zu, falls der demokratische Prozess in der DDR in Richtung einer pluralistischen, demokratischen Gesellschaft läuft ... Hoesch bietet an: Die Produktion von 100 000 t Stahlrohrmaterial pro Jahr in der DDR für Hoesch als Ausgang für die Produktion von Blattfedern und Schraubenfedern für die BRD-Autoindustrie... Eine „Verlagerung in die DDR“, referiert Jugel, sei für die westdeutsche Industrie „einfacher und billiger als Aufbau von Kapazitäten in Portugal“. Ost-Berlin Seit Tagen bereitet sich Generalleutnant Wolfgang Schwanitz, 59, auf ein neues Amt vor: Modrow hat dem Mielke-Stellvertreter – und nicht dem bis dahin favorisierten, fünf Jahre älteren Rudi Mittig – die Aufgabe angetragen, die Staatssicherheit in neuem Gewande zu reorganisieren. Schwanitz, seit 1951 bei der Stasi und selbst mitverantwortlich für die Übergriffe am 40. Jahrestag der DDR, hat die Offerte akzeptiert – obwohl er „die Angehörigen unseres Organs in der schwierigsten Situation“ weiß, „die jemals vor ihnen stand“. Die Strategie der Spitzenkader in SED und Stasi ist klar: Aus taktischen Gründen sind sie bereit, das Etikett des Amtes zu erneuern. Ansonsten soll sich an der Arbeit so viel wie nötig und so wenig wie möglich ändern. Nicht in der Volkskammer, sondern in der Zentralen Auswertungs- und Informationsgruppe des MfS wird ein vermeint- Werbeseite Werbeseite 100 TAGE IM HERBST: »ICH LIEBE DOCH ALLE« T. SANDBERG / OSTKREUZ lich unverfänglicher Name für die Nachfolgebehörde erdacht: „Amt für nationale Sicherheit“, ein Titel, den der Volksmund freilich bald schon zu „Nasi“ verkürzt. Auf Stasi reimt sich auch der erste Geheimbefehl, den Schwanitz entwirft: Die dienstlichen Bestimmungen und Weisungen des bisherigen Ministeriums für Staatssicherheit behalten im Sinne einer Übergangsregelung vorerst ihre Gültigkeit. Von der neuen Regierung glauben die Mielke-Nachfolger Schwanitz Geheimen noch nicht allzu viel befürchten Nasi reimt sich auf Stasi zu müssen. Denn die Hälfte der Minister, die Modrow morgen vorstellen wird, ist in Möbis selbst wird sich zehn Jahre später den Stasi-Akten als IM erfasst. unwissend geben: „Auch heute noch bin Außerdem ist der künftige Regierungs- ich nicht in der Lage, die Triebfedern zu erapparat von einem dichten Netz von klären, die den Wettlauf um personellen „Offizieren im besonderen Einsatz“ (OibE) Einfluss in der Modrow-Regierung ausdurchwoben: Geheimdienstler mit einer gelöst hatten.“ zweiten, zivilen Identität, die dem MfS unterstellt sind (und die, ohne es zu wissen, ihrerseits mit IM-Hilfe überwacht Freitag, 17. November 1989 werden). In der Schaltzentrale der alten wie der Ost-Berlin neuen Regierung sitzt, einer Spinne gleich, Es ist einer jener Tage in diesem Herbst, an der Chef eines geheimen Netzwerkes: denen in Betrieben und Haushalten der Staatssekretär Dr. Harry Möbis, 59, Öko- DDR von morgens bis abends die Rundnom aus Hackpfüffel am Kyffhäuser und funkgeräte laufen. Mit Spannung erwartet Leiter des Sekretariats des Ministerrates. die Republik die Vorstellung der Regierung Der einstige MfS-Mann dirigiert seit 20 Modrow. Jahren eine republikweite „Arbeitsgruppe „Es ist eine Koalitionsregierung, die in Organisation und Inspektion“, die der gemeinsamer Diskussion entstanden ist“, Wirtschaftskontrolle dient; als OibE ist er erklärt der neue Premier vor der Volksder Stasi-Hauptabteilung XVIII (Wirt- kammer. Modrow plädiert für eine Verschaft) unterstellt. Der Dresdner Modrow, tragsgemeinschaft der beiden deutschen Neuling im Berliner Regierungsgeschäft, Staaten und bittet um „einen Vertrauensist angewiesen auf guten Rat vorschuss“ für sein Kabinett – und guten Draht zu Kennern obwohl er, ungerührt von der des Apparates. Da bietet ein Stimmung im Lande, weiterhin Mann wie Möbis sich geradezu für seine SED die „führende an, der sich noch zehn Jahre Rolle“ beansprucht. später wundert: „Modrow Zwar stellt die Einheitspartei selbst kümmerte sich kaum um im neuen, verkleinerten KabiPersonen.“ nett nur noch 16 von 27 MitAls Staatssekretär für die Regliedern (vorher 40 von 44). gierungszentrale ist bereits in Aber alle wichtigen Ressorts der ersten Novemberhälfte der sind unter kommunistischer Kuvielseitige „Genosse Dr. Möbis ratel: die Ministerien für Inneres vorgesehen“ – so ein vertrauli- Stasi-Offizier Möbis und Äußeres, für Verteidigung, ches Stasi-Dossier mit dem sperKultur, Finanzen und Jugend, rigen Titel „Information über Vorstellun- die Plankommission und die Stasi-Nachgen zur Struktur und ersten personellen folgebehörde, deren Chef Schwanitz MinisBesetzungen der durch die Volkskammer terrang bekleidet. der DDR zu berufenden Regierung der Insgesamt elf der neuen KabinettsmitDDR“. glieder entstammen den so genannten Hat die Stasi ihren OibE Möbis genutzt, Blockparteien (vier der LDPD, drei der um das Modrow-Kabinett mit Einfluss- CDU, zwei der NDPD und der Bauernagenten zu durchsetzen? partei). Doch das besagt nicht viel: Sieben „Über Möbis wurde die Kommunikation dieser „Blockflöten“ sind dem SED-Staat zwischen dem Ministerratsvorsitzenden ungleich enger verbunden, als es den Anund den Ministern organisiert“, schreibt schein hat – sie sind oder waren Inoffizielder Historiker Walter Süß in seinem Stan- le Mitarbeiter der Stasi. dardwerk „Staatssicherheit am Ende“. Süß Diese Häufung mache es „sehr unwahrist sicher: Möbis war „auf der richtigen Po- scheinlich“, so Süß, „dass es sich um einen sition, um die Regierungsbildung zu beein- zufälligen Begleitumstand handelte“. Die flussen und Auswahlkriterien der Staats- Berufung bewährter Agenten habe der Stasicherheit einfließen zu lassen“. si ein „Mittel zur Diskreditierung und Er188 d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite AFP / DPA 100 TAGE IM HERBST: »ICH LIEBE DOCH ALLE« Staatsratsvorsitzender Krenz (r.) bei der Vereidigung des Modrow-Kabinetts: „Mittel zur Diskreditierung und Erpressung“ Ost-Berlin Kaum ist Egon Krenz am Abend aus der Volkskammersitzung in sein Büro zurückgekehrt, da ruft, hochgradig erregt, sein Vorgänger Erich Honecker an: „Welches Spiel treibst du eigentlich mit mir?“ Krenz: „Ich verstehe nicht, was du meinst.“ Honecker: „Ihr wollt mich vor Gericht stellen.“ Krenz: „Wer sagt das?“ Honecker: „Markus Wolf.“ Der SED-Chef lässt sich die Agenturmeldungen des Tages reichen. Eine ist tatsächlich überschrieben: „Wolf fordert: Honecker vor Gericht!“ Honeckers Ziehsohn ist empört: „Was ist in Wolf gefahren?“ Er findet, wie er später in seinen Memoiren („Herbst ’89“) schreiben wird, dass „Weggefährten zusammen190 halten sollten“, und beschließt, Wolf zur sprächen geführt, bei denen „Herr Wolf Rede zu stellen. die Schlüsselfigur war“: Der pensionierte Spionagechef, der jetzt als Schriftsteller firmiert, aber weiterhin Herr Wolf kam und ging regelmäßig, Herr mit seinen alten KGB-Kontaktleuten kon- Krenz wurde einmal gerufen, und Herr spiriert, verfügt noch immer über einen Modrow wurde mehrmals gerufen ... Falin Regierungsanschluss. Krenz wählt die Ge- handelte ganz offensichtlich in Gorbaheimnummer 2816 und lässt Wolf wissen, tschows Auftrag, als er darauf hinwirkte, was er einen Tag später auch Honecker dass Krenz aus der Schusslinie ging. Die somitteilen wird: „Man kann altes Unrecht wjetische Führung hatte begriffen, dass die nicht mit neuem beantworten.“ Da geht Trumpfkarte Krenz nicht zieht, dass man Wolf in die Offensive. Er hat die „neu-alte jetzt voll auf die Trumpfkarte Modrow setFührung“ um Krenz bereits öfzen musste und darauf, dass die fentlich als „provisorisch“ bereformierte SED überlebt ... In zeichnet, nun legt er nach: Das jedem Fall hat Herr Falin im StiVerhalten der SED-Spitze sei le der früheren sowjetischen „ein einziges Jammerspiel“, ein Einflusspolitik auf die DDR dort „ständiges Zurückweichen unentscheidende Weichen für den ter Druck“. Überfällig sei eine Abgang von Krenz gestellt und „vollständige Erneuerung“ des für den Versuch, nun mit ZK, der Basis dürften „jetzt Modrow ... so viel von der DDR endgültig keine alten Gesichter zu retten, dass die Sowjets für mehr präsentiert werden“. ihre Deutschlandpolitik die KarIm Laufe des Telefonates wird Kreml-Bote Falin ten in der Hand hatten. Krenz’ „Stimme immer belegter“, wie Wolf registriert: Der Mann, der Eine Woche nach dem abendlichen Tevor kurzem erst Honecker stürzte, beginnt lefonat über Honeckers Zukunft wird es, offenbar zu ahnen, dass seine eigene Amts- am 22. November, zu einem Vieraugengezeit bald abgelaufen sein wird – und dass spräch zwischen Krenz und Wolf kommen, der KGB-Meisterschüler Wolf „mit bei dem der Exekutor dem StaatsratsvorRückendeckung Moskaus“ und im Zusam- sitzenden „die Abschaffung des Staatsrates menspiel mit Modrow einen „,Aufruhr‘ in- und damit auch des Vorsitzenden“ vornerhalb der SED gegen Krenz inszeniert“, schlagen wird. wie Mitstreiter Schabowski später schreiAm 4. Dezember schließlich wird Krenz ben wird. („Ich habe keine Chance mehr“) dem von Krenz, der gegen Honecker putschte, Wolf mitorganisierten Druck weichen und Wolf, der gegen Krenz intrigierte – all die- sein Rücktrittsgesuch einreichen. se Figuren sind, so Schabowski im RückDass der in Stasi-Kreisen noch immer blick, nur „Würstchen in einem größeren populäre Ex-Spionagechef Wolf die ParSpiel“. teireform unterstützt, hat nach Ansicht von Was sich in diesen Tagen hinter den Ku- Zeitgeschichtlern 1989/90 dazu beigetralissen der offiziellen Politik abspielt, sprach gen, die Gefahr eines Geheimdienst-Put1992 ein hoher MfS-Offizier dem Historiker sches zu verringern. Revolutionsforscher und ZDF-Redakteur Ekkehard Kuhn auf haben für Leute wie Wolf einen speziellen Band. Terminus parat: „Swingman“. Der Zeitzeuge, zuständig für die AbsiDeren Funktion definieren sie so: „In cherung der Sowjetbotschaft, berichtet, der demokratischen Umbrüchen, bei denen Gorbatschow-Vertraute Valentin Falin sei viel davon abhängt, dass Militär und PoliMitte November unter konspirativen Um- zei ruhig bleiben, tauchen manchmal hohe ständen nach Ost-Berlin geflogen und habe Offiziere auf, die scheinbar oder tatsächim Botschaftsgebäude eine Serie von Ge- lich, vor allem aber öffentlich sichtbar auf ACTION PRESS pressung“ in die Hand gegeben. Damit habe sie insbesondere solche Minister im Griff gehabt, „die nicht der SED-Parteidisziplin unterworfen waren“. Zu denen zählt Agrarminister Hans Watzek (Bauernpartei), der als IM „Klaus Sommer“ der Bezirksverwaltung Neubrandenburg zuarbeitete, oder Justizminister HansJoachim Heusinger (LDPD), der als „Geheimer Informator“ mit dem Decknamen „Knebel“ wirkte. Als Inoffizielle Mitarbeiter registriert sind auch beide Modrow-Stellvertreter: der CDU-Kirchenpolitiker Lothar de Maiziere (IM „Czerny“) und die SED-Wirtschaftsexpertin Christa Luft (IM „Gisela“). Politische Schwergewichte wie die Minister für Verteidigung und Inneres blicken ebenso auf IM-Karrieren zurück wie diverse Leichtgewichte, die im Kabinett für Umweltschutz, Gesundheitswesen oder Tourismus zuständig sind. Seine Regierung, verkündet die weißhaarige Galionsfigur gleichwohl unverdrossen, werde dafür kämpfen, dass die „eben begonnene demokratische Erneuerung des gesamten öffentlichen Lebens tiefe Wurzeln bekommt und behält“. d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite 100 TAGE IM HERBST: »ICH LIEBE DOCH ALLE« Seiten der Reformer wechseln ... Ihre Bedeutung besteht vor allem darin, dass ihr Auftreten unbelehrbaren Hardlinern ein erhöhtes Risiko für den Versuch eines repressiven Rollback signalisiert.“ Sonnabend, 18. November 1989 Ost-Berlin GAMMA / STUDIO X Wochenlang hat die SED versucht, hochgradig brisantes Material zu unterdrücken: Partei-Promi Schabowski persönlich intervenierte im Oktober bei der evangelischen Kirchenleitung, um eine Pressekonferenz zu verhindern, bei der „Gedächtnisprotokolle“ der Stasi-Übergriffe am 40. DDR-Jahrestag veröffentlicht werden sollen. Nun, am zweiten Sitzungstag der Volkskammer, lässt sich nicht mehr vermeiden, dass die Prügelnacht landesweit zum Thema wird. Denn Generalstaatsanwalt Günter Wendland, 58, Parteisoldat seit 1951, ist vom Parlament beauftragt worden, über die Misshandlungen zu berichten. Zunächst übt der SED-Jurist Selbstkritik: Er habe „nicht rechtzeitig genug erkannt“, dass „politische Konflikte nicht mit dem Strafrecht gelöst werden können“. Dann schildert er die Schikanen, denen in jener Nacht viele der 3456 Festgenommenen ausgesetzt waren. Wendland: Widersacher Kohl, Thatcher (r.) beim EG-Gipfel in Paris: „Seht ihr! Seht ihr!“ Schwanitz gehört schließlich als Nasi-Chef dem neuen Kabinett an. Anderntags formuliert Schwanitz eine „persönliche Erklärung“, die in allen Amtsstuben „am 20. 11. 1989 mit Dienstbeginn zu verlesen“ ist. In dem Appell fordert Mielkes Nachfolger, den Spitzelapparat sorgfältig abzuschotten („Die Sicherheit unserer Patrioten ist ohne Einschränkungen zu wahren“) und dafür zu sorgen, dass „unsere Partei wieder in die Offensive kommt“: „Alle Kommunisten“, so Schwanitz, „müssen im Erneuerungsprozess eine kämpferische Position einnehmen.“ Für den starken Mann im Kabinett Modrow scheint – Koalitionsregierung hin, Koalitionsregierung her – die Nasi nichts anderes als zuvor die Stasi: Schild und Schwert einer, seiner Partei. Im Gewahrsam befindlich, wurden Personen geschlagen, über lange Zeit zum Stehen, zum Teil in körperlich schmerzhaften Stellungen, gezwungen, auch beleidigt und auf andere Weise erniedrigend behandelt. Die Regierung übergeht den Bericht mit Schweigen: Der damalige Einsatzleiter P. GLASER Paris Margaret Thatcher kriegt einen Wutanfall. Beim Bankett im Elysée-Palast sind die EG-Staats- und Regierungschefs beim Dessert angelangt, als eine Bemerkung des Bonner Kanzlers die britische Premierministerin aus der Fassung bringt. Kohl zitiert eine Deklaration aus dem Jahre 1970, mit der sich ein Nato-Gipfel für die Einheit ausgesprochen hat. Thatcher wirft ein: „Aber diese Deklaration datiert aus einer Zeit, als wir glaubten, sie würde niemals stattfinden!“ Kohl: „Aber wir haben die Deklaration damals beschlossen, und sie gilt noch immer. Sie können das deutsche Volk nicht daran hindern, seine Bestimmung zu finden.“ Da zetert die Lady: „Seht ihr! Seht ihr!“ Aversionen hat der französische Präsidentenberater Jacques Attali – der diesen Auftritt in seinen Memoiren schildert – auch bei seinem Chef registriert. Auf dem Pro-DDR-Demonstration in Ost-Berlin „Tiefenreinigung statt Wiedervereinigung“ d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 Weg zu einem Golfspiel vertraute François Mitterrand ihm Anfang Oktober an: „Wer von der Wiedervereinigung Deutschlands spricht, versteht nichts von der Sache. Die Sowjetunion wird sie niemals akzeptieren. Das wäre das Ende des Warschauer Pakts.“ Und weil auch die Amerikaner nach Mitterrands Meinung „niemals zulassen, dass die Bundesrepublik die Nato verlässt“, könne Frankreich ganz „beruhigt sein“. Auch Mitterrands Bonner Freunde, die Sozialdemokraten, lehnen jedes „Wiedervereinigungsgeschrei“ ab. SPDWahlkämpfer Günter Grass findet in einem SPIEGEL-Gespräch (47/1989) eine Erklärung für die Sprachlosigkeit der Genossen: „Ich glaube, dass sich die Sozialdemokraten von ihrer erfolgreichen ,Politik der kleinen Schritte‘ den Blick haben verstellen lassen auf Entwicklungen, die sprunghafter sind und schneller gehen.“ Grass selbst zählt zu jenen, die auf die Fortexistenz eines reformierten Arbeiterund-Bauern-Staates setzen: Er mache sich „Sorgen“, bekennt der Schriftsteller, „ob dieser kleinere deutsche Staat in dem Zustand, in dem er sich befindet, die offene Grenze aushalten wird“. Damit liegt Grass im Mainstream der ost- wie der westdeutschen Linken. In OstBerlin demonstrieren am späten Nachmittag 10 000 ostdeutsche Studenten für „Tiefenreinigung statt Wiedervereinigung“. Jenseits der Mauer, auf dem Ku’damm, warnen Autonome seit Tagen einkaufende Ostler: „Die Freiheit, die Sie meinen, ist die Freiheit der Deutschen Bank.“ „Geht doch rüber“, schallt es den WestLinken aus berufenem Munde entgegen: „Ihr wisst ja gar nicht, wie schön der Kapitalismus ist.“ Jochen Bölsche; Christian Habbe, Georg Mascolo, Norbert F. Pötzl Werbeseite Werbeseite 100 TAGE IM HERBST: »ICH LIEBE DOCH ALLE« PORTRÄT »Der Kram nahm seinen Lauf« Hans Modrow: Der 150-Tage-Premier wurde von dem Einheitswillen der Ostdeutschen überrollt I 194 valen vier Tage nach dem Fall der Mauer die Regierungsgeschäfte überlassen. Dank Modrow nimmt die so genannte Partei der Arbeiterklasse schließlich von ihrem in der Verfassung verankerten absoluten Machtanspruch Abstand. Um den Zerfall seines Landes zu stoppen, stellt der Duzfreund Gorbatschows den Ostdeutschen eine allmähliche Konföderation mit dem Bonner Staat in Aussicht – doch dann kommt der Tag in Dresden. Der überforderte Krisenmanager, der seine politische Sozialisation in russischer Kriegsgefangenschaft erfuhr, beugt sich zähneknirschend dem „Zwang der Verhältnisse“. GAMMA / STUDIO X n den letzten Tagen des Jahres 1989 gibt es bei ihm diesen Augenblick eines jähen Bewusstseinsschubs. „Reales Begreifen“ nennt der zur Bedächtigkeit neigende ehemalige DDR-Premier Hans Modrow im Nachhinein jene Klarheit, mit der er das Ende seiner Träume in einen knappen Satz zusammenfasst: „Du kannst einen Staat nicht gegen den Willen seiner Bürger aufrechterhalten.“ Und er weiß, dass nun auch für ihn der Abschied naht. Erst wenige Wochen steht der Schlosser und promovierte Wirtschaftswissenschaftler im Zentrum der schwindenden Macht – eine Blitzkarriere in den Wirren der Wende, die der einzig verbliebene Hoffnungsträger unter den regierenden Einheitssozialisten von Stund an als Episode betrachtet. Die Erkenntnis, dass sich sein Arbeiterund-Bauern-Staat nicht mehr retten lässt, sondern die Mehrheit der in ihm lebenden Menschen die „großdeutsche Kurve“ zu nehmen beabsichtigt, gewinnt er auf einer Kundgebung in Dresden. Das Fahnenmeer in Schwarzrotgold, von dem sich sein Gesprächspartner – der aus Bonn hierher gekommene Kanzler Helmut Kohl – umspült sieht, raubt ihm alle Illusionen. Was ihm da vorgeführt wird, muss den ehrgeizigen Hans Modrow schmerzen. Die sächsische Metropole ist der Ort seines langjährigen Wirkens, wo er als 1. Bezirkssekretär der SED seit 1973 eine in Maßen eigenständige und nach dem Aufstieg von Michail Gorbatschow an Glasnost und Perestroika orientierte Politik verfolgt hat. Dass die Betonriege in Ost-Berlin seinem Treiben in dieser Zeit misstraut und ihm konsequent den Einzug in den „roten Olymp“ verweigert, bestimmt sein Image im Westen. Fast schon mit leiser Bewunderung wird der 1928 im vorpommerschen Dorf Jasenitz geborene Sohn eines Seefahrers, der in Dresden in einer schlichten Mietwohnung lebt, von den Medien der Bundesrepublik zum bemerkenswerten Erneuerer hoch gelobt. Unter Führung des konzilianten, aber zähen Asketen hält Bonn eine peu à peu sich wandelnde DDR offenbar für möglich, und zunächst scheinen sich solche Erwartungen ja auch zu bestätigen. Egon Krenz, der schlingernde Erbfolger des gestürzten Erich Honecker, muss dem heimlichen Ri- merwahlen am 18. März 199o endet seine gerade mal vier Monate währende Amtszeit, deren Erfolglosigkeit ihn noch heute erkennbar bitter macht. Die Parole vom „einig Vaterland“ – eine aus der Frühphase der DDR stammende Zeile der Hymne des Dichters und Kulturministers Johannes R. Becher – sei ein Fehler gewesen, hadert Modrow in der Retrospektive heftig mit sich selbst. „Das war nicht meine Bitte an Helmut Kohl, uns seinen Bonner Staat überzustülpen“; er habe nur einen längeren Prozess des Zusammenwachsens der beiden Republiken zu initiieren versucht. Der letzte von der SED getragene Ministerpräsident verschätzt sich in den entscheidenden Wochen in vielfacher Hinsicht. Mit den Einheitsbekundungen geht auch sein Renommee dahin. Als der OstBerliner Regierungschef in Bonn um eine Soforthilfe von 15 Milliarden Mark nachsucht, zeigt ihm der Bundeskanzler die kalte Schulter. Der Bittsteller fühlt sich gedemütigt, und je stärker in seinem entfesselten Land die Informationen sprudeln, desto mehr gerät er selbst ins Zwielicht. Der vermeintliche Retter sieht sich als Wahlfälscher angeklagt. Noch immer nicht restlos geklärt ist Regierungschefs Modrow, Kohl in Bonn (1990)*: „Bonner Staat übergestülpt“ Statt weiter auf Autarkie zu beharren, kreiert er nun seltsam feierlich die mit einem Vierstufenplan verbundene Losung „Deutschland, einig Vaterland“. Für Modrow ist das ein erstaunlicher, freilich vergeblicher Schritt, die unvermeidlich gewordene Wiedervereinigung wenigstens halbwegs im Sinne eigener Vorstellungen zu gestalten. Mit Ausnahme seines Einsatzes zu Gunsten der anhaltend umstrittenen Bodenreform, welche die Enteignungen zwischen 1945 und 1949 festschreibt, bleibt ihm nicht viel. Nach den ersten freien Volkskamd e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 die Rolle, die er anlässlich einer von der Stasi niedergeknüppelten Demonstration auf dem Dresdner Hauptbahnhof spielte. Sich als mächtiger Bezirkssekretär an Gewaltakten beteiligt zu haben weist Modrow zurück – und was die Gesamtheit seiner politischen Tätigkeit anbelangt, darf er sich wohl zu Recht auf eine vergleichsweise saubere Vergangenheit berufen. Unter den Großkopferten der SED ist er die am wenigsten problematische Figur. * Links: DDR-Minister Walter Romberg (SPD). Der letzte von der SED getragene Ministerpräsident verschätzt sich in den entscheidenden Wochen in vielfacher Hinsicht. Doch der weißhaarige Mann mit den angenehmen Umgangsformen entpuppt sich zugleich auch als „pommerscher Dickschädel“. Dass er in öffentlichen Bekundungen „Unfähigkeit im Erkennen“ und vor allem gegenüber den Spitzengenossen mangelnden Mut einräumt, ändert nichts an seinen grundsätzlichen Sichtweisen. Seit den Jahren, da Modrow in sowjetischen Umerziehungslagern zum zuverlässigen antifaschistischen Widerstandskämpfer mutierte, gehört sein Herz einer sozialistisch geführten deutschen Nation. Nach dem Desaster der DDR stellt sich allenfalls eine gewisse Ernüchterung ein. Er habe „ein neues Deutschland“ gewollt, aber keineswegs jenen „Kram, der dann seinen Lauf nahm“, schreibt der Ehrenvorsitzende der SED-Erbfolge-Partei PDS in seiner weitschweifigen Biografie. Neben klar formulierten Selbstbezichtigungen schlägt da in vielen Kapiteln der Frust über die von Kohl angeblich betriebene Unterwerfung des Ostens durch. Den abgewählten Bonner Kanzler mag er ebenso wenig wie die von ihm im Westen auf Schritt und Tritt beobachtete „beleidigende Überheblichkeit“. Für den drahtigen Langstreckenläufer Modrow ist das Grund genug, auch noch im 72. Lebensjahr Flagge zu zeigen. Er möchte das ehemalige „Volk der DDR“ vor dem „vollständigen Identitätsverlust“ bewahren. In seiner PDS sieht er sich deshalb als „Scharnier“ zwischen den Generationen – nach Auffassung innerparteilicher Gegner eine ziemlich geschönte Rolle. Der gekränkte DDR-Nostalgiker, heißt es in diesen Kreisen, setze sich in Wahrheit mehr für die notorischen Altkommunisten ein. Dass der „Bundesbürger Modrow“ (wie er sich mit leicht pikiertem Gesichtsausdruck selbst nennt) noch den Sprung in das Europaparlament schaffte, kommt den flotten Youngstern in der Parteizentrale im Berliner Karl-Liebknecht-Haus gelegen: Der Gang nach Straßburg schwäche seinen hinhaltenden Widerstand gegen die notwendige Modernisierung der PDS. Denn immer noch steht er im Verdacht, sich zu lange an untaugliche Strukturen zu klammern – wie seinerzeit, als er zunächst die Stasi-Auflösung vor sich herschob. Hans Modrow kennt diese Kritik und scheint sie nicht rundweg für ungerechtfertigt zu halten. Im Falle des MfS aber, einer bewaffneten Organisation, fühlt er sich leichtfertig attackiert: „Ich hatte Angst vor Kurzschlüssen.“ Hans-Joachim Noack d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite 100 TAGE IM HERBST: »ICH LIEBE DOCH ALLE« ANALYSE »Wir hatten eine blühende Wirtschaft« Selbstbetrug und Konkursverschleppung: Warum die DDR-Ökonomie nach dem Wendeherbst 1989 plötzlich zusammenbrach E ines war den Herrschenden in Bonn und Ost-Berlin in den achtziger Jahren gemeinsam: Auf geradezu groteske Weise verkannten Helmut Kohl und Erich Honecker noch wenige Monate vor dem DDR-Kollaps die Schwächen der ostdeutschen Wirtschaft. „Die DDR ist von uns ökonomisch überschätzt worden“, räumte fünf Jahre nach der Wiedervereinigung der einstige Bundesbank-Präsident Karl-Otto Pöhl ein. Die Schuld für die Fehleinschätzung schoben Bonner Insider bald nach der Wende auf den Bundesnachrichtendienst. Der BND hatte, wie er sich rühmte, einen Spitzeninformanten in der zentralen Staatlichen Plankommission in Ost-Berlin 1989 seinen Antrittsbesuch im Kreml machte, notierte der Protokollführer: Genosse Gorbatschow sagte, er habe einmal versucht, mit Genosse Honecker über die Verschuldung der DDR zu sprechen. Dies sei von ihm schroff zurückgewiesen worden, da es solche Probleme nicht gebe. Weder zunehmende Krisensignale noch düstere Prognosen von Wirtschaftsexperten wie dem Planungschef Gerhard Schürer konnten Erich Honecker von seinem unfinanzierbaren Kurs der „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ abbringen. Um sich beim Volk beliebt zu machen, verteilte er Wohltaten auf Pump – finanziert zum großen Teil mit Hilfe von westlichen Krediten, deren Umfang Staatsgeheimnis war. Aus Angst vor politischen Unruhen wagte die DDR-Führung nicht, die subventionierten Preise für Mieten und Grundnahrungsmittel, Dienstleistungen und Verkehrsmittel anzuheben – was verheerende Folgen hatte: Weil die Billigmieten nur ein Drittel der Kosten deckten, waren in Pri- FOTOS: JÜRGENS OST + EUROPA PHOTO * Erich Honecker (3. v. l.), Günter Schabowski (5. v. l.), Ost-Berlins Oberbürgermeister Erhard Krack (6. v. l.) und Günter Mittag (r.) mit Mieterfamilie 1988 in Ost-Berlin. platziert. Weil jedoch alle Statistiken von Amts wegen gefälscht wurden, konnte dieser Agent auch nur die geschönten offiziellen Zahlen übermitteln. „Es war sehr schwer“, erinnert sich Kohl, „zu realistischen Daten zu kommen.“ Täuschen ließ sich von dem Blendwerk aus dem SED-Apparat auch der altersstarrsinnig gewordene Honecker. Er blieb bis zu seinem Tod dabei, dass der Untergang der DDR auf den Verrat Gorbatschows und nicht auf ökonomische Ursachen zurückzuführen sei. „Wir hatten schließlich eine aufblühende Volkswirtschaft“, behauptete er noch 1991, „das ist auch von den größten Miesepetern nicht zu bestreiten.“ Nur allzu gern, so scheint es, fiel Honecker auf die frisierten Zahlen herein. Als er 1988 vor TV-Kameras einem verdienten Werktätigen die angeblich dreimillionste Neubauwohnung seit Kriegsende übergab, waren in Wahrheit noch nicht einmal zwei Millionen fertig gestellt worden. Dass die DDR hoch verschuldet war, hat Honecker stets in Abrede gestellt – selbst gegenüber Gorbatschow. Als HoneckerNachfolger Egon Krenz Anfang November Gedenktafel, Politikerbesuch in der angeblich dreimillionsten DDR-Neubauwohnung*: Auf frisierte Zahlen hereingefallen 198 d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite 100 TAGE IM HERBST: »ICH LIEBE DOCH ALLE« JÜRG ENS OST + EU R O PA PH. vateigentum stehende Häuser dem Verfall Die Sowjetunion – laut DDR-Wirtpreisgegeben. Und weil das subventionier- schaftslenker Günter Mittag „bereits 1980 te Brot billiger war als Weizen, wurden bankrott“ – reduzierte 1981 ihre ErdöllieHühner in der DDR mit Brot statt mit Ge- ferungen an den Bruderstaat von jährlich treide gefüttert. 19 auf 17 Millionen Tonnen; Moskau wollFür die Absurditäten der Kommando- te den Rohstoff lieber gegen Devisen an wirtschaft nennt Schürer heute das folgen- den Westen verkaufen, als ihn gegen Nade Beispiel: „Lieferte ein Züchter ein Ka- turalien der DDR zu überlassen. ninchen an den Staat, erhielt er dafür 60 Vergebens bat Honecker den damaligen Mark. Kaufte er es danach geschlachtet und Kremlherrn Leonid Iljitsch Breschnew, ausgenommen bei der Staatlichen Handels- den Beschluss zu revidieren, doch der blieb organisation HO zurück, kostete es trotz hart. Breschnew an Honecker: „Ich habe der aufgewendeten Arbeit nur 15 Mark.“ geweint, als ich unterschrieb.“ Honecker, Am Ende ging mehr als ein Viertel des fassungslos, fragte zurück, „ob es zwei MilStaatshaushalts für Preissubventionen lionen Tonnen Erdöl wert sind, die DDR zu drauf – die DDR lebte über ihre Verhält- destabilisieren“. Ein Jahr später stand die nisse. Schürer: „Wir haben zu viel impor- DDR vor der Zahlungsunfähigkeit; nur ein tiert fürs Essen, für die Ernährung, für die Milliardenkredit westdeutscher Banken, sozialen Maßnahmen.“ eingefädelt vom CSU-Chef Franz Josef Als Hauptursache des Niedergangs er- Strauß, sorgte 1983 für Aufschub. wies sich Artikel 9 der Verfassung: „Die Damals schon war dem DDR-WirtVolkswirtschaft der Deutschen Demokra- schaftspapst Günter Mittag klar, dass das tischen Republik ist sozialistische Plan- System in den Ruin steuerte. „Der ökonowirtschaft.“ Nicht der Markt, sondern der mische Kollaps der DDR deutete sich 1981 Plan bestimmte die Preise. Die Produktion an und wurde 1983 offensichtlich“, offenwurde nicht von der Nachfrage gesteuert, barte Mittag zwei Jahre nach der Wende in sondern durch Willkür und Wunschdenken einem SPIEGEL-Gespräch. der Regierenden. Kontinuierlich nahm in den achtziger Wenn Volkskammer-Präsident Horst Sin- Jahren die Produktivität der Wirtschaft dermanns Enkel echte Levis-Jeans verlang- weiter ab, zugleich sank die Qualität der ten, kam das Thema auf die Tagesordnung Waren, die in den verrottenden, umweltdes Politbüros. Wenn verseuchenden BetrieHonecker mit einem 256ben erzeugt wurden. Kilobit-Mikrochip made „Die DDR-Industrie“, so in GDR renommieren Mittag im Nachhinein, wollte, musste der gebaut „wäre niemals aus eigewerden – koste es, was es ner Kraft wieder auf die wolle. „Die Selbstkosten Beine gekommen.“ für einen Chip“, so SchüAus Angst vor Arbeirer, „betrugen 536 Mark. teraufständen zeigte sich Der Verkaufspreis war in die SED in den folgender DDR auf 16 Mark den Jahren nicht nur festgelegt.“ außer Stande, die enormen Ausgaben für MiUnter planungsbedinglitär, Polizei und Geten Versorgungsengpäsheimpolizei zu reduziesen – vom Dosenöffner ren; allein der Sold für bis zur Badekappe, vom die fast 100 000 StasiDübel bis zum FertigDDR-Mikrochip Hauptamtlichen belief mörtel – litten Privathaushalte wie Betriebe. Gedrückt wurde sich alljährlich auf 1,7 Milliarden Ost-Mark. die Produktivität der DDR-Wirtschaft aber Auch das „idiotisch entwickelte Subvenauch durch die Gleichmacherei bei den Löh- tionssystem“ (Schürer) durfte nicht angenen und durch die Schwäche der Ost-Mark: tastet werden. Im Zentralkomitee wurden Die Werktätigen verdienten während der die wachsenden Schwierigkeiten verÄra Honecker zwar mehr Geld als zuvor, drängt. „Je größer die Probleme wurden, umso weniger wurde über sie diskutiert“, konnten damit aber nur wenig anfangen. Auf eine Wohnung mussten DDR-Fami- erinnert sich Wolfgang Rauchfuß, einst Milien 5 Jahre lang warten, auf ein Telefon 10 nister für Materialwirtschaft. Bis zuletzt glaubten die Greise an der Jahre, auf einen Wartburg 15 Jahre. Genussmittel wie Schokolade oder Südfrüchte wa- Spitze, sich irgendwie durchwurschteln zu ren entweder überteuert oder gar nicht zu können. „Die haben alle gedacht, für uns haben. Höherwertige Konsumgüter wie individuell reicht es noch, biologisch“, verMZ-Motorräder oder „Praktika“-Spiegel- mutet der ehemalige Zeiss-Manager Wolfreflexkameras gingen gleich in den Westen. gang Biermann. Ende der achtziger Jahre kam die DDR Bereits Anfang der achtziger Jahre hatten die Auslandsschulden der DDR 24 Mil- nur noch dank übler Machenschaften und liarden West-Mark erreicht. In dieser Si- Manipulationen halbwegs über die Runtuation traf die DDR ein Schlag, von dem den – durch Konkursverschleppung und Devisenschinderei in großem Stil. sie sich nie mehr erholen sollte. 200 d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 Für Valuta-Mark verkaufte die SED (teils zu diesem Zweck eigens verhaftete) politische Gefangene, geraubte Antiquitäten, historisches Kopfsteinpflaster und die Erlaubnis, auf ihrem Staatsgebiet bundesdeutschen Müll zu deponieren. Westgeldpflichtig war jede Genehmigung, die DDR zu betreten, dort Auto zu fahren oder auch nur einen Hund mitzuführen. Es half nichts: Am Ende hätte die DDR, wie Schürer dem Politbüro eröffnete, jährlich Weil das subventionierte Brot billiger war als Weizen, wurden Hühner in der DDR mit Brot statt mit Getreide gefüttert. Kredite in Höhe von „8 bis 10 Milliarden Valutamark“ gebraucht. „Das ist“, so Schürer in einem Geheimpapier, „für ein Land wie die DDR eine außerordentlich hohe Summe, die bei zirka 400 Banken jeweils mobilisiert werden muss… Im Interesse der Notwendigkeit der Erhaltung der Kreditwürdigkeit ist eine absolute Geheimhaltung dieser Fakten erforderlich.“ Spätestens 1988, sagt Schürer, habe er erkannt, „dass wir mit den Schulden nicht mehr zurechtkommen“: Bonn werde sich zu weiteren Finanzspritzen auf Dauer nur bereit finden, wenn die Ost-Berliner Regierenden „einen Teil unserer Souveränität, ich will es mal brutal sagen, verkaufen“. Wirtschaftlich wäre die DDR am Ende allenfalls durch einen radikalen Sparkurs zu retten gewesen. „Wenn wir aus dieser Situation herauskommen wollen, müssen wir mindestens 15 Jahre hart arbeiten und weniger verbrauchen, als wir produzieren“, eröffnete ZK-Planungsexperte Günter Ehrensperger am 9. November 1989 den verblüfften Spitzengenossen. Politisch war die Ehrensperger-Empfehlung zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr durchsetzbar: Am Abend desselben Tages öffnete sich die Mauer. Woran ist die DDR gescheitert? Am Altersstarrsinn Honeckers und an der Feigheit seiner Paladine, die ihm nicht zu widersprechen wagten? Auf die Frage nach den Hauptfehlern der DDR-Wirtschaftspolitik gab Wirtschaftsexperte Mittag schon 1991 eine bündige Antwort: „Das sozialistische System insgesamt war falsch.“ Jochen Bölsche, Norbert F. Pötzl Im nächsten Heft DDR-Bürger A 000 000 1 wird gefeuert – „Wir sind ein Volk“ – Schalck bangt um sein Leben – Kurswechsel in Moskau Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Ausland Panorama Mit gefälschten belgischen Veterinärzeugnissen verwandelten die Händler dabei das Beef in unverdächtiges „Fleisch aus Belgien“ und schleusten es mühelos durch den Zoll. Britische Bauern und Viehhändler sollen überdies versucht haben, illegal Rindfleisch in den Handel zu bringen, das von Tieren stammt, die älter als 30 Monate sind. Wegen erhöhter BSE-Gefahr dürfen diese britischen Alt-Rinder nirgendwo in die menschliche Nahrungskette gelangen. EU-Inspekteure und Kontrolleure aus dem Vereinigten Königreich stellten jedoch fest, dass etliche Händler die Tiere auf dem Papier verjüngen wollten, um die höheren Preise für konsumierbares Rindfleisch zu kassieren. E U R O PA Ermittlungen gegen Fleisch-Mafia I USA „Erhebliche Mängel“ FOTOS: AP William Roth, 78, republikanischer Senator, ist Vorsitzender des KongressBeirats für Nato-Fragen. Seine Resolution zur Sicherheitspolitik, vorige Woche vom Senat einstimmig angenommen, warnt vor einer Konfrontation zwischen Europa und den USA. SPIEGEL: Beeinträchtigt eine größere europäische Eigenständigkeit in Außenpolitik und Verteidigung das Bündnis zwischen den USA und ihren europäischen Alliierten? Roth: Es geht uns zunächst einmal um grundlegende Regeln: Die Vorreiterrolle der Nato in transatlantischen Sicherheitsfragen darf nicht mit der neuen Rolle der EU kollidieren. SPIEGEL: Wird es eine Kraftprobe geben? Nato-Kampfflugzeug CF-18 während des Kosovo-Krieges d e r Senator Roth s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 ACTION PRESS n der EU greifen die Fleischkontrollen nicht: Belgische Fahnder sind einem groß angelegten Schmuggel auf der Spur, bei dem britisches Rindfleisch, das bis zum 1. August wegen der BSE-Seuche unter weltweitem Exportbann stand, über ein Netzwerk britischer und belgischer Firmen auf den Kontinent geschleust worden sein soll. Zwei britische Unternehmen aus dem Küstenort Eastbourne und eine belgische Firma aus Izegem werden verdächtigt, das Fleisch mit gefälschten Gesundheitszeugnissen illegal exportiert zu haben. Nach ersten Untersuchungsergebnissen der Staatsanwaltschaft von Kortrijk gelangte zunächst mit Hormonen behandeltes Fleisch, das in Belgien aus dem Verkehr gezogen worden war, nach Großbritannien. Von dort wurde es in Länder der Dritten Welt weiterverkauft, die entladenen Lkw wurden daraufhin mit britischem Fleisch beladen und nach Belgien zurückverschifft. Verbrennung von BSE-verseuchten Rindern in Wales Roth: Ein Konflikt steht wohl nicht unmittelbar bevor. Doch wenn das Verhältnis zwischen den Partnern nicht besser abgestimmt und koordiniert wird, könnte unsere transatlantische Allianz auseinander driften. SPIEGEL: Sind die Europäer überhaupt zu einem eigenständigen militärischen Einsatz in der Lage? Roth: Der Krieg im Kosovo hat erhebliche Mängel bei den europäischen Alliierten aufgezeigt. Statt überwältigende Macht zu demonstrieren, geriet die Operation „Allied Force“ vielmehr zum Symbol für das militärische Ungleichgewicht zwischen den Vereinigten Staaten und unseren Verbündeten. Für ein reibungsloses Vorgehen im Ernstfall müssen die Europäer in Zukunft noch eine Menge nachbessern. SPIEGEL: Also – keine Alleingänge der Europäer? Roth: Die Nato muss das erste und wichtigste Mittel jeder kollektiven militärischen Antwort bleiben. Die EU sollte autonome Einsätze nur dann übernehmen, wenn die Nato diese Aufgaben zuvor delegiert hat. 203 INDIEN Pa lk str Vormarsch der Tiger aß SRI LANKA e Panorama A Jaffna Halbinsel Jaffna Hauptsiedlungsgebiete der Tamilen Mullaittivu REUTERS Mankulam uf Sri Lanka ist der 1983 ausgebrochene blutiOddusuddan ge Bürgerkrieg erneut entflammt, in dem radiVavuniya kale Tamilen für einen unabhängigen Staat im NorTrincomalee den und Nordosten der Insel kämpfen. Wie „Unaufhaltsame Wellen“, so auch der Name ihrer Golf von Anuradhapura Mannar jüngsten militärischen Offensive, greifen die „Befreiungstiger von Tamil Eelam“ seit Anfang November Stellungen der Regierungstruppen an. Ermordeter Tamile in Colombo Batticaloa China Sie eroberten zehn Garnisonsstädte und eine wies sich als politischer 30 Kilometer lange Straßenverbindung, die den singhalesiKandy Indien Fehler, und ein Erfolg schen Süden mit der Tamilen-Stadt Jaffna im Norden verbinColombo ihrer bisher populären det. Allein auf Regierungsseite soll es hunderte von Toten geS R I L A N K A Volksallianz bei den auf geben haben. In der Hauptstadt Colombo hat die Regierung den 21. Dezember vorinzwischen Armeeverluste und eine Massenflucht von ZivilisSri Lanka gezogenen Präsidentten zugegeben, ein Militärsprecher bezeichnete die Lage soschaftswahlen scheint gar als „sehr ernst“. Jetzt wollen die Tamilenrebellen die stra50 km Kampfgebiet ungewiss. Damit sinken tegisch wichtige Stadt Vavuniya einnehmen. Gelingt das, hätte auch die Chancen, den die Armee fast alle Gebietsgewinne der letzten 19-monatigen Bürgerkrieg im gebeutelten Tourismusparadies, der bisher Offensive wieder eingebüßt. Die Niederlagen ihrer Militärs 58 000 Menschenleben forderte, in absehbarer Zeit zu beensind für Präsidentin Chandrika Kumaratunga, 54, ein schwerer den. Die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen warnt bereits, Rückschlag. Ihre umstrittene Taktik, Verhandlungen mit den dass im Kampfgebiet die Medikamente zur Neige gehen. Rebellen erst nach einem militärischen Sieg zu beginnen, er- NIGERIA N achdem sie in der Vergangenheit wiederholt Versorgungsschiffe aufgebracht hatten, kapern rebellierende Gruppen im Ölfördergebiet von Nigeria jetzt mit Vorliebe Hubschrauber. Die Firma Bristow Helicopters, die unter anderem Bohranlagen und Camps von Shell anfliegt, war in diesem Jahr schon neunmal Ziel von Kidnappern. Die letzte Entführung endete vorigen Mittwoch mit der Freilassung des deutschen Piloten Günter Burmeister. Dessen Bell-212Hubschrauber war am 28. Oktober beim Landepunkt Opuama im Gebiet des Ijaw-Stammes attackiert und am Weiterflug gehindert worden. Schwer bewaffnete Jugendliche entführten zwei Besatzungsmitglieder und vier Passagiere. Nach Verhandlungen mit den Arbeitgebern der Gekidnappten entließen sie ihre Geiseln, zuletzt den aus dem Rheinland stammenden Piloten. Die Freilassungen werden üblicherweise durch Lösegeldzahlungen erkauft. Sie gelten den Rebellen als Entschädigung für Umweltzerstörungen und die mangelnde Beteiligung der Region an Nigerias Öleinnahmen. Doch auch gewöhnliche Kriminelle mischen beim Entführungsgeschäft mit. Wegen der Anarchie im Fördergebiet ist Nigerias Erdölproduktion auf einen Tiefststand gefallen. 204 SYRIEN Gesellenstück für den Nachfolger D er kranke syrische Staatschef Hafis alAssad, 69, will offenbar schneller als erwartet seinen Sohn Baschar, 34, zum Nachfolger aufbauen. Vergangene Woche schickte er ihn zum ersten Mal auf diplomatische Mission nach Frankreich. In seinem Auftrag sprach al-Assad junior mit Frankreichs Präsident Jacques Chirac, der die seit 1996 abgebrochenen Friedensgespräche zwischen Syrien und Israel wieder beleben möchte. Noch fordert Syrien von Israel den Truppenabzug von den 1967 besetzten Golanhöhen, den Israel als Vorbedingung für Friedensgespräche jedoch ablehnt. Vor seinem Paris-Besuch hatte Baschar Assad zudem mehrere Reisen nach Saudi-Arabien und Jordanien unternommen. Seitdem duzt er sich mit dem fast gleichaltrigen jungen jordanischen König Präsident Assad in Damaskus d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 REUTERS Rebellen kapern Helikopter Ausland FRANKREICH Zweite Chance N SCHWEDEN Schwieriger Ausstieg S FACELLY / SIPA PRESS H. IVES / AGENTUR FOCUS ach dem Rücktritt seines Freundes Dominique Strauss-Kahn will Premierminister Lionel Jospin jetzt ExKulturminister Jack Lang in den Kampf um das Bürgermeisteramt von Paris entsenden. Die Eroberung des Rathauses, in dem die Gaullisten seit 1977 regieren, aber durch viele Skandale angeschlagen sind, ist für den Sozialisten Jospin Chefsache: Fällt die Pariser „Mairie“ an die Linke, steigen automatisch seine eigenen Chancen, bei den Präsidentschaftswahlen ein Jahr später den Amtsinhaber Jacques Chirac zu schlagen. Aber die Sozialisten plagen Zweifel, ob der durchaus populäre Lang den eher konservativen Parisern nicht zu radikal ist. Langs Verantwortung für die Bauprojekte des damaligen Präsidenten François Mitterrand bietet viele Angriffsflächen: Der bröckelnde Neubau der Bastille-Oper und die pannengeplagte Mitterrand-Bibliothek schaffen Ärger und Spott. Pariser Rathaus, Lang tockholms Regierung will den vor 19 Jahren per Volksabstimmung beschlossenen Atomausstieg nun zum 1. Dezember mit der Schließung des Reaktors Barsebäck I in Südschweden umsetzen. Dagegen wehrt sich mit allen Mitteln der Energiekonzern Sydkraft, dessen größter Einzelaktionär die PreussenElektra ist. Das oberste Verwaltungsgericht Schwedens hatte bereits im Juni die Rechtmäßigkeit des Regierungsbeschlusses bestätigt. Doch noch steht eine Entscheidung der EUKommission aus, ob Sydkraft durch die Schließung Wettbewerbsnachteile erleidet. Gleichwohl will die Regierung nicht länger warten. „Was die EU-Kommission entscheidet, hat keine direkte Atomkraftwerksblock Oslo Forsmark NORWEGEN Assad-Sohn Baschar, Chirac KO S OVO Nato manipulierte Todeszahlen C arla Del Ponte, die Chefanklägerin des Uno-Kriegsverbrechertribunals in Den Haag, legte dem Weltsicherheitsrat in New York einen Bericht mit neuen Opferzahlen über den serbischen Terror gegen die albanische Bevölkerung im Kosovo vor. Experten des Tribunals haben 529 Massengräber entdeckt und aus 195 Gräbern 2108 Tote exhumiert. Del Ponte erklärte dem Rat, nach Ansicht von Kosovo-Albanern seien mehr als 11 000 Menschen ums Leben gekommen, sie könne die Angaben allerdings nicht bestätigen. Diese Zahlen liegen bedeutend niedriger als jene, die Nato-Vertreter während des Luftkriegs verbreitet hatten. Zeitweilig sprachen sie von bis zu 44 000 Toten und 100 000 Vermissten, um das militärische Eingreifen vor der internationalen Öffentlichkeit zu rechtfertigen. Westliche Mediziner vor Ort, die im Auftrag des UnoTribunals in den vergangenen drei Monaten Obduktionen vornahmen, stießen auf zahlreiche Ungereimtheiten in der Nato-Darstellung. So habe sich das schlimmste Massaker des KosovoKonflikts im Bergwerk Trep‡a ereignet, bei dem über 700 Albaner getötet worden seien. Ermittler fanden jedoch vor Ort keinen Ermordeten und keinerlei Anzeichen eines vertuschten Blutbads. d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 SCHWEDEN Stockholm Göteborg DÄNEMARK Ringhals Oskarshamn Barsebäck Kopenhagen Malmö DEUTSCHLAND Anteil der Kernenergie an der gesamten Stromerzeugung 1998 Frankreich Schweden Deutschland Großbritannien 76% 46% 30% 29% Folge für unseren Schließungsbeschluss“, erklärt der im Wirtschaftsministerium für Energiefragen zuständige Ministerialdirigent Håkan Karlström. Doch Sydkraft gibt nicht auf: Zwar verhandelt der Konzern bereits mit der Regierung über eine angemessene staatliche Entschädigung, dennoch versucht er weiterhin, eine einstweilige Verfügung gegen die Schließung zu erwirken. Rechtsexperten vermuten nun, dass das Verfahren vor den Europäischen Gerichtshof gelangen wird – mit ungewissem Ausgang. AP AP Abdullah, der seit dem Tod seines Vaters im Februar im Amt ist. Im eigenen Land genießt der in Großbritannien ausgebildete Augenarzt Assad verbreitetes Ansehen, nachdem er sich in einem Korruptionsskandal gegen die mächtige Armee und den Geheimdienst durchsetzen konnte. Doch dem jungen Kronprinzen fehlen einstweilen noch die institutionellen Voraussetzungen zur Machtübernahme: Weder bekleidet er ein hohes Amt in der Einheitspartei Baath, noch ist er 40 Jahre alt, das Mindestalter, um nach der Verfassung den Präsidentensessel einzunehmen. Dennoch trat er in Paris mit forschem Selbstbewusstsein auf: Er ermunterte die Europäer, sich endlich gleichberechtigt neben den USA im nahöstlichen Friedensprozess zu engagieren. 100 km Atomkraftwerk Barsebäck 205 Ausland TÜRKEI Musterknabe und Machtstaat Auf dem OSZE-Gipfel von Istanbul will die türkische Regierung neues Selbstbewusstsein demonstrieren. Unterstützt von den USA, hofft Ankara, das Treffen könne den Weg für eine Aufnahme in den Kreis der Beitrittskandidaten zur EU frei machen. D CA M E R A P R E S S AP ie Worte aus Washington waren die Türkei als vollwertigen Partner mit ge- verluste, die ihr aus dem Wirtschaftsemsüß wie türkischer Honig. Die Ge- stärktem Selbstbewusstsein erleben. Da- bargo gegen den Nachbarn Saddam Husschichte des ganzen Jahrhunderts, bei hat die Regierung bereits den nächsten sein erwachsen, trägt die Türkei murrend – schmeichelte US-Präsident Bill Clinton Gipfel fest im Blick – das EU-Treffen in doch sie trägt sie. Mit seinem ägyptischen Kollegen Husni vergangene Woche in einer außen- Helsinki, wo im Dezember über die nächspolitischen Grundsatzrede an der Univer- te Erweiterungsrunde abgestimmt wird. Mubarak ist der türkische Staatspräsident sität Georgetown, sei geprägt von der Und diesmal will die Türkei endlich in den Demirel gut befreundet. Vor einem Jahr politischen Hinterlassenschaft des Osma- engsten Kreis der Beitrittskandidaten auf- ließ er sich von Mubarak überreden, auf einen Einmarsch in Syrien zu verzichten. nischen Reiches. Und auch in Zukunft genommen werden. Aus amerikanischer Sicht ist das türki- Ankara hatte mit einer militärischen Inwerde am Bosporus Weltgeschichte geschrieben: „Das kommende Jahrhundert sche Selbstwertgefühl durchaus berechtigt: tervention gedroht, um Kurdenführer Abwird zu einem guten Teil dadurch bestimmt Für Washington läuft ohne den hochgerüs- dullah Öcalan aus seinem damaligen Verwerden, wie die Türkei ihre Rolle heute teten Partner gar nichts im eurasischen Kri- steck in Damaskus zu vertreiben. Israel, das gegenüber Atatürks moderner sendreieck zwischen Balkan, Kaukasus und und morgen definiert.“ Türkei stets ein wenig skeptisch blieb, teilt Die europäischen Partner seien gut be- Nahost. Seit 1952 ist die Türkei nicht nur im gleichwohl mit dem Nato-Land eine beraten, mahnte der Chef der einzig verbliebenen Supermacht, die Bedeutung der Nordatlantischen Bündnis verankert, des- eindruckende Liste gemeinsamer Gegner: modernen Türkei zu erkennen – und zu sen Südostflanke sie während des Kalten Syrien, Irak und Iran. Seit 1996 verbinden honorieren. Das Land am Scheideweg nach Krieges gesichert hat. Auch in den aktuelNahost und Zentralasien müsse zur Re- len Konflikten von Sarajevo bis Grosny F-16 Kampfflugzeuge auf dem US-Luftwaffenstützgion werden, „in der sich Europa und die steht sie fast immer auf der Seite der „good punkt im türkischen Incirlik islamische Welt in Frieden und Harmonie guys“ aus Übersee. Im Nahen Osten duldet Ankara die Stabegegnen können“. Auf den großen Verbündeten Amerika tionierung von amerikanischen und britikönnen sich die Türken stets verlassen. Der schen Kampfjets zur Überwachung des Ritterschlag aus Washington ermöglicht es nordirakischen Luftraums. Die Milliardender Regierung in Ankara, sich diese Woche an der Seite der USA einigermaßen glaubwürdig als „global player“ auf dem Istanbuler Gipfel der Organisation für SicherRUMÄNIEN KROATIEN heit und Zusammenarbeit in Europa Belgrad (OSZE) zu präsentieren. BOSNIENWährend die Delegationen über RüsHERZEGOWINA JUGOtungskontrolle, Menschenrechte und die Schwarzes Meer Sicherheitsarchitektur des nächsten MilSLAWIEN lenniums reden, will Staatspräsident SüleyKosovo man Demirel milliardenschwere EnerBULGARIEN gieverträge mit den USA, Aserbaidschan Istanbul MAZEund Georgien unterzeichnen. MinisterpräALBANIEN DONIEN Ankara sident Bülent Ecevit wird von Treffen zu Treffen mit den Staats- und RegierungsT Ü R K E chefs der 54 OSZE-Staaten eilen und sich GRIECHENanschließend, wiederum von LAND Freund Clinton begleitet, mit seinem griechischen KolleIncirlik Athen gen Kostas Simitis zusammensetzen, um gemeinsam über den Zypern-Konflikt zu reden. Auf dem Groß-Treffen in der von neuen Erdbeben erZypern schütterten Bosporus-ReMittelmeer gion, so das Kalkül Ankaras, Türkische Soldaten nach sollen die noch immer auf Distanz bedachten Europäer Besetzung Nordzyperns 1974 206 I S. McCURRY / MAGNUM / AGENTUR FOCUS OSZE-Tagungsort Istanbul: Europas Hinhaltetaktik als maßlose Kränkung empfunden überdies mehrere Militärabkommen Jerusalem und Ankara: Die Türkei lässt israelische Kampfpiloten im anatolischen Luftraum trainieren, Israel sagte Hilfe bei der Terrorismusbekämpfung zu und berät die GEORGIEN Türkei bei der Sicherung ihrer Grenze zu ASERBAIDSCHAN Syrien. Zwar protestieren die nahöstlichen ARMENIEN Nachbarn regelmäßig gegen die türkischisraelische Kooperation, doch die USA unterstützen das Bündnis. Im Dezember, IRAN so gab das türkische Außenministerium voHauptsiedlungsrige Woche bekannt, werden sich Soldaten gebiete der der U. S. Navy mit türkischen und israeKurden lischen Marineeinheiten vor der südtürkischen Küste zu einem weiteren gemeinsamen Manöver treffen. Der Name des Unternehmens: „Hoffnungsfrohe SYRIEN IRAK Meerjungfrau II“. Auch während des Kosovo-Krieges war auf den Bündnisgenossen Verlass. Aus Ankara kam kein kritisches Wort über die umTürkische Sicherheitkräfte mit ge- strittene Luftkriegsstratetöteten kurdischen Rebellen; 1995 gie der Nato – im GegenTschetschenien Kaspisches Meer D PA RUSSLAND d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 teil, türkische Militärs ließen durchblicken, sie würden notfalls auch für einen Bodeneinsatz Truppen stellen. Als es dazu nicht kam, nahm die Türkei 16 000 Flüchtlinge auf und schickte ein umjubeltes Kfor-Kontingent in die ehemalige Osmanenprovinz Kosovo. Selbst am Kaspischen Meer ziehen Amerikaner und Türken am selben Strang. Seit Jahren arbeiten sie gemeinsam auf eine Pipeline-Verbindung zwischen der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku und dem türkischen Mittelmeer-Hafen Ceyhan hin. Das Projekt ist teurer als alle anderen Varianten, kaspisches Öl in den Westen zu bringen, doch es umginge sowohl die rebellischen Kaukasusrepubliken im Norden als auch den USA-Feind und Türkei-Gegner Iran im Süden. Ankara also ein außenpolitischer Musterknabe? Ein ruhender, hochgerüsteter Pol in einer rauen Nachbarschaft und eine „stabile, demokratische, säkulare, islamische Nation“, die, so US-Präsident Clinton, schnellstmöglich „volles Mitglied Europas“ werden soll? Das wird dauern, denn während sich die Türkei im Wohlwollen der Nato-Vormacht sonnen kann, ist das Verhältnis zu den europäischen Partnern schwierig. Noch immer weigert sich die EU, den Türken ernsthaft entgegenzukommen. Das liegt – trotz Ankaras sturer Unterstützung für einen eigenständigen türkischen Teilstaat auf Zypern – nicht so sehr an der Außenpolitik, sondern an der anhaltenden Unterdrückung im Innern. Der türkische Machtstaat regiert bis heute so unangefochten in den Alltag seiner zivilen Untertanen hinein, wie es sich seit Ende des Zweiten Weltkriegs keine europäische Demokratie mehr leisten kann. Einen türkischen Polizisten um Namen oder Dienstnummer fragen? Sinnlos. Von einem Gendarmen erwarten, wie von Staatsbürger zu Staatsbürger behandelt zu werden? Vergebens. Wer am Glaubensbekenntnis der modernen Türkei – „eine Nation, eine Heimat, eine Sprache und eine Fahne“ – Zweifel äußert, dem drohen Festnahme, Haft und nicht selten Folter in einem Obrigkeitsstaat, dessen Organe rechtlich fast überhaupt nicht belangt werden können. Dass bei den Menschenrechten „Verbesserungen“ notwendig seien, räumen inzwischen selbst Ultranationalisten wie der türkische Verteidigungsminister Sabahattin Çakmakoglu ein (siehe Seite 210). Doch die bisher vorgenommenen Korrekturen sind – wie die Entfernung des Militärrichters aus den berüchtigten Staatssicherheitstribunalen während des ÖcalanProzesses – entweder kosmetisch, oder sie stehen auf dem Papier, das vor allem in Menschenrechts- und Minderheitsfragen sehr geduldig ist. Die Forderung, Kurdisch als Unterrichtsfach einzuführen oder 207 Ausland Farce am Bosporus? Kosovo-Konflikt und Tschetschenien-Krieg erschweren konkrete Ergebnisse auf dem Gipfel von Istanbul. D AP ass sich in dieser Woche die Staats- und Regierungschefs der 54 Mitgliedsstaaten der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) ausgerechnet in der Türkei treffen werden, ist der deutschen Delegation eher unangenehm: Seit dem Berliner Hauskrach um die Lieferung von Leopard-Panzern und Kampfhubschraubern gilt „Türkei“ für die rot-grüne Koalition als Unwort schlechthin. In Istanbul werden der Kanzler und sein grüner Außenminister wohl den Zorn der Türken zu spüren bekommen. Die zweifeln allmählich an den Beteuerungen von Joschka Fischer, die Türkei gehöre zu Europa und sei ein verlässlicher Nato-Partner. Sie verstehen den rot-grünen Panzer-Streit nicht. Selbst die Bundesregierung versi- Premier Ecevit, Außenminister Fischer chert, es gebe keine Belege dafür, Mit Schelte zurückgehalten dass die türkischen Militärs deutsches Kriegsgerät vertragswidrig zum Kampf rung an Russland“ nach dem Kosovogegen die Kurden missbrauchten. Und Krieg der Nato. Denn die westliche außerdem stehen türkische Truppen Allianz unter Führung der USA hat neben Kameraden der Bundeswehr im ebenfalls massiv gegen OSZE-Regeln zur Vertrauensbildung verstoßen. deutschen Sektor des Kosovo. Auch die mit viel Getöse angeEin anderer Konflikt, eine halbe Flugstunde von der türkischen Schwarz- kündigte „Sicherheitscharta“ für das meerküste entfernt, könnte den seit drei OSZE-Gebiet zwischen Vancouver und Jahren geplanten Bosporus-Gipfel leicht Wladiwostock bleibt ein rechtlich unzur Farce machen. Russland verstößt verbindliches Papier – und enthält bei seinem Feldzug in Tschetschenien kaum mehr als eine Zusammenstellung gegen sämtliche Grundsätze der OSZE: der Grundsätze, die seit dem HelsinkiGewaltverzicht, Schutz von Minderhei- Gipfel von 1975 immer wieder bekräften, Verhältnismäßigkeit der eingesetz- tigt wurden. Eine Einigung auf neue vertrauensbildende Maßnahmen – etwa ten Mittel. Trotzdem beschwor Fischer vorletz- häufigere Inspektionen und detaillierte Woche die kämpferische US-Kollegin tere Auskünfte zu Truppenbewegungen Madeleine Albright, den Gipfel nur ja – konnten die nach Istanbul vorausgenicht platzen zu lassen. Sonst seien alle eilten Unterhändler nicht erzielen. Chancen dahin, den „Grundkonsens“ „Seit Kosovo und Tschetschenien ist da (Fischer) zwischen Atlantik und Ural nichts mehr zu machen“, klagt ein festzuschreiben. Nur so könne die seit deutsches Delegationsmitglied. Gleichwohl werden die Russen nicht 1997 so mühsam ausgehandelte Anpassung des Vertrages über konventionel- fürchten müssen, dass die Kritik am le Abrüstung (KSE) besiegelt werden. Kaukasuskrieg in der „Istanbuler ErNach dem Zerfall des Warschauer klärung“, dem Abschlussdokument der Paktes und nach Beitritt von Ungarn, Tagung, allzu harsch ausfällt. Die deutTschechien und Polen zur Nato, sollen sche Regierung, allen voran der vorfür jeden der 30 KSE-Staaten Ober- sichtige Fischer, hatte sich aus Furcht grenzen für schweres Kriegsgerät wie um den Gipfel ohnehin mit öffentlicher Panzer und Kampfflugzeuge vereinbart Schelte zurückgehalten. Überdies kann die feierliche Erklärung der 54 Staawerden. Ziel des Gipfels am Bosporus sei dar- tenlenker gemäß eherner OSZE-Regel über hinaus, so Fischer-Mitarbeiter ver- nur einstimmig verabschiedet werden. gangene Woche, die „WiederannäheJürgen Hogrefe, Alexander Szandar 208 d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 kurdischsprachige Radio- und Fernsehsender zuzulassen, gilt immer noch als völlig indiskutabel. Während Westeuropäer und Kritiker eines schnellen EU-Beitritts wegen Ankaras Unbeweglichkeit auf eine möglichst jahrzehntelange Wartezeit der Türkei im Kandidatenstand hoffen, haben es Oppositionelle und ehemalige Staatsfeinde inzwischen eilig. Die Türkei müsse schleunigst in die EU aufgenommen werden, forderte kürzlich der PKK-Kommandeur Osman Öcalan, Bruder des zum Tode verurteilten Kurdenführers. Nur über eine Angleichung an europäische Rechtsstandards sei eine nachhaltige Demokratisierung der Türkei zu erreichen. Auch Hasip Kaplan, Sprecher des gemäßigteren „Vereins zur Demokratischen Einigung und Lösung des Kurdenproblems“, zählt auf Europa. Kaplans kurdischem Intellektuellen-Club gelang es vergangene Woche, als Teilnehmer des „kleinen“ OSZE-Gipfels der regierungsunabhängigen Organisationen zugelassen zu werden. Er ist überzeugt, dass nur die Aussicht auf einen baldigen EU-Beitritt in der Türkei einen „schnellen und schmerzhaften Änderungsprozess“ bewirken und das Land zwingen werde, „sich neu zu gestalten“. Zum ersten Mal treffen sich die Interessen der jahrzehntelang Verfolgten mit denen der westlich orientierten Elite des Landes, welche die Hinhaltetaktik Europas gegenüber der Türkei spätestens seit dem EU-Gipfel von Luxemburg als maßlose Kränkung empfindet. Aber auch der Helsinki-Gipfel im nächsten Monat hält voraussichtlich neue Schmach bereit: Aus Sorge um die künftige Funktionsfähigkeit der Union soll die Türkei vom neuen Kommissionspräsidenten Romano Prodi ebenfalls mit hehren Versprechungen abgespeist werden. Europa behandle sein Land wie ein Meister den Lehrling, beschwerte sich beim Istanbuler „Deutsch-Türkischen Dialog“ Anfang November ein türkischer Diskutant. Wolfgang Ischinger, der aus Berlin angereiste Staatssekretär des deutschen Außenministeriums, antwortete auf den Vorwurf mit diplomatischer Raffinesse: Die Türkei unterschätze womöglich ihre eigene Bedeutung. „Nichts gegen die Balten, doch der Beitritt Estlands wird an der Grundarchitektur der Europäischen Union nichts verändern.“ Die Türkei hingegen, die Brücke nach Asien und ein Land mit bald 70 Millionen Einwohnern, sei ein „Brocken“, der bis zu seinem Beitritt unter Umständen selbst Deutschlands Gewicht übertreffen könnte. Da sei Geduld nicht nur eine Tugend, sondern – leider, leider – unerlässlich. Bernhard Zand Werbeseite Werbeseite Ausland Çakmakoglu: Das ist uns ganz wichtig, denn „Wir brauchen starke Streitkräfte“ Verteidigungsminister Sabahattin Çakmakoglu über das Panzergeschäft mit Deutschland, Ankaras Aufrüstung und den Konflikt mit Nato-Partner Griechenland M. GÜLBIZ / AGENTUR FOCUS Çakmakoglu: Wir haben eine ganz norma- Çakmakoglu, 69, amtiert seit Juni als Verteidigungsminister. Der Jurist und langjährige Staatsbeamte gehört der rechtskonservativen Partei der Nationalistischen Bewegung an, deren Anhänger in Deutschland auch unter dem Namen Graue Wölfe aktiv geworden sind. AP SPIEGEL: Herr Minister, warum wollen Sie unbedingt den deutschen Kampfpanzer „Leopard 2“ testen, den die Berliner Regierung womöglich gar nicht zum Export in die Türkei freigeben wird? le Ausschreibung organisiert. Wer immer sich daran beteiligen will, muss sein Produkt zunächst vorführen. SPIEGEL: Ist es Ihnen vielleicht sogar gleichgültig, ob die Deutschen ihren „Leopard“ vorzeigen oder nicht, weil Sie genügend weitere Mitbewerber um den lukrativen Auftrag haben? Çakmakoglu: Richtig. Wer unsere Ausschreibungsbedingungen nicht erfüllt, gerät ins Hintertreffen. Sie würden doch auch kein Mädchen heiraten, das Sie noch nie gesehen haben. SPIEGEL: Wollen Sie denn, um im Bild zu bleiben, das martialische Mädchen im Leopardenfell gern heiraten? Çakmakoglu: Das kann ich noch nicht sagen. Ich habe die Dame nie gesehen. Meine Militärs berichten mir allerdings, dass sie ganz proper sein soll. SPIEGEL: Sie wollen ja nicht bloß kaufen, sondern die 1000 Panzer im eigenen Land in Lizenz produzieren. Warum wollen Sie nach dem Ende des Kalten Krieges solch gewaltige Anstrengungen im Rüstungssektor unternehmen? Kampfpanzer sind das Herzstück moderner Landstreitkräfte. Schauen Sie sich einmal die geostrategische Lage der Türkei an, eingekeilt zwischen dem Balkan, dem Nahen Osten und der kaukasischen Krisenregion. Wenn Sie sich die Geschichte dieser Unruhezonen vergegenwärtigen, werden Sie unsere Forderung nach starken Streitkräften verstehen. SPIEGEL: Was uns viel mehr beunruhigt, ist die Möglichkeit, dass Sie diese Panzer gar nicht gegen mögliche äußere, sondern gegen Gegner im Inneren Ihres Landes, etwa gegen Kurden, einsetzen könnten. Haben Sie angesichts der anhaltenden Menschenrechtsverletzungen in der Türkei Verständnis dafür, dass viele Deutsche das Panzergeschäft ablehnen? Çakmakoglu: Bei den Menschenrechten streben wir Verbesserungen an. Doch diejenigen, die uns diese Frage immer stellen, sollten nicht vergessen, dass sie in Menschenrechtsfragen auch nicht immer eine strahlend weiße Weste haben. SPIEGEL: Trotzdem: warum diese riesigen Investitionen in eine eigene Rüstungsindustrie? Çakmakoglu: Gerade wegen der Schwierigkeiten, die wir bei Waffengeschäften wiederholt mit der deutschen Regierung hatten, ist es doch einleuchtend, dass wir autark werden wollen. SPIEGEL: Vielleicht möchten Sie aber auch den deutschen Herstellern mit Ihren eigenen Lizenzprodukten Konkurrenz machen? Çakmakoglu: Warum nicht? Zu unseren Ausschreibungsbedingungen gehört der Technologietransfer – und zwar ohne jede Einschränkung. SPIEGEL: Wo und gegen wen wollen Sie tausende Panzerfahrzeuge ins Feld führen? Çakmakoglu: Seit 76 Jahren hat die türkische Republik ihre Friedensliebe bewiesen. Wie die Beispiele des Golfkriegs und des Kosovo-Konflikts zeigen, kann ein Land allein gar keinen Krieg mehr erfolgreich führen. Gleichwohl braucht ein Staat starke Streitkräfte, um Frieden und Sicherheit zu bewahren. Im Übrigen scheinen Sie zu viel Gewicht auf die Landstreitkräfte zu legen. Für echte Abschreckung muss eine Armee nicht nur am Boden, sondern auch in der Luft und zu Wasser stark sein. SPIEGEL: Da haben Sie sich ja auch schon kräftig bedient: Ihre Fregatten aus deutschen Werften sind moderner als die der Bun- Panzerparade mit „Leopard 1“ in Ankara: „Technologietransfer ohne jede Einschränkung“ 210 d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Ausland REUTERS desmarine. Sie besitzen U-Boote aus SPIEGEL: Gerade erst hat der deutsche Deutschland und bald auch Minenjagd- Außenminister Joschka Fischer die Türkei schiffe. Sie wollen Kampfhubschrauber aufgefordert, Geld in die zivile Infrastrukkaufen und mit Bundeswehrhilfe ein tur des Landes statt in die Aufrüstung C-Waffen-Labor einrichten. Warum kau- zu stecken. Werden Sie seiner Anregung fen Sie eigentlich nicht woanders ein? folgen? Çakmakoglu: Wir stellen in allen Bereichen Çakmakoglu: Bei unserem Rüstungsprohöchste technologische Ansprüche. gramm handelt es sich in Wahrheit um SPIEGEL: Wenn Sie die alle befriedigen, mehr als 50 einzelne Projekte, die – je nach droht ein Wettrüsten in einer der un- Kassenlage – eins nach dem anderen über einen langen Zeitraum verwirklicht werden sichersten Weltregionen. Çakmakoglu: Nicht notwendigerweise. Wir reagieren nur auf die beträchtlichen Rüstungsanstrengungen unserer Nachbarn. SPIEGEL: Im schwierigen Verhältnis zu Griechenland hat es gerade erste Entspannungssignale gegeben. Bedroht Ankaras Aufrüstung nicht diesen Fortschritt? Çakmakoglu: Vor allem seit dem schweren Erdbeben im August und der anschließenden Hilfe aus Türkische Patrouille in der Ägäis (1996) Athen sehen wir in der „Anzeichen für eine gewisse Entspannung“ Tat Anzeichen für eine gewisse Entspannung. Doch für eine wirk- sollen. Dafür wird kein Pfennig von zivilen liche politische Aussöhnung ist es wohl Aufgaben abgezweigt. Die werden immer noch zu früh. Fortschritte in der Zusam- Priorität haben. Wenn für unsere Vorhaben menarbeit beim Tourismus, bei den Wirt- kein Geld da ist, werden wir sie aufschieschaftsbeziehungen und Umweltfragen ben müssen. können nicht verdecken, dass es bei den SPIEGEL: Ist der Militäretat auch nur um politischen Streitpunkten bislang keine eine Lira gekürzt worden, um die gewaltiAnnäherung gibt. Gerade erst hat das grie- gen Schäden des Erdbebens schneller zu chische Militär auf Zypern Manöver ab- beheben? gehalten. Çakmakoglu: Nein. Aber wir haben geleSPIEGEL: Zehn Jahre nach Ende des Kalten gentlich von uns aus Abstriche an unseren Krieges hat Ankara seinen Wehretat mehr Plänen gemacht. als verdoppelt. In den nächsten 25 Jahren SPIEGEL: In dieser Woche treffen sich in wollen Sie für mindestens 150 Milliarden Istanbul die Staats- und Regierungschefs der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Ihr promi„Von Nachbarn eingekreist, die nentester Gipfelgast, der amerikanische früher Kolonien des Präsident Bill Clinton, hat vorab die wichOsmanischen Reichs waren“ tige Aufgabe der Türkei herausgestellt, zugleich aber auch Fortschritte in der AusDollar aufrüsten. Wie kann die nicht eben einandersetzung um Zypern angemahnt. wohlhabende Türkei das finanzieren? Werden Sie dem Wunsch des großen BruÇakmakoglu: Unsere Rüstungsausgaben lie- ders folgen? gen noch immer unter dem Nato-Durch- Çakmakoglu: Es ist ermutigend, dass die schnitt … Führungsmacht im Bündnis die SchlüsselSPIEGEL: Wieso? Die Türkei zweigt mehr rolle anerkennt, die wir in diesem Teil als vier Prozent ihres Bruttoinlandspro- der Welt, an der Schnittstelle von Europa, dukts für das Militär ab, mehr als jedes an- Asien und Afrika, zu übernehmen haben. dere Nato-Land außer Griechenland. In der Zypern-Frage können wir voranÇakmakoglu: Wir sind von zehn Nachbarn kommen, wenn endlich die Existenz zweieingekreist, die früher fast alle Kolonien er souveräner Staaten auf Zypern anerdes Osmanischen Reichs waren. Daraus kannt wird. Es kann nicht angehen, dass entstehen noch immer Animositäten. Die- der Südteil der Insel … ser Feindseligkeit müssen wir mit Stär- SPIEGEL: … also der griechische … ke begegnen. Kein anderes Nato-Land hat Çakmakoglu: … noch immer als der Reso bedrohliche Nachbarn. Deutschland präsentant der ganzen Insel angesehen gibt ohne jeden Gegner an seinen Gren- wird. zen dreimal so viel für das Militär aus Interview: Siegesmund von Ilsemann, Bernhard Zand wie wir. 212 d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Ausland RUSSLAND Jelzins Militärs wollen sich in Tschetschenien bis zum siegreichen Ende schlagen – ohne Rücksicht auf Verluste für Moskaus internationales Ansehen. S schung in Russlands innere Angelegenheiten. Eine „menschliche Katastrophe“? Das sei ein „Trugbild“, welches der Westen künstlich erzeuge, lautete Iwanows Salto in den Sowjet-Stil. Sein Vize Jewgenij Gussarow beschied die OSZE-Kollegen, welche ihren Bericht auf dem Gipfel der EuropaOrganisation am Donnerstag in Istanbul vorlegen wollen, Russland werde „mit der Situation allein fertig“. Moskauer EU-Botschaften wurden über die Schlussfolgerungen der Inspektoren vorab informiert, wobei sich die Überzeugung festigte, dass Russlands Wüten in Tschetschenien durchaus nicht mehr allein dessen innere Angelegenheit sei. Erzürnt warnte der Sprecher des Moskauer Außenministeriums die anderen 53 OSZE-Mitgliedstaaten davor, den Kaukasuskrieg beim Treffen in der Türkei etwa zum Hauptthema zu machen. Französische Diplomaten hatten gewagt, mit Tschetscheniens Außenminister Iljas Achmadow zu reden. Anders als im ersten Feldzug 1994/96, so bestätigte Achmadow in Paris, hätten die Russen bereits 200 Boden-Boden-Raketen gezündet, 4000 Zivilisten seien ums Leben gekommen. Empört bestellte das russische Außenministerium Militärminister Sergejew, Chef Jelzin Auf Durchmarsch programmiert Frankreichs Botschafter am vorigen Donnerstag in den Stalin-Wolkenkratzer am Smolensker Platz in Moskau: Die Franzosen hätten einen „unfreundlichen Akt“ begangen, wurde er verwarnt, und Russlands territoriale Integrität verletzt. Jelzins Vize-Kanzleichef Igor Schabdurassulow räumte rasch „einige“ Ziviltote ein, infolge von „Fehlern, für die wir die moralische Verantwortung tragen“. Dennoch sei der „Kurs richtig“ und „die Führung sich einig“. Intern klang es ganz anders. Der Einbruch an der Propagandafront ließ einen hohen Kreml-Beamten bei seinem abermals urlaubenden Präsidenten Alarm schlagen, per Kurierpost: „Die Gefahr wächst, dass unsere gerechte Position in ausländischen Medien nicht mehr durchdringt und Russland den Informationskrieg um Tschetschenien wieder verliert.“ Trotz Gleichschaltung der Medien und der Abriegelung des Tatorts wagten westliche Journalisten und Diplomaten zu zweifeln, ob für die angebliche Banditenjagd eine fast 100 000-köpfige Armee ein Land planieren muss. Dabei ist der Beweis, dass die blutige Bombenserie in Russland (293 Tote) tschetschenische Urheber hatte, bis heute nicht geführt. Der Geheimdienst FSB benannte nun den Ägypter Saïd alMaban als Finanzier des Terrors – der Geschäftsmann hatte vor einem Jahr auf einem Kongress 200 000 Dollar für hungernde Muslime gestiftet. Russlands Präsident muss jetzt auf dem letzten großen Gipfel seiner Amtszeit in Istanbul mit Vorwürfen rechnen. Doch seine Generäle sind auf Durchmarsch programmiert. Sie werben dafür mit dem simplen Argument, nur derjenige werde im nächsten Sommer die Präsidentenwahlen gewinnen, der die Kaukasus-Kampagne siegreich beende. Volkes Stimme scheint diese Kalkulation zu stützen: Jeder dritte Moskowiter ist mit dem Vormarsch der Armee in Tschetschenien A. SEL / SIPA PRESS chnee deckt Panzer, Trümmer, Leichen und die Zelte zu, Kälte bis zu 30 Grad minus lähmt die blutjungen russischen Rekruten und tötet die Hilflosesten der 200 000 geflüchteten Tschetschenen: Jetzt führt im Nordkaukasus General Winter das Kommando – eigentlich die Gelegenheit zu einer Feuerpause. Am Kontrollposten Kawkas 1 an der Grenze zwischen Inguschien und Tschetschenien, wo noch immer Geschützdonner hallt, prüfte vorige Woche ein Inspektionstrupp der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) die Kriegsfolgen: Sieben Experten unter Leitung des norwegischen Diplomaten Kim Traavik besuchten notdürftig eingerichtete Flüchtlingslager in Schulen und Schuppen, Erdhütten und eiskalten Eisenbahnwaggons. Weiter, ins eigentliche Kampfgebiet, ließen russische Befehlshaber die fremde Kommission nicht vor. Doch der reichten bereits die Eindrücke aus der Elendsetappe, um „schwere humanitäre Probleme“ zu protokollieren. Russlands feinsinnigem Außenminister Igor Iwanow gelten solche vorsichtigen Mahnungen längst als verbotene Einmi- DPA „In einer Woche platt“ Raketentrümmer in Grosny: 4000 getötete Zivilisten 214 d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Ausland 216 d e r aber wirbt allein Verteidigungsminister Igor Sergejew noch für eine rasche Beendigung des Krieges, spätestens bis zum Ende dieses Jahres. Doch er donnerte auch, der Westen trachte nur danach, Russland aus der Kaspi-Region, dem Kaukasus und Mittelasien herauszudrängen. Zunehmend gerät er unter Druck seines Generalstabschefs Anatolij Kwaschnin, der sich von der Schmach des verlorenen ersten Tschetschenien-Krieges reinwaschen und außer- AP zufrieden, ein weiteres Drittel plädiert sogar für noch härteres Draufschlagen: Auch eine Bürgermehrheit fällt zurück in den Sowjet-Stil. Premier Wladimir Putin, dem eine Moskauer Tageszeitung die Ausstrahlung eines „getrockneten Haifischs“ attestierte, setzt längst ungeniert auf diesen Kriegspopulismus – und auf die alten Kameraden. Publikumswirksam überreichte er Tatjana Teperik den postum verliehenen Orden „Held Russlands“ für ihren gefallenen Ehemann, einen Polizeioffizer. Ein ehemaliger Putin-Gehilfe behauptet, der Geheimdienst-Oberst a. D. habe den Wechsel vom willigen Jelzin-Instrument zum potenziellen Soldatenkaiser längst vollzogen. Das Risiko kennt er: „Irgendwann werden wir alle gefeuert“, meditierte der Premier. Der Moskauer Politologe Andrej Piontkowski befürchtet dagegen einen „schleichenden Militärputsch“: Putin sei „der zivile Sprecher des Militärs“, Boris Jelzin könne ihn nun „nicht mehr entlassen und umgekehrt Putin nicht die Generäle“. Darauf stellen sich die Kader ein, die in ihrer Karriereplanung auf Putin setzen. Anatolij Tschubais beispielsweise, ehemals Privatisierer der Staatswirtschaft und Darling aller Neoliberalen, ist heute Chef des staatlichen Stromkonzerns und „mit allen Handlungen der Regierung in Tschetschenien vollständig einverstanden“. Mehr noch: Russland sei in der glücklichen Lage, dass „Putin die Armee kontrolliert und die Armee ihm vertraut“. Einzelne Generäle gebärden sich schon, als habe ihr oberster Kriegsherr Jelzin, der Putin zu seinem Nachfolger erkoren hatte, bereits abgedankt. General Wladimir Schamanow, Kommandeur der Armeegruppe West in Tschetschenien, droht öffentlich mit seinem Abschied, falls eine Feuerpause befohlen wird: „Ich werde meine Schulterstücke sofort abreißen und gehen.“ Sein Vorgesetzter Wiktor Kasanzew prahlt, er könne die Region „in einer Woche mit Bomben platt machen“, wenn Jelzin die Rebellen-Republik unter Kriegsrecht stelle. Wenn nicht, solle sich das Volk auf weitere drei Jahre Krieg einrichten. Oder noch länger: Trotz aller Siegesfanfaren der Militärpropaganda ist seit Beginn der so genannten Anti-Terror-Aktion vor sieben Wochen nicht einer der 157 Tschetschenen-Anführer gefangen, getötet oder verwundet worden. Jetzt lässt der Winter für Monate die Angriffslust gefrieren. Doch auch Generaloberst Walerij Manilow, Vize-Chef des Generalstabs, bestärkt Zweifel, ob die Militärführung sich noch einem Politiker-Befehl zu Friedensverhandlungen fügen werde. Befürchtungen, in diesem Fall komme es zu „Unzufriedenheit, Unruhen oder Ultimaten“, nannte er „hypothetisch“ – jedoch nicht grundlos. Außenminister Iwanow rät vorsichtig zu einer „politischen Regelung“ des Tschetschenien-Problems. Unter den Militärs Kriegerwitwe Teperik, Premier Putin Orden für den toten Helden dem auf den Sessel des Ministers setzen möchte. Dem Sog zu einer Gesellschaft, die sich von der Außenwelt isoliert und auf einen Sonderweg zwischen Kaserne, Kirche und Kapitalismus begibt, kann sich kaum noch eine politische Kraft in Russland entziehen. Tschetschenien wirkt als Stimulanz. Selbst die jüngste Friedensinitiative des liberalen Jabloko-Parteiführers Grigorij Jawlinski bedeutet eine verdeckte Kapitulation vor der neuen Sehnsucht nach einer starken Hand: Liefert Grosny nicht alle von Russland gesuchten Leute und alle Waffen aus, sollen 30 Tage für die Flucht bleiben, danach hat die Armee freie Hand. Nur Menschenrechtler Sergej Kowaljow klagt noch, dass Moskau „die Mittel der Nato nutzt, um Milo∆eviƒs Ziele zu erreichen“. Der Wehretat des kommenden Jahres steigt um 800 Millionen auf 5,4 Milliarden Dollar. Eine Delegation des Weltwährungsfonds verhandelt in Moskau über die nächste Tranche des im Juli zugesagten Kredits von 4,5 Milliarden Dollar. Schon im Dezember sollen zunächst weitere 640 Millionen fließen. Für die Flüchtlinge aus Tschetschenien wendet die russische Regierung je Kopf kaum 20 Rubel am Tag auf, vier Millionen Dollar im Monat – ein 160stel der nächsten Subvention aus dem Westen. s p i e g e l Jörg R. Mettke 4 6 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Ausland J U G O S L AW I E N Die Belgrad Party Die Menschen in Belgrad richten sich auf einen langen Winter mit Diktator Milo∆eviƒ ein. Der Lebensstandard sinkt dramatisch. Doch eine mit Schwarzmarkt-Geschäften reich gewordene neue Elite probt den Tanz auf dem Vulkan. Von Erich Follath D Jelena Djukiƒ, 26, hat Archäologie studiert, bevor sie sich professionell der Mode verschrieb. „Die jüngsten Ereignisse“ umschreibt sie die Nato-Angriffe. Diese jüngsten Ereignisse hätten die Belgrader dazu verdammt, „geduckt und primitiv wie Vorzeitmenschen zu leben“. Deshalb hat sie Kleider mit Motiven von Höhlenmalern versehen. Ihre Kollegin Verica Rako‡eviƒ verordnet den Models Nonnenkluft und lässt sie gegen das Dunkel der Nächte mit Kerzen über den Laufsteg schreiten. Nata∆a Krstiƒ reduziert die Kleider auf Fetzen – die Jugoslawin als in den Urwald zurückgeworfene Tarzan-Jane. Der Beifall ist riesig. Modewochen-Organisator Radujeviƒ, 33, ein Beau mit sanftem Blick,verneigt sich glücklich. Er kennt tout Belgrad. Durch seinen Vater, den Direktor der größten Kaufhauskette des Landes, verfügt er über beste Beziehungen zur Führungsclique um Präsident Slobodan Milo∆eviƒ. Das gilt auch für weite Kreise des Publikums: Auf dem Parkplatz vor der Festung stehen dutzende Porsche, BMWSportwagen und Mercedes der S-Klasse. Die bevorzugten Couturiers der Belgrader Modenschau-Gäste stammen nicht vom Balkan: Versace rauscht, Armani raschelt, als man sich anschließend zum Krimsekt trifft. Die meist sehr jungen Damen aus dem Publikum werden von ihren Begleitern wie Trophäen präsentiert. Sie tragen Schmuck von italienischen Goldschmieden; die Herren tragen eher Gold-Berettas vom italienischen Waffenhersteller. Hier auf der Burg dürfen sie Macho spielen. Im traditionellen Belgrader Elite-Treff, dem Hotel Hyatt auf der anderen Seite der Save, warnt ein Schild die „verehrte Kundschaft“: „Es ist Politik des Hauses, dass alle Pistolen am Eingang abgegeben werden müssen.“ Mit Belgrad geht es rapide abwärts. Die Inflation hat 15 Prozent monatlich erreicht, der Dinar ist auf ein Drittel REUTERS urch die alten türkischen Folterverliese auf der Festung Kalemegdan über Belgrad dröhnt der Beat – Musik aus dem Arsenal der Nato-Sieger, mit provozierenden Namen. „B-52’s“ und „Rammstein“ heißen die bevorzugten Bands bei dem Treff der neuen jugoslawischen Elite. Wenn die Ironie beabsichtigt sein sollte, so hat sie für die Veranstalter der Belgrader Modewoche doch keine Bedeutung. Natürlich kennen sie die Namen der amerikanischen Bomber und ihrer US-Basen, aber hier geht es nicht um Politik. „Die Musik ist gut, sie passt zu unseren Kleidern, sie macht Spaß. Und das vor allem zählt nach diesen Wochen der Leiden“, sagt Nenad Radujeviƒ. Er streicht die Falten seines Fracks zurecht und macht vor geladenem Publikum die Honneurs. „Voilà, unsere erste Nachkriegskollektion, ausschließlich entworfen von einheimischen Designern.“ Dann tänzeln zum hämmernden Rap serbische Schönheiten über den Laufsteg – in abenteuerlichen Kreationen, die oft Bezug nehmen auf das, worüber man in Belgrad wenig spricht, aber woran man immer denkt: die Bomben, die Angst, die Zerstörung. Präsident Milo∆eviƒ, Anhänger Jede Nacht in einem anderen Bunker 218 d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 Modeaufnahmen im von Nato-Bomben zerstörten AP Belgrader Außenministerium: „Was nach diesen Wochen der Leiden zählt, ist Spaß“ d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 seines offiziellen Kurswerts gegenüber der D-Mark gesunken. Weite Teile der Industrieproduktion sind lahm gelegt, europäischen und US-Firmen ist der Handel mit Jugoslawien verboten, Direktflüge in den Westen gibt es nicht mehr. Serbien, das einzige Land der Welt, das von einem international angeklagten Kriegsverbrecher regiert wird, ist isoliert.Wie kommen die neuen Reichen von Belgrad zu ihrem Geld? Dejan Zdravkoviƒ, Besitzer des vornehmen Tennisclubs „Max“ im Nobelviertel Dedinje und Nachbar der Milo∆eviƒs, hat keine Scheu, es zu erklären – das Prinzip, nicht die Details. „Die internationalen Sanktio„Milo∆eviƒ nen sind für Geschäftsleute paradiesisch. Wer handelt wie ein die richtigen Leute kennt, Wahnsinniger, zahlt heutzutage keine und die andeZölle und keine Steuern. ren wollen aus Die Gewinnspannen sind Selbstsucht enorm, und sie zementiean die Macht“ ren Milo∆eviƒs Macht.“ Zdravkoviƒ, 49, macht den Präsidenten für vier verlorene Kriege verantwortlich, wird aber keinen Finger rühren zu seinem Sturz. Der Mann, der lange Zeit in Italien gelebt und an Regierungen in alle Welt zur Waffenherstellung taugliche Werkzeugmaschinen verkauft hat, ist zuallererst Pragmatiker. Er gehört zum inneren Kreis der Kleptokratie, der die Serbien GmbH beherrscht. „Wer gibt schon freiwillig seine Macht auf, seine Geldquellen?“ Der Spezialist für Im- und Export fährt einen Porsche und hat ihn „selbstverständlich“ legal erworben. Einen Monat lang durften sich auf Milo∆eviƒs Anweisung jetzt alle Autobesitzer in Belgrad offizielle Nummernschilder für ihre Wagen abholen, ohne deren Herkunft nachweisen zu müssen – ein Freifahrschein für Schieber und Schwarzhändler. Wenn Interpol kommt, wird sie anhand von Seriennummern am Motorblock leicht feststellen können, dass praktisch alle Luxusautos in der jugoslawischen Hauptstadt Diebesgut sind. Doch Interpol kommt erst, wenn Milo∆eviƒ gestürzt, das Land nicht mehr international geächtet, die Sanktionen aufgehoben sind. Die Belgrader Nomenkleptura schmerzt zwar, dass sie keine Visa mehr für den Westen erhält, aber sie tröstet sich damit, die billigsten Porsches der Welt zu fahren. Viele junge Leute mit Uni-Abschluss und Hang zur ehrlichen Arbeit sind längst abgehauen: mehr als 300 000 Republikflüchtlinge, ein ungeheurer intellektueller Aderlass. Die meisten der Zurückgebliebenen zwischen 18 und 30 Jahren sehen wenig Sinn darin, einem geregelten Job nachzugehen oder ihn auch nur anzustreben. Ein Universitätsassistent verdient 200 Mark monatlich, eine Lehrerin 250 Mark. Das reicht kaum für mehr als eine Packung Müller-Milchreis oder ein Heineken-Bier 219 E. FOLLATH / DER SPIEGEL Ausland Flohmarkt im Armenviertel von Belgrad „Gesetz und Ordnung, was heißt das“ AP pro Tag (beides am Kiosk oder im Supermarkt vorhanden). Entbehrung und Bombentrauma machen die jungen Leute selbstsüchtig – und zynisch. Viele haben ihre Ausbildung abgebrochen, sie denken nicht an Familiengründung, sie verabscheuen jede Form der Verantwortung. Eine ganze Generation, so scheint es, will das Erwachsenwerden einstellen. Die Welt hat sich von ihnen verabschiedet, also nehmen sie von der Welt eine Auszeit: Was zählt, ist der Augenblick, ist Fun, Fun, Fun. Belgrads Jugend inhaliert das Leben, Glück im Hier und Jetzt – ob am Rande oder gar jenseits der Legalität interessiert da kaum mehr. „Gesetz und Ordnung, was heißt das schon in Belgrad“, sagt Milena, die Ex-Ju- rastudentin, die ihr Studium aufgegeben hat und die Frage nach dem Warum nicht versteht: „Sollte ich Rechtsanwältin werden in einem Land, in dem das Recht nichts zählt?“ Wie so viele in der Szene legt auch sie keinen Wert mehr auf ihren Familiennamen, hat den Kontakt zum Elternhaus abgebrochen. „Meine alte Identität ist abgelegt, es existiert kein Relikt mehr aus meinem letzten Leben.“ Mit 17 hat sie an Demonstrationen teilgenommen, 1996 noch an einen demokratischen Machtwechsel geglaubt. Doch damit ist es für Milena vorbei: „Politik ist bei uns eine Krankheit. Milo∆eviƒ handelt wie ein Wahnsinniger. Der Westen bombardiert die Menschen, die ihn stürzen wollen und nimmt uns die Lebensgrundlagen. Und Belgrads so genannte Oppositionelle hassen einander mehr als Milo∆eviƒ, wollen nur aus Selbstsucht an die Macht.“ Also steht Milena jeden Tag erst am späten Nachmittag auf. Guckt dann MusikVideos. Schlingt irgendwelches Fast Food hinunter. Macht sich schön für die Nacht – und die Männer, von denen sie sich aushalten lässt. Politik ist „uncool“, aber Luxus ist „cool, egal aus welchen Quellen er stammt“. Die Konkurrenz williger junger Partygängerinnen ist groß, mit ihren 20, meint sie, zähle sie bald schon zum alten Eisen. Sie liest ihre Verehrer in Bars auf, deren Namen von der Sehnsucht nach der großen weiten Welt zeugen: im „Ipanema“, im „Acapulco“, im „Passport“. Milenas Nächte enden dann meist im „Nana“ oder im „Rose“, den beiden sündhaft teuren Nachtclubs in Dedinje, wo es erst weit nach Mitternacht richtig losgeht. Wo es im Hinterzimmer für alle, die die Nase voll haben, eine Nase voll gibt: Kokain macht die Musik heißer, die Männer sympathischer, die Zukunft unwichtiger, den Sex erträglicher. Auch Präsident Milo∆eviƒ, 58, schläft jede Nacht in einem anderen Bett – aus an- Discothek in Belgrad: „Luxus ist cool, egal aus welchen Quellen er stammt“ 220 d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 deren Gründen. Er hat Angst vor einem überraschenden Nato-Schlag. Doch tagsüber ist er sehr präsent: Milo∆eviƒ, so sagen Belgrader Insider, weiß alles. Er ist ein merkwürdiger Diktator in einer merkwürdigen Diktatur. Zwar kontrolliert Milo∆eviƒ die elektronischen Medien fast zu hundert Prozent, und er lässt dort Lügen über die Zustände in seinem Land verbreiten, dass sich der Balkan biegt. Zwar ordnet er in unregelmäßigen Abständen brutale Polizeieinsätze gegen Demonstranten an. Aber er lässt auch Kritik zu – und öffnet so geschickt Ventile. Die größte Belgrader Boulevardzeitung „Bliƒ“ erscheint mit einem Bild einer Wandmauer auf Seite eins, deren Aufschrift lautet: „Sloba ne hvala – Slobo nein danke“. Und im Theater kann der Komiker Mi‡ko den Präsidenten, der ihm verblüffend ähnlich sieht, öffentlich nachäffen und der Lächerlichkeit preisgeben. Zu der Melodie von Frank Sinatras „Strangers in the Night“ singt ein Chor: „Und jetzt auch noch das Kosovo, nehmt Abschied vom verlorenen Kosovo.“ Dragoljub Ljubi‡iƒ, wie Mi‡kos richtiger Name lautet, glaubt, dass man in diesen Tagen in Belgrad ziemlich alles sagen und tun kann, was man will. Milo∆eviƒ erlaube das so lange, wie er sich durch die Kritik ungefährdet fühle, meint der Satiriker. Dieser Zustand könne noch lange sein. Nach Ansicht des Theatermanns sind die Belgrader schizophren: „An manchen Tagen halten wir uns für die Juden dieser Welt, an manchen für die Nazis. Unsere Situation ist so verrückt, dass die Menschen nicht wissen, ob sie lachen oder weinen sollen.“ Von Belgrads Intellektuellen war lange nicht mehr viel zu hören, und wenn, dann wenig Rühmliches. Der Serbische Schriftstellerverband UKS verurteilte die Demonstranten gegen Milo∆eviƒ. Der regimetreue Verein lud kürzlich den russischen Philosophen Alexander Sinowjew ein, der seinen Gastgebern prompt versicherte, sie gehörten zu einem Heldenvolk, „von der Nato unbesiegt“. Ein Großteil der bekannten Autoren wie Mirko Kova‡, Bora ±osiƒ und Bogdan Bogdanoviƒ hat sich ins Ausland abgesetzt. Von denen, die bleiben, kuschen die meisten. Immerhin verließen jetzt einige Dichter um die junge Dramatikerin Biljana Srbljanoviƒ den offiziellen Club und gründeten einen „Unabhängigen Schriftstellerverband“. Milo∆eviƒ lässt sie gewähren. Die Autoren finden mit ihren Aufrufen gegen serbische Fremdenfeindlichkeit wenig Gehör. Die meisten Menschen in der jugoslawischen Hauptstadt haben andere Sorgen als Literatur oder Theater oder Discos. Die Herbststürme haben eingesetzt, der Winter kommt. In den nächsten Monaten geht es für alle diejenigen, die sich nicht an den Sanktionen reich gestoßen haben, nur ums Überleben. Heizöl ist knapp, und dass die Werbeseite Werbeseite Ausland nicht alle unsere Soldaten wie Engel benahmen, das haben wir aber auch nie behauptet“, meint Vladimir Iliƒ, der Staatssekretär im Informationsministerium. So schwer es ist, in der Serben-Hauptstadt eine positive Stimme über Milo∆eviƒ zu finden, so schwer ist es auch, eine Stimme der Sympathie für die Albaner zu vernehmen. Belgrad, im November 1999, Szenen vom Tanz auf dem Vulkan: Gegen 18 Uhr sammeln sich wie jeden Abend Demonstranten auf dem Platz vor dem Nationalmuseum, lärmen mit ihren Trillerpfeifen, rufen: „Milo muss weg!“ Es ist ein Ritual mit wechselnder Teilnehmerzahl. Katz-und-Maus-Spiel mit der Polizei, die am vergangenen Dienstag wieder dutzende Protestierer blutig prügelte. Gegen 20 Uhr posieren Tanja, Irena, Marija und Andjelika leicht geschürzt in den Trümmern des von Nato-Raketen bis auf ein Stahlpfeiler-Skelett zerstörten Außenministeriums – Mode morbid für „Reflexionen unserer Zeit“, den Katalog der „new yugoslav fashion designers“. Gegen 23 Uhr macht sich Milena zur Party auf. Die Discothek „Madona“ des Milo∆eviƒ-Sohns Marko im eine Autostunde entfernten Po≈arevac soll wieder eröffnet sein; „Bambipark“ hat der DiktatorenSpross sein angrenzendes Freizeitzentrum getauft. Vorher noch schnell eine Portion Müller-Milchreis verschlungen, das Rouge abgetupft. Und bloß nicht an die Zukunft denken. Alles Milo. Oder was? ™ REUTERS Europäische Union jetzt einigen von Op- cher aus dem Westen entdeckt, kann sie positionellen regierten Städten Brennstoff ihren Zorn nicht beherrschen: „Ihr solltet liefern will, hilft in Belgrad (dessen Bür- euch schämen! Ihr wollt uns vernichten, germeister nicht der Regierungspartei an- ihr Unmenschen!“ Ein Student namens Janko, der Comics gehört) keinem. Die Menschen müssen sich auf dem teuren Schwarzmarkt versorgen. verkauft, mischt sich ein und drängt die Um an die dafür nötigen Devisen heran- Aufgebrachte ab. Der Renner in seinem Angebot sind alte Asterix-Hefte, zukommen, verkaufen sie ihr deren erste Seiten er mit einem letztes Hab und Gut. Der ärmliche Flohmarkt vor „An manchen eigenen Text überklebt hat. Aus Tagen halten den tapferen Galliern, die den den Mietskasernen von NeuBelgrad ist nichts für Milena und wir uns für die übermächtigen Römern trotzen, ihre Partyfreundinnen. Er beJuden dieser macht er neue Helden, aus Milo∆eviƒ Miraculix: „Ganz Euginnt schon in den frühen MorWelt, an ist von den Amerikanern genstunden und endet um vier manchen für ropa unterjocht. Ganz Europa? Ein Uhr nachmittags: Schlafenszeit die Nazis“ kleines Volk auf dem Balkan hält für die Spaßgeneration. Am stand: die Serben …“ Jurij-Gagarin-Boulevard stehen Den Studenten Janko, die Partygängerin hauptsächlich ältere Frauen und Männer, mit Lampenschirmen, mit Marmela- Milena, den Modemacher Nenad, den Gedengläsern, mit Autoersatzteilen. Einige schäftsmann Dejan verbindet nichts, nur bieten alte Kalender an, andere neue Post- das: Sie alle glauben, dass die Nato-Länder karten. Sie zeigen von Nato-Raketen in sich gegen Belgrad verschworen und einen Brand geschossene Ministerien. Aufge- ungerechtfertigten Angriffskrieg geführt druckter Kommentar: „Ein Triumph für haben. Aber war da nicht noch was – die Belgrader Feuerwehr“. Oder einen schlimmste Menschenrechtsverletzungen, schon in Trümmern liegenden Gebäude- begangen vom serbischen Militär, ethnikomplex, auf dem kleine Jungs herumtur- sche Säuberungen, angeordnet von Sernen: „Kinderspielplatz, Designed by biens Regierung? Sicher, irgendwie hätten sich bei dem Konflikt im Kosovo alle SeiNato“. Die Stimmung ist eher apathisch als ag- ten schuldig gemacht, aber bestraft würgressiv. Am Vortag hat die Stadtverwaltung den wie immer in der Geschichte nur die die Elektrizität für zwei Stunden abge- Serben, sagt Student Janko. Partygirl Miledreht: Hinweis auf schlimmere Dinge, die na denkt, dass die Kosovaren sowieso alles in den nächsten Monaten kommen könn- Drogendealer seien und mit dem Morden ten. Doch als eine Verkäuferin die Besu- angefangen hätten. „Kann ja sein, dass sich Studentendemonstration durch die Innenstadt von Belgrad: „Präsident Milo∆eviƒ muss weg“ 222 d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite DPA Autonomie-Kundgebung in Banda Aceh*: „Die Leute haben zu viel Terror erlebt, ihre Geduld ist am Ende“ Acehs führt.“ Akbars Einspruch wiegt schwer. Als Führer der früheren Regierungspartei Golkar hatte der Diplomatensohn seine Anhänger dazu gedrängt, dem damaligen Präsidenten B. J. Habibie die Gefolgschaft zu entziehen, weil dieser die Abspaltung Osttimors eingeleitet Nach Osttimor will auch die Krisenprovinz Aceh unabhängig hatte. werden. Präsident Wahid steht vor einer Flugs korrigierte Wahids neuer Außenminister Alwi Shihab seinen für widerschweren Bewährungsprobe. Zerfällt sein Riesenreich? sprüchliche Aussagen bekannten Chef: „In eine Anhänger johlten nach der Rede, strömten in der Provinzhauptstadt Banda Fragen der nationalen Einheit muss zuerst Beobachter werteten sie als bedeu- Aceh am vorigen Montag die Bewohner die Beratende Volksversammlung konsultende Richtschnur für die Zukunft des zusammen. In einer der bisher größten De- tiert werden.“ Auch Wahid schränkte sein Landes. Unmittelbar nach seiner Wahl vor monstrationen Indonesiens forderten etwa Zugeständnis rasch wieder ein: „Mit eiknapp vier Wochen war Indonesiens neu- eine Million Acehnesen „Freiheit“ und ei- nem Referendum wollen wir uns auf keinen Fall drängeln lassen.“ er Präsident Abdurrahman Wahid, 59, zu nen unabhängigen „islamischen Staat“. Kaum im Amt, droht dem ersten demoDer nach zwei Schlaganfällen fast ereiner spontanen Ansprache vor das Parlakratisch gewählten Präsidenten eine schwe- blindete Wahid, ein geschickter Taktiker, ment in Jakarta getreten. Mit dem Erbe der Ära Suharto müsse re Regierungskrise. Reformpolitiker, die hofft auf die Überzeugungskraft seines „friedlich“ aufgeräumt werden, forderte geholfen hatten, eine Mehrheit für ihn zu Kompromissmodells für Aceh. Die Region, das Staatsoberhaupt. Um den wirtschaft- schmieden, revoltieren. „Wenn Aceh sich so hatte er angekündigt, dürfe fortan 75 lichen Niedergang der mit 210 Millionen abspaltet“, protestierte Amien Rais, Spre- Prozent der Erlöse aus ihren reichen Öl-, Bewohnern viertgrößten Nation der Erde cher der Beratenden Volksversammlung, Gas- und Edelmetallvorkommen behalten. Nahe der Stadt Lhokseumawe befinzu stoppen, wolle er vor allem die „Ein- „dann bricht alles auseinander.“ Auch Parlamentssprecher Akbar Tan- den sich Indonesiens gigantische Erdgasheit des Landes sichern“. Doch schon vergangene Woche schien das Versprechen jung machte seinen Widerstand deutlich: vorkommen und die wichtigste Produkdes sanften Muslimführers nur noch „Kein Abgeordneter würde ein Referen- tionsstätte von Flüssiggas. Hier werden gut dum unterstützen, das zur Abspaltung zehn Prozent der Deviseneinnahmen des Makulatur. Archipels der 17 500 Inseln Nachdem Wahid auf einer I N D O N E S I E N erwirtschaftet. In der VerPressekonferenz versichert Banda Aceh gangenheit war davon so gut hatte, auch den 4,3 MillioMALAYSIA wie nichts in der Provinz genen Bewohnern der rebelliMolukken Aceh blieben. schen Nordprovinz Aceh Riau Irian Kalimantan Wahid ordnete zudem an, stehe ein UnabhängigkeitsJaya Sumatra dass die Armee sich aus dem referendum wie in Osttimor Sulawesi Jakarta Java 55392 Quadratkilometer grozu („Das ist Gerechtigkeit“), ßen Gebiet an der strategisch Timor 0 750 wichtigen Straße von Malak* Vor der Baiturrahman-Moschee am Kilometer AUSTRALIEN ka möglichst schnell zurück8. November. Präsident Wahid INDONESIEN Alptraum einer Anarchie AFP / DPA S 224 d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite zieht und die Polizei Demonstrationen gebildet worden“, behauptet der gedrunnicht mehr unterbindet. Den Sicherheits- gene Mann. kräften wurden in der Vergangenheit Schon heute herrschen in Aceh die strikschwere Menschenrechtsverletzungen vor- ten Regeln des Islam. Der Verkauf von geworfen. Alkohol oder Frauenfotos auf WerbeplaSeit die „Nationale Befreiungsfront katen sind streng verboten. „Wir wollen Aceh-Sumatra“ 1976 einen islamischen zu unseren historischen Wurzeln zurückStaat unter Leitung des ins schwedische kehren“, sagt Sahputra. Exil geflüchteten Prinzen Hasan di Tiro Aceh, traditionell Schnittstelle zwischen ausgerufen hatte, herrscht Aufruhr. 1989 arabischer und asiatischer Welt, galt über erklärte der damalige Diktator Suharto Jahrhunderte als Tor des Islam zu den inAceh zum „militärischen Operationsge- donesischen Inseln.Weil die Aceh-Muslime biet“. Jakartas Truppen durften morden, sich nicht den holländischen Kolonialherren foltern und vergewaltigen, sofern sie nur ergaben, errichteten die Pfeffersäcke im den geringsten Verdacht hegten, es mit einstigen Sultanat eine Gewaltherrschaft, Sympathisanten der radikalen Muslim- die bis Anfang des Jahrhunderts zehntauGuerrilla zu tun zu haben. sende Opfer forderte. Erst die Zusicherung Der Hochschullehrer Abdul Moham- einer weitgehenden Autonomie im jungen med, 52, geriet 1990 in die Fänge der Indonesien überzeugte die Acehnesen, sich gefürchteten Eliteeinheit Kopassus. Um dem Staatsgründer Sukarno anzuschließen. das Geständnis zu erpressen, er habe die Doch von ihm und seinem Nachfolger SuGuerrilla unterstützt, rissen seine Peini- harto fühlten sie sich betrogen. ger ihm die Fußnägel aus und schlugen „Es hat gar keinen Sinn, mit Jakarta über ihn mit Tischbeinen. „Nach drei Mona- etwas anderes als Unabhängigkeit zu verten Haft“, sagt der schmächtige Mann, handeln“, meldete sich vorige Woche Prinz „hat meine Familie mich nicht wieder- Hasan di Tiro, Thronfolger der letzten erkannt.“ acehnesischen Sultan-Dynastie, aus StockMenschenrechtsgruppen schätzen die zi- holm zu Wort. „In wenigen Jahren wird vilen Opfer der letzten zehn Jahre vor- Indonesien in mindestens fünf Länder zersichtig auf etwa 3000. Die Aufständischen fallen sein.“ sprechen von mehr als 30 000 Toten. StänAuch die südlich von Aceh gelegene Prodig werden neue Massengräber entdeckt. vinz Riau, in der rund 50 Prozent des in„Auch wenn Wahid jetzt einen noch so donesischen Erdöls gefördert werden, will weit reichenden Autonomiestatus ver- unabhängig werden. Gleiches gilt für Suspricht“, sagt der Menschenrechtsaktivist lawesi und die unruhigen Molukken. Wiratmadinata, „kommt das zu spät. Die In Irian Jayas Hauptstadt Jayapura, gut Leute haben zu viel Terror erlebt, ihre Ge- 4000 Kilometer von Aceh entfernt, gingen duld ist am Ende.“ Obwohl vergangene am Freitag mehrere tausend Menschen für Woche der Kommandeur der Streitkräfte die Unabhängigkeit auf die Straße. Die in Aceh durch einen Einheimischen ersetzt Westhälfte Neuguineas, Heimat von knapp wurde, schlägt den Soldaten Jakartas nur zwei Millionen Menschen, die einen der noch Hass entgegen. größten Urwälder der Erde bewohnen, war Als sich Truppen in der Gegend von erst 1969 mit falschen Versprechungen dem Lhokseumawe weigerten, die rot-wei- indonesischen Staat einverleibt worden. Wahid weiß, welches schwierige Erbe er ße indonesische Fahne einzuholen, brannten Demonstranten kurzerhand die Ka- antritt. Im September hatte ihn eine seiner serne und das Provinzparlament nieder. letzten Wahlkampfreisen nach Aceh geIn einem Vorort wurde ein Soldat splitter- führt. Wenn er gekommen sei, um einem nackt durch die Straße getrieben. In Ban- Referendum zuzustimmen, sei er willkomda Aceh stürmte der Mob das Gefängnis men, empfingen lokale Politiker den Gast und befreite mehr als 100 Insassen. Die am Flughafen. „Wenn nicht, können Sie Ordnungskräfte waren machtlos. Sie dür- gleich wieder umkehren.“ Jürgen Kremb fen, damit die Ausschreitungen nicht eskalieren, ihre Schusswaffen nicht mehr benutzen. Die aufziehende Anarchie könnte für Jakarta zum Alptraum werden. „Wenn Wahid uns nicht bald ein Referendum gewährt“, droht Ismail Sahputra, 34, Kommandeur der Guerrilla im Distrikt Pase, „erklären wir ihm den Dschihad, den heiligen Krieg.“ Die Guerrilla habe derzeit mehr als 1000 Mann unter Waffen und könne schnell aufgestockt werden. „Mehr als 5000 Acehnesen sind in Libyen aus- Rebellen in Aceh: Nur noch Hass auf Jakarta 226 d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 AP Ausland Werbeseite Werbeseite Ausland SÜDTIROL Properer Populist P. GRÜNER / IFA Jörg Haiders FPÖ bringt die Rückkehr der Dolomiten-Provinz nach Österreich ins Gespräch – zum Verdruss der Bozener Landesregierung. Auch die Bürger sind bisher dagegen. Brauchtumspflege (in Meran): Spürbare Abneigung gegen „richtige Italiener“ 228 ze im Landtag halten, fordern traditionell ein „Los von Rom“. Nach seinem spektakulären Wahlerfolg in Wien allerdings wird der Chef der FPÖ in Bozen ernster genommen. Argwöhnisch verfolgten die SVP-Oberen, dass die Haider-Partei schon in ihrem Parteiprogramm dafür plädierte, Südtirol „die Möglichkeit des Beitritts zur Republik Österreich in freier Ausübung des Selbstbestimmungsrechts offen zu halten“. Nun, sorgt sich Landeshauptmann Durnwalder, sei Haider „ein bedeutender Politiker unserer Schutzmacht Österreich, und ÖSTERREICH SCHWEIZ Bozen SÜDTIROL Mailand Venedig I TA L I E N Ligurisches Meer d e r AP A uf seinen österreichischen Kollegen Jörg Haider ist Luis Durnwalder, Regierungschef der autonomen italienischen Provinz Südtirol, derzeit nicht gut zu sprechen.Wann immer der Kärntner Landeshauptmann die Selbstbestimmung der Südtiroler über ihren Verbleib in Italien propagiere, sei das „unvernünftig bis gefährlich“, sagt Durnwalder. Der Ärger des prominentesten Politikers der Südtiroler Volkspartei (SVP), die im Bozener Landtag als Sammelpartei der Deutschsprachigen über 60 Prozent der Sitze verfügt, kommt nicht von ungefähr. Immer wieder hat FPÖ-Chef Haider die Frage einer Volksabstimmung in Südtirol ins Gespräch gebracht – als lebten südlich der Grenze am Brennerpass bedrängte Entrechtete, die unter dem Joch der Regierung in Rom zu leiden hätten. Im Land der Berge, des Weins und des Specks, das jährlich von mehr als drei Millionen deutschen Touristen besucht wird, fanden Haiders Parolen bisher nur am rechten Rand Gehör. Allein der politisch bedeutungslose FPÖ-Ableger „Die Freiheitlichen“ und die patriotische Union für Südtirol (UfS), die zusammen 3 der 35 Sit- er hätte sogar Kanzler werden können“. Deswegen sei es „schlimm“, wenn Haider „Unruhe und Unsicherheit in unsere Bevölkerung trägt“. Voreilig hat die UfS schon Pläne für eine Volksabstimmung geschmiedet. Ein erstes Referendum könne über die Loslösung von Italien entscheiden, ein zweites über die Rückkehr nach Österreich – mit der Alternative einer souveränen Republik Südtirol. Für die Idee einer eigenständigen Alpenrepublik, fürchtet auch der in Meran und München lebende Bergsteiger und Grünen-Europaabgeordnete Reinhold Messner, sei „mit viel Propaganda eine Mehrheit zu schaffen“. Der propere Populist Haider und seine Südtiroler Gefolgsleute setzen offenbar auf das leise Grummeln, das zwischen den Bergriesen Ortler und Marmolada zu hören ist, wenn Deutschsprachige über die Italiener urteilen. Das Verhältnis der Volksgruppen untereinander ist gestört; auch 80 Jahre nachdem der einst österreichische Landstrich am Ende des Ersten Weltkriegs Italien zugeschlagen wurde, sind die Wunden der Annexion nicht verheilt. Deutschsprachige (65,3 Prozent der 460 000 Südtiroler) und die Minderheit der Ladiner (4,2 Prozent) eint der Wille, mit Italienern möglichst wenig zu tun zu haben. In 112 von 116 Kommunen haben die Deutschen das Sagen. Vor allem die Elterngeneration nährt weiterhin Vorurteile gegenüber Italienern. Immer noch gehen Mädchen und junge Frauen Freundschaften mit „richtigen Italienern“ (so die gängige Bozener Sprachregelung) aus dem Weg, weil sie zu Hause Sanktionen fürchten. Kein Wunder, dass sich laut einer Jugendstudie des Landesinstituts für Statistik 41 Prozent der deutschsprachigen, aber nur 18 Prozent der italienischen Jugendlichen mit ihrer Heimat Südtirol identifizieren; jeder zweite Italiener fühlt sich am meisten mit „Italia“ verbunden. Das getrenntsprachige Schulsystem und die alle zehn Jahre einzureichende „Sprachgruppenzugehörigkeitserklärung“ helfen mit, die Barriere zwischen den Volksgrup- 50 km FPÖ-Vorsitzender Haider Pisa s p i e g e l „Unvernünftig bis gefährlich“ 4 6 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Ausland pen aufrechtzuerhalten. Der Kulturkampf um die Sprache nimmt bisweilen bizarre Züge an. Am Bozener Bahnhof kam es vor, dass ein italienischer Beamter nur dem eine Fahrkarte verkaufte, der den Südtiroler Zielbahnhof auf Italienisch nennen konnte. Ein deutschsprachiger Landesbediensteter wurde wegen Amtsmissbrauchs zu umgerechnet 700 Mark Buße verurteilt, weil er einem Italiener Auskünfte nur auf Deutsch erteilen wollte. Ethnische Vorbehalte, analysierte das Landesamt für Statistik, scheinen „bei Deutschen und Ladinern stärker verwurzelt zu sein als bei Italienern“. Ganz Südtirol müsse schuften, damit Italiens unterentwickelter Süden ernährt werden könne, lautet ein verbreitetes Vorurteil. Landeshauptmann Durnwalder weiß es besser: Der römische Staatsapparat überweist, einmalig in Italien, 90 Prozent der Steuereinnahmen aus Südtirol wieder in die Provinz zurück. Ihre allerorts spürbare Abneigung gegen die Italiener erklären die Südtiroler gern mit der „Geschichte“. Tatsächlich haben die „Deitschn“ unter den Italienern sehr gelitten. Die Mussolini-Faschisten verboten den Deutschunterricht, sie entließen deutschsprachige Lehrer und Verwaltungsbeamte. Erst tauften sie die Berge um und dann die Menschen: Ein Josef Grüner musste Giuseppe Verdi heißen, aus dem Dolomitenberg Schlern, dem Wahrzeichen Südtirols, wurde der Sciliar. Gleich zwei Diktatoren, Mussolini und Hitler, stürzten die Südtiroler 1939 in Verzweiflung. Die Bevölkerung wurde vor die Wahl gestellt, nach Großdeutschland umzusiedeln oder italienisch zu werden. Hunderttausende optierten für die Ausreise nach Hitler-Deutschland, viele kehrten Jahre später enttäuscht zurück. Auch das demokratische Italien ließ die Tradition jahrzehntelanger Okkupationspolitik zunächst noch fortleben. Erst das 1972 eingeführte Autonomiestatut brachte deutliche Besserung, inzwischen sind eher die Deutschsprachigen privilegiert. Die Italiener wiederum registrierten missmutig, wie ihre einstigen Privilegien bei der Umsetzung der Autonomie dahinschwanden. Früher schanzten sie sich 90 Prozent der Stellen im Öffentlichen Dienst zu, heute stehen ihnen nach dem Proporz von 10 Arbeitsplätzen in der Verwaltung statistisch nur noch 2,7 zu. Das Zusammenleben der beiden Bevölkerungsgruppen, tröstet sich Landeshauptmann Durnwalder, „funktioniert wie in einer Vernunftehe“. Soll heißen: Man liebt sich nicht gerade, man löst die Alltagsprobleme – und geht sich ansonsten, bitte sehr, aus dem Weg. Dabei ist Südtirol, so Alpinist Messner, „für alle Sprachgruppen ein Schlaraffenland“. Die Arbeitslosenquote liegt bei zwei Prozent. Das Bruttoinlandsprodukt d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 SCHNEIDER PRESS wächst beharrlich um fast drei Prozent, und in der italienischen Rangliste der Ersparnisse pro Familie liegt die Provinz Südtirol mit durchschnittlich rund 32 000 Mark auf Platz eins. Zwischen Brenner und Salurner Klause hat sich ein Wohlfahrtsstaat nach skandinavischem Muster längst vergangener Zeiten breit gemacht. Die Landeskasse ist so gut gefüllt, dass neue Ämter, Schulen, Museen, Krankenhäuser und Straßen gebaut werden können. Als einzige Provinz garantiert der „Alto Adige“ bedürftigen Einheimischen und auch Ausländern ein Lebensminimum von umgerechnet 860 Mark; überdies gibt es eine von der Landesregierung finanzierte staatliche Zusatzrente und eine im Süden unübliche ExtraRente für Invaliden. Lehrer verdienen fast doppelt so viel wie Pädagogen im übrigen Italien. Eigentlich gebe es, so Durnwalder, „keinen Grund, den Status quo zu verändern“, solange in Rom nicht die rechte Alleanza Nazionale regiere und die Südtiroler Autonomie in Frage stelle. Der Abenteurer Messner, der nahe Meran die Burg JuSüdtiroler Messner val besitzt, sieht gleichwohl Gefahren aus Wien auf sein Land zukommen. Wenn Haider eines Tages Kanzler werde und „seine Propagandamaschine anwirft, ist nicht abzusehen, wie das alles endet“. Sieben von zehn Südtirolern votierten nach Einschätzung ihres Landeshauptmanns für den Verbleib in Italien, wenn ein Referendum „von einem Tag auf den anderen“ durchgeführt würde. Hätten die Befürworter des Anschlusses aber ein halbes Jahr Zeit, für ihre Idee zu werben, gäbe es „eine Mehrheit für Österreich“. Was aber dann? Die SVP-Eliten sind sich sicher, dass „Österreich uns nehmen, Italien uns aber nicht gehen lassen würde“ (Durnwalder). Dass die Vereinten Nationen sich nach einer Volksabstimmung für die Verschiebung der österreichischen Grenze nach Süden aussprechen würden, hält er für „undenkbar“. Die Möglichkeit, den Wunsch nach einem Anschluss an Österreich wie früher mit Anschlägen zu untermauern, wäre seiner Meinung nach „das Schlimmste, was uns passieren könnte“. Deswegen, warnt Durnwalder, trete die Landesregierung „jedem entschieden entgegen, der von außen versucht, das Klima hier zu vergiften“. Carsten Holm 231 Ausland Erstmals nannte Castro, 73, auch seine Gegner beim Namen. Besonders hart griff KUBA er den Erzbischof von Santiago, Pedro Meurice, an. Priester seiner Diözese hatten in einem Arbeitspapier die Regierung als „totalitär“ bezeichnet. Überdies missfällt den Gastgebern, dass einige Regierungsetwa Spaniens José María Aznar, Die Zuckerernte fiel besser aus als im Vorjahr, Touristen bringen chefs, Regimegegner und Verwandte politischer begehrte Dollar: Fidel Castros Regime gibt sich Häftlinge während ihres Aufenthalts in selbstbewusster denn je – und geht hart gegen Dissidenten vor. Havanna empfangen möchten. Unmittelbar vor Eintreffen der ausländischen Gäste wollten sich erstmals Vertreter von etwa 60 Dissidentengruppen versammeln. Eine Erklärung sollte ihren Wunsch nach einem „friedlichen Weg zur Demokratie“ dokumentieren. Doch sintflutartige Regenfälle machten die Straßen schwer passierbar, und Castros Polizei hatte in der Nacht etwa 30 Aktivisten verhaftet oder in ihrer Wohnung festgehalten. So fanden sich am Freitagmorgen an die 20 Dissidenten in einem Haus am Rande der Hauptstadt ein. Für den wohl prominentesten Oppositionellen der Insel, Elizardo Sánchez, war das Treffen dennoch ein Erfolg: „Jetzt erfahren die Menschen hier, dass es uns wirklich gibt.“ Sein Mitstreiter, der katholische Regimegegner Osvaldo Payá, glaubt gar, die Zeit sei reif für größere Straßendemonstrationen. Doch da täuscht er sich wohl. Denn 40 Jahre nachdem „los barbudos“ (die Bärtigen) den Diktator Batista stürzten und die Macht ergriffen, gibt sich das Revolutionsregime selbstsicher wie lange nicht mehr. „Heute ist ein Trauertag für alle, die glaubten, wir würden fallen wie die Mauer von Berlin vor zehn Jahren“, Altbauten an Havannas Prachtstraße Malecón: Blockwartsystem für die Bewohner spottete Außenminister Felipe Pérez Roque. rwartungsvoll betraten die zwei ReDer untersetzte Mann gimegegner am Mittwochmorgen mit den tiefen Schatten den Parque Dolores in Lawton, eiunter den Augen war sienem Stadtteil von Havanna. Verabredet ben Jahre lang Castros war ein Treffen mit Gesinnungsgenossen. Privatsekretär. Im Mai Stattdessen empfing sie eine große Mensetzte der Comandante schenmenge. Es gab Musik; hunderte Anihn überraschend an die wohner, darunter auffallend viele kräftige Stelle von Roberto RoMänner und uniformierte Oberschüler, baina. „Robertico“, 43, tanzten in der Grünanlage. lange der potenzielle Die „spontane“ Party war gründlich geKronprinz, hatte mit seiplant. In der Nacht zuvor waren die wichnen Gesprächspartnern tigsten Mitglieder der Lawton-Gruppe, die in den USA und Europa für die Freilassung politischer Gefangener offenbar zu nachgiebig demonstrieren wollte, verhaftet worden. verhandelt. Dann hatten Beamte der Staatssicherheit Den Verdacht, ein Posten bezogen. Als die Dissidenten denSchwächling zu sein, lässt noch sprechen wollten, hagelte es Schläge Staatschef Castro: „Fürs Vaterland sterben heißt leben“ der neue Star in der – Kubas berüchtigte Brigaden zum schnellen Eingreifen verhinderten, ähnlich wie zur Iberoamerikanischen Gipfelkonferenz. Staatsführung gar nicht erst aufkommen. Mielkes Schlägertrupps in der Unter- Und da war der Comandante en Jefe kei- Pérez Roque, 34, liebt markige Worte. „Jegangsphase der DDR, den aufkeimenden neswegs bereit, sich von „Mikrogrüpp- den Tag geht es uns besser“, sagt der einstige Elektroingenieur, „Wandel wird’s hier Protest. Die Demonstranten wurden in chen“ die Show stehlen zu lassen. Bei seinem jüngsten Fernsehauftritt rich- nicht geben.“ Autos gezerrt und weggefahren. Tatsächlich zeigt die WirtschaftsentDas Vorstadt-Scharmützel offenbarte die tete der Máximo Líder heftige Attacken angespannte Stimmung in Havanna. An- gegen die Interessenvertretung der USA wicklung nach den Jahren der Krise, die fang dieser Woche empfängt Kubas Fidel in Havanna. Deren Diplomaten hätten ei- dem Zusammenbruch des großen ProtekCastro Staats- und Regierungschefs aus nige ihrer „Söldner“ angestachelt, einen tors Sowjetunion folgten, leichte Besserung. Im ersten Halbjahr 1999 lag die ZuLateinamerika, Spanien und Portugal Gegengipfel zu organisieren. M. PEUCKERT / AGENTUR FOCUS Scharmützel im Park AP E 232 d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite AFP / DPA FOTOS: AP wachsquote bei 6,1 Prozent. schuf in Castros sozialistiAber selbst bei einem jährscher Mustergesellschaft ein lichen Wachstum von 7 Zweiklassensystem. Prozent wäre dann erst Nahezu jeden Abend sind 2005 wieder der Stand von die Tische des Paladar „La 1989 erreicht. Guarida“ im verfallenden Immerhin: Die ZuckerZentrum von Havanna beernte stieg im Vergleich setzt. Ausländische Diplozum vorigen Jahr um Außenminister Pérez Roque maten reißen sich ebenso 500 000 Tonnen. Und vor alum die wenigen Plätze wie lem: 1,7 Millionen Touriskubanische Yuppies mit ten, darunter 220 000 DeutDollarquellen. Zu Musik der sche, bringen in diesem Jahr in Europa gefeierten Opas hunderte Millionen der bevom Buena Vista Social gehrten Dollar ins Land. Club kann man hier gegen Carlos Lage, 48, VizepräDollar nahezu alles speisen sident des Staatsrats und – außer Hummer, der nur Castros rechte Hand, lässt bei der staatlichen Gastrojedoch keinen Zweifel darnomie im Angebot ist. an, dass Hoffnungen auf Vizepräsident Lage Enrique Núñez, 31, eröffeine weitere wirtschaftliche nete das Restaurant in der oder gar politische Öffnung Utopie blei- Wohnung seiner Eltern, die in einem verben: „In 15 Jahren werden wir ein noch kommenen Stadtpalais aus dem 18. Jahrstärkeres sozialistisches System haben“, hundert liegt. Den prächtigen Marmorob nun die Amerikaner das Embargo auf- aufgang schmückt ein Gedicht des Máximo heben oder nicht. In der spanischen Zei- Líder: „Fürs Vaterland sterben heißt tung „El País“ warnte der Spitzenfunk- leben.“ tionär: „Wir fördern nicht den PrivatbeHier drehte der Regisseur Tomás Gusitz, sondern das staatliche Eigentum.“ tierrez Alea 1993 den Film „Erdbeer und Doch der Socialismo Tropical überlebte Schokolade“. Touristen, die den Schauplatz vor allem dank einiger kapitalistischer Re- des Kultstreifens sehen wollten, brachten formen, die Castro unter dem Druck der Núñez auf die Idee, am Drehort Essen zu Krise zuließ. Ausländische Investoren wur- servieren. Jetzt ist er einer der erfolgden angelockt. Sie gründeten inzwischen reichsten Selbständigen in Castros Reich. Die Ärztin Alina Pérez Martínez, 28, war 345 Joint Ventures mit staatlichen Firmen, noch nie bei Núñez zu Gast. Sie kann sich vor allem im Tourismussektor. Die einschneidendsten Veränderungen in der Mittagspause nur selten ein Erfrifür die an gleiche Löhne und Staatsver- schungsgetränk leisten. Die allein erziesorgung gewöhnten elf Millionen Kubaner hende Mutter eines zweijährigen Jungen brachte 1993 die Legalisierung des Dollar- arbeitet in einer Familienarztpraxis im ehebesitzes sowie die Zulassung „selbständi- mals großbürgerlichen Viertel Vedado und ger Arbeit“. Diese ideologische Abirrung betreut dort die 761 ihr zugeteilten Bewohner der Umgebung. Dafür verdient sie * In Havanna am vergangenen Mittwoch. 400 Pesos im Monat, 20 Dollar. Festnahme eines Regimegegners*: „Wandel wird’s hier nicht geben“ 234 d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 In ihrer Freizeit arbeitet die junge Mutter noch gratis in einem Informationszentrum über Sexualkrankheiten. Für sie ist der unentgeltliche Zugang zu Schulen und Gesundheitsversorgung die größte Errungenschaft der Revolution. Dafür ist sie bereit, Opfer zu bringen. Doch solches Engagement teilen nur noch wenige der nach 1959 Geborenen, die schon 63 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Viele fragen sich, wozu sie studieren sollen, wenn sie dann zu einem Mangelleben verurteilt sind. Ein Taxifahrer verdient an einem Tag mehr als ein Akademiker im Monat. Die monatlichen Marken der Libreta für die subventionierten Grundnahrungsmittel reichen gerade mal zehn Tage. Wer zu jener Hälfte der Kubaner gehört, die keine Verwandten in den USA hat, wer nicht selbständig ist oder bei einem ausländischen Unternehmen arbeitet, dem fehlt es an Alltagsgütern wie Seife oder Milch, und er muss weitgehend auf Fleisch verzichten. Deshalb suchen viele junge Kubaner ihr Glück in der Visa-Abteilung der US-Vertretung, die jährlich 20 000 Inselbewohnern die Einreise in das gelobte Land des Kapitalismus erlaubt. Verliert Castros Revolution ihre Erben? So weit ist es noch nicht. Schon 1960 wurden auf Kuba die Komitees zur Verteidigung der Revolution (CDR) gegründet. Wie in einem Blockwartsystem überwachen sie die Bewohner ganzer Straßenzüge. Mit diesen Komitees gelingt es Castro, auch heute noch Menschen für die Ideale der Revolution zu begeistern. Yadisney Vidal, 16, ist Kubas jüngste CDR-Präsidentin. Sie lebt in der Gemeinde Las Lajas, eine Autostunde vom Zentrum Havannas entfernt. Die Studentin, die Anwältin werden will, ist ihrem Idol Fidel Castro bereits persönlich begegnet. Das war auf dem letzten CDR-Kongress, als Yadisney in einer Rede gefordert hatte, die Jugend müsse mehr Verantwortung übernehmen. „Fidel ließ mich rufen und umarmte mich“, sagt Yadisney Vidal. „Ich musste weinen.“ Ohne auch nur einen Millimeter von der Parteilinie abzuweichen, hält es Yadisney für selbstverständlich, den Revolutionshelden nachzueifern. Denn schließlich wolle man sie eines Tages „ersetzen können“. Doch das dürfte noch eine Weile dauern. In Castros Reich zeigt niemand den Wunsch zurückzutreten, schon gar nicht der Revolutionsführer selbst. Und auch Kränkeln gibt es nicht. Gleich nach dem Gipfel möchte er das noch einmal unter Beweis stellen. Der venezolanische Präsident Hugo Chávez plant, mit seinen Baseball-Nationalspielern gegen Castros Auswahl anzutreten. Da will auch der Comandante mit zumindest einem großen Wurf seine Fitness demonstrieren. Helene Zuber Ausland AP Politik? Sie haben in Brasilien viele Staatsunternehmen privatisiert und den Einfluss des Staats zurückgeschraubt. Cardoso: Wir haben privatisiert, um die Finanzkrise zu lösen. Eine stabile Währung und ein gesunder Staatshaushalt dienen dem Interesse der ganzen Gesellschaft. Wenn die Regierung darauf keine Rücksicht nimmt, zahlt das Volk den Preis in Form von Inflation. Das haben einige rückwärts gewandte Linke nicht begriffen. Andererseits war ich nie Anhänger eines Minimal-Staats. In einem Land wie Brasilien hat der Staat wichtige Funktionen; er muss auch für Umverteilung bei den Einkommen sorgen. Wir müssen den Staat überdies zugänglicher machen für alle gesellschaftlichen Gruppen. SPIEGEL: Der Öffentliche Dienst, die Parteien und die Abgeordneten missbrauchen ihre Macht, um sich ihre traditionellen Privilegien zu sichern. Woher soll der Druck zu solchen Veränderungen kommen? Cardoso: Bei uns hat sich eine Zivilgesellschaft organisiert, die ganz neu ist. Den meisten Wirbel hat die linksradikale Landlosen-Bewegung MST verursacht. Früher hätte die keinen Zugang zum Staat gehabt, heute finanzieren wir sie sogar. Der Minister für Landreform sitzt den ganzen Tag mit ihren Vertretern zusammen, wenn es sein muss. SPIEGEL: Sollen regierungsunabhängige Organisationen an der Macht teilhaben? Cardoso: Nicht nur sie, sondern die Gesellschaft insgesamt. Im Gesundheitswesen hängt die Aufteilung des Haushalts zum Beispiel von Gemeinderäten ab, die nichts mit der Regierung zu tun haben. Oder nehmen Sie die Bekämpfung der Dürre im Nordosten: Die Region war immer ein Hort der Oligarchien. Heute wirken Stadträte der Opposition mit, Padres, evangelische Kirchen, das Militär und der Öffentliche Dienst. Natürlich ist noch nicht alles perfekt, aber es ist viel offener. SPIEGEL: Privatisieren Sie nicht klassische Staatsfunktionen? Cardoso: Es gibt eine Neuverteilung der Aufgaben. Der brasilianische Staat war erstarrt, wir haben ihn zu Gunsten der ganzen Gesellschaft zurückgeschnitten. SPIEGEL: Viele Brasilianer haben vielmehr den Eindruck, dass korrupte Volksvertreter sich nach wie vor hemmungslos bereichern. Cardoso: Gerade deshalb ist es so wichtig, dass auch Gruppen, die bislang ausgeschlossen waren, Einfluss erhalten. In der modernen Demokratie ist die direkte Repräsentation durch Abgeordnete nicht die einzige Art, Druck auszuüben. Für die bislang Ausgeschlossenen muss es andere Formen geben. Interview: Jens Glüsing Staatschef Cardoso: „Wir sind gegen Kubas Isolierung“ BRASILIEN „Relikt des Kalten Krieges“ Präsident Fernando Henrique Cardoso über den Pinochet-Prozess, Castros Reform-Unfähigkeit und den Kampf gegen die Korruption Sozialdemokrat Cardoso, 68, amtiert seit dem 1. Januar 1995 als Staatspräsident. SPIEGEL: Herr Präsident, wegen des spanischen Justizverfahrens gegen Ex-Diktator Pinochet bleiben die Staatschefs von Argentinien und Chile dem IberoamerikaGipfel von Havanna fern. Warum haben Sie sich dem Boykott nicht angeschlossen? Cardoso: Solch ein spezifisches Problem sollte das Gipfeltreffen nicht beeinträchtigen, bei dem wir über eine Gesamtpolitik für die Region reden. Allerdings bin ich durchaus für die Einführung eines internationalen Strafgerichts, um universelle Verbrechen wie etwa Menschenrechtsverletzungen und Umweltvergehen zu ahnden. Das ist ein Bruch mit unserer Tradition der Nichteinmischung in die Angelegenheiten souveräner Staaten. Allerdings, bislang gibt es noch keine legitime überstaatliche Institution für diese Verfahren. SPIEGEL: Wie ist Ihr Verhältnis zu Fidel Castro? Cardoso: Brasilien hatte immer eine klare Position: Wir sind gegen die Isolierung Kubas. Wir wünschen uns, dass sich das Land weiterhin Lateinamerika annähert, aber wir wollen keine Vorschriften machen. Persönlich habe ich eine gute Beziehung zu Castro. Die Kubaner liefern uns Impfstoffe und Medikamente, auch in der Gesundheitsvorsorge haben wir von ihnen gelernt. Mit den politischen Widersprüchen im Verhältnis zu Kuba können wir leben. SPIEGEL: Sehen Sie Anzeichen für einen Wandel in der starren Haltung Washingtons gegenüber Castro? Cardoso: US-Präsident Clinton sieht Kuba nicht mehr als Gefahr. Der Kalte Krieg ist vorbei, das sollte sich auch auf Relikte wie die noch immer bestehende Wirtschaftsblockade auswirken. SPIEGEL: Von Havanna fahren Sie nach Florenz, wo Sie mit Clinton und sozialdemokratischen Regierungschefs Europas über den so genannten dritten Weg beraten. Könnte Castro da etwas lernen? Cardoso: Wenn er darüber reden will, bin ich jederzeit bereit dazu. Bislang sehe ich allerdings keine Anzeichen für eine Öffnung seines Systems. Außerdem geht es in Florenz um etwas anderes: Historisch gesehen war die Sozialdemokratie der dritte Weg zwischen Kapitalismus und Kommunismus. Bei unserem Treffen steht die Modernisierung sozialdemokratischen Denkens zur Debatte. SPIEGEL: Geht es dabei im Kern nicht nur um eine neue Verpackung für neoliberale d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 235 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite M. WEISS / OSTKREUZ Ausland Hotelier Küster, Ehefrau Elisabeth, Partner Dzida vor dem Schlosshotel Lomnitz: „Unsere Chance war unsere Harmlosigkeit“ POLEN „Getanzt, getrunken und geweint“ Nachkommen von vertriebenen Deutschen wollen wieder auf den alten pommerschen und schlesischen Familiengütern leben. Die meisten sind den Anforderungen des Wiederaufbaus nicht gewachsen. Es gibt aber auch Lichtblicke. M Deutsche Ostgrenze vor dem Zweiten Weltkrieg Hamburg Berlin Görlitz die Augen des Herrn, die das Vieh fett machen“, sagt er großspurig. Aber der Umbau kommt nur langsam vorwärts. Gut Bruschewitz, wie es früher hieß, war fast 200 Jahre im Familienbesitz, bevor die Familie Strachwitz im Januar 1945 vor der anrückenden Roten Armee flüchtete. Die ersten russischen Panzer standen am Dorfrand, als sie die letzten Pferde aus dem Stall holten. Strachwitz ist nicht eben ein Vorreiter der deutsch-polnischen Aussöhnung. 1972 SCHLES Grunau POLEN (Jezów Sudecki) Schlesien DEUTSCHLAND T S C HEC HI EN 50 km TSCHECHIEN (Pruszowice) Breslau (Wroclaw) IEN Oppeln Striegau (Opole) (Strzegom) Lomnitz Breslau Prag Bruschewitz Liegnitz (Legnica) (Lomnica) POLE N r 238 In einem der alten Ställe hat sich ein Sargtischler eine kleine Werkstatt eingerichtet. „Damit Leben auf den Hof kommt“, sagt Strachwitz. Der Gutsherr führt sein Anwesen den größten Teil des Jahres per Telefon von Berlin aus, wo er nebenberuflich einem Bundestagsabgeordneten als Assistent dient. Er ist gerade dabei, sich in einem Nebengebäude des Herrenhauses eine kleine Wohnung herzurichten, damit er nicht mehr im Hotel übernachten muss. „Es sind e Od ais aus schlesischer Erde, da fließt dem Freiherrn Wolfram von Strachwitz das Herz über vor Rührung. Er schiebt genießerisch die Unterlippe über die Oberlippe, führt eine Hand voll Körner an die Nase und inhaliert den Duft bis tief in die Lunge. „Wissen Sie, was ich hier will, ich will hier meine Pflicht tun. Dies herrliche Land ist vernachlässigt worden, ich werde etwas Gutes daraus machen.“ Er winkt seinen polnischen Tagelöhner heran. Der darf auch mal riechen. Gut Pruszowice bei Breslau (Wroclaw) ist ein schönes Stück Polen. 300 Hektar Acker und Weideland, 200 Hektar prächtiger Hochwald, nur die Gebäude sind ziemlich heruntergekommen. Das Herrenhaus aus dem 18. Jahrhundert ist von malerischer Dekadenz: die Fassaden von mäandrischen Rissen zermasert, die Fenster zum Teil zugemauert, das Dach in Fetzen – ein Haus, dem das halbe Jahrhundert Reparaturstau anzusehen ist. Die Maschinen sind Schrott, Scheunen und Schuppen sind reif für die Abrissbirne. Werbeseite Werbeseite FOTOS: M. WEISS / OSTKREUZ Ausland Boberstein Wlen Barcinek Verfallene Schlösser in Niederschlesien: Dem Ausverkauf an die Deutschen zuvorkommen * Mit seinen Mitarbeitern Aloysios Kozemba und Aneta Klonowska vor dem Herrenhaus in Pruszowice. 240 Schreibstubenoffiziere sich selten zur Leitung landwirtschaftlicher Großbetriebe eignen. Vor allem dann nicht, wenn sie nicht einmal mit ihren Mitarbeitern reden können, weil sie deren Sprache nicht sprechen. Neulich hat ihn der Verpächter aufgefordert, endlich die kaputten Dächer reparieren zu lassen, weil sonst die Verlängerung des Pachtvertrags in Frage gestellt sei. Ja, wovon denn? Letztes Jahr hat der Hof eine halbe Million Zloty (250 000 Mark) Verlust gemacht. Mais und Weizen verrotteten auf den Feldern, weil es Pannen bei der Ernte gab. Und wenn der Bürgermeister dem Gut die Gewerbesteuer nicht gestundet hätte, dann wäre alles schon vorbei gewesen. Aber mit ein wenig Glück wird Strachwitz nächstes Jahr mit plus minus null abschließen – wenn er so lange durchhält. Die Frage, ob er das Gut kaufen will, stellt sich vorerst nicht mehr. Bis auf weiteres können Immobilien nur von polnischen Staatsangehörigen oder von Beteiligungsgesellschaften erworben werden, die in polnischem Mehrheitsbesitz sind. Dennoch haben die Behörden in den letzten Jahren öfter Ausnahmegenehmigungen erteilt – Folge der guten deutsch-polnischen Beziehungen. Nachdem sogar Herbert Hupka, der Vorsitzende und frühere Chefjakobiner der Landsmannschaft Schlesien, zum „verdienten Bürger“ seiner Heimatstadt Ratibor (Racibórz) ernannt worden war, sah es so aus, als könnte nichts mehr diese Beziehung gefährden. Nur, seit die Frankfurter CDU-Bundestagsabgeordnete Erika Steinbach an der Spitze des Bundes der Vertriebenen steht, sind die Umgangsformen wieder ruppiger geworden. Die neue Chefin will den für 2003 vorgesehenen Beitritt von Polen und Tschechien zur E. WIEDEMANN / DER SPIEGEL setzte er seine Karriere als Berufsoffizier ganze Unternehmen ist katastrophal unbei der Bundeswehr auf Grund, als er Wil- terkapitalisiert. Sogar den Trecker muss ly Brandt wegen dessen Kniefall in War- sich Strachwitz bei seinem polnischen schau in einem Leserbrief als „vaterlands- Nachbarn leihen, weil er sich selbst keilosen Gesellen“ beschimpfte. Bereut hat nen leisten kann. Und den rostigen alten er das nie. Heute vertritt er die „Vereini- Wartburg wird er auch nicht mehr lange gung Katholischer Edelleute Schlesiens“ haben, wenn er ihn weiter so gnadenlos und den „Verein Schlesischer Malteserrit- über die Feldwege prügelt. Als er herkam, sei das hier „ein toller ter“, die auch nicht unbedingt die VölkerSauhaufen“ gewesen, sagt Strachwitz. Polverständigung im Wappen führen. Der Gutsherr versteht sich als eine Art nische Wirtschaft, wohin man blickte. Nun Puntila von Bruschewitz. Er sagt, er fühle führt er hier schon über zwei Jahre die GeVerantwortung für die Menschen, die rings schäfte. Aber dem Hof geht’s deswegen um sein Gut leben. 1985, als er zum ersten nicht besser. Er hat ein paar griffige ErMal seit Kriegsende wieder hier war, brach- klärungen für das Elend: die Schlamperei te er eine Lkw-Ladung Lebensmittel für der Bediensteten, die notorische Kleptodie darbenden Dorfbewohner mit. „Die manie. „Hier wird Ihnen das Schwarze unLeute im Dorf haben ein gutes Gespür ter dem Fingernagel weggestohlen.“ Die Misere mag allerdings vor allem dadafür, wer ihr Freund ist und wer nicht“, sagt er. Dass dies hier nicht mehr Deutsch- mit zu tun haben, dass pensionierte land sei, das sei für ihn bedeutungslos. Er sei stolz darauf, Gutsherr Strachwitz*: „Gutes Gespür für Freunde“ dass seine Familie im preußischen und auch im polnischen Adelsmatrikel eingetragen war. Strachwitz hat das Gut von der Landwirtschaftlichen Fakultät der Universität Breslau gepachtet. Doch er hatte zunächst eine Menge Pech. Einer von zwei Partnern, die mit größeren Beträgen einsteigen wollten, starb bei einem Verkehrsunfall, der andere stieg im Streit wieder aus, bevor es richtig losgegangen war. Strachwitz wollte den Erlös aus dem Verkauf seines Privathauses in Bonn in das Projekt einbringen. Aber dann wurde das Haus beschlagnahmt, nachdem es um die Besitzverhältnisse Streit mit der Jewish Claims Conference gegeben hatte. Nach der Übernahme entwarf der neue Chef ein pompöses Wirtschaftlichkeitskonzept. Der Betrieb wurde dadurch aber nicht wirtschaftlicher. Das Werbeseite Werbeseite Ausland Europäischen Union blockieren, wenn die beiden Länder nicht „das an den Vertriebenen begangene Unrecht heilen, sich entschuldigen und ihnen ein Recht auf Rückkehr in Würde einräumen“. Nun verlangen tausende von Vertriebenen oder deren Erben die Immobilien zurück, die ihnen die Kommunisten abgenommen haben (SPIEGEL 2/1999). Bundesaußenminister Joschka Fischer hält diese Ansprüche für „anachronistisch und absurd“. Aber so eindeutig, wie er meint, ist die Rechtslage nicht. Das Auswärtige Amt hat bis zum Regierungswechsel im vergangenen Herbst die Enteignung und Vertreibung als rechtswidrig angesehen. Und die neuen Herren in Berlin können natürlich nicht im Namen der Regierten auf deren Ansprüche verzichten. Die polnische Regierung ist bereit, in Einzelfällen Abfindungen zu zahlen, aber nur an polnische Staatsbürger. Dieser Standpunkt wird sich kaum in der EU durchsetzen, weil er nicht im Einklang mit den Gleichheitsprinzipien der Union steht. Sollte Brüssel sich überdies dem polnischen Wunsch nach einer zehnjährigen Übergangsregelung für Grundstücksverkäufe verweigern, dann werden Ausländer in drei bis vier Jahren ohne Einschränkungen polnische Immobilien kaufen können – selbstverständlich auch Deutsche. Um dem befürchteten Ausverkauf an die Deutschen zuvorzukommen, sind die Treuhandgesellschaften der einzelnen Woiwodschaften jetzt dabei, hunderte von Schlössern und Landgütern zu eher symbolischen Preisen an polnische Staatsbürger und Beteiligungsgesellschaften zu veräußern. „Man muss das verstehen“, sagt Zdislaw Kurzeja, der Konservator von Liegnitz (Legnica). „Es gibt immer noch eine Menge Polen, die Angst vor den Deutschen haben“ – vor allem in Pommern und Schlesien. Dort sind die meisten Einwohner selbst Vertriebene. Sie wurden 1945/46 von den Sowjets aus der Ukraine, aus Belorussland und Litauen ausgesiedelt und in die entleerten deutschen Ostgebiete gebracht. Seitdem leben sie in der Furcht, sie könnten noch einmal ihre Heimat verlieren. Von den ehemaligen ostelbischen Großgrundbesitzern hat noch niemand Besitzansprüche angemeldet. Ihre pommerschen und schlesischen Güter sind von der kommunistischen Kolchoswirtschaft so gründlich ruiniert worden, dass das Investment für den Wiederaufbau mittelfristig durch keine realistische Renditeerwartung gedeckt wäre. Das gilt natürlich auch für polnische Erwerber. Es gibt eine Menge Schlösser, die niemand geschenkt haben will. Viele kleine Leute haben meist vorsorglich Anträge gestellt, um eventuelle Rechtsansprüche kapitalisieren zu können. Aber sie wollen natürlich nicht wirklich zurück, wie Erika Steinbach behauptet. Sie kom242 d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 men einmal im Jahr im klimatisierten Autobus zu Besuch und fahren mit vollen Herzen, aber ohne Bitternis wieder heim. Waltraut Becker aus Grunau (Jezów Sudecki), die heute in Bendestorf bei Hamburg wohnt, hat im September anlässlich der 700-Jahr-Feier von Grunau bei Jelenia Góra ihr Geburtshaus besucht. Sie sagt: „Wir haben mit den Polen gefeiert, wir haben ihnen Geschenke mitgebracht, wir haben getanzt, getrunken und geweint, und dann sind wir glücklich wieder nach Hause gefahren.“ Zum Abschied standen die polnischen Schulkinder am Straßenrand und sangen deutsche Volkslieder. „Hierher kommt man nur zurück aus Liebe zu dem Land und den Menschen“, sagt die Rentnerin Melitta Schalei. Sie hat zusammen mit ihrer Schwester Therese von Werner Gut Muhrau (Morawa) in Striegau (Strzegom) in Niederschlesien gepachtet. Bei Kriegsende war ihre Familie von hier vertrieben worden. 1992, nachdem das Eis zwischen Ost und West gebrochen war, trat der Familienrat zusammen und entschied nach kurzer Beratung: Einer von uns muss da wieder hin. Die Wahl fiel auf Melitta, weil sie gerade pensioniert worden war und eine neue Lebensaufgabe brauchte. Sie sollte in Muhrau einen Kindergarten für Jungen und Mäd- chen aus bedürftigen Familien einrichten. Die Neu-Muhrauer waren erst furchtbar misstrauisch. Die Kommunisten hatten ihnen jahrzehntelang eingetrichtert, dass die westdeutschen Revanchisten nur auf eine Gelegenheit warteten, um über Polen herzufallen und sich ihre Rittergüter zurückzuholen. Dann wurde die deutsche Gefahr von heute auf morgen abgeschafft. Wie sollten sie das so schnell nachvollziehen? „Erst nachdem wir Kinderklos eingebaut hatten, glaubten sie, dass wir keine bösen Absichten hegten“, sagt Therese von Werner. Ein Knirps hat ihr mal „Heil Hitler“ nachgerufen. Aber das war in all den Jahren der einzige unangenehme Zwischenfall. 1995 zu Allerseelen haben polnische Nachbarsfrauen sogar die deutschen Gräber auf dem Friedhof von Striegau mit Kerzen geschmückt. Für Melitta Schalei der entscheidende Beweis dafür, dass das deutsch-polnische Verhältnis in Striegau wieder in Ordnung ist. Melitta Schalei hat Polnisch gelernt und jetzt sogar die polnische Staatsbürgerschaft beantragt. Die Leute hier sollen sehen, dass ihre Heimatverbundenheit nicht an die Nationalität gebunden ist. Der Rest ist Vergessen. Oder Verdrängung. „Was die Deutschen den Polen und was die Polen den Deutschen angetan haben, darüber reden wir nicht. Das ist besser so.“ Sie kann nur schwer erklären, warum sie hier ist. Sie meint, dass sie einfach hierher gehört. Zur Finanzierung des Kindergartens und zur Erhaltung der Gebäude haben die zwei rührigen Schwestern eine Stiftung gegründet. Aber es reicht hinten und vorn nicht. Die Seminare, welche die Universität Breslau hier gelegentlich ausrichtet, bringen auch nicht viel ein. Es ist nicht mal genug Geld vorhanden, um im Winter die „Erst nachdem Zimmer mit den fünf Me- wir Kinderklos eingebaut ter hohen Decken richtig durchzuheizen. hatten, glaubSie würden gern ein ten sie an paar alte Eichen und Buunsere guten chen vermarkten. GeAbsichten“ schnittene Eiche bringt 1200 Mark pro Kubikmeter. Aber das Holz ist unverkäuflich, weil es noch immer voll Granatsplitter und Stahlmantelgeschossen von den schweren Kämpfen im Januar 1945 steckt. Das Metall macht die Sägen kaputt. Wie man mit dem Erbe der Väter achtbaren Mehrwert erwirtschaftet, das haben Elisabeth und Ulrich von Küster aus Berlin auf Schloss Lomnitz (Lomnica) am Fuße der Schneekoppe vorgemacht.Vom Schloss und von dem benachbarten „Witwenhaus“ standen nur noch die Grundmauern, als die GmbH, die sie 1995 gemeinsam mit ihrem polnischen Partner Waclaw Dzida gegründet hatten, das Anwesen kaufte. Sie hatten kein Wasser und keinen Strom. Aber so viel konnte man schon sehen: „Das ausgebrannte Schloss war die schönste Ruine im ganzen Riesengebirgsvorland.“ Heute ist Schloss Lomnitz das nobelste und gemütlichste kleine Landhotel von Niederschlesien. Nicht weit von hier liegt auch ein altes Hohenzollernschloss. Herrschaften vom Berliner Hochadel verbrachten schon im letzten Jahrhundert die Sommerferien in der Gegend. Als Elisabeth und Ulrich von Küster mit dem Wiederaufbau begannen, waren sie noch Studenten. Sie konnten sich keine regulären Handwerker leisten. Aber das juristische Seminar der Freien Universität half mit. Die jungen Leute arbeiteten vom Morgengrauen bis Sonnenuntergang, übernachteten auf Brettergestellen im Freien und fuhren sonntagabends wieder todmüde zurück nach Berlin. Die Lomnitzer sahen staunend und nicht ohne Sympathie zu. Die Nachbarschaftskontakte waren zunächst eher kärglich. Dann brachte mal einer einen kleinen Imbiss vorbei und ein anderer was Gutes zu trinken. Das sollte so viel heißen wie: Hallo, Nachbarn, seid willkommen! „Unsere Chance war unsere Harmlosigkeit“, sagt Elisabeth von Küster. „Wir waren anfassbar.“ Endlich Deutsche, vor denen niemand Angst zu haben brauchte. Erich Wiedemann d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 243 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Ausland ZEITGESCHICHTE Hitlers Papst W Hochhuth, 68, löste 1963 mit dem Drama „Der Stellvertreter“, das Papst Pius XII. als schweigenden Komplizen des Holocaust attackierte, einen Skandal und eine anhaltende Diskussion aus. ralisches mehr überraschen, was dann im Krieg noch kam. Aufschlussreich für Pacellis später geradezu komplizenhaftes Wegsehen von Hitlers Endlösung – ebenso energisch wie vergeblich versuchte beispielsweise Englands Vatikan-Botschafter Francis D’Arcy Osborne immer wieder, den Heiligen Vater zu einem Protest zu bewegen – ist die detaillierte Schilderung seiner zwölfjährigen Tätigkeit als Nuntius in Deutschland, beginnend 1917 in München. Schon damals schrieb der Mann antisemitische Briefe nach Rom. Pacelli schlug die Bitten zweier Bischöfe aus, darauf zu bestehen, dass im Konkordat wenigstens die Kinder und Enkel von Juden, die sich längst katholisch hatten taufen lassen, von den antisemitischen Ge- arum hat der deutsche Verleger den so sachlichen wie radikalen Titel der englischen Ausgabe „Hitler’s Pope“ in „Pius XII.“ verharmlost? Zwar heißt der Untertitel der C.-H.-Beck-Ausgabe „Der Papst, der geschwiegen hat“, während der englische lautet: „The Secret History of Pius XII.“ Doch widmet ja der Katholik John Cornwell, Dozent am Jesus College zu Cambridge, mehr als die Hälfte seiner gründlichen Untersuchung nicht nur dem Schweigen des Papstes zum Holocaust, sondern der Vorgeschichte seines schlimmen Schweigens, also dem Diplomaten Eugenio Pacelli überhaupt. Schon „von den ersten Schritten seiner Karriere an“ habe der spätere Pius XII. „eine Abneigung gegen die Juden gehegt“. Seine Wirkung als Nuntius in Deutschland war es, die zum Abschluss des Konkordats führte – zu diesem größten Geschenk, das Reichskanzler Hitler 1933 von „seinem“ Pacelli empfangen konnte. Pacelli, so Cornwell, traf mit Hitler die Vereinbarung, die dem „Führer“ dabei half, legal zum Diktator zu werden, während sie gleichzeitig das politische Potenzial für Protest und Widerstand von 22 Millionen (vor dem Anschluss Österreichs) deutscher Katholiken neutralisierte. Wenn sogar der Papst mit ihm paktierte, musste der Hitler doch ein anständiger Mann sein, mochten dessen Untertanen fortan glauben. Wer so alt ist, dass er noch Zeitzeugen kannte, die wie Hannah Arendt, wie Erwin Piscator vor Hitler hatten fliehen müssen, erinnert sich an deren fortdauernde Erbitterung über das Konkordat. Nach diesem Pakt konnte sie im Grunde nichts Amo- Pius XII.: Komplizenhaftes Wegsehen 246 d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 setzen des Frühjahrs 1933 ausgenommen würden. Er begnügte sich mit der Übergabe einer Note zu Gunsten jener deutschen Katholiken, „die selbst vom Judentum zur christlichen Religion übergetreten sind oder von solchen … Juden abstammen“. Diese bescheidene Anregung, ein Vierteljahr nach Hitlers Machtantritt wenigstens „Viertel- und Achteljuden“ zu verschonen, ist tatsächlich der einzige Satz überhaupt, mit dem Pius XII. gegenüber seinem Konkordats- und Glaubensbruder Hitler bis zu dessen Ableben jemals das Thema erwähnt hat. In der Auschwitz-Ära, die nun begann, nahm der Heilige Vater das Wort Jude nicht mehr öffentlich in den Mund; fortan schwieg er auch schriftlich. Biograf Cornwell berichtet, er habe seine Recherchen im vollen Vertrauen darauf begonnen, am Ende werde Papst Pius XII. in vollem Umfang von allen Vorwürfen entlastet sein. Umso niederschmetternder habe ihn die Erkenntnis des Gegenteils getroffen. Dabei ist das beschämendste aller Pius-Dokumente dem britischen Forscher sogar entgangen. Auch ich kannte es noch nicht, als ich den „Stellvertreter“ schrieb; erst Rudolf Krämer-Badoni, Katholik wie Cornwell, hat es entdeckt und publiziert in dem Buch „Judenmord, Frauenmord, Heilige Kirche“ (KnesebeckVerlag, München). Ein halbes Jahr, nachdem im Februar 1942 die Vergasungen begonnen hatten, die nun anstelle der Massen-Erschießungen praktiziert wurden, sagte Pius XII. vor dem Kardinalskollegium über die Juden: „Jerusalem hat seine Einladung und seine Gnade mit jener starren Verblendung und jenem hartnäckigen Undank beantwortet, die es auf den Weg der Schuld bis hin zum Gottesmord geführt hat!“ Die Geschichte der Zivilisation kennt keine niederträchtigere Verleumdung unschuldig zum Tode Verurteilter als diesen Satz des verächtlichsten aller Päpste über die bedauernswertesten aller Menschen. So wenig sich Pius je für Juden verwendete – obgleich auch Roosevelts Sondergesandter Myron Taylor ihn immer wieder darum ersuchte –, so wenig kümmerte er sich um „seine Söhne“: 3000 katholische Priester ließ Hitler – meist in KonzentraOLYMPIA / SIPA PRESS ULLSTEIN BILDERDIENST Die Enthüllungen des englischen Historikers John Cornwell über Pius XII. Von Rolf Hochhuth Werbeseite Werbeseite SCHIRNER BILDSTELLE HANAU Ausland Diktator Hitler (1938), Hanauer Juden vor der Deportation (1942): Im Vatikan waren die Pläne zum Massenmord wohl bekannt 248 nie ausgesetzt waren, keinen Vorwurf ab- die Offenheit, mit der Hitler in der Reichsleiten. Was Pacelli aber zum ethisch bo- tagsrede vom 30. Januar 1939 der ganzen denlosesten Versager auf dem Stuhl Petri Welt den Massenmord ankündigte: „Wenn macht, ist sein Schweigen zu Auschwitz. es dem internationalen Finanzjudentum Auch aus Rom wurden die Juden nach inner- und außerhalb Europas gelingen sollAuschwitz „abgefahren“, wie Heinrich te, die Völker noch einmal in einen WeltHimmler vergnügt notierte. Der päpstliche krieg zu stürzen, dann wird das Ergebnis Anspruch, der Stellvertreter Gottes zu nicht die Bolschewisierung der Erde und sein, definiert das Ausmaß des moralischen damit der Sieg des Judentums sein, sonAbgrunds. Und mit diesem Anspruch mei- dern die Vernichtung der jüdischen Rasse nen sie es in Rom noch immer ernst. in Europa.“ Offenbar hat das auch den Katholiken Völlig eindeutig war auch Hitlers ZwiCornwell besonders betroffen gemacht; er schenbericht drei Jahre später im Sportpaschließt sein Vorwort damit, dass noch 1998 last, „ … dass das Ergebnis des Krieges die der jetzige Papst in einer „Reflexion über Vernichtung des Judentums sein wird … die Schoah“ in Bezug auf die so genannte Und es wird die Stunde kommen, da der Endlösung „von Christus als dem ,Herrn böseste Weltfeind aller Zeiten auf ein Jahrder Geschichte‘“ sprechen konnte! Wie soll tausend seine Rolle ausgespielt haben jemand, der so denkt, sich vorstellen kön- wird“. Der römische „Messaggero“ drucknen, wie einer italienischen Familie in ei- te die Rede ab, Englands Vatikan-Botnem Waggon nach Auschwitz zu Mute ge- schafter Osborne las sie, ebenso Kardinalwesen sein muss, die im Vertrauen, der staatssekretär Luigi Maglione, dem OsPapst lasse nicht zu, dass man sie deportie- borne seine Meinung über „Hitlers neuen re, nicht untertauchte und nicht davor ge- Ausbruch gegen die Juden“ kundtat. warnt worden ist, was sie im Osbornes Versuche, aus dem Osten erwartete, obgleich der Innern des Vatikans Pacelli zu Vatikan ab 1942 detailliert ineiner Stellungnahme zu verformiert war? Cornwell zitiert, anlassen, lassen Rückschlüsse offensichtlich angeekelt, dass auf Pacellis Kenntnis der Vorein Erzbischof schon 1870 die gänge und seine Reaktionen soeben erlassene Lehre von der auf sie zu. päpstlichen Unfehlbarkeit und Schrecklicher zu lesen als aldem Primat des Papstes als les Vorangegangene ist Corn„Triumph des Dogmas über die wells Bericht über die DeporGeschichte“ gefeiert habe. tation von 437 000 Juden aus Nach dieser ungeheuerlichen Ungarn nach Auschwitz – meist Logik muss Jesus in einer für Historiker Cornwell zu Fuß – noch zwischen dem uns unmündige Menschen un15. Mai und dem 7. Juli 1944: fassbaren „Sinngebung“ auch Auschwitz Denn Rom war bereits seit dem 4. Juni oder Nagasaki gewollt haben. Warum soll- von Amerikanern besetzt, Pius XII. also abte da der Papst versuchen, einem Hitler in solut frei zu sagen, was er sagen wollte. den Arm zu fallen? Ich kenne die Gepflogenheiten nicht, Nicht nach katholischer Lehre, wohl die es dem Vatikan zur Pflicht machen, aber nach dem gemeinen Menschenver- hin und wieder Heilige zu kreieren. Nun stand muss das päpstliche Schweigen zur soll Pius XII. in die engere Wahl gelangt Endlösung nicht „nur“ am Anspruch, der sein. Könnte man nicht einen anständigen Stellvertreter Gottes zu sein, gemessen Menschen wie Johannes XXIII. heilig sprewerden. Ein ebenso deutlicher Maßstab ist chen? ™ J. BAUER tionslagern – ermorden. Für keinen Einzigen von ihnen hat Pacelli je bei seinem Konkordatskomplizen in Deutschland ein Wort eingelegt. Allerdings hat er unserem Führer auch nie wie dem General Franco (1942) den höchsten Orden des Heiligen Stuhls – das Christuskreuz – verliehen. Mit zahlreichen Belegen verdeutlicht Cornwell, wie eingewurzelt Pacellis Abneigung gegen Parlamentarismus und Demokratie war: In diesen Einrichtungen sah er nichts als Tarnformen des Sozialismus. Der Biograf zeigt auch, dass Pacelli schon zu einer Zeit, als die Bischöfe im Reich noch eindeutig Anti-Nazis waren, den katholischen Kanzler Brüning veranlassen wollte, „sich um ein Einvernehmen mit der NSDAP zu bemühen“ – ja um eine Koalition mit Hitler. Brüning dagegen warnte – in Rom, August 1931 – Pacelli vergebens: Er sehe „in einer weiteren starken Identifizierung der vatikanischen politischen Auffassungen mit dem faschistischen System eine große Gefahr für die Kirche in einer ferneren Zukunft“. Nachdem Kanzler Brüning am 30. Mai 1932 entlassen worden war, erfüllte dessen Nachfolger Franz von Papen den Wunsch des Heiligen Stuhls. Und dies, wie Cornwell ergänzt, „zu dem Zeitpunkt, als Entscheidungen im Vatikan über das künftige Schicksal der katholischen Kirche in Deutschland ausschließlich in den Händen Pacellis lagen. Nur ein Diktator konnte Pacelli die Art von Konkordat gewähren, die er anstrebte. Nur ein Diktator von Hitlers Verschlagenheit konnte das Konkordat als Mittel betrachten, die katholische Kirche in Deutschland zu schwächen“. Triumphierend schrieb Hitler am 22. Juli 1933: „Durch diesen Vertrag wird vor der ganzen Welt klar und unzweideutig bewiesen, dass die Behauptung, der Nationalsozialismus sei religionsfeindlich, eine Lüge ist.“ Freilich, nicht nur Pacelli, sondern mehr als die halbe Welt fiel auf Hitler herein; daraus allein sollten deshalb spätere Generationen, die ähnlichen Zerreißproben d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Christliche Prozession, Sicherheitskräfte in Jerusalem*: „Potenzial für Gewaltakte“ ISRAEL Saat des Bösen Angespornt vom amerikanischen FBI, greift Israel gegen religiöse Extremisten durch – der Judenstaat fürchtet Anschläge zum Jahrtausendwechsel. W enn das Ende der Welt naht und der Messias zurückkehrt, so glauben christliche Apokalyptiker, steigt er vom Himmel auf den Ölberg herab. Von dort, wo er einst seinen letzten Gang antrat, werde er durchs Goldene Tor in die Jerusalemer Altstadt einziehen. Für diesen glorreichen Moment hielt sich Bruder David, 58, seit Jahren bereit. Gleich hinter dem Ölberg, im palästinensischen Vorort Bethania, hatte sich der US-Bürger und frühere Campingplatz-Betreiber aus Syracuse, New York, ein Haus gemietet. Dort wartete er auf den Anbruch des tausendjährigen Gottesreiches – „in der ersten Reihe“, wie er stets sagte. Auf den guten Platz beim Weltuntergang muss Bruder David wohl verzichten. Ende Oktober erschien die israelische Polizei in seinem Refugium, nahm den frommen Christen samt 20 seiner Anhänger fest und schob ihn wenige Tage später ab. 250 Die nächtliche Razzia gegen den bislang als harmlos geltenden Jesus-Freak zeigt die wachsende Nervosität der israelischen Sicherheitskräfte angesichts des nahenden Millenniums. In sechs Wochen bricht das neue Jahrtausend an, ein Datum, das viele fundamentalistische Christen mit der Rückkehr des Messias verbinden. Dann beginnt, so steht es in der JohannesOffenbarung des Neuen Testaments, die letzte große Schlacht zwischen den Mächten Gottes und der Saat des Bösen, und die Endzeitjünger haben keinen Zweifel daran, dass jeder Buchstabe davon wahr wird. Besonders Radikale glauben sogar, sie könnten die Ankunft des Herrn durch einen Gewaltakt noch beschleunigen. Niemand weiß, wie viele solcher Extremisten im nächsten Jahr unter den rund vier Millionen erwarteten Pilgern ins Heilige Land strömen werden – oder bereits angekommen sind. In einem Bericht des amerikanischen FBI finden die Israelis nun ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigt. „Etliche religiöse Extremisten bereiten sich darauf vor, im prophezeiten Waffengang zwischen Gott und Satan als Märtyrer zu enden“, heißt es in dem Millenniums-Report zu den rund tausend religiösen und rassistischen US-Kulten. * Am Karfreitag 1998 auf der Via Dolorosa mit Gläubigen in den Rollen von Jesus und römischen Legionären. d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 Jerusalem, so glauben die Washingtoner Ermittler, sei besonders gefährdet. Die Heilige Stadt besitze ein außergewöhnliches „Potenzial für Gewaltakte“. Ausdrücklich warnt das FBI, das eng mit den israelischen Sicherheitsdiensten zusammenarbeitet, vor dem Endzeitkult der „Concerned Christians“ aus Denver. Schon im Januar hatte Israel ein Dutzend Anhänger dieser Sekte abgeschoben, die sich in Erwartung des letzten Gefechts in Jerusalem niedergelassen hatten. Der Polizei zufolge plante die Gruppe eine „extreme, gewalttätige Aktion“, womöglich sogar einen kollektiven Selbstmord in den Straßen der Heiligen Stadt. Ihr Anführer Monte Kim Miller, 45, hält sich für einen jener beiden Zeugen, die nach der Johannes-Offenbarung kurz vor der Wiederkunft Christi bei einem großen Blutbad auf den Straßen Jerusalems sterben und drei Tage später wieder auferstehen. Seinen Tod, so fürchten Sicherheitskräfte, könnte Miller durch eine gewaltsame Konfrontation mit der Polizei provozieren. „Jesus Christus starb am Kreuz für unsere Sünden, nun haben wir die Pflicht zu sterben“, lehrt der ehemalige MarketingManager seine Jünger. Er werde „nach Jerusalem gehen, um Zeuge zu sein“, kündigte er an und nannte auch einen Termin: Dezember 1999. Obwohl Miller bisher noch nicht in Israel gesehen wurde, sind sich US-Ermittler sicher, „dass er nichts unversucht lässt, dorthin zu gelangen“, so Sektenspezialist Mark Roggeman von der Denver-Polizei. Seine Kollegen warnen, dass Millers Anhänger bereits ihre Häuser verkauft, ihre Berufe aufgegeben haben und wohl in Griechenland auf eine Gelegenheit warten, erneut nach Israel zu gelangen. Der Millenniums-Trubel dürfte ihnen die Einreise erleichtern. Gefälschte ausländische Pässe, musste die israelische Polizei gerade einräumen, werden bei den D. HILL / IPOL AP Ausland Anhänger von Bruder David Warten auf die Ankunft des Herrn Routinekontrollen am Flughafen nicht entdeckt. Die Sicherheitsdienste fürchten, dass bereits etliche Fundamentalisten mit Hilfe falscher Dokumente eingereist sind. Der soeben abgeschobene Bruder David hatte seinen Pass sogar verbrannt. Nur mit Mühe gelang es den Israelis, die amerikanischen Behörden von der wahren Identität des Festgenommenen zu überzeugen. „Warum sollte ich einen Pass haben“, fragte Bruder David, „ich bin von Gott berufen und nicht von Israels Innenministerium.“ Die israelische Polizei tut sich auch deswegen schwer mit den apokalyptischen Bibel-Anhängern, weil sie sich besser bei palästinensischen Gewalttätern auskennt als im Christentum. Religiöse Spinner gehören allerdings in der Heiligen Stadt seit eh und je zum Straßenbild. Psychisch labile Menschen werden hier häufig von einem Wahn erfasst, der als „Jerusalem-Syndrom“ bekannt ist. Die Menschen sehen sich plötzlich als biblische Gestalten, setzen sich als König David mit der Harfe auf den Zionsberg oder laufen mit einem Hotel-Betttuch umhüllt als Johannes der Täufer durch die Altstadt. Reagiert die Polizei zu scharf, besteht die Gefahr, dass sie die Apokalypse-Jünger in dem Glauben bestärkt, die Endschlacht habe bereits begonnen – wie in Waco. Auf einer Farm in der Nähe der texanischen Stadt starb Sektenführer David Koresh, der schon Ende der achtziger Jahre am Jerusalemer Ölberg vergebens den Weltuntergang erwartet hatte, nach wochenlanger Belagerung und einem Angriff des FBI zusammen mit etwa 80 seiner Jünger beim Brand ihrer Unterkunft. „Wir dürfen die Fehler von Waco zum Millennium nicht wiederholen“, warnt deshalb Richard Landes vom Bostoner „Zentrum für Millennium-Studien“ die Israelis. Der Historiker plädiert dafür, „viel mehr Krisenmanagement und psychologischreligiöse Beratung einzusetzen als Polizeikräfte“. Wann genau der Tag des Herrn anbrechen soll, darüber sind sich allerdings auch die Endzeitfanatiker nicht einig. Manche setzen auf den letzten Tag des Jahres 1999, andere auf den 20. April, Hitlers Geburtstag, der nächstes Jahr mit dem jüdischen Pessach-Fest zusammenfällt. Die Bewährungsprobe für die israelischen Sicherheitskräfte kann aber womöglich noch später kommen, glaubt Landes – dann nämlich, wenn die Endzeitchristen „sehen, dass der Messias überhaupt nicht kommt“. Annette Großbongardt Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Sport SKISPRINGEN „Boygroup im Schnee“ Vorigen Winter sprang Martin Schmitt in die Herzen deutscher Sportfans. Der untadelige Schwarzwälder wurde Weltmeister. Künftig reicht das nicht mehr: RTL hat die Übertragungsrechte gekauft, Skispringen soll zur „Formel 1 des Winters“ werden. 254 A. HASSENSTEIN / BONGARTS E s gibt junge Menschen, die wissen nicht, was sich gehört. Schreiben einen Brief, bitten darin um eine Autogrammkarte und legen kein Rückporto bei. Der prominente Mann, dem das schon so oft passiert ist, schlägt sich empört mit der flachen Hand vor die Stirn: „Wie finde ich denn das?“ Martin Schmitt, 21, sitzt, die Hände ordentlich auf den Oberschenkeln abgelegt, auf der grünen Wohnzimmercouch, als er sich über seine zumeist halbwüchsigen Fans mokiert. Mutter Waltraud richtet die Kaffeetafel und entschuldigt sich, dass es heute keinen Würfelzucker gibt. Da setzt Schmitt junior seine Rede fort, wonach es in letzter Zeit zunehmend auch Erwachsene seien, die sich ihm gegenüber seltsam benehmen. So, zum Beispiel, habe sich im vergangenen März eine Agentur bei ihm mit der Anfrage gemeldet, ob er, der Skispringer vom SC Furtwangen, mit Monica Lewinsky, der weltberühmten ehemaligen Praktikantin des Weißen Hauses, auftreten wolle. Er. Der stille Martin aus dem Schwarzwald. Natürlich hat er abgelehnt: „Denn die ist ja höchstens negativ bekannt.“ Der Martin hingegen ist durchweg positiv, ein badischer Musterknabe: wohnt noch bei den Eltern, zieht in der guten Stube immer brav seine Gesundheitslatschen an und plagt sich fleißig für die nächste Woche im finnischen Kuopio beginnende Saison. Wie ein Geschenk des Himmels war dieser Prachtkerl den Adlern des Deutschen Skiverbandes (DSV) vorigen Winter ins Nest gefallen. Zehn Weltcup-Springen gewann „Air Martin“ („Bunte“), wurde Doppel-Weltmeister und Weltcupsieger, und hinterher schrieb eine Zeitung: „Gäbe es ihn nicht schon, man müsste ihn erfinden.“ Denn endlich ist dem deutschen Sport mal wieder ein Siegertyp erwachsen, für den man sich nicht schämen muss. Eine Zeit schien es so, als ob nach Steffi Graf und Boris Becker nichts Gescheites mehr nachkommen würde. Der Tennisprofi Nicolas Kiefer ist als arrogant verschrien, die Schwimmerin Franziska van Almsick forciert ihre Interessen außerhalb des Bassins und hat nun auch das Rauchen entdeckt, der Zehnkämpfer Frank Busemann ist Teenie-Schwarm Schmitt: Gummibärchen-Torte und Auftritte mit Miss Internet zwar herzerwärmend freundlich, aber leider nahezu anhaltend von Verletzungen ausgeschaltet. Beinahe konkurrenzlos preschte der untadelige Spund von der Schanze in die Vorbild-Lücke und mischte ganz nebenbei auch noch die Verhältnisse im Wintersport auf. Galt der Skisprung einst als Leibesübung, die allenfalls während der kurzen Tage um die Jahreswende ins öffentliche Interesse gelangte, fiebert die Nation den Luftfahrten der mutigen Männer neuerdings mehr entgegen als den Abfahrten der alpinen Skifahrer. Die ARD tauschte, auf dem Höhepunkt der Schmitt-Show, an einem Donnerstag kurzfristig die „Expeditionen ins Tierreich“ gegen ein Nachtspringen im kalten Schweden ein. Der Boom sprach sich bis ins Rheinland herum, wo der zuletzt auf Boxen und Formel 1 fixierte Privatsender RTL zu Hause ist. Ähnlich wie die Kölner 1989 Tennis aus Wimbledon kauften, weil ein rotblonder Leimener das Land verzückte, sicherte sich RTL nun die Übertragungsrechte fürs Skispringen, weil Schanzenkönig Schmitt Quote verspricht. Daheim im idyllischen Tannheim, einem Ortsteil von Villingen-Schwenningen, hatte dessen Familie zuletzt vor allem damit zu tun, den unverhofften Aufstieg des d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 jüngsten Sprosses vom Studenten der Volkswirtschaft zum umtosten TV-Ereignis zu verarbeiten. Mal liefen Kamerateams durch die Wohnung und filmten Vater Hubert beim Wurfpfeilspiel. Dann wiederum hatte Mutter Waltraud weibliche Bewunderer abzuwimmeln, die dem feschen Filius Gummibärchen-Torten schickten oder bis tief in die Nacht telefonisch nachstellten: „Es war ungeheuer.“ Zwar haben die Schmitts inzwischen eine Geheimnummer, aber ansonsten versucht die Familie dem Rummel möglichst locker zu begegnen. Als unlängst wieder mal ein Tourist an der Pforte klingelte, staunte der Mann nicht schlecht, weil ihm das Zielobjekt höchstselbst die Tür öffnete: „Hallo, ich bin der Martin.“ So sind sie eben, die Schmitts: erdverbunden und volksnah. Die enge Bindung zu den Lieben daheim – der Vater war selbst Ski-Langläufer, der ältere Bruder Thorsten tut es ihm gleich – half Martin Schmitt bislang, das Bohei um seine Person schadlos zu überstehen. Auftritte bei Talkshows oder Fototermine an der Seite der Miss Germany, Miss Bayern und Miss Internet absolvierte er mit der Routine eines gereiften Stars: „Ich sehe das alles als Begleiterscheinung.“ Wenn mit dem Neujahrsspringen in Garmisch-Partenkirchen RTL die Regie über- P. SCHATZ / BONGARTS Skispringer Schmitt (bei der Vierschanzentournee 1998 in Oberstdorf): Luftfahrten in die Vorbild-Lücke M. HANGEN nimmt, wird Schmitts Charakterstärke je- sie verstehen sich weniger als Nutznießer Winters“ ein mediales Spektakel zu madoch verschärft auf die Probe gestellt. Für des Sports, sondern vor allem als des- chen, das der Vorlage aus der Vollgas-Bran48,5 Millionen Mark, verteilt auf drei Jah- sen Macher. Welchen Stellenwert hatte che in nichts nachsteht. Beim Festakt „Skispringen 2000“ im Skire, hat der Kommerzkanal dem DSV die Deutschland in der Formel 1, bevor RTL Rechte am telegenen Wintervergnügen ab- den Rennsport entdeckte, fragt Chefre- stadion von Garmisch-Partenkirchen bekam gekauft. Die alpinen Skirennen reichte RTL dakteur Hans Mahr, rein rhetorisch? „Da Frontmann Schmitt Ende Oktober einen ersgleich an ARD und ZDF weiter – auf Ver- gab es nur deutsche Zündkerzen.“ Und ten Eindruck, was das heißt: Bei der großen lierer und Platzierte sind die Privatfunker jetzt? Schumi, Frentzen und Mercedes. RTL-Party sind alle versammelt, die künftig im Skispringen eine Rolle spielen werden. nicht scharf. Alle Konzentration gilt der Mahr: „Das liegt auch an uns.“ „Boygroup im Schnee“, als die das DSVMit solchen Behauptungen nährt der Hartmut Engler von der Pop-Combo „Pur“ Springer-Team nun vermarktet wird. Österreicher zwar den Verdacht, in sport- stellt eine „Skispringerhymne“ vor: „Adler Einen „Schritt in die moderne Zeit“ lichen Belangen der Hybris anheim gefal- müssen fliegen.“ Moderator Günther Jauch, sieht der Verband in dem Geschäft. Im len zu sein. Andererseits dokumentieren seit dem Verlust der Champions-LeagueKern heißt das: Die Kasse stimmt. Wurden sie den festen Willen, aus der „Formel 1 des Übertragungsrechte bei RTL latent unterbeschäftigt, schwebt standesdeutsche Skisprung-Sieger vor gemäß im Hubschrauber ein. wenigen Jahren noch mit einem Statt mit Franz Beckenbauer Präsentkorb entlohnt, treibt nun über Manchester und Madrid zu ein – dank RTL – mit drei Milliotratschen, will er demnächst harnen Mark gefüllter Prämientopf te Infoware zu Themen wie Abden Ehrgeiz der Sportler an. sprungimpuls und V-Stil liefern: Kritiker indes befürchten in der „Wir werden keine zuckersüße Liaison nichts als das Erlöschen Soße drüberschütten“, verspricht des Alpenglühens. Wird aus dem Jauch. klassischen Männersport jetzt TutGarant dafür soll Dieter Thotifrutti in Weiß? Dass es die Fernma sein. Bei den ersten Sprechsehleute nicht dabei belassen, proben des im Sommer zurückkünftig nach zehn Springern den getretenen Olympiasiegers klafWettkampf für eine Werbepause zu unterbrechen, gilt als sicher. Die Manager von RTL sehen * Bei der Präsentation des Senders am sich irgendwo zwischen Entwick21. Oktober im Skistadion in Garmisch-Parlungshelfer und Kolonialherren; RTL-Team Bartels, Thoma, Jauch*: Tuttifrutti am Schanzentisch tenkirchen. d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 255 Sport 256 d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 Die Kollegen sind das besserwisserische Gebaren mittlerweile leid. Während eines Mannschaftsessens kam es kürzlich zum Disput. Er solle nicht so tun, als habe er die „Wahrheit gepachtet“, wurde Schmitt vorgehalten: „Du trägst keinen Heiligenschein.“ Auseinandersetzungen dieser Art registriert Coach Heß mit wachsender Sorge. Längst sieht er das Mannschaftsgefüge in Gefahr, weil die Schere zwischen dem „Super-Adler“ („Bild“) und dem Rest „immer weiter auseinanderklafft“. So hat eine Schokoladenmarke Schmitt zum neuen Werbestar erkoren. Wie der Alpine Hermann Maier in Österreich, lächelt er künftig hier zu Lande 50millionenfach von den Produkten mit der lila Kuh. Logisch, dass der künftige Skisprung-Millionär zu Wettkämpfen jetzt in der BusinessKlasse fliegt, während sich die Kollegen mit einem Touristen-Ticket begnügen müssen. Derartiges Jetsettertum „hat es früher nicht gegeben“, grollt Heß und kündigt an: „Ich werde dafür sorgen, dass das nicht noch weitere Blüten treibt.“ Zuversichtlich stimmt ihn bei seiner pädagogischen Mission, dass sich der Kandidat im Kern nicht als entrückter Promi versteht. Von dem Manager, der ihn bereits in einem Atemzug mit Boris Becker nannte und ihn als „James Dean 2000“ verkaufen wollte, hat sich Schmitt getrennt: „Der hat zu sehr auf den Putz gehauen.“ Dafür begab er sich in die Obhut einer Agentur, die von zwei ehemaligen alpinen Ski-Weltmeistern, Hanni Wenzel und Harti Weirather, geleitet wird – von denen erwartet er, dass sie wissen, wie man einen Wintersportler vermarktet. Die Öffentlichkeit hat den ManagementWechsel zunächst kritisch kommentiert: „Herr Schmitt, sind Sie wirklich so raffgierig“, titelte „Sport Bild“, den Anschein erweckend, der Martin wolle nur mehr Kohle machen. Auf dieses Echo war er nicht gefasst. „Am besten, man macht sich keine Gedanken darüber“, sagt er leise – und lächelt. Doch dann merkt Schmitt, dass die Welt so einfach nicht funktioniert. Er guckt in den mit Regenwolken verhangenen Himmel über Tannheim, als er durchspielt, was auf ihn zukommt, wenn es nicht so läuft wie erhofft. „Das konnte ja nicht gut gehen“, würden die Zeitungen schreiben. Der Ärger mit dem Manager, die vielen öffentlichen Auftritte, die ihn vom Training abgehalten hätten. Fehle nur noch, unkt er, wenn er nach 22 Uhr an der Seite irgendeiner Frau erwischt würde. Der begehrte Single formuliert die Schlagzeile schon mal selbst: „Martin Schmitt – er hat leider nicht nur Sport im Kopf.“ Gerhard Pfeil PEOPLE PICTURE GES fen Vorsatz und Syntax jedoch noch eine Skibreite auseinander: „Ich bin keiner, der wo Probleme macht.“ Der Auslöser der RTL-Wintersportoffensive steht etwas abseits und tut, was er immer tut, wenn er nicht recht weiß, was er von einer Sache halten soll: Martin Schmitt lächelt. Denn lächeln hilft. Wirkt sympathisch und sagt nichts darüber aus, was man wirklich denkt. Kaum je zuvor stand ein einzelner Athlet derart im Zentrum eines Millionengeschäfts zwischen TV und Sport. Acht Millionen Zuseher, so die RTL-Rechnung, soll die SchmittSchau bringen. Damit sich der Hauptdarsteller in die Pflicht genommen sieht, wurde er vom Sender auch mit einem persönlichen Sponsorenvertrag ausgestattet. Also tritt er für RTL bei der Telemesse auf oder bedient den Partner mit Szenen aus seinem Alltag – die der Privatkanal als Appetit- Schwimm-Idol van Almsick häppchen in seine Nachrichtensen- Neue Interessen abseits des Bassins dungen streut. Im Sommer hat Schmitt deshalb nicht nur 300 Übungssprünge auf Mattenschanzen absolviert, sondern sich auch auf seine Rolle als Medienstar gewissenhaft vorbereitet. Er analysierte Fernsehauftritte und Interviews von Sportlerkollegen und Politikern. Es galt, einen Weg zu finden, sich den Druck, der auf ihm lastet, nicht anmerken zu lassen. Jetzt pendelt er zwischen zwei Rollen. Mal gibt er den Charming-Schmitt, der unlängst als „Sportler mit Herz“ ausgezeichnet wurde, weil er einem verunglückten Kollegen spontan 10000 Mark zukommen ließ. Dann wieder geriert er sich als Neutrum – etwa wenn er sich bei einem offiziellen Auftritt der DSV-Equipe in die hintere Reihe setzt, obschon die Fernsehschaffenden das gern anders gehabt hätten. Schmitt operiert nach dem Prinzip, sich kleiner zu machen, als er eigentlich ist. So wälzt er die sportlichen Erwartungen auf Sven Hannawald ab, den zweiten SiegSpringer im DSV-Team. Mit dem ist er befreundet, auf Reisen teilen sie sich das Zimmer. „Wenn Sven auch mal gewinnt“, erklärt Schmitt mit entwaffnender Logik, „dann wird es auch für mich leichter.“ Im Gegensatz zur kleinlauten Außendarstellung geht Schmitt im Mannschaftskreis gern mal auf Konfrontation. Endlose Diskussionen vermag der junge Beau zu Zehnkampf-Held Busemann führen, wenn er glaubt, dass Kritik Von Verletzungen ausgeschaltet an seinem Flugstil nicht gerechtfertigt ist: „Da geht es dann auch schon mal zur blikum drohe ja allmählich „wie im FußSache.“ ball die Übersättigung“. „Er trägt sein Herz eben auf der Zunge“, Im März brachte Schmitt sogar das sagt Bundestrainer Reinhard Heß. Den- ganze Team in Verruf. Da nörgelte er über noch würde er sich von dem meinungs- die veraltete Absprunganlage im tradistarken Primus doch gelegentlich mehr di- tionsreichen Holmenkollenstadion in Oslo. plomatisches Geschick wünschen. Zuletzt Das Echo war verheerend: Als die DSVforderte Schmitt, den überfrachteten Wett- Männer tags darauf in die Spur sprangen, kampfkalender einzudampfen. Dem Pu- pfiffen 40 000 Zuschauer. Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Sport FIRO dem Verein natürlich mehr Geld bringen, ist erstens die Atmosphäre nicht mehr ganz so gigantisch wie früher. Und zweitens sind mehr kritische Leute da – die wollen unterhalten werden. Die brüllen nicht, aber sie maulen. Das ist meistens schlimmer. SPIEGEL: Sie haben besondere Erfahrungen mit Schmähungen der Fans. Vor sechs Jahren, im Trikot von Schalke 04, fuhren Sie deswegen nach Ihrer Auswechslung noch während des Spiels mit der S-Bahn nach Hause. Steigern solche Gesänge Ihre Aggressivität? Lehmann: Ich bin ja inzwischen auch in die Gruppe derer gerutscht, die auswärts ausgepfiffen werden. Ich merke, dass mich das anspornt. Man muss sich aber fragen, ob Zuschauer prinzipiell das Recht haben, Spieler auszupfeifen. SPIEGEL: Wie bitte? Lehmann: Es ist doch so, dass ich als Spieler zu Saisonbeginn von einem Verein angeheuert werde. Ich bin auf dessen Wunsch gekommen; eigentlich müssten die Leute also die Clubfunktionäre auspfeifen, wenn es nicht läuft. Auch wenn jetzt einige sagen: Der Lehmann spinnt. Sicher muss ich auch registrieren, wenn applaudiert wird. Aber die Mitglieder bestimmen den Vorstand, der Vorstand bestimmt den Trainer, der Trainer die Mannschaft. Manchmal muss man also den Ursprung der Fehlerkette woanders suchen. Letztlich sollte das Publikum honorieren, dass jeder Spieler sein Bestes gibt. SPIEGEL: Ihr Wechsel nach Dortmund ist es wohl nicht allein. In den vergangenen Wochen machten Sie den Eindruck, sämtliche Sympathien systematisch aufs Spiel setzen zu wollen. Der Chef des HSV hat Sie einen „arroganten Schnösel“ genannt. Lehmann: Es ist einfach so, dass ich ein Spielball einiger Medien bin. Da hat man nur zwei Möglichkeiten. Entweder man spielt mit, oder man sagt in gewissen Situationen: Schluss, Sendepause. So habe ich reagiert, nachdem die „Bild“-Zeitung Beleidigendes gegen meine Frau gedruckt hat. Ich rede nicht mehr mit denen und bekomme im Gegenzug Breitseiten. SPIEGEL: Sie waren es doch, der die Profis des HSV als „Weicheier“ bespöttelt hat und der nach dem peinlichen Ausscheiden aus der Champions League maulte, auf den Uefa-Cup habe er „keinen Bock“, weil da meistens donnerstags gekickt werde? Lehmann: Manches war nur im Spaß gesagt, es waren auch ernst gemeinte Äuße- Torwart Lehmann*: „Ich merke ja selbst, dass ich angespannter bin“ FUSSBALL „Schluss, Sendepause“ Der Dortmunder Torhüter Jens Lehmann über die Schmähgesänge der eigenen Fans, den Vorwurf der Arroganz und seine Ambitionen als Nationalspieler Lehmann, 30, verlor das Duell mit dem Münchner Oliver Kahn um den Stammplatz im Tor der deutschen Nationalmannschaft. 1997 gewann er mit dem FC Schalke 04 den Uefa-Pokal; im Jahr darauf wechselte er als erster deutscher Torhüter nach Italien. Beim AC Mailand saß er jedoch häufig auf der Reservebank und kehrte nach Westfalen zurück – zu Borussia Dortmund. unzufrieden sind. Zuletzt haben wir ja wirklich nicht gut gespielt. SPIEGEL: Ist das Dortmunder Publikum besonders schwierig? Lehmann: Man muss da zwischen den verschiedenen Tribünen unterscheiden. In der Südkurve stehen die Treuesten, aber auch Fanatischsten. Und durch die Logen, die * Mit Schiedsrichter Wolfgang Stark beim Spiel Hamburger SV gegen Borussia Dortmund (1:1) am 30. Oktober. 260 WEREK SPIEGEL: Herr Lehmann, wie fühlen Sie sich, wenn Sie im Dortmunder Stadion hinter Ihrem Tor die eigenen Fans „Scheiß-Millionäre“ rufen hören? Lehmann: Ach, da habe ich schon Schlimmeres erlebt. Natürlich ist es schade, wenn die Fans Fans im Westfalenstadion: „Recht, die Spieler auszupfeifen?“ d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite rungen dabei, anderes war total aus dem Zusammenhang gerissen. Zum Beispiel habe ich wirklich in dem Moment, da ich aus der Champions League ausscheide, keine Lust, ersatzweise im Uefa-Cup zu spielen. Obwohl ich inzwischen gesehen habe, dass da gute Mannschaften mitspielen und der Wettbewerb vom Modus sogar attraktiver ist. Ich habe aber keine Lust mehr, über diese hochgespielten Zitate zu reden. Manche versuchen, ein bestimmtes Image von mir zu produzieren. Dass ich etwa nach dem Spiel in Hamburg Konkurrent Kahn: „Der Teamchef ist auch kein Hellseher“ als Einziger eine Mütze trug, wird mir als arrogant ausgelegt. Ich war SPIEGEL: Fällt es dann schwer, außerhalb erkältet. des Platzes nicht mehr genauso selbstgeSPIEGEL: Im September galten Sie noch als wiss und arrogant zu wirken wie im Spiel? Cleverle, das mit guter Leistung und sub- Lehmann: Natürlich. Ich halte es sowieso tilen Nadelstichen seinen Nationalelf- nicht für richtig, dass man eine Minute Konkurrenten Oliver Kahn unter Druck nach dem Abpfiff ernst zu nehmende Insetzt. Jetzt empfiehlt sogar Ihr Dortmun- terviews verlangt. Man ist in einer spezielder Trainer Michael Skibbe, es könne von len Situation. Kurz vorher hat man noch Vorteil sein, weniger Angriffsfläche zu dagestanden und einen Ball erwartet, der bieten. einem aus fünf Metern aufs Gesicht zuLehmann: Bei mir gibt es nun mal viele An- fliegt. Oder einen Spieler, der mit gegriffsflächen. Ich versuche, die Nummer strecktem Bein angesaust kommt. Und eins im Tor der Nationalelf zu werden. Und dann soll man innerhalb von einer Minute ich habe eine Frau geheiratet, die vorher umschalten können? Das ist sehr schwer. mit jemand anderem zusammen war, der SPIEGEL: DFB-Teamchef Erich Ribbeck fiel bekannt ist … auf, Sie kämen „manchmal zu verbissen SPIEGEL: … dem früheren Dortmunder Pro- und sogar etwas weltfremd rüber“. Sind Sie mit der Degradierung zum Ersatzfi Knut Reinhardt. Lehmann: Solange ich noch zum Erfolg mei- torwart der Nation nicht klargekommen? ner Mannschaft beitrage, sollten manche Lehmann: Nein, ich bin gern bei der Natiofroh sein, dass nicht sie die Angriffsfläche nalmannschaft und werde weiter versubieten. chen, nach vorne zu kommen. SPIEGEL: Wächst Ihnen die Öffentlichkeits- SPIEGEL: Halten Sie die Frage, wer im Juni arbeit über den Kopf? bei der Europameisterschaft im Tor steht, Lehmann: Die Spiele selbst sind keine so schon für entschieden? große Belastung. Nur das Drumherum, die Lehmann: Der Teamchef hat sich entschieReisen, die Interviews, das ist schon heftig. den. Nur, der Teamchef ist auch kein HellIch habe bereits 26 Pflichtspiele in dieser seher. Die Verhältnisse können sich schnell Saison absolviert. Dass ich da zuletzt nicht ändern. Vielleicht spielt ein ganz andemehr so frisch war, so super relaxed rü- rer im Tor, mit dem jetzt noch niemand berkam – Entschuldigung, aber das muss rechnet. Ich hoffe nach wie vor, dass sich man auch verstehen. noch etwas verschieben kann. Niemand SPIEGEL: Putschen Sie sich vor Spielbeginn kann mir verübeln, dass es mein sportbewusst auf, damit Sie auf die nötige Be- liches Ziel ist, die Nummer eins zu werden. triebstemperatur kommen? Lehmann: Nein, eine Aggressivität brauche SPIEGEL: Ihr Rivale Kahn hat sich augenich nicht im Spiel. Wichtig sind nur Ruhe scheinlich in jüngster Zeit eine gelasseneund Körperspannung. Die baue ich mir re Berufsauffassung antrainiert. Wollen durch Konzentration auf und auch durch auch Sie sich ändern? Lehmann: Natürlich, jeden Tag. Ich merke die Atmosphäre im Stadion. SPIEGEL: Müssen Torhüter ganz besondere ja selbst, dass ich durch die Begleiterscheinungen dieser vielen Spiele angepsychologische Qualitäten haben? Lehmann: Natürlich muss man sich auf dem spannter bin. Durch die Reisen, diese unPlatz Respekt verschaffen. Dazu gehören zähligen Besprechungen. Aber wenn ich auch schauspielerische Fähigkeiten. Wenn wie vergangene Woche mal drei Tage frei ich weiß, dass ein Stürmer, der auf mich habe und mit der Familie zusammen bin, zuläuft, Angst vor mir hat, dann habe ich werde ich gleich anders. schon gewonnen. Interview: Jörg Kramer 262 d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 P. SCHATZ / BONGARTS Sport Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Wissenschaft•Technik M. EL DAKHAKHNY / SIPA PRESS M. EL DAKHAKHNY / SIPA PRESS Prisma Kairo Gizeh Nil Vergoldete Mumie aus Baharija, Grabungsstätte Oase Baharija ARCHÄOLOGIE Mekka der Mumien A m Himmel der ägyptischen Altertümer ist ein neuer Stern aufgetaucht – die Oase Baharija. Im letzten Juni hatten Forscher an dem abgelegenen Wüstenort 105 vergoldete Mumien entdeckt – ein Sensationsfund. Chefarchäologe Zahi Hawass schätzt, dass der gesamte Friedhof „rund 10 000 reich ver- zierte Tote enthält“. Nun soll die Karnak ÄGYPTEN Oase mit ihren wertvollen archäologischen Schätzen zügig zu einer 300 km Touristenattraktion ausgebaut werden. In der letzten Woche öffneten die Behörden den angrenzenden „Alexander-Tempel“, 332 vor Christus dem großen Feldherrn geweiht, sowie weitere Prunkgräber. Auch die Mumienfans kommen auf ihre Kosten: Fünf der schönsten Exemplare werden erstmals der Öffentlichkeit präsentiert. MEDIZIN Tod durch Kuscheln M TONY STONE anche Eltern halten gern auch nachts engsten Körperkontakt zu ihrem Baby. Das beruhigt, endet mitunter aber tödlich. Eine Analyse von 515 Todesfälle von Kindern unter zwei Jahren, die im elterlichen Bett verstorben waren, hat nun die staatliche amerikanische „US Consumer Product Safety Commission“ vorgelegt. 121-mal waren die schwergewichtigen Erwachsenen nächtens über ihren Nachwuchs gerollt, 394-mal hatten sich die Säuglinge in „verschiedenen Strukturen des Bettes“ verheddert – mit letalem Ausgang. Am häufigsten waren Babys unter zwölf Monaten von den Unfällen betroffen. In der trockenen Sprache der Pathologen wiesen die Ärzte auf eine besonders verletzliche Stelle der Kinder hin: Schon zwei Kilogramm Druck am Nacken würden reichen, um lebenswichtige Blutgefäße abzudrücken. Mutter mit Säugling d e r Schnecken-Roboter ROBOTER Schrecken der Schnecken B ritische Wissenschaftler haben einen Roboter gebaut, der Nacktschnecken vertilgt und seine Antriebsenergie aus den kompostierten Opfern bezieht. Das Vehikel, mit einem GPSEmpfänger bestückt, gleicht einem Spielzeugauto und spürt die Mollusken mit Hilfe eines optischen Sensors auf. Ein 1,8 Meter langer Greifarm kann pro Minute zehn Tiere packen und in einen Fülltrichter heben. „Ernsthafte Forschung im Experimentalstadium“, nennt Ingenieur Chris Melhuish den Prototyp. Im Feldversuch, der nächstes Frühjahr anläuft, soll der Robocop von einer Basisstation aus operieren, wo die Beutetiere in einer Fermentationskammer in Biogas und elektrische Energie zur Ladung seiner Batterien umgewandelt werden. Praktische Anwendung könnte das autonome System in großen Salatbeeten und Feldern für Winterweizen finden, die von bis zu 200 Schnecken pro Quadratmeter befallen sind. s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 265 Prisma Wissenschaft•Technik MEDIZIN Gesamtleistung der Windturbinen in Deutschland Schrumpfende Netze in Megawatt Zum Vergleich Die beiden Meiler des Atomkraftwerks Biblis leisten zusammen 2407 Megawatt. Von Januar bis September dieses Jahres wurden 1056 neue Windkraftanlagen errichtet. D ie Behandlung von Leistenbrüchen, mit rund 250 000 Eingriffen pro Jahr häufigster Operationstyp in deutschen Kliniken, kann schwere Spätfolgen nach sich ziehen. Seit etwa fünf Jahren arbeiten viele Ärzte mit einer neuen minimalinvasiven Technik: Winzige kamerabestückte Instrumente werden unter Vollnarkose in die Bauchhöhle eingeführt; diese stopfen den Leistenriss von innen mit einem etwa 12 mal 15 Zentimeter großen Gitternetz aus Polypropylen. Doch die vermeintlich elegante Methode wirkt nach Beobachtung des 4100 Prognose 2875 2082 1547 1094 1994 Quelle: Bundesverband WindEnergie e.V. 1995 1996 1997 1998 1999 WINDKRAFT Warmer Wind R M. LINKE / LAIF osige Zukunft für Deutschlands Rotor-Zunft: Referenten des Berliner Wirtschaftsministeriums wollen den Betreibern von Windkraftanlagen künftig Festpreise garantieren. Bislang sind deren Erlöse an den aktuellen Strompreis gekoppelt, der seit Monaten rapide sinkt. Im nächsten Jahr erhalten die Windmüller deshalb nur noch 16,1 Pfennig pro Kilowattstunde, 0,4 Pfennig weniger als in diesem Jahr. Zudem brauchen die Netzbetreiber, gemessen an ihrem Gesamtabsatz, lediglich fünf Prozent an Windenergie der lästigen Öko-Konkurrenz abzukaufen. Der neue Entwurf sieht nun eine radikale Änderung des Stromeinspeisungsgesetzes vor: Die Fünfprozentdeckelung wird gekippt, und ein Festpreis zwischen 12 und 17 Pfennig pro Kilowattstunde soll garantiert werden. „Über die genaue Höhe“, so ein Sprecher, „wird noch gestritten“. TIERE Massenwilderei für Luxus-Schals Chirurg Schumpelick I hr ultrafeines, seidenweiches Haar ist der Tibetantilope zum Verhängnis geworden: Die Population (einst 1 Million Tiere) ist auf nur noch rund 60 000 gesunken, weil Wilderer die Antilopen massenhaft für die Herstellung von Lu- WILD YAK PATROL / IFAW Chirurgen Volker Schumpelick (Klinikum Aachen) wie eine Zeitbombe. Die implantierten Netze – im Koreakrieg für Bauchschuss-Wunden entwickelt – würden im Laufe der Zeit zu „harten Knollen“ verschrumpeln. Narben, chronische Entzündungen und Nervenschmerzen sind nach seiner Erfahrung die Folge. „Unsere Klinik hat bereits 120 Gitter wieder ausgebaut“, sagt Schumpelick, „bei einigen Patienten fanden sich entartete Zellen – mögliche Vorstufen von Krebs.“ Auf dem europäischen Hernienkongress vorletzte Woche in Madrid meldeten andere Chirurgen vollständig abgerissene Wundpflaster, die in Harnblase und Dickdarm gewandert waren. Schumpelick fordert jetzt eine „drastische Reduzierung“ der Pflastertechnik, um nicht in ein „Humanexperiment unvertretbaren Ausmaßes“ zu geraten. Allein im letzten Jahr erhielten etwa 50 000 Patienten, darunter viele Jugendliche, das Plastikpflaster. Tibetantilopen 266 xus-Halstüchern abschlachten. Ausschließlich die Bauch- und Kinnhaare der Antilopen dienen als Material für die so genannten Shahtoosh-Schals, mit denen sich schon Napoleons Joséphine schmückte. Obwohl Handel und Besitz der leichtesten und wärmsten Wolle nach dem Washingtoner Artenschutzabkommen bereits verboten waren, sind die Schals, die sich durch einen Fingerring ziehen lassen, seit den achtziger Jahren zum Status-Stück der Schickeria in London, Paris, Rom und New York geworden: Mit dem Edeltuch zeigten sich die Models Cindy Crawford und Christie Brinkley. Modemacher Valentino besitzt etwa 200 Shahtoosh-Schals. Um die Massenwilderei auf den tibetischen Hochebenen einzudämmen, bei der auch mutterlos gewordene Jungtiere zu tausenden umkommen, hat der Internationale Tierschutz-Fonds die chinesischen Wildhüter mit Nachtsichtgeräten und elektronischer Kommunikation ausgerüstet; zwei Wildhüter wurden schon von Wilderern getötet. d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 IMO 605 Werbeseite Werbeseite Wissenschaft MEDIZIN Ende einer Irrfahrt Ein junger Amerikaner starb, als Forscher ihn von seinem Stoffwechselleiden heilen wollten. Nach dem Menschenversuch mit tödlichem Ausgang sind ähnliche Experimente vorerst gestoppt worden. Kritiker halten die Gentherapie einstweilen für wirkungslos und zu riskant. 268 d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 GELSINGER FAMILY / ARIZONA DAILY STAR I n seinem alten Leben war Jesse ein Fieber stieg. Leber, Nieren, Lunge versagTeenager, der im Supermarkt als Tü- ten und Gehirnzellen starben ab. Er fiel teneinpacker jobbte und seine Schwes- ins Koma. Vier Tage später stellten die Ärztern ärgerte. Jemand, der Hot Dogs, Pom- te die Apparate ab. Trotz seiner Krankheit hätte der Junge mes und sein neues Motorrad liebte und alt werden können. Zwar ist der Gen-De„fuck!“ brüllte, wenn er wütend war. Sein neues Leben begann, kurz bevor fekt nicht heilbar, aber mit einer eiweißer starb. Es machte ihn zum Märtyrer in armen Diät und Medikamenten leben vieden Augen seines Vaters und zu einem in- le der Betroffenen einen weitgehend beteressanten Studienobjekt für viele For- schwerdefreien Alltag. Auch deswegen ist scher. Für den Rest der Welt ist er das der tödliche Ausgang im Fall Gelsinger so katastrophal: Zum ersten Mal in der Geerste Opfer der Gentherapie-Forschung. Der Junge aus Tucson, Arizona, starb schichte der Gentherapie-Forschung hatten am 17. September im Alter von 18 Jahren Wissenschaftler eine neue Methode an eian den Folgen eines medizinischen Expe- nem relativ gesunden Probanden getestet. Schockiert durch den Todesfall, stoppte riments. Er hatte sich freiwillig gemeldet. „Obwohl ihm klar war, dass für ihn nichts die US-Arzneimittelbehörde FDA zunächst dabei rumkommen würde“, sagt Paul Gelsinger, der Vater. „Er hat es für all die Babys getan, denen in Zukunft vielleicht mit dieser Therapie das Leben gerettet werden kann.“ Darauf, dass Jesse an der Studie der University of Pennsylvania in Philadelphia teilnehmen durfte, ist sein Vater noch immer stolz. Seine Leberwerte qualifizierten den Jungen für das Experiment: Ein bestimmtes Gen funktionierte in seinen Zellen nicht so, wie es sollte. Ihm mangelte es an einem Leberenzym, das bei Gesunden zur Entsorgung von giftigen Stoffwechselprodukten sorgt. Kein Geringerer als James Wilson, Gentherapie-Papst in den USA, hatte gemeinsam mit einem Leberspezialisten gegen diese seltene, aber für manche Menschen, vor allem Neugeborene, tödliche Stoffwechselkrankheit eine Behandlung ersonnen: Mit Adenoviren, die Atemwegserkrankungen auslösen können, sollte die korrekte Version des Enzymgens, das bei Jesse defekt war, in die Leber des Jungen gespritzt werden. Jesses Sterben begann wenige Stunden nach der Injektion der neuen Gene. Giftiges Ammonium überflutete seinen Körper. Sein Blut klumpte, das Gentherapie-Patient Jesse Gelsinger: Tod im Koma alle vergleichbaren klinischen Studien.Wilson versprach, den Tod des Jungen intensiv zu untersuchen. Anfang Dezember sollen die Obduktionsergebnisse bekannt gegeben werden. Unterdessen berichteten Reporter der „Washington Post“ über acht weitere Patienten, die bei Gentherapie-Studien ums Leben kamen; ihr Tod war von den jeweiligen Versuchsleitern unter Verschluss gehalten worden. Und vorletzte Woche kam heraus, dass drei Leberkrebs-Patienten, die in ähnlicher Weise behandelt worden waren wie Jesse, schwere Nebenwirkungen erlitten haben. In Deutschland trat als Reaktion auf das Drama in Philadelphia ein Expertengremium zusammen. Doch die Gelehrten entschieden – ohne die Details des tödlichen US-Experiments zu kennen –, dass die derzeit in der Bundesrepublik laufenden Experimente zur Gentherapie mit Adenoviren nicht unterbrochen werden müssen. „Mit der US-Studie sind die Versuche in Deutschland nicht direkt zu vergleichen“, befand Klaus Cichutek, leitender BiotechSpezialist beim Paul-Ehrlich-Institut, das für die Zulassung von Sera und Impfstoffen zuständig ist. Auch in den USA nimmt kaum ein Wissenschaftler Jesses Tod zum Anlass, die Gentherapie grundsätzlich in Frage zu stellen. Stattdessen bewerten die Spezialisten das Sterben des 18-Jährigen eher als dummen Zufall, der sich mit einem Schulterzucken abhaken lässt. Dabei gäbe es über diesen Todesfall hinaus genügend Gründe, die Gentherapie kritischer zu sehen. Schon eine oberflächliche Betrachtung enthüllt Wahrheiten, in deren Licht der Tod des Jungen aus Arizona nicht mehr als Einzelereignis, als Unfall am Wegesrand erscheint, sondern eher wie der Crash am Ende einer Irrfahrt – mit Patienten als Dummies. Fast auf den Tag genau zehn Jahre vor Jesses Tod hatten US-amerikanische Krebsforscher ihren ersten geglückten Gentransfer in die Zellen eines Menschen verkündet; es handelte sich um einen Vorversuch noch ohne therapeutischen Wert, der nur beweisen sollte, dass das Prinzip funktioniert. Seit Anfang der sechziger Jahre hatten die Mediziner, entzückt von den Ent- Fähren ins Erbgut Wichtige Methoden, Gene in den Zellkern einzuschleusen ADENOVIREN Patienten* Die Gene der DNS-haltigen Adenoviren gelangen als frei schwimmende DNSStränge in den Zellkern. Zellkern 437 Vorteile •keine Störung der normalen Zellfunktion, da es keine Integration in die Chromosomen gibt •effektive Einschleusung Nachteile •Gene sind nur vorübergehend aktiv, so dass oft nachgespritzt werden muß •starke Immunreaktion möglich Virus mit DNS RETROVIREN Ein RNS-haltiges Virus dockt an die Zelle an. Die RNS wird in DNS umgeschrieben und dann in das Erbgut der Zelle eingebaut. Patienten* 1217 Virus mit RNS Vorteile •stabiler Einbau in die Chromosomen •Virusgene fehlen •effektive Einschleusung deckungen in der sich gerade erschließenden Welt der Molekularbiologie, von der Möglichkeit geträumt, mit Hilfe eingeschleuster Gene Menschen zu heilen. Das Konzept schien verlockend einfach: Die Krankheit sollte an ihrer Wurzel gepackt werden, indem man das defekte Erbgut repariert oder ersetzt wie eine rostige Schraube im Motor. Der amerikanische Forscher Stanfield Rogers erlag der Verführungskraft dieser Idee schon Anfang der siebziger Jahre – er ist der inoffizielle Pionier der gentherapeutischen Experimente am Menschen. Ebenso erfolglos wie heimlich versuchte er, zwei deutsche Schwestern von ihrer erblich bedingten fortschreitenden Demenz zu befreien. Mitte der achtziger Jahre hatten die Forscher sich schon näher an ein konkretes Konzept für die Gentherapie herangetastet. Sie fanden einen scheinbar genialen Weg, Gene in die Zellen zu schleusen: gleichsam als Huckepack-Ladung vermittels Viren. Perfekt beherrschen diese Mikroben die Kunst der Infektion. Sie verfügen über die Fähigkeit, in Zellen einzudringen und diese sodann dazu zu bringen, auch das Virenerbgut zu vermehren. Fortan kopiert die Zelle beim routinemäßigen Ablesen ih- Nachteile •zuvor intakte Gene können ausgeschaltet werden – Gefahr von Tumorbildung AAV Patienten* 36 Vorteile •keine Immunreaktion Nachteile •jeweils nur geringe Mengen DNS können mit einem Virus eingeschleust werden •schwer herzustellen Adenoassoziierte Viren NACKTE DNS DNS-Ringe, die in ein Gewebe injiziert werden, dringen in die Zelle ein – vermutlich durch feine Risse in der Zellmembran. Patienten* 69 Vorteile •keine viralen Gene, daher keine Infektion möglich •besonders stabil im MuskelGewebe Nachteile •wenig effektiver Gentransfer *weltweit bis 1. September 1999; Quelle: Journal of Gene Medicine d e r B. CRAMER Die winzigen Adeno-assoziierten Viren gelangen in ähnlicher Weise in die Zelle wie Adenoviren, sie können jedoch keine ernsthaften Krankheiten verursachen. s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 Gentherapeut Wilson Verlockend einfaches Konzept rer eigenen Erbinformationen nicht mehr nur die eigenen Gene, sondern auch die der Mikroben. Auf diese Weise vermehren sich die Eindringlinge und befallen weitere Zellen. Den Bioforschern gelang es, die gefährlichen, für die Vermehrung zuständigen Gene aus den Viren herauszuoperieren und stattdessen neues Erbmaterial einzufügen. Die amputierten Erreger vermögen immer noch Zellen zu befallen, aber statt des eigenen Viren-Erbguts schleusen sie nun eine funktionierende Version des beim Patienten defekten Gens in den Organismus – eine Methode, die bis heute bei fast jedem Gentransfer-Versuch angewendet wird (siehe Grafik). Im September 1990 begannen US-amerikanische Wissenschaftler mit der Be269 Wissenschaft handlung der vierjährigen Ashanthi DeSilva aus Cleveland; es war das erste zugelassene Gentherapie-Experiment am Menschen. Das Kind litt – und leidet heute noch – an einer seltenen Stoffwechselschwäche, der ADA-Defizienz, die das Immunsystem zum Erliegen bringt. Mit der anrührenden Kombination – kleines Mädchen leidet an grausamer Krankheit – konnte sich Experimentator French Anderson der geballten Publikumssympathie sicher sein. Besonders, weil damals die Erinnerung der Amerikaner an den „Bubble Boy“ noch relativ frisch war, einen kleinen Leidensgenossen Ashanthis, der zum Schutz seines fragilen Immunsystems vor Bakterien- und Virenattacken in einer Plastikhaube hatte leben müssen. Mit dem Versuch an Ashanthi DeSilva begann der Triumphzug der Gentherapie durch Presse, Funk und Fernsehen. Nach Art von Straßenpredigern beschworen Ärzte eine neue Ära, ein Leben ohne Leid. „Seit tausend Jahren wartet die Medizin auf eine solche Therapie“, verkündete Gerard McGarrity, der damals dem „Recombinant DNA Advisory Committee“ (RAC) vorsaß, dem für Genbehandlungen zuständigen Zulassungsgremium der USGesundheitsbehörde. Die Liste der in Zukunft per Gentransfer heilbaren Plagen der Menschheit wurde täglich länger: von Bluthochdruck zu Erbkrankheiten wie der zystischen Fibrose, von Aids über Alzheimer und Parkinson bis zu Krebs. Die eifrigsten Propheten sagten voraus, dass spätestens 1996 die erste Gentherapie auf dem medizinischen Markt verfügbar sein würde. Angesteckt von der Euphorie, pumpten Pharmakonzerne Milliardenbeträge in entsprechende klinische Forschungsprogramme. In Deutschland begann die erste klinische Studie 1994, bis heute verzeichnet das offizielle Register 67 Patienten. Weltweit gibt es rund 400 klinische Studien, die meisten davon laufen in den USA. US-Mediziner French Anderson, einer der Gentherapie-Pioniere, drückte schon vor Jahren den Ehrgeiz der Forscher aus: „Wir wollen diese Technologie an die Krankenbetten bringen, so schnell wir können.“ Im selben Atemzug tat er die Auffassung „einiger Grundlagenforscher“ ab, die „nicht an den Menschen gehen wollen, bevor wir nicht alles Mögliche in Tieren und Gewebekulturen getan haben“. Viel gebracht haben die experimentellen Behandlungen jedoch nicht: Bis auf den heutigen Tag ist nicht ein einziger der weltweit rund 3300 Probanden der Genärzte von seiner Krankheit geheilt worden. Noch immer kämpfen die Gentherapeuten mit den gleichen technischen Schwierigkeiten wie vor zehn Jahren – nur, dass eigener Ehrgeiz und oft auch der Vermarktungsdruck von Pharmafirmen die Mediziner inzwischen dazu treibt, neue d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 P. SIMON Methoden möglichst rasch am Menschen auszuprobieren. Die Patienten gehen ihnen bei diesem Parforceritt nicht aus. Welcher Schwerstkranke würde sich nicht im Angesicht des Todes für einen Hoffnungsschimmer in die Hände der optimistischen Hightech-Mediziner begeben? Und in den öffentlichen Kontrollgremien, die über Ethik und saubere Wissenschaft wachen, haben sich offensichtlich die Grenzen des Erlaubbaren zugunsten des Machbaren verschoben. In Deutschland findet die Zulassung klinischer Gentransfer-Studien in einem verzweigten Behörden-, Gremien- und Richtlinienwirrwarr statt. Selbst Klaus Cichutek vom Paul-Ehrlich-Institut, durchaus orientierungsfähig in diesem Labyrinth, findet es „unglücklich“, dass die in den Experimenten eingesetzten Gentherapeutika „nicht einmal als eigene Arzneimittelklasse gelten“. Je nachdem, ob man sie als „Impfstoff“, „Blutzubereitung“ oder in der Definitionsnot als „andere Arzneimittel“ einstuft, fallen sie jeweils unter die Zuständigkeit einer anderen Bundesbehörde. Im gelobten Gentech-Land USA werden klinische Studien zwar immer noch öffentlich vom RAC geprüft, immerhin einem Gremium aus hochrangigen Wissenschaftlern, Patientenvertretern und Ethikern. Doch die eingereichten Anträge umfassen hunderte von Seiten, vollgepackt mit Tabellen, Versuchsanordnungen, Vor- T. BARTH / ZEITENSPIEGEL Nervenzelle mit eingeschleustem Gen: Risiko durch Überreaktion der Immunabwehr Mediziner Simon Muss die Gentherapie scheitern? studien. So komplex sind die Techniken, so umfangreich ist das Arbeitspensum, dass die wenigen Ethiker im Gremium naivere, unwissenschaftliche Fragen kaum zu stellen wagen. In der Expertenkommission diskutieren vor allem Gentherapeuten über die Gentherapie – ein wissenschaftlicher Inzest. Mit fatalen Folgen: „Die Studie, bei der Jesse Gelsinger umkam, hätte das RAC nie zulassen dürfen“, urteilt Ulrich Dettweiler vom Kennedy Institute of Ethics in Washington D. C. Alarmiert von dem Todesfall, besorgte sich der Bioethiker sämtliche Papiere zu James Wilsons klinischer Studie und tat sich zusammen mit Perikles Simon, einem Mediziner von der Univer- sität Tübingen. Die beiden Jungforscher durchforsteten und analysierten mehr als 400 Seiten. Was sie in den Protokollen entdeckten, erschütterte Dettweiler und Simon. Plötzlich weitete sich ihre Nachforschung, eine anfangs kleinliche Suche nach wissenschaftlichen Patzern in der Versuchsanordnung: Aus dem Mikrokosmos der Gelsinger-Studie schälte sich für sie das Versagen der Gentherapie im Ganzen heraus. „Das muss man sich mal vorstellen“, wundert sich Dettweiler, „diese Studie wird vorgeschlagen von James Wilson, dem mit über 490 Veröffentlichungen wohl erfolgreichsten Gentherapeuten der Welt, seine Arbeit wird beurteilt von dem erfahrensten Gremium, das man sich vorstellen kann.“ Und trotzdem hätten die Gelehrten eine schwerwiegende Fehlentscheidung getroffen: „Das liegt an der totalen Fehlkommunikation“, kritisiert der Ethiker. „Die hörten einander nicht richtig zu.“ Vor allem zwei Bioforscher, Stephen Straus und Robert Erickson, hatten während der Sitzung des RAC Anfang Dezember 1995 heftige Besorgnis geäußert. Beide warnten ausdrücklich davor, relativ gesunde Patienten wie den jungen Gelsinger mit einer Gentherapie zu behandeln. Doch niemand, am allerwenigsten James Wilson selber, ging auf ihre Bedenken ein. Am Ende der schier endlosen Debatte ließ Erickson sich durch zwei lahme Zugeständnisse der Versuchsleiter dennoch zu einer Zustimmung zum Experiment hinreißen. „Ich wünschte“, bedauert der Mediziner heute, „sie hätten mich nicht überzeugt.“ Gerade die brisanten Einzelheiten in Wilsons Studie lesen sich wie ein Kompendium der seit zehn Jahren ungelösten Probleme der Gentherapie, entdeckten Simon und Dettweiler. Vor allem bekommen d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 die Forscher ihre Viren nicht in den Griff. So elegant es erscheint, sie als Transportmittel für die neuen Gene in die Zellen des Patienten zu nutzen – viele von ihnen bleiben gefährliche Infektionserreger, deren plötzliche Anwesenheit im Körper eine heftige Abwehrreaktion provozieren kann. Möglicherweise starb Jesse an einer solchen Überreaktion des gereizten Immunsystems. Die Ärzte hatten ihm 38 Billionen der genbeladenen Schnupfenviren in jene Arterie gespritzt, die direkt zur Leber führt. Zeitweise müssen mehr Viruspartikel als rote Blutkörperchen in seinen Adern gekreist haben. Tötete ihn die hohe Dosis? Dies leiten Wissenschaftler ab aus Tierexperimenten. „Aber welchen Aussagewert hat es, ein Virus, das extrem spezifisch Menschenzellen befällt, in Mäusen oder Affen zu testen?“ fragt Perikles Simon. Mediziner Erickson gibt ihm recht: Gerade die Maus reagiere eigentlich überhaupt nicht auf Erkältungsviren. „Und besonders erschwert wird die Sache dadurch, dass jeder Mensch für sich noch mal ein einzigartiges Abwehrsystem besitzt.“ Vielleicht, spekuliert Erickson, habe Jesse einfach nur besonders viele natürliche KillerZellen gehabt, eine spezielle Kampftruppe im Immunsystem, die vom Virus aktiviert worden sei und dann durchdrehte. Jesses Vater wusste noch weniger als die Forscher von einer drohenden Attacke irgendwelcher Killerzellen. Er hatte keine Ahnung, wie gefährlich die Mission seines Sohnes wirklich war. „Sonst hätte ich ihn doch nach Philadelphia begleitet“, sagt Paul Gelsinger. Hatte sich denn Jesse nicht gefürchtet vor dem Experiment? „Nein“, sagt Gelsinger. „Sie wissen doch, wie Teenager sind – die denken, sie leben ewig.“ Rafaela von Bredow 271 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite THEMA W. M. WEBER Brotherstellung, Fermenter für das Brotrecycling: Eine halbe Million Tonnen Backwaren jährlich an das liebe Vieh verfüttert Schusterjungs aus zweiter Hand Ist das Rückbrot-Problem endlich gelöst? Ein Großbäcker in Bayern will Brot recyceln, um daraus neue Teigwaren zu backen. U do Martens steht auf harte Brötchen. Auch für ledrige Scheiben alten Bauernbrotes, gummiartige Brezeln und staubtrockenen Baumkuchen begeistert sich der Ingenieur der Großbäckerei Müller-Brot im bayerischen Neufahrn. Nicht kulinarischer Natur ist Martens’ Vorliebe für schwer Zerkauliches. Technischer Pioniergeist verbindet den Lebensmittelchemiker mit den alten Backpretiosen, auch Rückbrot genannt. Rund 30 Tonnen davon finden täglich ihren Weg aus den Supermärkten zurück auf den Betriebshof vor Martens’ Büro und wandern von dort fein pulverisiert in die Futtertröge von Schweinen und Rindern. „Eine riesige Verschwendung“, findet Martens. Zusammen mit seinem Brötchengeber hat er deshalb ökologisch Anmutendes im Sinn: Als erste Großbäckerei Deutschlands will Müller-Brot seine Backwaren recyceln – ein Schicksal, das bislang vorwiegend Dosen, Plastik und Papier zuteil wird. Mit Hilfe eines an der Technischen Universität Berlin entwickelten Verfahrens plant Müller-Brot, altes Backwerk künftig in neue Hefe zu verwandeln. Vor allem wirtschaftliche Gründe bewegen die Bäcker zum Umdenken. „Altes Brot als Tierfutter zu verwenden entspricht in keiner Weise seinem Wert“, umreißt Martens die derzeitige Zwangslage. Das backstubenspezifische Dilemma: Der Deutsche liebt sein täglich frisches 274 Brot. Nur knackige Brötchen, frische die Techniker in großen Fermentern leSchusterjungs und duftende Landbrote ge- bende Hefezellen zu, denen der süße Sud hen weg wie warme Semmeln – für das zu explosivem Wachstum verhilft. Wird die brotschaffende Gewerbe ein Riesenpro- Würze vergoren, entsteht Alkohol, der abblem. Denn kaum liegt das Gebäck im Su- destilliert und etwa als Brennstoff für die Backöfen genutzt werden kann. Zugleich permarkt, ist es auch schon wieder alt. Jedes zehnte Brot müssen die Bäcker entstehendes Kohlendioxid soll als Kühlvor Ablauf der Mindesthaltbarkeit aus den mittel dienen. Übrig bleibt schließlich so Regalen nehmen. Bundesweit gehen jähr- genannter Flüssigsauer, mit dem neuer Teig lich rund 500 000 Tonnen Backwerk zurück angesäuert werden kann. Auch Eiweiße an die Bäckereien – und von dort aus an und Ballaststoffe aus dem Altbrot wandern das liebe Vieh. Der Bedarf an Tierfutter je- in neues Backgut. Qualitätsverlust sei bei alledem ausgedoch sinkt. Zudem müsse das teuer hergestellte Brot mit billigem Futtergetreide kon- schlossen, versichert Meuser. Weil das kurrieren, klagt Ingenieur Martens: „Wir Rückbrot allenfalls drei Tage alt ist, hält geben unser Rückbrot quasi umsonst ab.“ der Experte Schimmelbefall für unwahrDie Neufahrner Bäcker wollen aus der scheinlich. Zudem töte der Prozess etwaiNot jetzt eine Tugend machen. Nicht nur ge Schimmelpilze oder Bakterien ohnehin Geld soll die neue Recycling-Methode spa- ab. „Das Recycling-Brot hat die selben Beren. Das Verfahren gilt auch als umwelt- standteile wie herkömmliches Brot“, sagt schonend und energiesparend, weil das ge- der Wissenschaftler. „Es sieht genauso aus samte Altbrot in einem fast geschlossenen und schmeckt auch nicht anders.“ Auch Ingenieur Martens aus Stoffkreislauf wieder verwerdem bayerischen Neufahrn tet werden kann. „Wir machen beschwichtigt etwaige Igittaus unverkauftem Brot wertReflexe. Von Seiten der volle Backhefe und Alkohol“, Kundschaft sei das Echo preist Friedrich Meuser vom „nur positiv“. Entsprechende Institut für LebensmitteltechKennzeichnung des Recyclingnologie der TU Berlin die neue Brotes im Laden (Motto: „Ich Methode. war ein Brot“) hält der FachMeuser ist Chefentwickler mann für überflüssig. des Brot-Recycling-Verfahrens. Schon läuft bei Müller-Brot Auf einer Russland-Reise kam ein rund 3000 Liter fassender der Forscher auf die Idee Fermenter im Testbetrieb, der zum Brot aus zweiter Hand. etwa 250 Kilogramm Hefe pro Während deutsche Bäcker die Tag produziert. Eine zehnmal Hefe meist einkaufen, stellen Brotforscher Meuser größere Anlage soll in Kürze russische Brotfabriken sie traditionell selbst her – allerdings „völlig un- entstehen und endgültig die neue Brot-Zeit wirtschaftlich“, wie Meuser berichtet. Drei einläuten. Für Brotforscher Martens kann das alles Jahre seines Forscherlebens widmete der Experte vertrockneter Brotrinde und nicht schnell genug gehen. Täglich muss er Toastresten. Seit kurzem ist sein Verfah- mit ansehen, wie kaum gealterte Semmeln ren reif für den Einsatz in Großbäckereien. und Brezeln tonnenweise in einen ConDas Prinzip ähnelt der Bierherstellung. tainer gekippt und zwecks Mästung doIn Wasser eingeweicht, werden die Brot- mestizierter Paarhufer abtransportiert reste mit Enzymen versetzt, die dann die werden. „Sehr schade“, knurrt der BackwerkStärke in Zucker umwandeln. Der auf diese Weise produzierte Zuckersaft wird zur Fan. „Das Brot ist doch noch super in so genannten Würze angesäuert. Ihr geben Schuss.“ Philip Bethge C. SCHROTH L E B E N S M I T T E LT E C H N I K d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Technik tertechnik einhellig. Durchweg legten ihre Fahrzeuge mehrere hunderttausend Kilometer ohne Ölwechsel und ohne Motorschaden zurück. „Und zwar ohne negative Begleiterscheinungen“, bestätigt PVG-Abteilungsleiter Peter Krüger. Werden Millionen Tonnen Motoröl Doch auch für die wununnötig gewechselt? Erstaunliche dersame Ausdauer im Erfolgsmeldungen eines FilterherSchmiersumpf der Aggregate bieten die Experten der stellers setzen Auto- und Öl- und Autoindustrie ErMineralölindustrie unter Druck. klärungen an. Viele TraboldKunden sind Berufsfahrer, m vergangenen Jahr verkaufte der die enorm lange Strecken Fuhrunternehmer Ronald Herrmann im mit nur wenigen Kaltstarts unterfränkischen Waldbüttelbrunn ein zurücklegen. Und genau das treues Arbeitsgerät. Der Fernlastwagen seien „ideale Bedingungen vom Typ Scania 143 hatte in seinem siefür das Öl“, sagt Rüdiger benjährigen Einsatz eine Million Kilometer Szengel, Leiter der Benzinzurückgelegt. motorenentwicklung bei Dass der Wagen diese Strecke mit nur VW. Castrol-Chefentwickler einem Motor absolvierte, ist in der NutzMeyer sieht auch in dem refahrzeugtechnik nicht ungewöhnlich. Weltgelmäßigen Nachfüllen von rekordverdächtig erscheint dagegen ein Frischöl beim Wechsel des anderer Aspekt des Dauerlaufs: Der schweFilterelements einen Grund dische Schwerlaster fuhr die gesamte für die Konstanz der Distanz ohne einen einzigen Ölwechsel. Schmierwirkung. Zudem Als der Wagen neu war, hatte Herrmann stelle sich mit zunehmeneinen Spezial-Ölfilter der Wertheimer Firdem Alter der Motoren ein ma Trabold installiert, dessen Papiereinnatürlicher Verbrauch ein, satz weitaus feinere Schmutzpartikel aus worauf ständig wachsende dem Öl entfernt als die serienmäßigen MoMengen neuen Öls nachgetorfilter. Hermann Trabold, der das Zukippt werden müssen, die behör für etwa 750 Mark einschließlich Eindas Schmiermittel wieder bau in Pkw und Lkw anbietet, verspricht Ölwechsel beim Auto: Feinstfilter als Jungbrunnen? auffrischen. den Kunden auf lange Sicht einen erhebliDer Feinstfilter selbst, da sind sich fast chen Kostenvorteil: Statt des vom Herstel- ausfall durch Kolbenfresser“. Die Umler vorgeschriebenen Ölwechsels für rund weltbehörde verweigerte daraufhin die alle Fachleute einig, habe auf den Erhalt der Gleitfähigkeit allenfalls einen margi200 Mark soll im selben Rhythmus (meist Empfehlung für das Trabold-System. Aus Sicht von Fachleuten der Industrie nalen Einfluss. alle 15 000 Kilometer) nur noch das FilterEines zeigen die Praxis-Resultate der element (Stückpreis: 16 Mark) ausgetauscht war das niederschmetternde Ergebnis keiund die Differenzmenge des im alten Filter ne Überraschung. Feinstölfilter werden Trabold-Kunden aber zweifellos: Die noch gebundenen Öls (etwa ein halber Liter) zwar seit Jahrzehnten etwa bei Baustellen- immer bei vielen Autoherstellern üblichen und Militärfahrzeugen in staubigen Ge- Ölwechselintervalle von 15 000 Kilometern nachgeschüttet werden. Auch das ökologische Potenzial der genden eingesetzt, gelten aber nicht als sind viel zu kurz. Diese Öl-Vergeudung Erfindung ist beachtlich. Wenn die Wechsel Jungbrunnen für Motoröle. „Die chemische zeugt mehr von wirtschaftlichen Interessen des Schmierstoffs bei allen Autos entfielen, Alterung des Motoröls kann kein Filter auf- als von technischen Zwängen. In diesem Jahr ging Volkswagen einen müssten weltweit Millionen Tonnen Altöl halten“, erklärt Torsten Meyer, Cheftechniker der Deutschen Castrol GmbH. Und großen Schritt nach vorn und verdoppelte pro Jahr nicht mehr entsorgt werden. Das Umweltbundesamt ließ das System gerade die chemischen Eigenschaften des die Ölwechselabstände für Benzinmotoaus diesem Grund auf dem Prüfstand un- Schmierstoffs seien „entscheidend für die ren auf 30 000 und für Dieselmotoren sotersuchen. Das beauftragte Testlabor APL Lebensdauer des Motors“, stimmt VW-Be- gar auf 50 000 Kilometer – nach langen Grabenkämpfen mit den Schmiermittelin Landau (Pfalz) unterzog drei Motoren, triebsstoffexperte Manfred Bort zu. Das Thema wäre längst er- produzenten, die vor einem klassischen einen davon mit Trabold-Filledigt, widerspräche nicht die Qualitätsdilemma stehen: Die steigenden ter, einem 700-Stunden Daupositive Praxiserfahrung der Anforderungen der Hersteller an das Öl erlauf, entsprechend einer Trabold-Kunden aller Exper- treiben den Entwicklungsaufwand hoch Fahrstrecke von 63 500 Kilotentheorie. Über 25 000 Filter und schaden letztlich dem eigenen Gemetern. Das Ergebnis war alwurden nach Angaben des schäft, da die besseren Öle länger halten. lerdings ernüchternd. Nach Doch auch im Interesse ihrer eigenen Herstellers bisher in Persodem Marathon ohne Ölnen- und Lastwagen einge- Händler zögern die meisten Autohersteller, wechsel monierten die Prübaut. Dutzende von Refe- die Ölwechselintervalle drastisch zu verfer eine eindeutige Ermatrenzkunden, unter ihnen längern. Das Reparaturgeschäft geht seit tung der Schmierkraft und Flottenbetreiber wie die Jahren erheblich zurück. Etwa 40 Prozent die Bildung von RückstänDeutsche Telekom und die ihrer Service-Einnahmen beziehen die den. Festgeklemmte KolbenPinneberger Verkehrsgesell- Autowerkstätten inzwischen aus dem Verringe werteten sie als „letzte schaft (PVG), loben die Fil- kauf von Schmierstoffen. Christian Wüst Vorstufe … zum Motortotal- Filterproduzent Trabold AU T O M O B I L E Wunder im Schmiersumpf MOTOR PRESSE I 276 d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Technik AT O M E N E R G I E Strahlende Kathedrale Sechs Milliarden Mark kostet die Demontage des stillgelegten Atomkraftwerks Greifswald. Jetzt nähert sich das aufwendigste Abriss-Unternehmen der Republik seiner heikelsten Phase: der Zerlegung der hochverstrahlten Reaktorkessel. D schlimmstenfalls zum Arzt, der dann nach einer möglichen radioaktiven Verseuchung fahnden muss. Doch so etwas, beteuert EWN-Chef Dieter Rittscher, komme praktisch nicht mehr vor. Die Strahlenbelastung seiner Leute liege regelmäßig weit unterhalb der Grenzwerte. Atome werden in den düsteren Betonbunkern an der Ostsee schon seit 1990 nicht mehr gespalten. Seither herrscht Endzeit FOTOS: N. MICHALKE ie Stimme klingt, als dulde sie keinen Widerspruch. „Füße positionieren“, knarzt es aus dem Lautsprecher über der Personenschleuse. „Näher kommen!“ „Anlehnen!“ Optisch unterstreichen Leuchtfelder mit kyrillischen Schriftzeichen die rüden Anweisungen. „Grün“ entlässt die Werktätigen der Energiewerke Nord (EWN) in den Feierabend. „Rot“ schickt sie in die Strafrunde – bestenfalls zum zweiten Duschen, als Dauerzustand am Greifswalder Bodden. Im ehemaligen volkseigenen Kombinat „Bruno Leuschner“ läuft das aufwendigste Abriss-Unternehmen der Republik. Nirgendwo sonst auf der Erde unternimmt die Atomindustrie eine Reaktor-Demontage vergleichbarer Dimension. Am Mittwoch letzter Woche schwebte per Hubschrauber Reaktorminister Jürgen Trittin ein, um sich über den Fortgang der AKW-Abwicklung unterrichten zu lassen, die sich derzeit ihrer heikelsten Phase nähert. Für den Grünen ist das MilliardenProjekt der erste ernsthafte Probelauf für das Ende des atomaren Abenteuers. Einst stand bei Greifswald der Vorzeigereaktor der realsozialistischen Nuklearwirtschaft. Vier Druckwasserreaktoren vom sowjetischen Typ WWER 440 mit einer elektrischen Gesamtleistung von 1760 Megawatt versorgten den Norden der DDR mit Elektrizität. Ein fünfter Block mit modernisierter Technik ging noch im Wendejahr 1989 in den Probebetrieb. Doch die Sowjetmeiler genügten nicht den Sicherheitsansprüchen der alten Bundesrepublik, nach der Wiedervereinigung erfolgte die Abschaltung. Für Dieter Rittscher wurde die Stilllegung zur Herausforderung seines Berufslebens.Vor vier Jahren kam der Diplom-Ingenieur vom Essener Castorhersteller GNS nach Vorpommern. Mit seinen Männern ist er bei der Beerdigung des Atommolochs weit vorangeschritten. Das verwirrende Labyrinth aus Rohrleitungen, Kesseln und Armaturen, das das Herz des fünften Reaktorblocks einhüllte, wurde bereits ausgeweidet. Nur das stählerne Reaktordruckgefäß ruht noch im- Robotersäge zum Zerlegen von verstrahlten Reaktorteilen, Schrottplatz am AKW Greifswald: Füllstoff für den Autobahnbau 280 d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Technik weil die Radioaktivität während des jahrzehntelangen Intermezzos erheblich nachlässt, muss auch nur noch ein Bruchteil der Auch neun Jahre nach der Stilllegung des Kernkraftwerks Greifsstrahlenden Komponenten in einem Endwald sind die stählernen Reaktorkessel hoch radioaktiv. Sie müslager versenkt werden. Trotzdem entschied sen deshalb ferngesteuert aus einer externen Warte zerlegt und man sich in Greifswald für den schnellen strahlensicher verpackt werden. Abriss. Das fehlende Containment hätte die versiegelte Ruine verletzlich gemacht für Flugzeugabstürze. Erste Konsequenz der Strategie der „sofortigen Beseitigung“ war paradoxerweise ein gigantischer Neubau. Um die anfallenden Müllhalden unterzubringen, zogen die Energiewerke im Nordosten des Kraftwerksgeländes das europaweit größte Zwischenlager für Atomschrott hoch – eine einzige, nur innen unterteilte Betonhalle, 200 Meter lang, 140 Meter breit und 18 Me1. Vorzerlegen Eine Band- 2. Nachzerlegen Die Ringe 3. Verpacken Der Manipulator hebt ter hoch. Die Kosten für den Koloss stiegen säge zerschneidet den aus Spezialstahl werden in die Segmente in abgeschirmte Transvon geplanten 340 Millionen Mark auf fast kompakte Segmente geport- und Lagerbehälter. Diese werDruckbehälter in ringförmieine halbe Milliarde. sägt. Greifarme überführen den verschlossen, auf Lkw verladen ge Abschnitte. Der Kessel Für EWN-Chef Rittscher, den Mitarbeidie Teile zur Verpackungsund innerhalb des Reaktorgeländes dreht sich dabei um seine station. in ein Zwischenlager transportiert. Längsachse. ter einen „Glücksfall für den Standort“ nennen, ist das Demontageprojekt nicht nur eine technische Herausforderung. Der mer, 230 Tonnen schwer und von allen Le- Deutschlands berappen müssen. Gegen- West-Ingenieur muss hochspezialisierte bensadern abgetrennt, am angestammten wärtig überweist die Bundesregierung jähr- Mitarbeiter für den Abriss-Job begeistern, die das Kraftwerk des Kombinats „Bruno Platz. Der kolossale Zylinder ist, einem lich rund 500 Millionen Mark. Kaum verwunderlich, dass das kosten- Leuschner“ einst mit aufgebaut haben. brutal gestutzten Baumriesen nicht unähnlich, übersät von verschlossenen Rohrlei- trächtige Abbruchunternehmen anfangs Nun erzeugen sie Megaschrott statt Megaheftig umstritten war. Kernenergiegegner, watt und empfinden das mehrheitlich noch tungsstümpfen. In den letzten Monaten wurden die aus- aber auch Fachleute aus der Atomwirt- immer als Schmach. Und so wird Rittscher geräumten Hallen nach und nach wieder schaft plädierten nachdrücklich gegen die nicht müde, die Kreativität zu loben, die das Abbruchunternehmen vollgestopft – zur Vorbereitung des spekallen Beteiligten abvertakulärsten Akts: der Zerlegung der zwölf langt. Meter hohen Reaktorkessel. Wo früher Zwar droht in einem abtanklastzuggroße Dampferzeuger die Hitgeschalteten leergeräumze der Kernspaltung ableiteten, haben Abten Meiler kein Supergau. riss-Spezialisten in den letzten Monaten Strahlenunfälle mit draSonderausstattungen vom Feinsten instalmatischen Folgen sind denliert: Kräne, Greifarme, Drehbühnen, benoch nicht ausgeschlossen: wegliche Abschirmwände und Bandsägen Feuer gilt als der kritischsvon enormer Spannweite. te Störfall, auch der Ab1,8 Millionen Tonnen Stahl, Beton und sturz schwerer Lasten sonstige Abfälle werden am Atomstandort kann zur Freisetzung von an der Ostsee anfallen. Zwei Drittel des Radioaktivität führen. Abriss-Materials gelten als gewöhnlicher Die „Annäherung an Müll, der nie mit Strahlung in Berührung ein heißes Eisen“ („Berligekommen ist. Beton beispielsweise wird ner Zeitung“) begann in zerkleinert und anschließend wiederverGreifswald mit dem Einwendet – etwa als Fundament-Füllstoff reißen und Abtragen von beim Autobahnbau. Nebengebäuden. Einige Rund 580 000 Tonnen sind entweder raFlächen des 345 Hektar dioaktiv belastet oder müssen auf Strah- Personenschleuse: Bei „Rot“ zum zweiten Duschen großen Geländes wurden lung untersucht werden („Verdachtsmaterial“). Auch von diesen immer noch gigan- Sofort-Demontage und stattdessen für den bereits für die Neuansiedlung von Handwerks- oder Industriebetrieben geräumt. tischen Massen hoffen die EWN-Manager „sicheren Einschluss“ der Strahlenruine. Bei dieser Entsorgungsvariante werden Im nächsten Schritt nahmen die Deam Ende den Löwenanteil (470 000 Tonnen) „freimessen“ und in den normalen die Meiler für eine Frist von 30, 60 oder gar monteure, ausgestattet mit Schutzanzügen 100 Jahren versiegelt, bevor schließlich die und Atemschutzgeräten, die Beseitigung Stoffkreislauf zurückführen zu können. Im Atomendlager, so haben Rittscher Abriss-Trupps anrücken. Nach diesem kontaminierter Bauteile in Angriff, auf deund seine Leute errechnet, sollen schließ- Prinzip wurde etwa der 1988 abgeschalte- ren Oberflächen sich während des Reaklich nur 16 500 Tonnen Strahlenmüll ihre te Hochtemperaturreaktor Hamm-Uentrop torbetriebs radioaktive Stoffe abgelagert haben. Dazu gehören alle Komponenten letzte Ruhestätte finden – kaum ein Pro- eingemottet. Gegenüber dem raschen Abriss bietet des primären Kühlkreislaufs, dessen Rohrzent der Gesamttonnage. Mindestens 6,2 Milliarden Mark wird der „sichere Einschluss“ in der Tat eine leitungssystem im Betrieb von radioaktiv Bundesfinanzminister Hans Eichel nach Reihe von Vorteilen: Die radioaktive Belas- verseuchtem Wasser durchströmt wird. Gegen Kontamination hilft vor allem bisherigen Schätzungen zur Abwick- tung der Demonteure ist umso geringer, je lung der heikelsten radioaktiven Altlast später sie mit dem Abbau beginnen. Und eins: putzen, putzen und nochmals put- Verpackte Ungetüme 282 d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Technik zen. Denn je mehr Bauteile die Reinigungsbrigaden unter die radioaktiven Freigrenzen drücken, umso weniger muss zwischen- und später endgelagert werden – das hilft, beträchtliche Kosten zu sparen. Also wienern Wischtrupps, mit Lappen und Eimer bewaffnet, belastete Oberflächen blank. Rohrleitungen, Pumpen und andere Bauteile des Kühlkreislaufs werden mit chemischen Reinigungscocktails abgelaugt, mit Hochdruckdüsen abgespritzt, in Säurebädern gebeizt oder elektrolytisch poliert. Was dann noch die Grenzwerte überschreitet, wandert in die Abklinglagerung oder wird, zerlegt in handliche Portionen, zur späteren Endlagerung in die gelben Fässer mit dem Radioaktivitätszeichen gepackt. Die Dekontaminationsphase, die im kaum verstrahlten Kontrollbereich des nur wenige Wochen benutzten Blocks 5 inzwischen abgeschlossen und in den Blöcken 1 und 2 weit fortgeschritten ist, dient der Vorbereitung der ganz großen Herausforderung: der kontrollierten Zerlegung der hochverstrahlten Reaktordruckbehälter und ihrer Eingeweide. Die massiven Stahlbauteile, die während des Reaktorbetriebs dem Dauerbombardement der Neutronen ausgesetzt waren, sind nicht nur oberflächlich kontaminiert, sondern durch und durch verstrahlt. Aus stabilen Bestandteilen der metallischen Werkstoffe entstehen unter der Neutronendusche instabile radioaktive Elemente – je länger ein Meiler unter Dampf steht, desto mehr. Die von den Aktivierungsprodukten (vorrangig instabile Isotope der Elemente Kobalt, Nickel, Eisen oder Technetium) ausgehende Strahlung ist auch nach Jahrzehnten noch so stark, dass der Reaktordruckbehälter und seine Einbauten in einem Endlager versenkt werden müssen. Zerlegung und Verpackung der Großkomponenten können deshalb nur ferngesteuert und kameraüberwacht aus externen Schaltwarten Demontage-Leiter Rittscher: Megaschrott statt Megawatt erfolgen. Vielgelenkige Greifarme, so genannte Manipulatoren, müssen ter des nie vollendeten achten Blocks in konstruiert, die leergeräumten Hallen des den umgerüsteten Kontrollbereich des vorvormaligen Sicherheitsbereichs für die maligen Blocks 5. Dort wird das Monstrum Neuinstallationen umgerüstet werden. jetzt übungshalber zerlegt. Selbst ohne Strahlung wäre die ZerleZwei separate Demontage- und Vergung eines 230 Tonnen schweren Stahlkes- packungsbereiche stehen für die Prozedur sels ein Kunststück. Fernbedient wird die zur Verfügung: Die Reaktorkessel selbst Aktion zu einer der größten Herausforde- werden in einem abgeschlossenen Raum rungen der modernen Technikgeschichte. in Ringe zersägt und anschließend in verDie Generalprobe im Maßstab 1:1 be- packungsfähige Zehn-Zentner-Segmente gann vor wenigen Wochen. Dazu bugsier- geschnitten (siehe Grafik Seite 282). Ihre ten die Techniker den Reaktordruckbehäl- weit stärker verstrahlten Innereien sollen, um Staubbildung zu vermeiden, unter Wasser in einem 270-Kubikmeter-Becken zerlegt werden. Verläuft die kalte Übung planmäßig, werden die Demontage-Maschinen im kommenden Jahr aus Block 5 in die Doppelblöcke 1/2 und später 3/4 verpflanzt. Im Herbst 2000 soll der heiße Abriss beginnen. Die Greifswalder Abriss-Unternehmer verstehen sich als Vorreiter einer weltweiten Entwicklung. Ganz bei Null anfangen müssen sie gleichwohl nicht. Erfahrungen mit dem Abbau von Atomanlagen gibt es besonders hierzulande. Das Bundesforschungsministerium pumpt jährlich dreistellige Millionenbeträge in die Demontage meist staatlicher Versuchs- oder Demonstrationsreaktoren aus der Frühzeit der Kerntechnik. Bis 1995 zerlegten Abriss-Pioniere sieben Jahre lang den 100-Megawatt-Meiler Niederaichbach, der bis 1972 für 232 Millionen Mark errichtet worden war und dann nach nur 18 Tagen im Volllastbetrieb wegen schwerer technischer Mängel stillgelegt werden musste. Anschließend feierte die Atomwirtschaft das Ende der 280 Millionen Mark teuren Abriss-Arbeiten als Nachweis dafür, „dass die friedliche Nutzung der Kernenergie kein irreversibler Prozess ist“. Noch vor wenigen Jahren galten die deutschen Anstrengungen beim Abbau der nuklearen Hardware als Zukunftsgeschäft mit glänzenden Aussichten. Weltweit, so verkündete die Wiener Atomenergieorganisation IAEO, müssten bis zum Jahre 2010 rund 250 Reaktoren vom Netz genommen und abgebaut werden. Doch aus den erhofften Geschäften in dreistelliger Milliardenhöhe ist bislang nichts geworden.Viele Altmeiler sollen länger am Netz bleiben als geplant. Zudem glaubt inzwischen kaum noch ein Experte, dass etwa die klammen Betreiber osteuropäischer Meiler der Greifswald-Linie Milliarden für den Abbau aufwenden können. Viel wahrscheinlicher ist, dass die meisten Reaktorruinen, notdürftig versiegelt, als mahnende Menetekel des Atomzeitalters stehen bleiben. Aber auch am Greifswalder Bodden, wo die Demontagetechnik in neue Dimensionen vorstoßen soll, wird keine grüne Wiese mehr wachsen. Wenn das Gelände irgendwann nach dem Jahr 2008 aus dem „Geltungsbereich des Atomgesetzes“ entschwindet, werden in der Lubminer Heide immer noch vier Betonquader und das Skelett einer Maschinenhalle an das realsozialistische Atomzeitalter erinnern. Für die End-Demontage der „hohlen Zähne“ (Rittscher) fühlt sich weder der Bund noch das Land, geschweige denn die Atomindustrie zuständig. Das ist verständlich: Der Abriss der entkernten Betonkathedralen würde noch einmal 400 bis 500 Millionen Mark verschlingen. Gerd Rosenkranz d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 285 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite R. FROMMANN / LAIF Depressionspatientin bei Mal-Therapie: Potenziell tödliches Volksleiden P S Y C H I AT R I E Aufs Beste hoffen Münchner Forscher legen die weltweit größte Depressionsstudie vor: Die Schwermut ist weiter verbreitet als bislang vermutet. A m 15. April 1999 gab es in 616 ausgesuchten deutschen Arztpraxen zwischen Flensburg und Friedrichshafen, zwischen Saarbrücken und Rostock Blumen, Wein und nette Worte. Mit derlei Aufmerksamkeiten belohnte eine Pharmafirma die Bereitschaft von Allgemeinmedizinern, Praktischen Ärzten und Internisten, am „Sisi-Tag“ gezielt auf das Gemüt ihrer Kundschaft zu achten. Der Kosename der schwermütigen Kaiserin Elisabeth von Österreich (1837 bis 1898) war für den Test-Tag mit Bedacht gewählt worden. Es galt, in den Warte- und Sprechzimmern der Arztpraxen zu erkunden, wie häufig und wie schwer in Deutschland eine der weltweit häufigsten Krankheiten in Erscheinung tritt, ob sie von den Doktoren erkannt und wie sie behandelt wird: das potenziell tödliche Volksleiden Depression. Mitte dieser Woche werden die ersten Ergebnisse der Studie veröffentlicht. Ihre Idee und Methodik stammt vom Münchner Max-Planck-Institut für Psychiatrie (MPI-P), das die Studie durchführte und dabei organisatorisch von den 200 Außendienstmitarbeitern der britischen Pharmafirma SmithKline Beecham (SB) unterstützt wurde. Der SB-Konzern, der sein Geld auch mit Antidepressiva verdient, kann sich über das Untersuchungsergebnis freuen. „Die Lehrbuchmeinung, an der sich der deutsche Gesundheitsbetrieb ausrichtet, muss umgeschrieben werden“, resümiert der Klinische Psychologe und Epidemiologe Hans-Ulrich Wittchen vom MPI-P: „Depressionen sind weiter verbreitet als bisher angenommen.“ Nach der gängigen Schätzung leiden höchstens vier Prozent aller über 14-jährigen Deutschen einmal im Leben an einer 288 Vergangenheit: 75 Prozent der eindeutig schweren Depressionen wurden als solche diagnostiziert. Ein Drittel der Betroffenen wurde zu einem Spezialisten überwiesen. Zwei Drittel wurden ausführlich beraten, jedem Dritten von ihnen wurde ein Antidepressivum verordnet, dessen Wirksamkeit hinlänglich bewiesen und das weitgehend frei von schweren Nebenwirkungen ist. So sicher die Hausärzte inzwischen schwere Depressionsformen erkennen (vor zehn Jahren lag die Trefferquote bei 50 Prozent), so unsicher sind sie noch immer bei der Diagnose der leichteren Form von Schwermut: Bei 41 Prozent wurden die Symptome „nicht als eindeutig erkannt“. Dieses Ergebnis überraschte Wittchen, da doch „die Studie auf die Ärzte maßgeschneidert ausgelegt war“. Die Mediziner waren zum Stichtag durch einen Fragebogen sensibilisiert worden und konnten auf Mithilfe ihrer Klientel bauen, wie sie in dieser Form im Praxisalltag sonst nicht vorkommt. Insgesamt 20 421 Patienten wurden am Sisi-Tag statistisch erfasst. Bevor sie die Sprechzimmer betraten, hatten sie jeweils einen zweiseitigen Fragebogen ausgefüllt. Ihre Angaben umfassten die üblichen Statistik-Daten wie Alter, Familienstand oder Depression. Die neue Studie kommt zu weit höheren Zahlen. „Jeder zehnte Patient, der an einem beliebigen Tag im Jahr seinen Hausarzt aufsucht“, erläutert Wittchen, „weist mindestens vier jener Symptome auf, die nach weltweit anerkannten Maßstäben Haben Sie eine Depression? eine Depression kennzeichnen.“ Dieser Fragebogen wurde vom Max-Planck-Institut für Psychiatrie in Unbehandelt ist eine München für die Weltgesundheitsbehörde entwickelt. Kreuzen Sie bei schwere Depression lebens- jeder der folgenden Aussagen an, wie Sie sich in den letzten gefährlich. Als „bemerkens- Wochen überwiegend gefühlt haben. wert hoch“ stuft Wittchen Fühlen Sie sich fast durchgängig traurig, niedergeschlagen den Befund der Studie ein, oder hoffnungslos? wonach fast jeder siebte depressive Mann und jede Haben Sie so gut wie jedes Interesse an fast allen Dingen verloren, empfinden Sie keine Freude mehr, zum Beispiel fünfte depressive Frau in auch an Dingen, die Ihnen gewöhnlich Freude bereiten? den beiden Aprilwochen vor dem Sisi-Tag nach eigenen Haben Sie keinen Appetit mehr oder erheblich an Gewicht Angaben beständig an Suiverloren? Schmeckt es Ihnen nicht mehr so wie früher? zid gedacht habe. SchätzunLeiden Sie fast täglich unter Schlafstörungen (Einschlafgen zufolge bringen sich 10 störungen, Durchschlafstörungen oder frühem bis 15 Prozent der schwer Erwachen am Morgen)? Depressiven tatsächlich um. Sprechen und bewegen Sie sich langsamer als sonst? Aber erkennt der HausOder leiden Sie im Gegenteil unter einer inneren Unruhe, arzt überhaupt Depressioso dass Sie nicht still sitzen können, sondern auf und nen und die Gefährlichkeit ab gehen müssen? dieser Krankheit? Auch die Hat sich Ihr sexuelles Verlangen vermindert, oder ist es Frage, ob und wie der Megar nicht mehr vorhanden? diziner einen als depressiv eingestuften Patienten beHaben Sie kein Selbstvertrauen mehr? Fühlen Sie sich wertlos, oder machen Sie sich viele Selbstvorwürfe? handelt, ihn etwa zum Spezialisten überweist oder „taHaben Sie Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren und tenlos aufs Beste hofft“ sich Dinge zu merken, oder fallen Ihnen sogar ganz (Wittchen), war Bestandteil alltägliche Entscheidungen schwer? der Umfrage. Denken Sie häufig über den Tod nach oder sogar daran, Der „ersten groben Ersich das Leben zu nehmen? gebnisübersicht“ ließe sich, wie Wittchen befindet, eine AU SW E RT U N G „gute Nachricht“ entneh- Haben Sie mehr als vier Aussagen angekreuzt, leiden Sie wahrscheinlich men: Allgemeinärzte er- unter einer typischen Depression. Bitte bedenken Sie jedoch, dass die kennen offensichtlich De- Auswertung des Fragebogens noch keine eindeutige Diagnose darstellt. pressionen besser als in der d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 Wissenschaft Beschäftigungsverhältnis sowie die Frage über den „Anlass des heutigen Arztbesuchs“. Für das eigentliche Forschungsziel waren neun spezielle Fragen für die Diagnose von Depressionen reserviert. Anhand eines international bewährten Fragenkatalogs wurden die für die Krankheit typischen Beschwerden ermittelt (siehe Kasten). Den ausgefüllten Fragebogen händigten die Test-Patienten ihrem behandelnden Arzt aus. Zwei Drittel der Mediziner hatten zu Beginn der Studie ihre Kompetenz hinsichtlich der Diagnose von Depressionen als „gut“ bezeichnet, 33 Prozent hielten sich für „mittelmäßig“ und ein Prozent für „schlecht“. Aktuelle Untersuchungen der MPI-Forscher zu diesen Ärzte-Aussagen lassen jedoch erkennen, dass „die Mittelmäßigen in Wahrheit richtig schlecht“ sind. 74 Prozent der „mittelmäßig Kompetenten“ gelingt es nicht einmal, innerhalb von 15 Minuten die vier Hauptmerkmale einer Depression zusammenzustoppeln. Sie verlassen sich vorzugsweise auf ihren „klinischen Eindruck und ärztliche Intuition“. Ihren Katalog der Depressionssymptome haben die Psycho-Forscher in den vergangenen zwei Jahrzehnten immer weiter verfeinert. Mit ihm lassen sich die Merkmale einer akuten oder sich abzeichnenden Depression trennscharf erfragen. Einem Drittel der befragten Mediziner war dies verlässliche Werkzeug jedoch fremd. „Für die müssen wir“, so Wittchen, „wohl neue Wege der Aufklärung finden.“ Überraschend gut im Bewusstsein der Allgemeinmediziner verankert zu sein scheinen indes die Merkmale einer speziellen Form von Depression, die letztes Jahr als „Sisi-Syndrom“ bekannt wurde. Betroffene dieser „oft verkannten Spielart der Depression“ („Münchener Medizinische Wochenschrift“) sind nicht erkennbar schwermütig und antriebslos, sondern oft charmant und attraktiv. Die Sisi-Depressiven neigen – wie weiland Österreichs Kaiserin – dazu, ihre Ängste, Selbstzweifel und Nichtigkeitsgefühle mit gesteigertem Aktionismus zu bekämpfen: Sie stürzen sich mit Volldampf ins Berufsleben, treiben Extremsport oder unternehmen rastlose Reisen. Verbreitet wurde die Sisi-typische Depression durch Laien- und Fachpresse, Talkshows und ärztliche, meist von Pharmaunternehmen, wie etwa SmithKline Beecham gesponsorten Fortbildungsveranstaltungen. Kein Wunder, dass auch in den Allgemeinarztpraxen das Sisi-Syndrom inzwischen bekannt ist – durchaus nicht zum Schaden der Patienten, wie zumindest die MPI-Forscher glauben. Die Beschäftigung mit dem Modeleiden, so Wittchen, habe eindeutig dazu beigetragen, mehr Depressionen als früher zu erkennen. Rainer Paul d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 GALAPAGOS CONSERVATION TRUST Riesenschildkröte „Lonesome George“ auf Galapagos: Impotent? Schwul? TIERE Hoffen auf den Koitus Muss eine RiesenschildkrötenUnterart auf Galapagos aussterben, weil das letzte Exemplar kein Weibchen findet? Forscher meinen: Eine Chance gibt es noch. A ls Liebhaber ist „Lonesome George“ ein Totalversager. Seine Beschützer haben ihm in seinem Gehege im Galapagosarchipel einen regelrechten Harem eingerichtet. Immerzu stehen mindestens zwei Weibchen zu seiner Verfügung, regelmäßig werden sie gegen frischere ausgetauscht. Aber trotz seines jugendlichen Alters von 70 bis höchstens 150 Jahren gerät George nicht in Wallung: Hartnäckig verweigert er den Weibchen die Kopulation – auf den Panzern der Verschmähten wuchern bereits die Flechten. Alles haben die Forscher versucht, um die Libido des fetten George anzustacheln. Er wurde zusammengesperrt mit sexuell aktiven Schildkröten-Pärchen, doch weder der Anblick sich übereinander schiebender Panzer noch das heisere Blöken des begattenden Männchens haben in ihm eine triebhafte Regung ausgelöst. 10 000 Dollar haben die Forscher auf denjenigen ausgelobt, der für Lonesome George ein passendes Weibchen ranschafft – niemand hat je eines gefunden. Georges Rühr-mich-nicht-an-Mentalität bringt Naturschützer zum Verzweifeln. Sie würden aus dem Koloss gern einen allzeit bereiten Zuchtbullen machen, denn George ist mehr als nur ein SchildkrötenMännchen von über hundert Kilogramm, er ist unter seinesgleichen die vollversammelte No-Future-Generation: George ist der letzte noch lebende Vertreter der Rie- 290 senschildkröten-Unterart „Geochelone nigra abingdoni“. Wenn das Reptil stirbt – womöglich erst in 100 Jahren –, dann endet ein Seitenarm der Evolution im Nichts. Von den einst 15 Arten von Galapagos-Riesenschildkröten gäbe es nur noch 10. Deshalb – genauer: Um seine kostbaren Gene vor dem Untergang zu bewahren, soll George seine Verwandten von der Insel Isabela begatten. Doch „das einsamste Tier der Welt“ (Guinness-Buch der Rekorde) lebt wie im Zölibat. Was ist los mit „solitario Jorge“, wie dieser Anti-Casanova auf Galapagos heißt? Ist ausgerechnet der letzte Vertreter seiner Art impotent? Oder schwul? Oder hat er einfach die Richtige nicht gefunden, trotz der immerhin knapp 19 Jahre, die er nun schon als Sex-Hoffnungsträger bei den Wissenschaftlern in der Darwin-Forschungsstation auf der Galapagosinsel Santa Cruz zubringt? den Rücken, um ihnen Blut abzunehmen. Das Ergebnis, veröffentlicht im Fachblatt „Proceedings of the National Academy of Science“: George bekam bislang ganz falsche Weibchen vorgesetzt. Das Angebot, Weibchen von der Insel Isabela zu begatten, immerhin der Nachbarinsel seiner Heimat Pinta, muss auf George etwa so gewirkt haben, als würde einem Menschen ein Schimpanse zur Familiengründung dargeboten. George steht nicht auf Isabela-Weibchen, so vermuten die Forscher, weil sie ihm trotz mancher Ähnlichkeiten genetisch zu fremd sind. Für die Paarung geeignete Weibchen sind ausgerechnet jene, die physisch am weitesten von seiner Insel entfernt leben. Auf den Inseln San Cristóbal und Española sind die engsten Verwandten von George zu Hause – mit ihnen, so sagen die Forscher, wird Lonesome George sich am ehesten auf den Koitus einlassen. Pinta Es wäre geradezu ein Wendepunkt in Heimat von Ecuador Lonesome George der Geschichte einer bedauernswerten Art, die evolutionär besehen schon lanGalápagosSÜDAMERIKA ge in ausweglosem Elend gefangen ist. Vor Millionen von Jahren gab es fast auf allen Kontinenten Riesenschildkröten, die größten wogen eine Tonne. Kreuzungsversuch Mit dem Aufstieg der Säugetiere aber San Cristóbal auf Santa Cruz fielen sie der Verdammnis anheim. Isabela mit Weibchen der Vor wenigen Schildkröten-GeneraNachbarinseln tionen – etwa vor 500 Jahren – weideInseln ten die Riesenschildkröten auf Galapa100 km gos noch zu hunderttausenden an KakEspañola teen und Sträuchern. Dann aber kam der Mensch, und mit ihm hielt eine ArNun scheint das Rätsel um George ge- mada der Zerstörung Einzug: Ratten, Katknackt. Italienische und amerikanische zen, Hunde, Schweine, Ziegen und Esel. Wissenschaftler, angeführt von Adalgisa Seeräuber und Walfänger schätzten die Caccone von der Yale University, haben Riesenschildkröten als lebende Frischfür das lustlose Reptil so etwas wie eine ge- fleischkonserve. Zu hunderten sperrten sie netische Partnervermittlung ausgeheckt. die Tiere unter Deck. Für die Seefahrer Unter allen noch existenten Schildkröten- waren die Reptilien ein idealer Reiseproarten auf dem gesamten Galapagosarchipel viant: Ein Jahr können die Tiere ohne Washaben sie Genstudien betrieben zur ser und ohne Nahrung im Schiffsbauch Klärung der Verwandtschaftsverhältnisse. überleben. Kapitäne lobten den delikaten Hunderte Riesenschildkröten von bis zu Geschmack und das feine Fleisch der Ur300 Kilogramm Gewicht drehten sie auf zeit-Riesen. Allein zwischen 1830 und 1900 d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 Wissenschaft sollen die Crews der amerikanischen Walfängerflotte über 100 000 Riesenschildkröten aus Galapagos vertilgt haben. Nach den Jägern wilderten die Forscher. Einer, der in Georges Leben womöglich entscheidend eingriff, war der kalifornische Biologe Rollo Beck – ein Fiesling, der sich in seinen Aufzeichnungen rühmte, Riesenschildkröten im Mondlicht zerlegt zu haben. Drei der sanften Monstren fand er auf Pinta, der Heimat von Lonesome George. Er fing sie ein, vermaß sie nach Länge und Gewicht, tötete sie und studierte ihren Mageninhalt. Dann kam er zu dem Schluss, dass die untersuchten Tiere „wahrscheinlich äußerst selten“ seien. Unter Becks Opfern befanden sich mit einiger Wahrscheinlichkeit auch Geschwister oder Eltern von George. Bis zu dessen Entdeckung auf Pinta blieb der Bericht des Kaliforniers der einzige Hinweis auf die Existenz der Subspezies „Geochelone nigra abingdoni“. Für George wurde es bald eng auf seiner Insel. Ende der fünfziger Jahre setzten Fischer einen Ziegenbock und zwei Ziegen auf Pinta aus, die Georges sexuelle Enthaltsamkeit keineswegs teilten. Nach 20 Jahren Fruchtbarkeit hinterließen sie eine 40 000-köpfige Herde, die über die Insel trampelte und den Riesenschildkröten die Nahrung wegfraß. Zum größten Fluch für die Reptilien aber wurden die Ratten und anderes Getier: Verwilderte Schweine gruben die billardkugelgroßen Eier der Schildkröten aus, die Ratten fraßen die Jungtiere. Jene, die den Nagern entkamen, wurden von Katzen und Hunden gerissen. Auf einigen Galapagosinseln, so nehmen die Forscher an, hat es im gesamten Jahrhundert nicht eine einzige Schildkröte mehr geschafft, geschlechtsreif zu werden, also ein Alter von 20 bis 30 Jahren zu erreichen. Als George 1972 auf Pinta gefunden wurde, war es noch nicht lange her, dass er zum Letzten seiner Art geworden war: Forscher fanden damals auch den Panzer eines Weibchens, das wenige Jahre zuvor den Tod gefunden hatte. Auf welch schreckliche Weise, war noch deutlich sichtbar: Mit Machetenhieben war der Bauchpanzer aufgeschlagen worden. Einheimische Fischer hatten Georges letztes Weibchen aufgegessen. Wegen seines tragischen Schicksals ist George eine internationale Berühmtheit geworden: Als Symbol der Artenvernichtung durch den Menschen steht er, in Bronze gegossen, im Zoo von San Diego. Doch der Ruhm bedeutete für die träge Riesenschildkröte auch Gefahr – 1995 fiel George beinahe einem Attentat zum Opfer. „Wir werden Lonesome George töten“, drohten Seegurken-Fischer auf Galapagos, als die Regierung ihnen das Abschlachten der in Ostasien als Aphrodisiaka beliebten Seegurken verbieten wollte. Eine Hundertschaft Marine-Infanteristen war nötig, um George zu schützen. Marco Evers d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Kultur DPA Szene Szene aus der Stockhausen-Oper „Freitag aus Licht“ (Leipzig 1996) MUSIK „Licht“ aus in Bonn A m Rhein tobt seit Wochen ein Notenkrieg. Im Opernhaus der linksrheinischen Bundesstadt Bonn ließ Generalintendant Manfred Beilharz die für Mai 2000 angesetzte Musiktheaterpremiere von Karlheinz Stockhausens „Mittwoch aus Licht“ platzen. Bei den Vorbereitungen hätten „sich immer größere Umsetzungsschwierigkeiten herausgestellt“. Dabei habe man schon „Möglichkeiten geschaffen“, die den Aufwand für Wagners „Götterdämmerung“ um ein „Vielfaches“ überträfen. Doch inzwischen hätten sich die kalkulierten Aufführungskosten bereits verdoppelt, das Stück übersteige „die L I T E R AT U R Herz der Finsternis G enerationen von Biografen haben die fürchterliche Figur des georgischen Schustersohns umkreist, der sich Stalin nannte. Sein Aufstieg zur Macht ist ein düsteres Drama voll Verschlagenheit und kaltblütigem Verrat. Die Idee, sich subjektiv in das rätselhafte Charaktermonster Stalin hineinzuversetzen und dessen Wesen gleichsam von innen zu erfassen, schien sich eigentlich von selbst zu verbieten. Nun aber hat Richard Lourie, 59, ein intimer Kenner der russischen Sprache und Geschichte, eine Roman-Expedition ins Herz der Finsternis riskiert. Ein früherer Geheimdienstmann und Hausmeister Stalins – so Louries Rahmen-Fiktion – d e r s p i e g e l organisatorischen und finanziellen Möglichkeiten“ des Hauses; die Absage tue ihm „unheimlich leid“. Genau das bezweifelt der Komponist Stockhausen. Beilharz, so schoss der metaphysische Neutöner zurück, habe „seine Schwierigkeiten selbst hervorgerufen“, weil er den Opernchor gleichzeitig andere Werke einstudieren ließ, für den abgesprungenen Regisseur Paul Esterhazy keinen Ersatzmann engagiert und auch mit sieben der vorgesehenen Solisten keine Verträge abgeschlossen habe. Stockhausen, verteidigte sich daraufhin der Bonner Prinzipal, stelle „die Chronologie auf den Kopf“, Esterhazy beispielsweise sei „nie konkret als Regisseur vorgesehen“ gewesen. Nun liegt „Licht“, Stockhausens siebenteiliges, nach den Tagen der Woche benanntes Spektakel fürs erste im Dunkel: Eine Verschiebung der Bonner Premiere hat der empfindsame Schöpfer abgelehnt, eine Ersatzbühne noch nicht gefunden. habe zufällig dessen altes Tagebuch entdeckt. Das erfundene Werk fesselt nicht zuletzt dank seiner dramaturgisch famosen Grundidee: Stalin verfasst die „geheimen Aufzeichnungen“ zur Entkräftung der realen Stalin-Biografie seines Erzrivalen Leo Trotzki. Immer wieder zitiert der Roman-Diktator, zwecks Widerlegung, dieses Werk, das mit kühler Sachlichkeit Stalins Aufstieg vom Priesterzögling und kleinkriminellen Provinzler zum Kreml-Tyrannen nachzeichnet. Die einzelnen Kapitel liefern Geheimdienstleute für Stalin frisch vom Schreibtisch des Todfeindes im mexikanischen Exil: Als Dienstboten eingeschleust, bespitzeln sie den in Ungnade gefallenen Revolutionär, um seine Beseitigung im 4 6 / 1 9 9 9 Auftrag Stalins präzise vorzubereiten. In den Grundzügen und vielen Einzelheiten stimmen dieses Komplott und der historische Hintergrund des Machtkampfes um Lenins Erbe mit den verbürgten Tatsachen überein. Aus dem Geschichtsstoff und seiner psychologischen Phantasie lässt Lourie eine suggestive Wahnwelt entstehen. „Leo Trotzki will mich umbringen“, hebt das fiktive Tagebuch an, und als im August 1940 der Eispickel des gedungenen Mörders Ramón Mercader den Schädel des Widersachers Trotzki gespalten hat, gipfelt der finstere Monolog im Schlusswort: „Endlich habe ich Gott an Einsamkeit übertroffen.“ Richard Lourie: „Stalin“. Aus dem Amerikanischen von Hans J. Becker. Luchterhand Literaturverlag, München; 352 Seiten; 44 Mark. 293 CORBIS SYGMA Szene Latin-Star Lopez POP Singende Ente A usgerechnet in Los Angeles, wo Hispanics dabei sind, zur zweitgrößten Bevölkerungsgruppe zu werden, weigerte sich der musikalische Direktor des führenden Pop-Radiosenders KIIS-FM, Marc Anthonys Single „I Need to Know“ zu spielen. „Wir wollen nicht zu viel von diesem Latino-Sound“, sagte er, obwohl das Lied „großartig“ sei. Die Presse reagierte empört, Anthony selbst dagegen war vor allem verwirrt. Denn „I Need to Know“ ist weniger ein Salsa-Stück als vielmehr ein Popsong – wenn auch mit lateinamerikanisch anmutenden Klängen. Aber vermutlich weil der New Yorker Anthony zuvor in Nord- und Südamerika mit drei Salsa-CDs große Erfolge gefeiert hatte, wurden die Single und das gerade auch in Deutschland erschienene, erste englischsprachige Album unter „Latin“ eingeordnet. Anthony, 31, hatte seine Karriere im Studio begonnen: Er sang gegen Schweigegeld für Jungs, die gut genug fürs Showgeschäft aussahen, aber keine Stimme hatten. „Ich Latin-Star Anthony war immer das hässliche Entlein“, sagt Anthony. Dann aber profilierte er sich als Salsa-Künstler, protegiert vom Altstar Rubén Blades, sang in Paul Simons Musical „The Capeman“ die Hauptrolle, nahm ein Duett mit Jennifer Lopez auf und spielt in Martin Scorseses neuem Film „Bringing out the Dead“ mit. Doch geht es nach der Zeitschrift „Entertainment Weekly“, ist das erst der Anfang: Sie vergleicht den zweisprachig aufgewachsenen Sänger sogar mit Frank Sinatra. Kino in Kürze Schwarzen und die Frauen den Aufstand Wer hätte gedacht, wagten. „Verrückt in dass Takeshi Kitano Alabama“ erzählt von sein Kino-Image als einer Frau, die 1965 wortkarges Raubein aus der Provinz des ganz locker ins KomiSüdens auf den Weg sche wenden könnte? nach Hollywood über Einen krummen Hund die Leiche ihres Ehespielt er auch diesmal, manns geht, und von einen Kleinganoven den Rassenunruhen, und Zocker, und das Kitano-Film „Kikujiros Sommer“ Szene aus „Verrückt in Alabama“ die zur gleichen Zeit Unglück will, dass er sich als Ferienbetreuer eines kleinen Jun- kopf Kitano (Buch, Regie, Schnitt, Haupt- in Alabama ausbrechen. Der Kinostar Antonio Banderas zeigt in seinem Regen durchs Land schlagen soll. Daraus rolle) als weiser Narr zu erkennen. giedebüt die komischen Qualitäten seiner entspringt eine mirakulöse, märchenbunte Männerfreundschaft zwischen „Verrückt in Alabama“. Die Filmversion Ehefrau Melanie Griffith; vor allem aber Groß und Klein: Mit diesem leichtfüßig eines genialisch-turbulenten Romans von schafft er es, Childress’ Mixtur aus Groimprovisierten Sommerabenteuer gibt Mark Childress; ein wildes, wahres Mär- teske und Tragödie schön grotesk und sich der sonst eher ungemütliche Quer- chen aus der Zeit, als in Amerika die schön tragisch auf die Leinwand zu retten. SENATOR COLUMBIA TRI-STAR „Kikujiros Sommer“. 294 d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 Kultur AU T O R E N Einsatz an der Schreibfront cher. Tatsächlich gebe es „nur zwei fast fertige Romane“, der Rest seien lediglich stichwortartige Ideen-Sammlungen. Wer am Ende davon profitieren wird, steht noch nicht fest: Konsaliks Testament wird Ende November eröffnet. n einigen Verlagen fing man vermutlich bereits an zu rechnen, seine Fans waren erfreut, literarische Feingeister entsetzt: „45 Romane vom toten Konsalik“, meldete die „Hamburger Morgenpost“ vergangene Woche, seien im Nachlass des Anfang Oktober verstorbenen Bestsellerautors und Vielschreibers Heinz G. Konsalik gefunden worden. Der Nachschub mit Landser-Prosa à la „Der Arzt von Stalingrad“ und anderen Trivialitäten schien bis weit ins nächste Jahrtausend gesichert. Indes auch Konsaliks unermüdlicher Einsatz an der Schreibfront – bisher ging man von 155 Romanen in 43 Jahren aus – kannte offenbar Grenzen: „Wenn es doch nur 50 Manuskripte wären“, barmt Konsaliks Agent Reinhold Ste- KUNST Gemusterte Tante A uf und Ab des Lebens: Im Fernseher lief eine Sendung zum Rücktritt des Kanzlers Adenauer, daneben erklommen, am 11. Oktober 1963 in Düsseldorf, zwei junge Künstler einen Sockel. Um dem Publikum „Leben mit Lueg-Gemälde „Kuss“ (1963) Pop“ vorzuspielen, posierten sie auf erhöhten Polstermöbeln mitten im Einrichtungshaus Berges; Bilder von Hirschen und Bockwürsten hatten sie in die Verkaufsetagen gehängt. Einer von den beiden, Gerhard Richter, ist dann Spiel und friss! W ACTION PRESS I Am Rande Konsalik (1995) malend weltberühmt geworden. Der andere, damals Konrad Lueg geheißen, sattelte vier Jahre später um und wurde unter seinem bürgerlichen Namen Fischer ein hoch geschätzter AvantgardeGalerist. Schon vor seinem Tod 1996 plante die Kunsthalle Bielefeld, den kaum mehr bekannten Künstler Lueg durch eine Rückschau zu ehren. Nun ist es so weit: Mit etwa 50 Werken, einem Drittel seiner Produktion zwischen 1963 und 1968, demonstriert die Ausstellung den verspielt-vertrackten Bildwitz des PopArtisten (bis 16. Januar). In heftigem kollegialen Wettstreit mit seinem Studienkollegen Richter, doch auch mit dem Zitat-Virtuosen und Farb-Alchimisten Sigmar Polke legte er Tapetenmuster über die Silhouetten von Tante und Onkel oder ließ sich eine Phosphorfarben-Malerei patentieren, die ihr Aussehen ändert, sobald der Schatten eines Betrachters darauf fällt. Dass der Erfindungsreiche dann doch das Metier wechselte, hält Kunsthallendirektor Thomas Kellein geradezu für „zwangsläufig“; Luegs Technik sei doch allzu „miserabel“ gewesen: Dicke Plaka-Farbe und geschluderte Keilrahmen machen den Bielefelder Restauratoren jetzt schwer zu schaffen. d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 enn wieder einmal ein Hollywood-Star von der „künstlerischen Herausforderung“ schwärmt, die es für ihn bedeutet habe, zum vierten Mal nacheinander den gleichen depperten Krachbummhelden in irgendeiner Blockbusterreihe zu mimen (ein Job, der ihm ganz zufällig eine Gage von 20 Millionen Dollar plus Gewinnbeteiligung einträgt), dann sieht sich der durchschnittlich korrumpierbare Hollywood-Fan in seinem Glauben bestätigt: Geld verhagelt den Menschen offenbar zwangsläufig das Hirn. Letzte Woche wurde dieser Glaube plötzlich erschüttert. Die Schauspielerin Jodie Foster hatte der amerikanischen Zeitschrift „W“ mitgeteilt, sie weigere sich, in der Fortsetzung des Psycho-Thrillers „Das Schweigen der Lämmer“ ein zweites Mal die Rolle der FBI-Agentin Clarice Starling zu übernehmen, obwohl ihr dafür die „höchste Gage ihrer Laufbahn“ angeboten worden sei. Sie könne es, so gab Foster pietätvoll bekannt, mit ihrem Gewissen nicht vereinbaren, dass die tapfere Clarice in „Hannibal“ kannibalische Neigungen entwickeln sollte.Wer hätte das gedacht: Skrupel in Hollywood! Jodie, der charakterfeste Fels in der Kommerzbrandung! Schon träumte der Hollywood-Fan davon, was wohl geschähe, wenn dieses Exempel Schule machte. Nie wieder Bruce Willis in „Stirb langsam“. Nie wieder Arnold Schwarzenegger in irgendetwas. In spätestens vier Jahren wäre ganz Hollywood pleite, die Stars würden Fernsehwerbung für „Stirb langsam“-Fitnessgeräte drehen, als Terminatoren in die Politik gehen oder, schlimmer noch, anspruchsvolle Rollen in verwackelten „Dogma“-Filmen spielen. Daran müssen sie gehindert werden – und sei es für eine Gage von 20 Millionen. Zum Glück hat auch Jodie Foster das eingesehen. Kurz nach dem Erscheinen des Interviews ließ sie bekannt geben, sie habe noch gar nicht entschieden, ob sie auch eine menschenfressende Clarice spielen würde. Ein paar Millionen Kannibalenzuschlag werden ihr die Entscheidung sicher erleichtern. 295 Ackermann-Gemälde „Evasion XVII“: Wie von der LSD-betäubten Hippiezeit inspiriert Majerus-Objekt „It’s cool man!“: Mit verspielten AU S S T E L L U N G E N „Gefühl der Stärke“ Die Wolfsburger Schau „German Open“ feiert eine neue, höchst lebendige deutsche Kunstszene. Der Nachwuchs träumt nicht mehr vom Umsturz: Er inszeniert frech und bunt die eigene Größe. 296 Der Titel der Schau lautet „German Open“ – und ist geschickt geklaut. In diesem Fall bei einem Tennisturnier. „German Open“, das klingt so schön nach Spiel, Spaß und vor allem nach Stars. Dabei klotzt Wolfsburg eben nicht mit bekannten Heroen, sondern mit einer geballten Premiere, einem knalligen Aufgalopp der künstlerischen Entdeckungen: Auf 1600 Quadratmetern stellt sich bis zum 26. März Deutschlands neue Künstlergeneration vor. Oder zumindest ein beachtlicher Teil davon. 39 Künstler mit einem Durchschnittsalter von 33 Jahren. Im Tenniszirkus sind da bereits viele Spieler im Ruhestand, für Künstler fängt, wenn alles gut geht, die Karriere gerade erst an. Schließlich, so wird ihnen gern abverlangt, sollen sie schon etwas erlebt haben. Etwas, das sich zu einem komplexen Werk verarbeiten lässt. Die Jungstars kommen indes ganz gut mit dem aus, was sie in Fernsehen und Zeitung aufschnappen. So zeigt eines der Wohnseifer-Bilder den RAF-Terroristen Andreas Baader. Aus einem Pressefoto wurde 27 Jahre später ein verschwommenes Szenario in Neonfarben – ein Gemälde, so bestechend irreal wie eine Traumsequenz. Bahnbrechend ist diese Idee aber nicht: Gerhard Richter schuf 1988 eine graue Serie verwischter Bilder von der Baader-Meinhof-Truppe. Wohnseifer begründet seine fluoreszierende Interpretation so: Die Horroraktionen der RAF waren das erste politische Ereignis, das er als Kind wahrgenommen hat. Er konnte in jedem Postamt die Fahndungsfotos bestaunen, die Schreckenstaten auf der Mattscheibe verfolgen. Möglich, dass seine comicfarbene Version des düsteren Themas vielen Besuchern G. SCHÖNHARTING / OSTKREUZ N iki Lauda 1971, mit Poloshirt und flottem Seitenscheitel. Eine sympathische Erscheinung. Nur sein Grinsen hat etwas leicht Diabolisches. Kein Wunder. Der Helm, den er vor sich herträgt, könnte einen Skandal auslösen. Unter dem Visier prangt der Schriftzug der Jeansmarke Levi’s – oberhalb aber ein Hakenkreuz. Jedenfalls meint der Kölner Künstler Johannes Wohnseifer, 32, das verbotene Symbol auf einem alten Lauda-Foto erkennen zu können – er hat das Bild sofort zum Kunstwerk erkoren und es sogar großformatig nachgemalt. Grau in grau, nur der Helm leuchtet – geschickt in Szene gesetzt – in einem satten Signalrot. Lauda, so hat Wohnseifer nachgeforscht, habe sich damals mit ein paar Klebestreifen einen dummen Scherz erlaubt. Um politische Inhalte sei es ihm nicht gegangen. Der Rennfahrer habe Symbol und Inhalt getrennt. Damit, das ist Wohnseifers eigenwillige Interpretation, sei Lauda so etwas wie „ein Vorbote der Punkbewegung“. Mit dem bizarren Porträt will der bislang wenig bekannte Jungmaler nun ein großes Publikum irritieren: in einer Ausstellung, die vergangenen Samstag im Kunstmuseum Wolfsburg eröffnet wurde – und die ebenfalls für Aufsehen sorgen dürfte. Wohnseifer-Entwurf „This night“: Für Olympia 1972 nachentworfen d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 G. SCHÖNHARTING / OSTKREUZ Kultur Meese-Installation „Erz Bankhaus Richard Wahnkind“: Abgedrehte Hommage an Richard Wagner Künstler Wohnseifer, Bild „Lauda“ Hemmungslos herumexperimentieren zu unpolitisch erscheint. Ihm aber geht es um die Erinnerung an erste, TV-verzerrte Eindrücke von Terror – fast schon mythische Eindrücke, die er wahrscheinlich mit vielen seiner Altersklasse teilt. Er ist nicht der einzige Künstler in Wolfsburg, der so unbekümmert autobiografisch um sich selbst kreist und damit doch den einen oder anderen Nerv seiner Generation treffen wird. Stefan Hoderlein stellt 15 000 Dias aus, von Partys oder von seinen Lehrern an der Kunstakademie, allesamt aber Dokumente seines bisherigen Lebens. Retro-Ästhetik oder Trash-Look: Alles, was in der Mode nach oben geschwappt ist, findet sich in der Ausstellung wieder. Nur viel offensiver. Drückt sich künstlerisches Selbstbewusstsein in der Größe der Formate aus, dann laufen im Wolfsburger Kunstmuseum etliche Egomanen herum. Es gibt zwölf Meter hohe Wandmalereien; ein Riesenschinken von Franz Ackermann – mit einer Farben- und Formenexplosion, die von einem Plattencover der LSD-betäubten Hippiezeit inspiriert sein könnte und die des Künstlers Reiseerinnerungen verewigt – wurde auf einen Lkw geschraubt. Blass wirkt daneben das pas- Braun hat sogar den Konferenztisch für die tellige Relief im Peace- und Blümchen- Politprominenz des diesjährigen G8-GipLook von Michel Majerus. Fast immer fels entworfen. handelt es sich aber um Mammut-Objekte, Egal-Mentalität als Programm, um geungeniert für museale Großhallen konzi- gen die politisch hyperaktive Elterngenepiert. Merke: Wer nicht auftrumpft, geht ration der 68er zu revoltieren? Verzicht auf unter. Protest als besonders heimtückische ProDie Jung-Künstler trauen sich verblüf- testform? Das dürfte für einige dieser fend viel zu. Sie experimentieren hem- Künstler schon zu viel der Reflexion sein. mungslos herum und bedienen sich dazu Die Generation, die Techno-Musik und gelassen bei Vorbildern der Vergangenheit, Love-Parade erfand, will nicht mit langen von der Pop-Art bis zu den kargen Objek- Worten die Ratio bedienen. Sie stößt lieber ten aus Sperrholz und Alufolie von Thomas durch verspielte Überraschungswerke vor Hirschhorn. Dieser Vorgänger der Nach- den intellektuellen Kopf, durch dreisgeborenen ist selbst erst 42 Jahre alt. ten Kommerz-Gestus, der an literarische Wohnseifer zum Beispiel malt nicht nur. Selbstvermarkter wie Benjamin von StuckEr hat einen Fassbinder-Film – den er zu- rad-Barre erinnert, und durch hektischen vor nie gesehen hatte – nachStilwandel: heute so und gedreht und einen Turnschuh morgen schon ganz anders. für die Olympischen Spiele Der Unmut der altehrvon 1972 nachentworfen. würdigen Kunstkritik ist dieJohn Bock hat Theater-Kurzsen Kreativen gewiss. Aber stücke geschrieben und dazu das stört keinen. Einer der die Bühne gebaut – ein chaoNewcomer ahnt zwar die tisch verschachtelter Guck„nervende Frage des Publikasten, inklusive Hühnerkums, ob das alles noch stall. „Wir beherrschen nicht Kunst sei“. Aber er wird alles perfekt“, sagt er. Aber nicht antworten. heraus kommt immer ein So viel Trotz muss dann schräges Gesamtkunstwerk. doch sein. Kurator Veit GörBesonders radikal ist das ner hat darauf nur gewartet. nicht. Auch nicht der hölzer- Künstler Meese Vor drei Jahren stellte Görne Wehrturm von Jonathan ner, 46, schon einmal eine Meese, in dem er eine dämonische Hom- neue Künstlergarde vor, allerdings reiste mage an Richard Wagner untergebracht die aus Großbritannien an: Intimbekennthat, in einer assoziativen Verbindung von nisse von Tracey Emin oder kindliche MissFamiliengruft und archaischem Altar. Naiv gestalten der Brüder Chapman. Der Speabgedreht mutet auch der Titel an: „Erz kulationssammler und Werbeguru Charles Bankhaus Richard Wahnkind“. Auf dem Saatchi machte sie bald zu rekordbezahlDach seines Turms will Meese stinknor- ten Promi-Künstlern. malen bayerischen Leberkäse kredenzen. Görner nahm sich vor, nach der briVorbei ist offenbar mal wieder die Zeit tischen auch die deutsche Gegenwartssozialpathetischer Umsturzkunst. Matti kunst auszustellen. „Nur“, sagt er, „da war G. SCHÖNHARTING / OSTKREUZ G. SCHÖNHARTING / OSTKREUZ Werken vor den Kopf stoßen d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 297 Kultur nichts, was man hätte zeigen können.“ Erst in den vergangenen zwei Jahren habe sich in Deutschland eine „vitale“ Kunstszene entwickelt, angeregt eben vom Erfolg der frechen Briten und getragen vom kreativ sprudelnden Berlin. Endlich sei ein „Gefühl von Präsenz und Stärke“ vorhanden, eine „überall spürbare Energie“, neuartige Ideen würden nun „forsch vorgetragen“. Hoppla, so plötzlich? Tatsächlich sind auch auf den Kunstmessen, von der ohnehin betont jugendlichen „Art Forum“ in Berlin bis zur etablierten „Art Cologne“, neue Künstler aus Deutschland vertreten. Womöglich ist der Generationswechsel aber bloß kollektiv herbeihalluziniert. Der Verdacht liegt nahe, weil Sammler, Galeristen und auch so manche Museumsdirektoren schon wieder nach frischer Ware lechzen. Einige Künstler, die Wolfsburg als brandneu hervorzaubert, haben bereits Anfang dieses Jahrzehnts ausgestellt. Manche gelten gar schon als etablierte Stars der Branche, wie Psychedelic-Künstler Ackermann oder Ost-Maler Neo Rauch. Das großzügige Forum, das ihnen Görner nun bietet, sei ihnen gegönnt. Immerhin hat der Ausstellungsmacher ein Jahr lang sinniert, wen genau er einladen soll. Eine überlegte Auswahl also, wenn sie auch nicht in jeder Hinsicht glückte. Erklärungsbedürftig ist vor allem die penetrante Männerdominanz. Die internationale Kunstszene mag, analog zu einem aktuellen Slogan der Literaturszene, das „Fräuleinwunder“ („Die Woche“) feiern, in Wolfsburg sind dennoch unter 39 Künstlern gerade einmal 5 Frauen. Darunter auch Silke Wagner, die ihre Plakate zum Männer-Thema Fußball und Fanverhalten immerhin im Foyer aufhängen darf. Viele Künstlerinnen, sagt Görner, seien „qualitativ nicht so weit wie ihre männlichen Kollegen“. Widersprüche und Alternativvorschläge von Mitarbeitern ließ er angeblich nicht gelten. Auch InternetKunst, die einzig wirkliche neue Kunstgattung der vergangenen Jahre, lehnte er ab. Lapidares Urteil: „Zu langweilig.“ So mag Wolfsburg noch so stolz eine Bestandsaufnahme deutscher Gegenwartskunst ankündigen. Repräsentativ für das Land oder für eine ganze Generation dieses Landes ist die Schau nicht. Es hätte ihr gut getan, ihre Spielwiese nicht nahezu ausschließlich für große Jungen zu reservieren, die gern große Sachen bauen. So gewitzt sie das auch tun. Sie wissen längst, wie das Kunstgeschäft läuft. Michel Majerus hat es auf – übergroße – Tafeln geschrieben: „Was heute gut aussieht, muss morgen nicht mehr gut aussehen. Jetzt ist die Zeit.“ Bekennen sich so desillusionierte Augenblicksmenschen oder geschichtslose Eintagsfliegen? Dass sie solche Fragen provoziert, macht die Wolfsburger Kunst-Schau auch reizvoll – und diskutabel. Ulrike Knöfel d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 Roman-Thema historisches Ägypten*: Neue Heimat fürs Leservolk BUCHMARKT Fluchthelfer Vergangenheit Der historische Roman, die Zeitreise in einen entlegenen Winkel der Geschichte, ist erfolgreich wie nie zuvor. Kurz vor der Jahrtausendwende suchen immer mehr verstörte Leserseelen Trost und Halt in den überschaubaren Strukturen versunkener Welten. * Buchcover (Ausschnitt) für „Der ägyptische Heinrich“ (unter Verwendung von Auguste Raynauds „La belle Egyptienne“, um 1855). J. MAGREAN N ietzsche war verstimmt. Der Blick in die Welt verhieß ihm Schreckliches. Die Menschheit laufe Gefahr, „an der Überschwemmung durch das Fremde und Vergangene, an der ,Historie‘ zugrunde zu gehen“. Mit solch grimmigen Sätzen schrieb der Philosoph gegen seine Zeit an. Einer Zeit, die nur von einem zu berücken war: vom Entrückten. Das 19. Jahrhundert hat, angeführt von Groß-Denker Hegel, die Geschichtsphilosophie etabliert, die Romantiker ergötzten sich am Ideal einer großen nationalen Vergangenheit, und die Romanciers begannen, sich an einer neuen Literaturgattung zu versuchen: dem modernen historischen Roman. Als Erfinder gilt der Schotte Walter Scott, der mit „Waverly“ (1814), einer turbulenten Story um den erfolglosen Staatsstreich der Stuarts 1745, eine UrGeschichts-Geschichte schrieb. Ganz Europa tat es ihm nach: in Frankreich Victor Hugo mit „Der Glöckner von Notre-Dame“, in Russland Leo Tolstoi mit „Krieg und Frieden“, in Polen Henryk Sienkiewicz mit „Quo vadis“. Eine Gattung war geboren, im folgenden Jahrhundert sollte sie mal mehr, mal weniger begehrt sein. Ramses-Autor Jacq Auslöser der Ägyptomanie Heutzutage aber ist sie so präsent wie nie zuvor – Nietzsche müsste sich wieder sorgen. Ein Rückschau-Rausch sucht die deutsche Buchbranche heim, das gilt für Sachbücher ebenso wie für Romane. Aus nahezu jedem Verlagsprogramm springen sie einen an, oftmals prominent dargeboten als Spitzentitel: die opulenten Geschichten aus dem Irgendwann der Menschheit. Der Wolfgang Krüger Verlag beginnt eine Trilogie über die französische Kaiserin Joséphine. Der Karl Blessing Verlag versucht es mit einer weiteren mittelalterlichen „Medicus“-Schwarte vom amerikanischen Bestseller-Autor Noah Gordon. Da d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 wird im „Labor des Alchemisten“ (List) herumgepfuscht, auf halbfiktionale Weise Stalins (Luchterhand Literaturverlag) gedacht oder das „Geheimnis des Hieronymus Bosch“ (Eichborn) ergründet. „Historische Romane laufen glänzend“, sagt Kirsten Laabs, Geschäftsführerin einer großen Hamburger Buchhandlung, „besonders bei unserer Hauptkäuferschicht, den Frauen über 30.“ Der Marketingchef des Deutschen Taschenbuch Verlags (dtv), Rudolf Frankl, bestätigt: „Alle diese Bücher haben einen festen Markt und verkaufen sich durchweg gut. Ich kann mich nicht erinnern, dass ein historischer Roman in letzter Zeit ein Misserfolg war.“ Eine honorige Gruppe zeigt sich jedoch durch den Historien-Boom peinlich berührt bis blamiert: die Literaturwissenschaftler. Den professionellen Besserwissern ist der historische Roman verhasst. Die Gattung gilt, so die typische Beschreibung eines Germanisten (Michael Limlei), „als illegitimer Spross einer anrüchigen Verbindung“: der Verbindung zwischen der an Fakten gebundenen Historiografie und der freien dichterischen Fiktion, die ihre Geschichten nach eigenen Baugesetzen erzählt und auf den tatsächlichen, oft zufälligen Hergang wenig Rücksicht nimmt. Können andere Mode-Genres wie Fantasy, Sciencefiction oder auch die putz299 Kultur Renate Feyl „Das sanfte Joch der Vortrefflichkeit“ Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln; 320 Seiten; 38 Mark. 300 Noah Gordon „Der Medicus von Saragossa“ Deutsch von Klaus Berr. Karl Blessing Verlag, München; 512 Seiten; 48 Mark. d e r s p i e g e l Graehl. Ihre Analyse: Wenn Kitschgeschichten in früheren Zeiten spielen, wirken sie glaubhafter – Burgfräulein wird hormonell so manches zugetraut. Graehl: „Es ist wie bei Schlagern: Englisch gesungen, also verfremdet, werden sie besser angenommen.“ Das bestätigt auch der Wissenschaftler und Romanautor Umberto Eco („Der Name der Rose“, „Die Insel des vorigen Tages“). Eco lästert in einem Aufsatz zur historisch übertünchten Romanze: Geschichte sei hier lediglich „Vorwand und phantastische Konstruktion, um der Einbildung freien Lauf zu lassen“. Die Romanze brauche gar nicht in der Vergangenheit angesiedelt zu sein, „es genügt, dass sie nicht vom Hier und Jetzt redet, nicht einmal allegorisch. Die Romanze ist die Geschichte eines Woanders“. Historie als Wohlfühlort, weit weg vom Alltag. In diesem Herbst fällt aber vor allem ein anderer Typus historischer Romane auf, eine literarisch bemühtere Form, die durchaus einen Ort in der Geschichte aufzuweisen hat: Es sind Romanbiografien echter Erdenbürger. Romanbiografien sollen durch fiktive Anteile ebenfalls an Flucht- und Schmökerlust appellieren, zugleich aber genügend Fakten liefern, damit Leser im gelehrten Small Talk bestehen können. Dieses Jahr gibt es auffällig viele Lebensgeschichten von Frauen über Frauen. „Genuss am Lesen“, begründet dtv-Lektorin Bianca Dombrowa, „läuft über Identifikation.“ Und wer liest? Frauen natürlich. Da die Historie, was faktische Macht anbetrifft, notorisch männerlastig ist, versuchen die Autorinnen, die indirekte Macht der Gattinnen, Töchter, Schwägerinnen herauszuheben – der Geschichte soll Gerechtigkeit eingeschrieben werden. Ein ehrbares Anliegen, das den geehrten Damen aber nicht immer zur Ehre gereicht. Denn die Romanbiografie, das zeigen die meisten Neuerscheinungen, ist tatsäch- Anne Bernet „Ich, Pontius Pilatus“ Deutsch von G. Krüger-Wirrer. Knaur, München; 384 Seiten; 29,90 Mark. 4 6 / 1 9 9 9 AKG munteren Frauenromane getrost ins Unterhaltungsfach eingeordnet und danach bewertet werden, gelingt dies beim historischen Roman nicht so leicht. Ein und dieselbe Gattung hat wüste Räuberromanzen, neunmalkluge Oberstudienratsprosa – und ein hübsches Sümmchen Weltliteratur hervorgebracht: Flauberts „Salammbô“ (jetzt in neuer Übersetzung erschienen), Stifters „Witiko“, Süskinds „Das Parfum“ und Nadolnys „Die Entdeckung der Langsamkeit“: allesamt historische Romane, allerdings zuweilen – wie im Fall Süskind – mit Funden aus der Historie wuchernd, die fast komplett erfunden sind. In der verstörenden Qualitätsspanne zwischen Hochund Trivialliteratur liegt der Fluch, aber auch der Reiz der Gattung. Mit ihren unendlich vielen Spielarten offenbart sie, dass hinter dem aktuellen Vergangenheitstaumel sehr viel mehr steckt als lediglich ein kurioses oder nostalgisches Bedürfnis nach den lexikalisch zugänglichen Fakten der Geschichte. Die Historie, so zeigt die Gattung, kann für alles Mögliche genutzt werden: als Fluchthelferin aus dem Heute ins Irgendwann, als Lehrmeisterin fürs Hier und Jetzt, als Trösterin, als Bildungsstütze. Der historische Roman taugt zum Spiegelbild der Be- Roman-Heldin Joséphine*: „Liebes Tagebuch“ dürfnislage einer Lesernation. Die berüchtigtsten Fluchthelfer die- rikanischen Taschenbuchangebots, das erses Herbstes sind jene Bücher, die in der gab eine Untersuchung deutscher VerlagsBranche halb belustigt, halb despektier- experten, besteht bereits aus diesen so gelich „Nackenbeißer“ genannt werden nannten Romances; die allermeisten von und die sich auf unheimliche Weise ver- ihnen spielen in historischen Fernen, am liebsten bei Raubrittern (weiches Herz unmehren. Der Nager-Name geht auf die Cover- ter harter Rüstung) oder testosterongesätgestaltung zurück: Der Betrachter sieht tigten Piraten. Weil auch deutsche Verlage wie Heyne, eine junge Frau, wehendes Haar, umarmt von einem Mann – hinab senkt er sein Bastei-Lübbe und Ullstein mit derlei PuHaupt gen Schulter der Begehrten. Und blikationen schon länger erfolgreich sind, dann bleibt tatsächlich nur noch eine Fra- zogen Konkurrenten wie List und Knaur ge offen: Küsst er, oder beißt er zu? Alles vor knapp zwei Jahren nach. „Mit Erfolg“, andere ist gesichert: dass sich zwischen den sagt Droemer/Knaur-Lektorin Carolin Buchdeckeln zwei lieben und gegen Ende zueinander kommen. 50 Prozent des ame- * Porträt von Henri François Riesener (1806). Sandra Gulland „Joséphine“ Deutsch von Sigrid Gent. Wolfgang Krüger Verlag, Frankfurt/M.; 576 Seiten; 39,80 Mark. Werbeseite Werbeseite Kultur lich eine fragwürdige Gattung. Mal machen die Autorinnen aus den Objekten ihrer Buch-Begierde auf Grund historiografischer Bedenken zu wenig, mal aus Fabulierlust zu viel. Die Erfolgsautorin Renate Feyl etwa geht in ihrem Buch über Schillers Schwägerin Caroline von Wolzogen zu zaghaft vor („Das sanfte Joch der Vortrefflichkeit“). Feyl gilt als anspruchsvolle, quellentreue Verfasserin von Roman-Biografien und wird hier Opfer dieser Tugenden: Sie klebt geradezu an dem, was Weimarer Überlieferungen über Frau von Wolzogen wissen, hält sich bei Ausschmückungen und Dialogszenen stark zurück. Dadurch wirkt das Buch hölzern – ziemlich leblos, diese Lebensbeschreibung. Für einen Roman reicht es nicht, sich einen spektakulären Ort der Geschichte auszusuchen und sich darauf zu verlassen, dass die anwesenden Großkopferten (in diesem Fall Goethe, Charlotte von Stein und andere) die Story schon wuppen. Inszenierlust muss schon sein, auch wenn die Gefahr groß ist, es zu bunt zu treiben. Die in Kanada lebende Sandra Gulland, Verfasserin der vielbeworbenen Joséphine-Trilogie, treibt es zu bunt. Sie wählt wie Feyl die Ich-Form, verfährt aber im Ganzen gegenteilig. Sie schildert frohgemut lauter Vorgänge, von denen sie nichts wissen kann: Joséphines erste Monatsblutung etwa. Die Autorin beginnt neue Passagen ihres als Diarium abgefassten Werks hochnaiv mit „Liebes Tagebuch, es ist etwas Schreckliches geschehen“ und lässt ihre Hauptfigur wenig hellsichtig auf die Nachricht reagieren, dass ein Vertrauter versucht hat, den gefangenen französischen König zu befreien: „,Mon Dieu.‘ Ich sank auf einen Stuhl. ,Den König zu befreien? Aus dem Temple?‘ Ich formte die Worte mit den Lippen.“ Womit sonst?, fragt sich der verwirrte Leser. Es muss wohl der schier unglaubliche Erfolg des französischen Autors Christian Jacq sein, der Kollegen dazu ermutigt, unerschrocken in den Topf der Vergangenheit hineinzugreifen, jemanden herauszuziehen und drauflos zu phantasieren. Immer wieder schafft es Jacq mit den einzelnen Folgen seiner Romanbiografie über den ägyptischen Pharao Ramses II. auf die Bestsellerlisten. Egal, ob er etwa den antiken Dichter Homer unvermittelt im ägyptischen Memphis aufkreuzen lässt, ein Vorfall, der jeder Logik wie Quelle entbehrt – das Zeug geht weg. Und nicht nur das: Mit Jacq wetteifern inzwischen etliche Trittbrettfahrer, die sich ähnlich ägyptomanisch gebärden, ob in Guy Rachets „Traum aus Stein“ (Heyne) Cheops’ Kampf um die Doppelkrone beschrieben wird oder Kleopatra als „Die Königin vom Nil“ (Heyne) aufersteht. Ägypten scheint zu einem Schlagwort geworden zu sein, mit dem Leser diffu302 d e r se Vertrautheit assoziieren: Mit jedem neuen Buch kehren sie an einen wohlbekannten Ort zurück. Also noch eine neue Funktion von Geschichte: Diesmal ist sie Heimat. Längst versunkene Orte, verblichene Menschen, die bloße Idee von Vergangen- s p i e g e l Bestseller Belletristik 1 (1) Isabel Allende Fortunas Tochter Suhrkamp; 49,80 Mark 2 (2) Günter Grass Mein Jahrhundert Steidl; 48 Mark 3 (4) Elizabeth George Undank ist der Väter Lohn Blanvalet; 49,90 Mark 4 (3) Noah Gordon Der Medicus von Saragossa Blessing; 48 Mark 5 (–) Thomas Harris Hannibal Hoffmann und Campe; 49,90 Mark Schlaflose Nächte garantiert: FBI-Jagd auf Serienmörder Lecter geht weiter 6 (5) Donna Leon Nobiltà Diogenes; 39,90 Mark 7 (9) Ken Follett Die Kinder von Eden Lübbe; 46 Mark 8 (7) John Irving Witwe für ein Jahr Diogenes; 49,90 Mark 9 (8) Marianne Fredriksson Maria Magdalena W. Krüger; 39,80 Mark 10 (6) Henning Mankell Die falsche Fährte Zsolnay; 45 Mark 11 (12) Nicholas Sparks Zeit im Wind Heyne; 32 Mark 12 (11) Frank McCourt Ein rundherum tolles Land Luchterhand; 48 Mark 13 (10) Henning Mankell Die fünfte Frau Zsolnay; 39,80 Mark 14 (13) Siegfried Lenz Arnes Nachlass Hoffmann und Campe; 29,90 Mark 15 (–) Martha Grimes Die Frau im Pelzmantel Goldmann; 44 Mark 4 6 / 1 9 9 9 AKG heit, all das weckt unendliche Wünsche. Bleibt die Frage: Warum? Mit einem anderen Boom historischer Romane in diesem Jahrhundert lässt sich die heutige Situation kaum vergleichen. Es war in der finsteren Zeit vor und während des Nationalsozialismus: Den einen Autoren ging es darum, dem Germanentum durch allerlei Heldengetue Bedeutung einzupusten, den anderen – Exilliteraten wie etwa Lion Feuchtwanger – ums Gegenteil: Sie wollten durch allegorische Geschichten aus der Vergangenheit auf die Abgründe des Faschismus hinweisen. Mit dem Ende des Nationalsozialismus hatte der Großteil der Autoren erst mal genug vom historischen Erzählen. Heldentümelei war verdächtig geworden, Figuren der Geschichte als „bedeutend“, gar „groß“ darzustellen – Schlagworte, die heute durchaus wieder gängig sind –, damit war man vorsichtig. Über Jahrzehnte konzentrierten sich Autoren aufs Hier und Jetzt, und als Anfang der achtziger Jahre ein gewisser Umberto Eco aus Italien seinen intellektuellen Mittelalter-Roman „Der Name der Rose“ veröffentlichte, sagten ihm die Auguren keine große Zukunft voraus. Eco-Übersetzer Burkhart Kroeber erinnert sich noch, wie er an einer Sitzung des Münchner Hanser Verlags teilnahm, auf der über die erste Auflage verhandelt wurde: 10 000 Stück, so lautete der Beschluss. Alle Anregungen Kroebers, es mit einer größeren Menge zu versuchen, trafen auf Unverständnis. Dass das Buch dereinst in der ganzen Welt 15 Millionen Mal verkauft werden würde, damit hat niemand gerechnet. Damals, so Kroeber, schien das Vergangene verdächtig, die noch kreglen 68er führten den Vorwurf des Eskapismus auf ihren Lippen. Auch Gisbert Haefs, Verfasser verschiedener Historienromane („Troja“, „Alexander“, „Hannibal“), denkt noch mit Groll an das Kunstverständnis der Achtziger: Eines Tages, so erzählt Haefs, sei Wim Wenders, Mitbegründer des deutschen Autorenfilms, vor die Kameras getreten und habe verkündet, dass man keine opulenten Geschichten mehr erzählen könne. „Und das“, echauffiert sich Haefs noch im Nachhinein, „wo gerade vor den Augen der Öffentlichkeit eine opulente Geschichte passierte, die Barschel-Affäre.“ Haefs: „Aber so war das, Kunst stand für Kargheit.“ Das Ergebnis: spröde Texte, genussfreie Lektüre mit viel, viel Botschaft. Spätestens nach dem Fall der Mauer kündigte sich eine Kehrtwende an. Der Sozialismus, die letzte Ideologie, die noch damit rechnete, dass sich das Menschen- Roman-Held Hannibal*: Lust auf Opulenz Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fachmagazin „Buchreport“ Sachbücher 1 (1) Marcel Reich-Ranicki Mein Leben DVA; 49,80 Mark 2 (–) Oskar Lafontaine Das Herz schlägt links Econ; 39,90 Mark 3 (2) Sigrid Damm Christiane und Goethe Insel; 49,80 Mark 4 (4) Corinne Hofmann Die weiße Massai A1; 39,80 Mark 5 (5) Dale Carnegie Sorge dich nicht, lebe! Scherz; 46 Mark 6 (3) Waris Dirie Wüstenblume Schneekluth; 39,80 Mark 7 (9) Ulrich Wickert Vom Glück, Franzose zu sein Hoffmann und Campe; 36 Mark 8 (6) Tahar Ben Jelloun Papa, was ist ein Fremder? Rowohlt Berlin; 29,80 Mark 9 (7) Bodo Schäfer Der Weg zur finanziellen Freiheit Campus; 39,80 Mark 10 (–) Hans J. Massaquoi Neger, Neger, Schornsteinfeger! Fretz & Wasmuth; 39,90 Mark Eine beispiellose Jugend: Ein schwarzer Deutscher erlebt die Nazis in Hamburg 11 (11) Klaus Bednarz Ballade vom Baikalsee Europa; 39,80 Mark 12 (10) Daniel Goeudevert Mit Träumen beginnt die Realität Rowohlt Berlin; 39,80 Mark 13 (12) Dietrich Schwanitz Bildung Eichborn; 49,80 Mark 14 (8) Ruth Picardie Es wird mir fehlen, das Leben Wunderlich; 29,80 Mark 15 (13) Peter Kelder Die Fünf „Tibeter“ Integral; 22 Mark * Fresko von Jacopo Ripanda (Anfang 16. Jahrhundert). d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 303 Kultur Roman-Held Pilatus*: Antike Selbsthilfegruppe geschlecht in Richtung Brauchbarkeit entwickele, war am Ende und damit – so betonen Zeitgeist-Exegeten immer wieder – auch jene rigorose Freude an der Zukunft, die 68er samt Autorenfilmer beflügelt hatte. Der Münchner Arnulf Rank, EDV-Fachmann und als unermüdlicher Leser von Historienschinken eine Art Prototyp, erinnert sich auch noch an politisch motivierte Straßenschlachten, doch, so analysiert er, „die Zeiten sind zu kompliziert geworden, man zieht sich zurück“. Als EDVFachmann wisse er, wozu er einen Computerchip einsetzen könne, doch wie der sich genau zusammensetze – „keine Ahnung“. Da lobt er sich die Überschaubarkeit, die in historischen Romanen suggeriert wird. In einem seiner Lieblingsbücher, Ken Folletts „Die Säulen der Erde“, geht es um einen Kathedralenbau im 12. Jahrhundert. „Nach der Lektüre hatte ich den Eindruck, ich verstehe mehr von Kirchenarchitektur als vom Computerchip.“ Hier könnte also der Urgrund für die heutige Lust an der Rückschau liegen: Die vielbeschworene Unübersichtlichkeit stresst, die Zukunft lockt nicht mehr: also geschlossener Abmarsch ins Gestern. Rank: „Wenn ich Jacqs Ramses-Romane lese, bin ich nah dran an einem Pharao. Mit historischen Romanen ist man immer * Gemälde von Albrecht Altdorfer (um 1510). d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 AKG dort, wo es groß und bedeutend wird.“ Weltereignisse frei Haus. Auf diese Erfolgsrezepte setzt auch die französische Autorin Anne Bernet. Sie unternimmt in einer Neuerscheinung den Versuch, sich und ihre Leser ins Zentrum christlichen Heilsgeschehens zu versetzen. Bernet nutzt die Modegattung der RomanBiografie, um das Leben des römischen Statthalters zu beschreiben, der für die Hinrichtung Jesu mitverantwortlich war: Pontius Pilatus („Ich, Pontius Pilatus. Die Memoiren eines Unschuldigen“). Die Autorin imaginiert die Verhandlung vor dem Kreuzestod, lässt Pilatus – so will es auch die Bibel – zaudern. Die Zerrissenheit des Pilatus bietet tatsächlich Stoff für ganz große Literatur, allein man muss der Gewalt dieses Stoffs gewachsen sein. Bei Bernet scheitert es an Sprache und Charakterzeichnung: Der römische Prokurator, auch er ein Ich-Erzähler, reflektiert im Jargon der Selbsthilfegruppe die schlimme Tat: „Armer Messias, armer Christos, armer König Israels … Mich ergriff überströmendes Mitleid, und dennoch fühlte ich mich völlig ohnmächtig.“ Mit Sätzen wie diesen wird Pilatus zum unfreiwilligen Komiker. Kein Segen also auf dieser vorösterlichen Story. Die Charakterzeichnung ist auch das größte Problem im „Medicus von Saragossa“ von Noah Gordon, dem historischen Roman, der nach Meinung der Händler der größte Verkaufshit dieser Buchsaison wird. Gordon vermag es tatsächlich, einer Story Saft und Kraft zu geben. Die Geschichte seines heimlichen Juden Jona, der vor der Inquisition durch das Spanien des Spätmittelalters flieht, ist eine Himmelund-Hölle-Fahrt: Zarte Liebesszenen wechseln mit brünstigen Schilderungen von Folter und Scheiterhaufen. Doch der Medicus ist ein arger Gutmensch, heilt und hilft, wo er nur kann. Dass sich Verfolgung verheerend auf eine Persönlichkeit auswirken kann, diese Möglichkeit schließt Gordon offenbar aus. Ein Jude als Personifikation eines besseren Prinzips – auch eine Variante des Rassismus. Erkenntniswert: marginal. Der historische Roman hat also tatsächlich etliche Tücken. Die Gattung verspricht einiges, löst aber nicht allzu viel davon ein. Die Nackenbeißer erweisen sich noch als ehrlichste Ware – lustvoller Schwelgestoff, der auch gar nicht mehr sein will als dies. Die Gattung, so die Theorie, nimmt durch ihre fiktionalen Elemente der His305 Kultur Kampf der Schinken Historien-Boom im Fernsehen: Amerika und Europa wetteifern mit unterschiedlichem Inszenierungsstil um die Gunst des Publikums. „Jeanne d’Arc“-Darstellerin Sobieski: Geschichte ohne Geheimnis Kraft der Dialoge as Millennium geht, die Geschichte kommt, Gegenwart und Zukunft, bitte zurücktreten von der Bildschirmkante! Keine Übertreibung: So viel Historie war nie in der Glotze. An Weihnachten ist nicht nur das Christkind geboren – zum diesjährigen Fest, dem letzten vor der Jahrtausendwende, wird Jesus Christus auch Moviestar: Das Erste sendet zwei mal 90 Minuten lang eine Leo-Kirch-Koproduktion, die den Weg des Heilands von Bethlehem nach Golgatha zeigt. Später werden die Apostel dran sein, dann hat Kirch seinen Bibelzyklus zu Ende gebracht. Aber, Gott verzeiht vieles, gut möglich, dass das Fernsehen dann wieder bei Adam und Eva beginnt. Mantel- und Segenstücke haben nämlich TV-Konjunktur. Ob „Arche Noah“, ob „Tristan und Isolde“, ob zum x-ten Mal neu verfilmt „Der Kurier des Zaren“, ob „Les Misérables“ oder „Der Glöckner von Notre-Dame“, ob „Merlin“, ob AntikenFantasy wie „Hercules“ oder „Xena“ – es trappelt in der Flimmerkiste: Pferdehufe, kühne Reiter, schimmernde Rüstung, Lanze und Speer, Kostüm und Phrase schicken sich an, neben Allotria, Sport und Talk ein weiteres Schwungrad der Mythos-Maschine Fernsehen zu werden. RTL * „Jeanne d’Arc – die Frau des Jahrtausends“: 28. und 29. November, 20.15 Uhr auf RTL; „Balzac – ein Leben voller Leidenschaft“: 2. und 3. Januar 2000 auf Sat 1. SAT 1 D Depardieu, Riemann in „Balzac“ 306 sisch geprägten Verfilmung der Biografie des großen französischen Erzählers Honoré de Balzac mit Gérard Depardieu, Jeanne Moreau und Katja Riemann. Die französische Bauerntochter und später als Heilige verehrte fromme Jungfrau von Orléans (1412 bis 1431) errettete im Hundertjährigen Krieg Frankreich vom englischen Joch, führte durch ihre religiöse Begeisterung französische Truppen zum Sieg, brachte Karl VII. auf den Königsthron, ehe sie, politisch lästig werdend, ins Abseits geriet und als Ketzerin verbrannt wurde. Voltaire sah in ihr eine naive Bauernmagd, Schiller eine innerlich Zerrissene zwischen dem Gehorsam gegenüber ihrer Sendung und der verbotenen Liebe zum Feind. Für Shaw war sie keine Heilige, sondern eine Vertreterin des gesunden Menschenverstands wider die Anmaßungen der katholischen Kirche, Brecht schließlich interpretierte „Die heilige Johanna der Schlachthöfe“ als Je oller die Stoffe, desto voller sind die Sofas vor dem Gerät: Deutsche Schuld beschwörende Geschichtserkundungen wie die Filme nach Victor Klemperers Tagebüchern erreichen mit schlappen acht Prozent Marktanteil gerade mal die Studienratsklientel, während gut abgehangene Bibelschinken wie RTLs „Arche Noah“ die Massen fesseln. Kulturkritiker bellen, die Karawane sucht ihre Sehnsucht im Gestern, in den Zeiten, da es – so die Hoffnung – noch das Wünschen gab, da der Lebenssinn noch die Welt bewohnte, da richtige Männer richtige Frauen liebten, da die Guten siegten und Gott sich zeigte. An zwei Produktionen*, die demnächst zu sehen sind, lassen sich die unterschiedlichen Macharten studieren, mit denen Amerika und Europa das TVWachstums-Genre historische Fiction zu beherrschen suchen: an der in Amerika entwickelten Fernsehverfilmung des Jeanne-d’Arc-Stoffs und an der franzö- d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 realitätsblinde Wohltäterin, die die Raffinessen des Kapitalismus nicht durchschaute. Und das moderne Fernsehen amerikanischer Machart? Es legt sich nicht fest. Es hat keine Meinung zur Person der heiligen Jungfrau. Ihm sind Interpretationen der Figur unwichtig, denn es hat ganz anderes im Kopf: lauter schöne Bilder. Die TV-Verfilmung des Frankokanadiers Christian Duguay zerlegt den Stoff in Gemälde, Zeitlupenaufnahmen von tobenden Schlachten, in süßliche Heiligenbilder von der Jungfrau mit strahlender Rüstung auf ihrem sich bäumenden Ross. Bei dieser hemmungslosen Schwelgerei im schönen Bilderschein wird der Film hemmungslos fromm. Johannas Stimmen von oben werden ungeniert optisch inszeniert: als strahlender Schein oder – höchste Stufe der Erbaulichkeit – als Antlitz Gottes, als hätte der gefordert: Du sollst dir ein Bildnis von mir machen. Der historische Stoff dient als Übungsplatz für Special Effects, er wird rhythmisiert durch den raschen Wechsel von Gefühlserregung und schneller Befriedigung. Dieser TV-Jeanne-d’Arc ist die flotte Träne lieber als eine lange durchzuhaltende innere Spannung. Die meisten Figuren sind zu festen Klischees geformt. So wandelt die New Yorker Jungschauspielerin Leelee Sobieski legosteinhaft mit Strahleblick eines aufrechten American Girl durch das Natterngezücht europäisch-dekadenter Gestalten. Derlei bearbeitete Geschichte hat kein Geheimnis mehr und erschüttert die selbstgefällige Gegenwart kaum. Aber zugegeben: Wenn die amerikanische Jungfrau Peter O’Toole, der den zunächst verschlagenen, aber später reuefähigen Bischof gibt, an dessen gefrorenes Herz rührt, wechselt dieser Film für einen Moment von kalter Bilderpracht in die Dimension echter Wärme. „Balzac – ein Leben voller Leidenschaft“ riskiert optisch weniger, ohne je unansehnlich zu sein. In diesem europäischen Angriff auf die alte Zeit regieren das Vertrauen auf große Schauspieler und die Kraft der Dialoge. Wie Obelix erwatschelt sich Depardieu den Balzac-Part, schelmisch, täppisch, aber voller Ehrfurcht für den großen Poeten. Und er wird konterkariert von seiner kalten Mutter, die die Moreau souverän hinlegt. Sie spielt, als schaute das alte Europa voller Skepsis, aber auch mit liebender Weisheit auf seine großen Dichter. Die Quote dürfte den Kampf um die Machart der Historienschinken entscheiden. Die Kultur hat viel zu verlieren. Nikolaus von Festenberg Historischer Banal-Roman Hormonell begabte Burgfräulein toriografie die Trockenheit und Sperrigkeit. In Wahrheit aber verführt die Angst vor zu viel Gelehrsamkeit nicht wenige Autoren dazu, ihre Stoffe völlig weich zu spülen. Geschichte aber ist richtiges Leben und damit immer ein Wagnis, eine Zumutung. Markus Werner, hoch anerkannter Schweizer Autor, findet in seinem neuen Roman „Der ägyptische Heinrich“ (Residenz-Verlag) eine Form, sich dem Gegenstand Geschichte literarisch angemessen zu nähern. Sein Ich-Erzähler aus der JetztZeit rekonstruiert das Leben seines UrUr-Großvaters, eines Schweizer Pfarrersohns, der vor 150 Jahren nach Ägypten auswanderte. Der Protagonist der heutigen Welt taucht ein in die damalige, taucht wieder auf, reflektiert und kommt zu dem Ergebnis, dass beide Zeitschichten, die Gegenwart wie die Vergangenheit, kritisch gesehen werden müssen. Zum einen entlarvt er seinen Großvater, der bislang in seiner Familie der Held unter den Ahnen war, als Taugenichts, zum anderen nervt ihn auch das Hier und Jetzt. „Ein einziger Tag der Versenkung schien bewirken zu können, dass ich mich beim Wiederauftauchen als Relikt jener Zeit fühlte, in der ich mich aufgehalten hatte, und die Rückkehr in meine Welt war keine ins Vertraute. Von einem anderen Epochenrhythmus wie infiziert, empfand ich den normalen Verkehrsfluss als Niedertracht und die normalen Bewegungen der Menschen als Veitstanz.“ In diesem halb-historischen Roman verstört Geschichte. Besseres kann sie, in erzählter Form, kaum bewirken. Susanne Beyer d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 307 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Kultur Wunderbarer Minister Der Münchner Staatstheaterchef Eberhard Witt wirft sein Amt vorzeitig hin – neuer Eklat im Traditionskonflikt zwischen Bayerns CSU und Theaterkünstlern. E in ordentlicher bayerischer Theaterkrach geht so: Ein Dramatiker schreibt ein Stück, in dem sich poetisch-klare Sätze finden wie „Der letzte Terrorist ist mir noch lieber als der erste von der CSU“. Ein Schauspieler spricht diese Sätze auf der Bühne nach. Im Premierenpublikum gibt es Tumult. CSU-Politiker schlagen Krawall, dass man sich derlei nicht bieten lasse. Der Theaterintendant aber verteidigt die Freiheit der Kunst – und dann ist es bloß eine Frage von Monaten, bis man den Theaterchef mit Schimpf und Bierzeltdonner aus dem schönen Bayernland gejagt hat. So geschah es beispielsweise 1985/86. Der Dramatiker hieß damals Herbert Achternbusch, der Schauspieler Josef Bierbichler und der Staatsschauspielintendant Frank Baumbauer. Von allen dreien lässt sich sagen, dass sie nach dem Skandal um das Achternbusch-Stück „Gust“ zumindest im nichtbayerischen Rest der Republik als tapfere Kämpfer und moralische Sieger dastanden. In der vergangenen Woche sah es ganz so aus, als sei in München eine Neuauflage des bewährten Schauspiels zu bestaunen: Eberhard Witt, 54 und seit gut sechs Jahren auf dem einst von Baumbauer belegten Intendantenposten, schmiss entnervt den Kram hin: Er sei sich sicher, „dass ich künftig nicht * Residenztheater, Nationaltheater. mehr so frei und unabhängig arbeiten kann wie bisher“. Die Schurkenrolle fiel, na klar, mal wieder den üblichen Verdächtigen zu – den Beton- und Bierköpfen von der CSU. Nur: Diesmal hatte es weder auf einer der drei Staatsschauspielbühnen – Residenztheater, Cuvilliéstheater und Marstall – einen Eklat gegeben noch auf irgendwelchen Rednertribünen. Und, noch verwirrender: Witts Dienstherr, Bayerns CSUKunstminister Hans Zehetmair, 63, beteuerte fast verzweifelt, dass er Witt „in seine künstlerische Freiheit nie reingeredet“ habe. Der nun im Sommer 2001 (statt, wie ursprünglich vereinbart, zwei Jahre später) scheidende Intendant bescheinigte seinem Noch-Chef, er habe Zehetmair in sechseinhalb Jahren nur dreimal im Theater gesehen, prinzipiell aber sei der CSU-Mann „ein ganz wunderbarer Kultusminister“. FOTOS: W. RABANUS I N T E N DA N T E N Theatermacher Schweeger, Witt Genervt von „jahrelanger Piesackerei“ Ja, was nun? War die „Bombe am Bayerischen Staatsschauspiel“ (Münchner „Abendzeitung“) irrtümlich gezündet worden? Der Anlass für Witts Rücktrittsgesuch, das Zehetmair bereits akzeptiert hat, erscheint tatsächlich mickrig. Der Intendant wurde, sagt er, bei zwei wichtigen Einstellungen monatelang hingehalten. „Wenn man nicht mal mehr einen Dienstvertrag fristgerecht hinkriegt, kann man kein Theater leiten.“ In Zehetmairs Ministerium bestreitet man die Verschleppungsschikane. Die von Witt vergangenen Dezember angekündigten Vertragsentwürfe seien erst im Juli in Münchner Staatsbühnen*: Seltener Besuch vom Dienstherrn 310 d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 Zehetmairs Amtsstube am Münchner Salvatorplatz eingegangen, von wo man sie unverzüglich (und unterzeichnet) ins kaum 500 Meter entfernte Staatstheater zurückexpediert habe. Als sie dort ankamen, hatte Witt bereits seine Demission eingereicht, nicht zum ersten Mal, wie Zehetmairs Sprecher Toni Schmid spöttisch anmerkt: „Weil es der Minister ein bisserl leid war, bald im wöchentlichen Rhythmus Rücktrittsbriefe vom Intendanten zu bekommen, hat er das Gesuch diesmal angenommen.“ In Wahrheit hat der Zwist wohl mit unterschiedlichen Vorstellungen von Theaterkunst zu tun. Witt berichtet von „jahrelanger Piesackerei“ durch Ministeriumsbeamte. In seiner bisherigen Amtszeit hatte der Intendant geschickt den Spagat zwischen gefällig-konservativen Inszenierungen und ein paar radikaleren Ausflügen geübt. Im Vergleich zum anderen großen Münchner Sprechtheater, den städtischen Kammerspielen, wo der penible Textbefrager Dieter Dorn das Regiment führt, erschien Witt schon damit vielen bayerischen Kulturwächtern als waghalsiger Neuerer. Seit Anfang des Jahres aber steht fest, dass Dorn in den Kammerspielen 2001 abtreten muss; sein Nachfolger ist der einst von der CSU aus dem Staatstheater verjagte Frank Baumbauer, 54, derzeit noch Leiter des Hamburger Schauspielhauses. Er gilt als Förderer eines ungestümen, wenig textgläubigen Gegenwartstheaters – und dem wollte Witt nun noch wildere Theaterkunst entgegensetzen. Die Neubesetzungen, die Witt erst spät durchbringen konnte, sind die Position der Chefdramaturgin Elisabeth Schweeger und des künstlerischen Direktors Ulrich Wessel. Die Österreicherin Schweeger, 45, hat bisher unter Witts Obhut die Staatsbühne im Marstall mit Avantgarde-Spektakeln bespielt. Dass sie nun auch in den beiden großen Häusern das Sagen hat, lässt das „Welt“-Feuilleton erschauern, bei ihr erhielten „Schein-Innovationen nur durch den Kommentar ihre Wichtigkeit“, und in diesem Kommentar sei viel zu oft „von Politik die Rede“. Schweeger hält sich zwar für „keine bequeme Person“, trotzdem sei sie keine Revoluzzerin, „die gegen das System kämpft – ich arbeite aus dem System heraus“. Auch das klingt immer noch gefährlich nach Systemveränderung, weshalb viele in München nun aufatmen, dass die Schweeger mit Witt 2001 ihren Platz räumt. Als Wunschkandidat für den Intendantenjob im Staatsschauspiel wurde vergangene Woche schon mal Dieter Dorn, 63, genannt. Den aber kann sich nicht mal Zehetmair-Sprecher Schmid auf diesem Posten vorstellen: „Der Minister schätzt Dorn“, sagt er, „aber von den Kammerspielen ins Staatstheater – das ist, als würde einer mitten im Dreißigjährigen Krieg die Religion wechseln.“ Wolfgang Höbel Werbeseite Werbeseite K. RUGE Kultur Neutöner Boulez: „Die Avantgarde-Müdigkeit ist vor allem Schuld der Interpreten, die im Gewerbe den Ton angeben“ S P I E G E L - G E S P R ÄC H „Man spielt gern den wilden Hund“ Der Avantgardist Pierre Boulez über Bayreuth, die Berliner Philharmoniker und die Chancen der Neuen Musik im nächsten Jahrhundert Der französische Komponist und Dirigent Pierre Boulez, 74, gehört zu den international erfolg- und einflussreichsten Vertretern der modernen Tonkunst. SPIEGEL: Herr Boulez, vor 32 Jahren haben Sie im SPIEGEL gefordert, alle Opernhäuser in die Luft zu sprengen. Ihr SprengSatz erschütterte damals die gesamte Szene. Seitdem waren Sie in Bayreuth tätig, haben die herrschaftlichen Wiener Philharmoniker dirigiert, auf Schallplatte Musik von Richard Strauss aufgenommen und ganz offenbar Ihren Frieden mit dem Betrieb gemacht. War Ihre Bombe von 1967 ein Blindgänger oder Ihr Pulver nass? Boulez: Genau gesehen habe ich damals gesagt, die Sprengung der Opernhäuser sei die eleganteste Lösung, um die Routine loszuwerden. Natürlich war das eher humorvoll gemeint, wurde aber komischerweise oft wörtlich genommen. Was ich da312 mals sagen wollte und bis heute für richtig halte: Wenn man an den Institutionen etwas ändern will, muss man in sie hineingehen und von innen wirken. SPIEGEL: Aber Ihr damaliger Überdruss an den puffigen Musiktheatern und ihren muffigen Spielplänen war doch ernst und böse. Boulez: Natürlich. Aber wenn man jung ist, spielt man gern den wilden Hund und kläfft draußen wüst herum. Wenn man reifer wird, sollte man nicht mehr draußen bellen, sondern drinnen handeln. SPIEGEL: Sind denn nach Ihrer Beobachtung die Opernhäuser inzwischen offener, die Orchester beweglicher und die Zuhörer aufgeweckter geworden? Boulez: Ja, keine Frage. Wenn ich zum Beispiel nächstes Jahr mit dem London Symphony Orchestra auf Tournee gehe und nur Programme mit Musik des 20. Jahrhunderts dirigiere, dann ist das, kommerziell gesehen, natürlich ein großes Risiko. Aber d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 das Orchester nimmt das Wagnis auf sich, und ich hoffe, dass das Publikum es auch annehmen wird. SPIEGEL: Nun eignet sich Boulez als Heiliger der Avantgarde aber auch als ideale Galionsfigur für so ein Unternehmen. Boulez: Abgesehen von der Heiligsprechung mögen Sie Recht haben. Jedenfalls sehe ich für mich als Dirigent darin eine Mission. Ich muss nicht unbedingt „Tosca“ oder Tschaikowski dirigieren, das machen andere oft genug. Doch Webern, Schönberg, Strawinski aufzuführen empfinde ich immer noch als notwendig und nützlich. SPIEGEL: Aber Richard Strauss unter dem Dirigenten Boulez scheint uns weder notwendig noch nützlich. Boulez: Neugier ist eine der wichtigsten Triebfedern meiner Arbeit. Und von Strauss hat mich „Also sprach Zarathustra“, vor allem der Anfang, schon immer sehr interessiert. Also habe ich das Werk di- Werbeseite Werbeseite rigiert – auch wenn manche die Nase rümpften. SPIEGEL: Ihr Kollege Karlheinz Stockhausen hat jüngst mal wieder gegen die „totale Popularisierung“ des Musikbetriebs gewettert. Gehen Sie d’accord mit ihm? Boulez: Stockhausen lebt hauptsächlich in seiner Welt. Die komplexen Probleme des täglichen Musiklebens sieht er mit einem gewissen Abstand. Die „Popularisierung“ ist vielleicht eine falsche Antwort auf eine richtige Frage. SPIEGEL: Aber hat Stockhausen nicht doch Recht, wenn er die Passivität des Betriebs gegenüber den Zeitgenossen anprangert? Boulez: Sicher hat er Recht. Nur ist die Avantgarde-Müdigkeit des Betriebs in Wahrheit vor allem Schuld der Interpreten, die im Gewerbe den Ton angeben und sich nur glänzend vermarkten wollen. Die haben einfach Angst, weil sie im zeitgenössischen Repertoire nicht kultiviert genug sind. Sie gehen auf Nummer Sicher, und das bedeutet: lieber einen Beethoven- als einen Schönberg-Abend. In Paris sehe ich Massen von Plakaten mit Klavier-Recitals. Und was spielen die Pianisten? Chopin, Chopin, Chopin. SPIEGEL: Mögen Sie Chopin nicht? Boulez: Doch, doch. Er ist ein großer Komponist und konnte glänzend für Klavier schreiben. Aber das ist 150 Jahre her, und seitdem ist viel große Literatur für Klavier entstanden. Man muss nur zugreifen. „Ring des Nibelungen“ in Bayreuth (1976): „Ich hatte zeitweise den Eindruck, vor und hinter mir SPIEGEL: Jetzt, kurz vor der Jahrhundert- wende, bricht der etablierte, tradierte Musikbetrieb immer öfter auf. Die Berliner Philharmoniker beispielsweise gerieten jüngst unter Beschuss, weil sie im nächsten Sommer erstmals live mit der Rockband Scorpions auftreten wollen. Ist so was ein Zeichen von Kulturverfall? Boulez: Mon Dieu, lasst sie doch machen, wenn sie Spaß daran haben! Die Rockmusik mit ihrer rhythmischen Kraft und ihrer musikalischen Energie kann äußerst belebend wirken, und ich möchte nicht ausschließen, dass die Philharmoniker von diesem Abenteuer letztlich auch für ihre normale Arbeit profitieren. SPIEGEL: Wird Beethoven in Berlin künftig rockig klingen? Boulez: Vielleicht wird er ein wenig anders und aufregender sein. Ich finde es jedenfalls nicht gut, wenn wir uns zu ernst nehmen und arrogant über andere Bereiche herfallen. Ich habe ja auch mit Frank Zappa gemeinsam gearbeitet.Viele fanden das schrecklich, ich fand es gut und amüsant und interessant. Ich wollte und will nie hochnäsig sein. Es muss nicht jeden Abend so genannte große Kunst entstehen. Rock und Pop sind immerhin reale und vitale Ausdrucksformen unserer Zeit, sie sind Musik der Aktualität. SPIEGEL: Ein Hauptproblem der zeitgenössischen E-Musik besteht darin, dass sie fast Kultur entweder völlig rückwärts orientiert oder überhaupt nicht mehr vorhanden ist. SPIEGEL: Und wie soll sich diese Musikkultur wieder bilden? Boulez: Man muss dafür arbeiten, schon früh, in den Schulen. Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Ich habe neulich in der Pariser Cité de la Musique vor Abiturienten eineinhalb Stunden lang eine Analyse von Weberns „Fünf Stücken für Orchester“ vorgetragen, alles mit Beispielen. Sie hätten eine Stecknadel fallen hören können, so konzentriert haben die Schüler das verfolgt. Ich glaube, die fanden das regelrecht spannend. SPIEGEL: Also muss man Neue Musik doch lernen und darf nicht einfach genießen? Boulez: Bedenken Sie: Man kann nur genießen, wenn man gelernt hat und versteht. SPIEGEL: Darf ein Komponist mit den Erwartungen des Publikums kokettieren? Boulez: Ich glaube nicht. Als Komponist müssen Sie sich treu bleiben, und jede Koketterie mit dem Geschmack anderer gefährdet Ihre persönliche Integrität. SPIEGEL: Herr Boulez, an neuen Opern ist kein Mangel. Auch Sie haben seit Jahrzehnten ein Stück fürs Musiktheater angekündigt, aber bis heute nicht geliefert. Weil sich die Gattung überlebt hat? Boulez: Dass immer wieder neue Opern entstehen, beweist, dass sie sich nicht überlebt hat. Ich habe mit meinem Opernpro- jekt einfach doppeltes Pech gehabt. Erst war ich mit Jean Genet … SPIEGEL: … dem schillernden französischen Poeten … Boulez: … auf ein gemeinsames Projekt verabredet, und mitten in der Vorarbeit starb Genet; dann wollte ich mit Heiner Müller etwas machen, und drei Monate, bevor wir uns zur Detailbesprechung treffen konnten, starb auch er. SPIEGEL: Ist das Ganze damit begraben? Boulez: Sicher nicht. Andererseits habe ich auch keine besondere Lust, eine Oper zu komponieren mit der üblichen Raumtei- M. GÄBLER / PUNCTUM S. LAUTERWASSER / BAYREUTHER FESTSPIELE immer gegen das große Publikum durchgesetzt werden muss. Mozart dagegen schrieb, wenn auch auf höchstem Niveau, stets auch für den Massengeschmack. Was konnte er, was die heutigen Neutöner à la Boulez nicht können? Boulez: Das gegenwärtige Publikum ist ungleich größer und soziologisch vielfältiger geschichtet als das des Rokoko. Hätte Mozart seine „Così sei der Mob los“ fan tutte“ zum Beispiel auf einem Bauernhof dargeboten, hätten, so nehme ich an, die Zuhörer völlig ratlos reagiert. Wenn er, wie Sie sagen, den Massengeschmack traf, dann war diese Masse ein erlesener Zirkel von hohem Kunstverstand. SPIEGEL: Wollen Sie bestreiten, dass viele zeitgenössische Kompositionen vom Zuhörer eine intellektuelle Arbeit und gedankliche Aufgeschlossenheit verlangen, die dieser offenbar nicht leisten will oder kann? Boulez: Ich kenne dieses Argument, die Stücke seien „zu hoch“. Falsch. Das Problem liegt nicht bei den Komponisten, sondern in der allgemeinen Musikkultur, die Komponist Stockhausen „Falsche Antwort auf richtige Frage“ Kultur K. RUGE CAMHI / STILLS / STUDIO X lung Bühne, Orchestergraben, Publikum. Boulez: Ja, aber ich habe es aus demselben Die Schauspielregisseure haben manchmal Grunde nicht getan. schon ganz andere Lösungen gefunden. SPIEGEL: Vor Jahren haben Sie einmal SPIEGEL: 1976 haben Sie, zusammen mit gerügt, dass Deutschland – das Land der dem Regisseur Patrice Chéreau, in Bay- Dichter und Denker, wie Sie süffisant sagreuth den so genannten Jahrhundert- ten – keinen Kulturminister habe. Nun ha„Ring“ herausgebracht – erst ein Skan- ben wir Michael Naumann. Welchen Rat dal, dann ein Triumph. Wie beurteilen würden Sie – der Franzose mit deutschem Zweitwohnsitz – ihm geben? Sie den Eklat nach 23 Jahren? Boulez: Es war eines der Boulez: Ich kenne Herrn furchtbarsten Erlebnisse Naumann nicht. Ich denmeines Lebens. Dieser Terke, er sollte sich auf ror des Publikums und des die wirklich großen, naOrchesters! Ich hatte im tionalen Institutionen und Orchestergraben zeitweise Ereignisse beschränken und den Eindruck, vor und hinum Gottes willen nicht ter mir sei der Mob los. die Souveränität der einzelnen Länder antasten SPIEGEL: Stimmt es eigentoder beschneiden. Was in lich, dass das Orchester daden verschiedenen Länmals vorsätzlich falsch gedern geleistet und ermögspielt hat? licht wird, ist das größBoulez: Mehrere Musiker te Kapital des deutschen wollten beweisen, dass ich Kulturlebens. Da sage ich den „Ring“ nicht dirigieren als Kenner des französikönnte. Deswegen spielten schen Zentralismus bloß: sie, wenn nicht buchstäblich Boulez-Kollege Zappa Hände weg! falsch, so doch dem entgegen, was ich verlangt hatte. Schon die Pro- SPIEGEL: Wenige Wochen vor der großen ben waren eine Qual; und als dann bei der Kalenderwende stellt sich die Frage nach Premiere, am Anfang des dritten Akts den Chancen der Neuen Musik im nächs„Götterdämmerung“, im Zuschauerraum ten Jahrhundert. Wird sie sich durchsetzen auch noch der Chor der Trillerpfeifen ein- und klassisch werden? setzte, wollte ich endgültig hinschmeißen. Boulez: Ach, ich bin kein Prophet. Aber ich wette, dass sie unentbehrlicher und daSPIEGEL: Und warum haben Sie gezögert? Boulez: Weil das genau die Reaktion gewe- mit selbstverständlicher Teil des Repersen wäre, die meine reaktionären Gegner toires wird, weil Interpreten und Publierhofften. Den Gefallen wollte ich ihnen kum an Kenntnis gewinnen und damit Scheu, Vorbehalte und Vorurteile verlienicht tun. So habe ich durchgehalten. SPIEGEL: Hatten Sie im Festspielleiter Wolf- ren werden. gang Wagner eine Stütze bei der Randale? SPIEGEL: Welche Neutöner schaffen den Boulez: Unbedingt. In meiner damaligen Sprung ins nächste Millennium? Situation hat er sich mustergültig verhalten Boulez: Ganz sicher Strawinski, Schönberg, und sogar alle Störenfriede im Orchester Webern, Berg und Bartók. ersetzt. Ein Jahr später waren da viele neue SPIEGEL: Und von den Lebenden? Gesichter, und es wurde dadurch ein ganz Boulez: Ich denke an die so genannte anderes Arbeiten. Darmstädter Gruppe, an Stockhausen, LiSPIEGEL: Sitzen Ihnen der Schreck und der geti, Kurtág, Berio, Kagel; vermutlich auch Schock noch immer in den Knochen? Ist noch ein paar andere. Bayreuth deshalb für Sie endgültig passé? SPIEGEL: Und Boulez? Boulez: Die schreckliche Erfahrung von ’76 Boulez: Der wahrscheinlich auch; wer weiß? kann ich nicht einfach abschütteln, sie SPIEGEL: Herr Boulez, wir danken Ihnen gehört für mich unweigerlich zu Bayreuth. für dieses Gespräch. Aber dass ich dort wohl nie mehr dirigieren werde, hängt mit meinem Alter und meiner knapper werdenden Zeit zusammen. Ich kann es mir nicht mehr leisten, drei Monate eines Sommers der Arbeit an einer Oper zu widmen. SPIEGEL: Hätten Sie später gern Chéreaus Salzburger „Don Giovanni“ dirigiert? * Mit Redakteur Klaus Umbach in der Kölner Philharmonie. Boulez beim SPIEGEL-Gespräch*: „Nie hochnäsig sein“ 316 d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite FOTOS: J. RÖTTGER / VISUM Großskulptur „Perfect World“, Künstler Rhoades: Huldigung an den Strippenzieher der Avantgarde KUNST Ein Paradies mit Abgründen In den Hamburger Deichtorhallen baut Jason Rhoades, Star der internationalen Szene, an einer „Perfekten Welt“ nach dem Vorbild des väterlichen Gemüsegartens. E ine ganze Welt-Schöpfung hat sich der Künstler ausgedacht, und gern spricht er darüber im Tempus der Vergangenheit: „Ich machte sie in sechs Teilen, und den siebten Teil ließ ich einfach weg.“ Also: Wohlgefallen, Feiertagsruhe? Von wegen. Geschäftig läuft der Amerikaner Jason Rhoades, 34, auch nach der Ausstellungseröffnung noch mit ausholenden Schritten durch die südliche Hamburger Deichtorhalle. Hier hat er einen großen Druckcomputer zu überwachen, dort eine Maschine zu bedienen, die lange Metallstangen kreischend auf Hochglanz poliert. Dann schwingt er sich auf eine höhere Ebene empor und puzzelt da an einem Klebebild. Fertig, mit einem letzten Handschlag abgeschlossen, wird diese von Rhoades so genannte Perfect World noch lange nicht, möglicherweise nie. Jedenfalls soll das Publikum sie als Millennium-Work in Progress buchstäblich ins Jahr 2000 hineinwachsen sehen (bis 5. März). Schließlich wird daraus laut Deichtorhallen-Mitteilung die „wohl größte Innenskulptur, die jemals gebaut wurde“. Der Dschungel silbriger Pfosten, durch den Besucher sich vorankämpfen müssen, soll auf 1500 Quadratmeter anwachsen. 5,20 Meter hoch liegt die Plattform, durch deren Löcher und Spalten man sporadisch Leute bei der Arbeit erblickt – mit ein bisschen 320 Glück den Künstler selbst. Aber nur zwei ruckelnde Fahrstuhlkörbe für je eine Person stehen zu einer Vogelschau auf das bereit, was Rhoades da eigentlich treibt. Er verpflanzt den biblischen Mythos von Sechstagewerk und Paradies ungeniert in die eigene Kindheit zurück. Genauer: Er schafft, als Foto-Faksimile, den Garten seines Vaters in Kalifornien nach. Stück für Stück hat er im Sommer Gurken, Bohnen, Mais und reichlich sprießendes Unkraut aus Augenhöhe abgelichtet. Nun druckt der Computer die Naturmotive im Lebensmaßstab aus, und Rhoades klebt sie, wie zu einem Satellitenbild, zur artifiziellen „Perfect World“ zusammen. Solche Großbastelei sieht ihm ähnlich. Manisch verkoppelt er seit Jahren Widersprüche: Privates und Öffentliches, Konsum und Mythen, Pornografie und Kunstgeschichte, Autorennen und Esoterik. Aus Warenhäusern und von Heimwerkermärkten schleppt er rastlos Einkäufe heran und ordnet sie genialisch zu wuchernden, farbigen Assemblagen, in denen es gern auch flimmern, tuten und qualmen darf. Und während Kritiker noch streiten, ob sie ihm „künstlich aufgeblasene Oberflächlichkeit“ attestieren sollen oder „erstaunlichen Sinnreichtum“, eilt der Künstler bereits weiter, etwa von Biennale zu Biennale (New York, Lyon, Venedig). Auf der internationalen Szene der neunziger Jahre ist er mit gutem Grund ein Topstar. Seine dicken Autos – daheim ein Ferrari, in Europa ein Chevrolet Impala – ständen ihm also schon als Statussymbole zu, doch für ihn sind sie mehr: Skulpturen unterwegs, Verkörperungen rastlosen Ortsund Perspektivenwechsels. Er liebt den raschen Blick des Autofahrers aus den Augenwinkeln, für den die Dinge verschwimmen. Recht so: Der Sog der Akkumulation ist Rhoades’ Stärke, nicht die Feinjustierung plastischer Werte. Die ändern sich sowieso von einer Schau-Station zur nächsten. Folgerichtig hat Rhoades voriges Jahr zu seid e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 ner Rück-Schau in der Nürnberger Kunsthalle sieben ältere Installationen aus sieben Schaffensjahren in den „sieben Mägen“ alias Räumen des Hauses neu verdaut und ineinander verwurstet – als „Teil des Schöpfungsmythos“. Auf den greift er in Hamburg nun ausdrücklich zurück, nur weniger kraus, als er gewöhnlich vorgeht. Unter der lampenbestückten Hallenkuppel, die ein Sternenzelt darstellen könnte (oder, so Rhoades, eine „große Titte“), scheint die „Perfekte Welt“ an den Garten Eden anzudocken, aber auch an die Hängenden Gärten der Semiramis und an fliegende Teppiche auf großer Fahrt. Diskreter spielt sie mit erlauchten Beispielen der Kunstgeschichte. So erinnert Rhoades mit seinem Stangen-Labyrinth an jene „Meile Bindfaden“, die Avantgarden-Heros Marcel Duchamp 1942 kreuz und quer durch eine New Yorker Surrealistenausstellung spannte. Der aufwendig herauspolierte Silberglanz huldigt obendrein dem Bildhauer-Perfektionisten Constantin Brancusi. Vorsicht: Stolpergefahr! Während Duchamp Kinderspiele in der Galerie anregte (und der Eröffnung fernblieb), müssen Rhoades und seine Helfer selbst auf der Hut sein. Denn ihr aus Dreiecksplatten zusammengesetzter Garten Eden hat kein Geländer, doch bedrohliche Klüfte. Wer hinunterfällt, erlebt einen wahren SündenFall und bricht sich leicht den Hals. Plastikschlangen winden sich halbhoch durchs Gerüst; unten liegen schlaffe Puppen herum wie Abgestürzte. Wohlweislich wird dringend empfohlen, sich anzuseilen. Dabei denkt Rhoades sogar schon wieder an Demontage. Gern würde er nach dem Prinzip, dass alles weiter- und ineinander wächst, für eine Ausstellung der Kunsthalle Bremen im Dezember ein paar Stücke „Perfect World“ abzweigen. Nur schwant ihm, Deichtorhallen-Chef Zdenek Felix würde „wohl die Tür verrammeln“. Jürgen Hohmeyer Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite K. MAZUR / CORBIS SYGMA Kultur Gitarren-Wunder Clapton: Niemand konnte so über die Saiten rasen POP Abschied von der Sucht In den sechziger Jahren wurde der englische Gitarrist Eric Clapton zum Superstar. Nach harten Abstürzen präsentiert er jetzt eine Best-of-CD und bekennt sich zum Blues. Legenden Hendrix, Clapton (1967) Die Rolle des Gitarristen neu definiert 324 Er spielt selber am liebsten Blues, selbstverständlich: Der Brite Eric Patrick Clapp, bekannt als Eric Clapton, ist einer der letzten überlebenden GitarrenHeroen der sechziger Jahre. Und um seinen Nimbus als Herr der Saiten zu wahren, hat seine Plattenfirma nun wieder einmal eine „Best of“-CD herausgebracht. „Clapton Chronicles – The Best of Eric Clapton“ heißt sie und enthält neben zwei neuen Songs, die als Single ausgekoppelt werden, seine Hits aus den achtziger und neunziger Jahren. Die aller- SCHMITZ / REX FEATURES W enn Gott ein Restaurant betritt, fällt er auf: unrasiert, schwarze Jeans, Sweatshirt, Turnschuhe, auf dem Rücken ein Rucksack – wie ein falscher Ton zwischen den auf Dunkelblau eingestimmten Anzugmännern, die sich im Londoner „Bluebird“ zum Business-Lunch treffen. Aber Gott – so nennt die Pop-Szene die lebende Gitarren-Legende Eric Clapton – merkt kaum, dass seine Tischnachbarn über nichts anderes als über das Thema Geld sprechen. Clapton hört und sieht weg: Er redet über Musik und nichts anderes. „Pop hat keine Substanz“, schimpft er, „das ist Musik für Kinder, egal wie alt diese Kinder sind.“ Blues dagegen, ja, Blues sei etwas ganz anderes. Aus ihm klinge Alter und Lebensweisheit, von Generation zu Generation gesammelt, vertieft und respektvoll weitergegeben. Muddy Waters klang schon alt, als er noch ein junger Mann war. Er hatte den Blues von alten Männern gelernt. „Blues ist die Musik für Erwachsene“, sagt Clapton. Dann muss es wohl so sein. dings sind kein Blues, sondern Rock und Balladen. Aber schließlich hat ja die Plattenfirma die Auswahl getroffen. „Meine besten Stücke aus 20 Jahren? “, sagt Clapton, 54, „Unsinn!“ Was heißt „Best of“ auch schon, wenn man so viele Songs geschrieben hat, dass man sich selbst nicht mehr an alle erinnern kann? Clapton jedenfalls hat längst neue Lieder im Kopf, Anfang nächsten Jahres will er mit dem Bluesgitarristen B. B. King ins Studio gehen und ein paar Duette aufnehmen. Anschließend plant er, eine Soloplatte zu machen – und zwar so solo, dass er alle Instrumente selbst spielen wird. Das hat Clapton nämlich noch nie gemacht, und es ist schwer, nach vier Jahrzehnten Musik irgendetwas zum ersten Mal zu tun. Vor 40 Jahren hielt Clapton seine erste Gitarre in den Händen und wusste sofort: Das ist es. Es bleibt eine offene Frage, ob es ein angeborenes musikalisches Talent gibt oder nur antrainiertes musikalisches Können. Claptons Geschichte allerdings spricht für die Vererbungstheorie. Der Vater, den Clapton nie kennen gelernt hat, war Pianist. Blues und Rock’n’Roll faszinierten den 14-jährigen Clapton. Er hörte die Platten von Männern des amerikanischen Blues wie Robert Johnson, Big Bill Broonzy oder Muddy Waters, aber auch von Rock’n’Rollern wie Buddy Holly. Weil er auch so spielen wollte, übte Clapton wie ein Besessener. Er war ein schüchterner Teenager, aber eben hochmusikalisch. Nach kurzem konnte er deshalb mit Londoner Rhythm-and-Blues-Truppen in kleinen Lokalen auftreten. Mit den Yardbirds bestritt Clapton 1963 seine erste Plattenaufnahme: „Honey in Your Hips“. Und schon da war zu hören, was ihn von anderen Gitarristen unterschied: Niemand konnte bei den Soli so über die Saiten rasen wie er. „Slowhand“ – so wurde er dafür schon bald, ironisch, gefeiert. Clapton spielte eine Zeit lang mit John Mayall, dem Mentor des jungen und weißen britischen Blues. Der große Karrieresprung kam 1966. Damals gründete er mit Jack Bruce und Ginger Baker eine Band, die weltweit Furore machte: Cream. Jedes Lied ein Solo, mächtiger Gitarren-Sound, technische Brillanz – das sind seitdem die Zielvorgaben für Rockgitarristen. „Clapton ist Gott“, sprühten Fans damals auf Londoner Häuserwände. Clapton hatte nur einen einzigen Rivalen: Jimi Hendrix. Der war nicht so schnell, aber er hatte geniale Einfälle. Beide zusammen definierten mit ihrem Spiel die Rolle des Gitarristen neu, der bis dahin meist im Hintergrund vor sich hin geschrummelt hatte. Auf einmal stand der Mann mit der Gitarre neben dem Sänger in der ersten Reihe und durfte mit endlosen Soli das enthusiasmierte Publikum traktieren. Bis heute sind Gitarrensoli fester Bestandteil des Rock.Vielleicht war Werbeseite Werbeseite 326 d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 Clapton verabschiedete sich von den Rauschgiften in drei Phasen. Die ersten vier, fünf Jahre hat er dem wilden, freien Drogenleben nachgetrauert. In den nächsten fünf Jahren schuf er sich einen beständigen Alltag, an dem er sich festhalten konnte, sich aber oft leer und deprimiert fühlte. Heute hat er einen neuen Zugang zur Welt gefunden: „Mein Leben ist so intensiv und aufregend.“ Von seinen Kollegen, die er seit den sechziger Jahren kennt, sieht Clapton nur noch Paul McCartney und George Harrison gelegentlich, ansonsten hat er sich einen Bekanntenkreis fernab vom Musikgeschäft zugelegt. Sein bester Freund verlegt Bücher. Selbst die Libido lässt dem früher zwanghaften Womanizer mehr Ruhe. Über tausend Frauen habe er gehabt, protzte er einst in seinen wilden Tagen. Zu seinen Freundinnen und Geliebten zählten Michelle Pfeiffer, Naomi Campbell, Sharon Stone und Sheryl Crow. Derzeit hat er keine feste Beziehung und hält es durchaus mal ein halbes Jahr ohne Sex aus. Es wäre falsch, sich Eric Clapton als glücklichen, in sich ruhenden Menschen vorzustellen. Vor über acht Jahren stürzte sein vierjähriger Sohn Conor in New York aus dem 53. Stock des Hauses, in dem dieser mit seiner Mutter lebte – ein zutiefst traumatisierender Verlust für den Vater. Als wollte er das romantische Bild des Künstlers bestätigen, der durch einsames Leiden Geniales schafft, inspirierte ihn seine Trauer zu dem höchst erfolgreichen Song „Tears in Heaven“. Im letzten Jahr hat Clapton auf der Karibikinsel Antigua, auf der er auch ein Haus besitzt, das „Crossroads Centre“ eröffnet. In der Drogentherapie-Klinik müssen zwei Drittel der Patienten bezahlen, ein Drittel – vorzugsweise Einheimische – werden umsonst behandelt. Um das gemeinnützige Projekt zu finanzieren, ließ er bei Christie’s in New York hundert Gitarren aus seiner exklusiven Sammlung versteigern und nahm mehr als fünf Millionen Dollar ein. Anderen zu helfen sei Teil der eigenen Therapie, sagt Clapton. Er verbringt seine Zeit lieber auf der Urlaubsinsel als in London, wo die Leute von einem Trend zum nächsten jagen, wo er allerdings auch ein Haus besitzt – in einer Seitenstraße der King’s Road, des mit edlen Läden und Cafés gesäumten Boulevards von Chelsea. „Es ist dreckig, irrsinnig teuer“, klagt er und blickt in den gräulichen Himmel: „Das Wetter ist noch miserabler als sein Ruf.“ Und für den Blues ist es in London viel zu laut. S. CLARKE / REX FEATURES R. YOUNG / REX FEATURES Cream zu genialisch-chaotischkreativ, um lange halten zu können. Nach zweieinhalb Jahren brach die Band auseinander. Clapton gründete Blind Faith und schließlich Derek and the Dominos. Deren im Jahr 1970 erschienenes Album „Layla and Other Assorted Love Songs“ ist ihm bis heute eigentlich die liebste unter all den Platten, die er gemacht hat. „Das Album hat eine unglaubliche Atmosphäre, die aus der Euphorie dieser Zeit herrührt“, sagt Clapton. „Wir waren verrückt drauf und begannen auch heftig mit Drinks und Drogen herumzuspielen.“ Clapton, damals 25, war mit wilder Haarpracht und rosa Stiefeln eine illustre Ikone des Swinging London – und der begehr- Clapton, Sohn Conor (1990) teste Gitarrist des Rock-Kosmos. Von der Trauer zum Hit inspiriert Nach dem Tod von Brian Jones hatte ihn Mick Jagger gefragt, ob er bei vor sechs Jahren mit den Zigaretten aufden Rolling Stones einsteigen wollte. hörte“, erzählt er, „fing ich an, zwanghaft Clapton sagte ab, er wollte lieber seine ei- Süßigkeiten in mich reinzustopfen.“ genen Projekte verfolgen. Er spielte mit Die Psychotherapie wäre nicht vollAretha Franklin, Bob Dylan, John Len- ständig gewesen, hätte Clapton nicht non oder George Harrison. Er profilierte Nachforschungen in den Abgründen seisich als Sänger, was Mick Jagger nie zu- ner Seele angestellt. Die Ursachen für seigelassen hätte. Und er schrieb immer ne Flucht in die Sucht sieht er daher heumehr Songs. te in „mangelndem Selbstbewusstsein und Die Zahl der Konzerte, die er seit den einer Familie, die nicht funktionierte“. frühen sechziger Jahren gegeben hat, kann Clapton erfuhr erst mit zwölf Jahren, Clapton auf „tausende“ schätzen. Ein dass seine vermeintlichen Eltern in Wahrpaar wenige Auftritte sind ihm dennoch heit seine Großeltern waren und dass besonders in Erinnerung geblieben: ein sich seine Mutter als seine angebliche Cream-Konzert in Philadelphia 1968; das ältere Schwester ausgegeben hatte. Erst von George Harrison initiierte „Concert vor anderthalb Jahren fand ein kanadifor Bangla Desh“ in New York 1971, ob- scher Journalist heraus, dass Claptons inwohl er sehr stoned auf der Bühne stand. zwischen verstorbener kanadischer Vater Sex and Drugs and Rock’n’Roll – nicht – wie in der Familie kolportiert wurClapton hat diese seit den sechziger Jah- de – ein konservativer Banker gewesen ren mystifizierte Dreifaltigkeit tatsächlich war, sondern ein herumvagabundierengelebt: zahllose Tourneen, zahllose Grou- der Pianist, der mit mindestens vier Ehepies, zahllose Partys. Und, vor allem, frauen zusammengelebt und drei Kinder zahllose Drogen. Als Teenager schluckte hinterlassen hatte. Clapton zum ersten Mal Speed, später nahm er LSD, Kokain und Heroin, und wenn er nicht über die Gitarrensaiten wirbelte, hatte er einen Joint in der Hand. Er schaffte es 1973, von den illegalen Drogen wieder loszukommen – aber nur, weil er sie durch legale ersetzte. Clapton schüttete mehr und mehr Alkohol in sich hinein, vorzugsweise Wodka. Mitte der achtziger Jahre musste er sich endgültig eingestehen, dass er physisch und psychisch am Ende war. Gitarre spielen konnte er trotzdem noch. Der Star schloss sich einer anonymen Selbsthilfegruppe an und begann eine Psychotherapie. Mittlerweile kann er beim Mittagessen erklären, warum er Carl Gustav Jung interessanter findet als dessen Lehrmeister Sigmund Freud. Er sei ein Suchtcharakter, sagt Clapton, der eine Clapton vor dem „Crossroads Centre“ Droge durch die nächste ersetze. „Als ich Hundert Gitarren bei Christie’s versteigert Michael Sontheimer Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite Werbeseite FOTOS: KINOWELT „eXistenZ“-Stars Law, Leigh: Auf der Flucht vor aller Welt FILM Igittigitt David Cronenberg, der kanadische Kunst-Gruselfilmer, präsentiert ein neues Rätselspiel: „eXistenZ“. B ald werden es die Spatzen, falls es dann noch welche gibt, von allen Dächern pfeifen: Unsere so genannte Realität sei eine sehr löchrige, ja illusionäre Angelegenheit; woanders sei womöglich alles besser, praller, bunter – die schärferen Autorennen, die köstlicheren Appetithappen, die exorbitanteren Orgasmen, also fast wie im Kino. Dem Film, der ja selbst eine Simulation ist, gefällt derzeit zunehmend der fliegende Welt-Wechsel, das Spiel mit der Simulation virtueller Abenteuer in alternativen Realitäten. Ihn kostet es ja auch buchstäblich nichts, nämlich nur ein Fingerschnippen, nur einen Schnitt, um vom Hölzchen aufs Stöckchen zu kommen oder von der einen Galaxie ins andere Paralleluniversum, frei und schwerelos nach der Maxime „Das Leben ist ein Videospiel“. Die Ansprüche sind gestiegen. Früher konnten kleine Mädchen einfach in einen Kaninchenbau kriechen oder in einen Brunnenschacht springen, um sich in der virtuellen Realität von Frau Holle oder der Spielkartenwelt-Simulation der Herzkönigin wieder zu finden. Von einem heutigen (nun auch nicht mehr so kleinen) Mädchen wird, damit ein solches Abenteuer in Gang kommt, mehr Einsatz verlangt. Allegra zum Beispiel – der man das kaum ansähe, da sie auf der wunderbar somnambulen Unergründlichkeit der Schauspielerin Jennifer Jason Leigh wie auf einer Wolke schwebt – ist eine geniale, umworbene, wie ein Star angehim- 330 melte Erfinderin von Simulationsspielen, die man nicht mehr altmodisch Videospiele nennen kann, weil sie direkt im Hirn des Spielers stattfinden: Er selbst ist die Spielfigur und kann sich per Knopfdruck in imaginäre Wirklichkeiten katapultieren. Das Spiel heißt angemessen anspruchsvoll „eXistenZ“, und wer dabei mitmachen will, muss sich mit einer Art Bolzenschussgerät eine Buchse in den Zentralnervenstrang der Wirbelsäule jagen lassen, wo man dann das Kabel zum Spielsteuergerät einstöpselt. Allerdings wollen Begriffe wie „Kabel“ oder „Gerät“ für dieses Zubehör kaum passen, denn sein Material ist offenbar tierischer Herkunft: Das Kabel in seiner fleischig-glitschigen Konsistenz gleicht einer Nabelschnur, das Steuerteil einer nierenartig weichen Innerei mit Knorpeln oder Nippeln, die man durch Kneten erregt. Igittigitt. Kenner sind abgebrüht; sie wissen David Cronenbergs den Ekelreflex reizende Alpträume zu goutieren; sie schätzen als Besonderheit und Stärke dieses Filmemachers gerade sein obsessives Interesse für das Filmemacher Cronenberg Faszination des Fleischlichen Fleischliche, für seidige Haut wie für schleimiges, blubberndes Gekröse oder die zarten Pastellfarben der Verwesung. Hier in „eXistenZ“ schwelgt er, ja aast er in seinem Element: Er entwirft eine Zukunftstechnologie, die nicht mit Stahl, Glas oder Kunststoffen arbeitet, sondern mit Häuten, Sehnen, Knochen und Gewebe. Von seinen Werkbänken trieft Blut. Doch diesmal ist Cronenberg als Spielerfinder mit solch erschöpfendem Übereifer bei der Sache, dass dieses „eXistenZ“Spiel in seiner ausgetüftelten und zelebrierten Morbidität letztlich nur sich selbst zur Schau stellt und darüber hinaus kein Auge öffnet und nichts zu erzählen hat. Die so genannte Story nämlich, mag sie auch mit kühnen Saltos wie auf Trampolinen auf Realitätsebenen herumhüpfen, ist ein enttäuschend schlichtes Flucht-undVerfolgungsjagd-Abenteuer. Gleich zu Beginn nämlich wird auf Allegra ein Mordanschlag verübt – angeblich von einer Guerrillabewegung „Realistischer Untergrund“, die aber vielleicht nur eine Simulation einer Konkurrenzfirma ist, deren Spiel sich „transCendenZ“ nennt –, und fortan ist die schöne kühle Allegra zusammen mit ihrem schönen kühlen Bodyguard Ted (Jude Law) vor aller Welt auf der Flucht. Zu ihren Fluchtstationen gehört eine einsame, heruntergekommene Tankstelle, deren sinistrem Betreiber man leicht zutraut, dass er in einem Hinterzimmer schwarzen Schnaps brennt oder schwarze Messen liest; sodann eine abgelegene Berghütte, wo ein postmoderner Doktor Frankenstein als Vivisekteur und Transplanteur Blut oder Hirn spritzen lässt; schließlich ein Etablissement, das als Forellenfarm und Brutstätte für doppelköpfige Salamander fungiert. Die Tiere werden zum Ausschlachten für Bauteile neuer Simulationsspiele gebraucht, und was übrig bleibt, kommt in der Firmenkantine als Spezialität des Hauses auf den Tisch. Wer Bescheid weiß, kann sich aus den abgefieselten Resten dieser Meeresfrüchte-und-Kleinechsen-Platte – also aus Schalen und Gräten, Knorpeln und Knöchelchen – eine erstklassige Pistole basteln, der ein menschlicher Backenzahn als Geschoss dient. Der Esser, der den Bau dieser hundertprozentig kompostierbaren Bio-Knarre vorführt, erschießt dann damit gleich den Kantinenkoch – wer weiß, ob der nicht ein Doppelagent des „Realistischen Untergrunds“ war, aber wer weiß auch, zu diesem Zeitpunkt, ob er das wirklich noch wissen will. Seltsam, seltsam; Cronenbergs prätentiöse Kunst-TrashKunstwelten, gefangen in Selbstbespiegelung, sind nicht so großzügig, dass in ihnen Erlösung winkte. Zusammenfassend ließe sich sagen: „eXistenZ“ ist entschieden kein Film für Vegetarier, doch auch für Kannibalen ein rechter Murks oder, weil das mehr hermacht, ein rechter mUrkS. U RS J E N NY Werbeseite Werbeseite SERVICE Leserbriefe SPIEGEL-Verlag, Brandstwiete 19, 20457 Hamburg Fax: (040) 3007-2966 E-Mail: [email protected] Fragen zu SPIEGEL-Artikeln Telefon: (040) 3007-2687 Fax: (040) 3007-2966 E-Mail: [email protected] Nachbestellung von SPIEGEL-Ausgaben Telefon: (040) 3007-2948 Fax: (040) 3007-2966 E-Mail: [email protected] Nachdruckgenehmigungen für Texte und Grafiken: Deutschland, Österreich, Schweiz: Telefon: (040) 3007-2869 Fax: (040) 3007-2966 E-Mail: [email protected] übriges Ausland: New York Times Syndication Sales, Paris Telefon: (00331) 47421711 Fax: (00331) 47428044 für Fotos: Telefon: (040) 3007-2869 Fax: (040) 3007-2966 E-Mail: [email protected] DER SPIEGEL auf CD-Rom / SPIEGEL TV-Videos Telefon: (040) 3007-2485 Fax: (040) 3007-2826 E-Mail: [email protected] Abonnenten-Service SPIEGEL-Verlag, Postfach 10 58 40, 20039 Hamburg Reise/Umzug/Ersatzheft Telefon: (040) 411488 Auskunft zum Abonnement Telefon: (040) 3007-2700 Fax: (040) 3007-2898 E-Mail: [email protected] Abonnenten-Service Schweiz: DER SPIEGEL, Postfach, 6002 Luzern, Telefon: (041) 3173399 Fax: (041) 3173389 E-Mail: [email protected] Abonnement für Blinde Deutsche Blindenstudienanstalt e. 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(030) 203875-00, Fax 203875-23; Deutschland, Kultur und Gesellschaft Tel. (030)203874-00, Fax 203874-12 B O N N Fritz-Erler-Str. 11, 53113 Bonn, Tel. (0228) 26703-0, Fax 26703-20 D R E S D E N Andreas Wassermann, Königsbrücker Straße 17, 01099 Dresden, Tel. (0351) 8020271, Fax 8020275 D Ü S S E L D O R F Georg Bönisch, Frank Dohmen, Barbara SchmidSchalenbach, Andrea Stuppe, Karlplatz 14/15, 40213 Düsseldorf, Tel. (0211) 86679-01, Fax 86679-11 E R F U R T Almut Hielscher, Löberwallgraben 8, 99096 Erfurt, Tel. (0361) 37470-0, Fax 37470-20 F R A N K F U R T A M M A I N Dietmar Pieper; Wolfgang Bittner, Felix Kurz, Christoph Pauly, Wolfgang Johannes Reuter, Wilfried Voigt, Oberlindau 80, 60323 Frankfurt am Main, Tel.(069) 9712680, Fax 97126820 H A N N O V E R Hans-Jörg Vehlewald, Rathenaustraße 12, 30159 Hannover, Tel. (0511) 36726-0, Fax 3672620 K A R L S R U H E Postfach 5669, 76038 Karlsruhe, Tel. (0721) 22737 M Ü N C H E N Dinah Deckstein, Wolfgang Krach, Heiko Martens, Bettina Musall, Stuntzstraße 16, 81677 München, Tel. (089) 4180040, Fax 41800425 S C H W E R I N Florian Gless, Spieltordamm 9, 19055 Schwerin, Tel. (0385) 5574442, Fax 569919 S T U T T G A R T Jürgen Dahlkamp, Katharinenstraße 63a, 73728 Esslingen, Tel. (0711) 3509343, Fax 3509341 REDAKTIONSVERTRETUNGEN AUSLAND B A S E L Jürg Bürgi, Spalenring 69, 4055 Basel, Tel. (004161) 2830474, Fax 2830475 B E L G R A D Renate Flottau, Teodora Drajzera 36, 11000 Belgrad, Tel. (0038111) 669987, Fax 3670356 B R Ü S S E L Dirk Koch; Winfried Didzoleit, Sylvia Schreiber, Bd. Charlemagne 45, 1000 Brüssel, Tel. (00322) 2306108, Fax 2311436 I S T A N B U L Bernhard Zand, Be≠aret Sokak No. 19/4, Ayazpa≠a, 80040 Istanbul, Tel. (0090212) 2455185, Fax 2455211 J E R U S A L E M Annette Großbongardt, 16 Mevo Hamatmid, Jerusalem Heights, Apt. 8, Jerusalem 94593, Tel. 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Schierhorn, Ekkehard Schmidt, Thomas Schmidt, Andrea Schumann-Eckert, Margret Spohn, Rainer Staudhammer, Anja Stehmann, Dr. Claudia Stodte, Stefan Storz, Rainer Szimm, Dr. Wilhelm Tappe, Dr. Eckart Teichert, Dr. Iris Timpke-Hamel, Heiner Ulrich, Hans-Jürgen Vogt, Carsten Voigt, Peter Wahle, Ursula Wamser, Peter Wetter, Andrea Wilkens, Holger Wilkop, Karl-Henning Windelbandt B Ü R O D E S H E R A U S G E B E R S Irma Nelles I N F O R M A T I O N Heinz P. Lohfeldt; Andreas M. Peets, Kirsten Wiedner, Peter Zobel K O O R D I N A T I O N Katrin Klocke L E S E R - S E R V I C E Catherine Stockinger S P I E G E L O N L I N E (im Auftrag des SPIEGEL: a + i art and information GmbH & Co.) Redaktion: Hans-Dieter Degler, Ulrich Booms N A C H R I C H T E N D I E N S T E AP, dpa, Los Angeles Times / Washington Post, New York Times, Reuters, sid, Time Nachdruck und Angebot in Lesezirkeln nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlages. Das gilt auch für die Aufnahme in elektronische Datenbanken und Mailboxes sowie für Vervielfältigungen auf CD-Rom. SPIEGEL-VERLAG RUDOLF AUGSTEIN GMBH & CO. KG Verantwortlich für Vertrieb: Ove Saffe Verantwortlich für Anzeigen: Christian Schlottau Gültige Anzeigenpreisliste Nr. 53 vom 1. Januar 1999 Postbank AG Hamburg Nr. 7137-200 BLZ 200 100 20 Druck: Gruner Druck, Itzehoe V E R L A G S L E I T U N G Fried von Bismarck M Ä R K T E U N D E R L Ö S E Werner E. Klatten G E S C H Ä F T S F Ü H R U N G Rudolf Augstein, Karl Dietrich Seikel DER SPIEGEL (USPS No. 0154-520) is published weekly. The subscription price for the USA is $310 per annum. K.O.P.: German Language Publications, Inc., 153 South Dean Street, Englewood, NJ 07631. Telephone: 1-800-457-4443. e-mail: info @ glpnews.com. Periodicals postage is paid at Englewood, NJ 07631, and at additional mailing offices. Postmaster: Send address changes to: DER SPIEGEL, German Language Publications, Inc., 153 South Dean Street, Englewood, NJ 07631. d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 Chronik MONARCHIE In einem Referendum spre- chen sich 55 Prozent der Australier dafür aus, die britische Königin Elizabeth II. als Staatsoberhaupt zu behalten. KIRCHE Während seiner Indienreise for- dert Papst Johannes Paul II. die Christianisierung des Hindu-Staates ein. SONNTAG, 7. 11. SPORT Außenminister Joschka Fischer URTEIL Die Hooligans von Lens, die 1998 den französischen Polizisten Daniel Nivel halb tot schlugen, werden wegen schwerer Körperverletzung zu Haftstrafen bis zu zehn Jahren verurteilt. MITTWOCH, 10. 11. ihren Gegenentwurf zur geplanten Gesundheitsreform der Regierungskoalition. Kernpunkt: mehr Eigenbeteiligung der Patienten. DIENSTAG, 9. 11. BERLIN In Anwesenheit von George Bush und Michail Gorbatschow begeht der Bundestag den zehnten Jahrestag des Mauerfalls. REPORTAGE „Greif zur Kamera, Genosse“ – Die DDR im Amateurfilm AMOK I Ein 15-jähriger Schüler in Meißen tötet mit 22 Messerstichen seine Geschichtslehrerin. Tatmotiv: „Hass“. MONTAG, 8. 11. GESUNDHEIT Die CDU/CSU präsentiert SPIEGEL TV Flugdatenschreiber der abgestürzten Boeing 767. AMOK II Aus verschmähter Liebe tötet ein türkischer Amokschütze in Bielefeld sieben Personen und sich selbst. die Verurteilung der ehemaligen DDRFunktionäre Krenz, Schabowski und Kleiber zu mehrjährigen Haftstrafen. MONTAG 23.00 – 23.30 UHR SAT 1 EGYPTAIR Ein Untersee-Roboter birgt den und der österreichische Rechtspopulist Jörg Haider nehmen am Marathonlauf in New York teil. Fischer belegt Platz 8928. URTEILE Der Bundesgerichtshof bestätigt SPIEGEL TV PALÄSTINA Israels Ministerpräsident Ehud Barak lässt einen Siedlungsaußenposten im besetzten Westjordanland räumen. 300 extremistische Siedler leisten erbitterten Widerstand. WIEDERGUTMACHUNG Die deutsche Indu- strie weigert sich, ihr Vier-MilliardenMark-Angebot zur Entschädigung von NS-Zwangsarbeitern zu erhöhen. US-JUSTIZ Ein Gericht in Colorado stellt wegen eines Formfehlers das Verfahren gegen den elfjährigen Raoul Wüthrich ein, der des Inzests bezichtigt wurde. SPIEGEL TV SAMSTAG, 6. 11. 6. bis 12. November Amateurfilmer (1952) Wie fast alles in der DDR war auch das Schmalfilmhobby kollektiv organisiert. Einzelamateure hatten es schwer. Filmkameras und Material waren teuer und nur selten zu haben. Ob Einblicke in sozialistische Tanz- und Nacktkörperkultur, Weihnachten bei Familie Sindermann oder heimlich gedrehte Aufnahmen vom Abriss historischer Bauwerke: Die Produkte aus fast 50 Jahren nichtoffizieller Filmerei sind nicht frei von Propaganda und unfreiwilliger Komik, und doch gelang es hin und wieder, auch Missstände zu dokumentieren. DONNERSTAG, 11. 11. STEUERN Die Regie- rungskoalition beschließt weitere Stufen der Ökosteuerreform. Mehr als 50 SPD-Abgeordnete stimmen nur aus Fraktionsdisziplin zu. KARLSRUHE Das Bun- desverfassungsgericht verfügt, bis 2005 den Länderfinanzausgleich von Grund auf neu zu regeln. FREITAG, 12. 11. KATASTROPHE Ein neues, verheerendes Erdbeben mit einer Stärke von 7,2 auf der Richterskala zerstört die westtürkische Stadt Duzce. AP Flankiert von zwei Karnevals-Hostessen, lässt Bayerns Ministerpräsident Edmund Stoiber seine Ernennung zum „Ritter des Ordens wider den tierischen Ernst“ über sich ergehen. d e r DONNERSTAG 22.05 – 23.00 UHR VOX SPIEGEL TV EXTRA Zwischen Öchslegrad und Schunkelwahn – Weinlese in Deutschland Eine Reportage über die Wahl zur Weinkönigin, die Arbeit der Winzer und die deutsche Gemütlichkeit bei Stimmungsmusik und Rebsaftschorle. SAMSTAG 22.10 – 23.15 UHR VOX SPIEGEL TV SPECIAL People’s Century – Das Jahrhundert Schöne neue Welt Der Kalte Krieg spaltet die Welt: Völker werden auseinander gerissen, deportiert oder gezwungen, auf der „falschen“ Seite des Eisernen Vorhangs zu leben. SONNTAG 22.40 – 23.30 UHR RTL MAGAZIN RÜSTUNG Der Daimler- SPIEGEL TV Chrysler-Konzern kündigt – als Folge des gekürzten Verteidigungshaushalts – den Wegfall von 850 Arbeitsplätzen in Deutschland an. Die Panzer-Affäre – Neues vom Spendenskandal der CDU; Tagebuch eines frühen Todes – der Selbstmord des Drogenmädchens Julia; Die Autobahn der Albaner-Mafia – wie gestohlene deutsche Limousinen in Tirana landen. s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 333 Register schichte maßgeblich das Verhältnis von Kirche und Staat mitgestaltet. Prädestiniert durch seine Tätigkeit als Militärpfarrer in Polen und Frankreich während des Zweiten Weltkriegs, führte er Mitte der fünfziger Jahre, als er schon von der EKD entsandter Bevollmächtigter bei der Bundesregierung (1949 bis 1977) war, die Verhandlungen über den Militärseelsorgevertrag. Von 1956 bis 1972 war Kunst der erste evangelische Militärbischof der Bundeswehr. Sein Verhandlungsgeschick setzte er auch gekonnt bei der Lösung humanitärer Probleme wie dem Häftlingsfreikauf und der Familienzusammenführung im geteilten Deutschland ein. Hermann Kunst starb am 6. November. Gestorben Theodore Hall, 74. Fast 40 Jahre lang leugnete er den Spionagevorwurf gegen ihn. Gerade 19-jährig, hatte der brillante Physiker und Harvard-Absolvent, der als jüngster Wissenschaftler in das unter oberster Geheimhaltungsstufe stehende Manhattan-Projekt in Los Alamos berufen wurde, für die Sowjetunion unter dem Codenamen „Mlad“ spioniert. Der Idealist hielt ein US-Atomwaffen-Monopol für gefährlich und hat alles getan, um es zu vermeiden. Obwohl das FBI ihn in den fünfziger Jahren wiederholt vernommen hatte, war er nie angeklagt worden. Erst als Mitte der Neunziger Botschaften sowjetischer Spione entschlüsselt wurden, gab er nach und nach zu, daran beteiligt gewesen zu sein. Theodore Hall, der seit Anfang der Sechziger an der Universität Cambridge als führender Wissenschaftler in der biologischen Forschung arbeitete, starb am 1. November in Cambridge an Krebs. Lester Bowie, 58. Er wirkte wie ein Hermann Kunst, 93. Der Kirchendiplomat hat in der deutschen Nachkriegsge334 d e r Urt ei l JAZZ ARCHIV schwarzer Doktor Seltsam, wenn er im weißen Arztkittel die Bühne betrat – das Labor für seine Experimente: Spirituals, Märsche, Blues, Bebop, Soul, Reggae und Rap wollte Bowie zu „great black music“ verschmelzen, in freier Improvisation mit seinen Freunden vom Art Ensemble of Chicago faszinierte und schockierte der Trompeter das Publikum mit schrillen Klängen und irrwitzigen Happenings. Bowie hatte sein Handwerk in Rhythmand-Blues-Bands gelernt, ehe er in den sechziger Jahren zu einer Schlüsselfigur der afroamerikanischen Jazz-Avantgarde aufstieg. Ironischerweise fand seine schwarze Musik in Europa mehr Anerkennung als in den Vereinigten Staaten. Lester Bowie starb am vergangenen Montag in New York an Krebs. Gerd Lüdemann, 53, evangelischer Theologe, muss weiter in dem von der Universität Göttingen eingerichteten Fach „Geschichte und Literatur des frühen Christentums“ lehren. Das Göttinger Verwaltungsgericht hat seine beiden von ihm beantragten Anordnungen gegen seine Versetzung abgelehnt. Lüdemann, der in einem „offenen Brief an Jesus“ (SPIEGEL 11/1998) sämtliche protestantischen Grundüberzeugungen anzweifelte, wollte erreichen, dass er seinen seit 1983 bestehenden Lehrstuhl für „Neues Testament“ an der Theologischen Fakultät Göttingen behalten darf. s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 AP G. BERNING / BONGARTS EPD Primo Nebiolo, 76. Bis zuletzt war seine Eitelkeit gleichermaßen grotesk und unterhaltsam. Mit maskenhaft starren Gesichtszügen verfolgte der Präsident des Internationalen Leichtathletik-Verbandes in der Sommerhitze Sevillas die WM, und als er zur Siegerehrung der US-Sprinterin Marion Jones von der Ehrentribüne hinab ins Stadioninnere stieg, waren sein Gang und seine Gestik längst von schleppender Hilflosigkeit. Dennoch brüstete sich der Bauunternehmer aus Turin: Noch dreimal täglich könne er Sex machen. Mit seinem Sinn für Show und Geschäft hat der Machtmensch, der ganz verrückt darauf war, mit Orden behängt zu werden, die internationale Leichtathletik in den 18 Jahren seiner Regentschaft in die totale Kommerzialisierung getrieben. Selbst IOC-Präsident Juan Antonio Samaranch kam nicht an dem „Genius des Bösen und korrupten Verkäufer von Idealen“ („La Repubblica“) vorbei – wegen „persönlicher Verdienste“ berief er ihn 1992 eigenmächtig in das IOC-Exekutiv-Komitee. Kritiker, die dem Despoten Desinteresse an der Bekämpfung des Dopingproblems anlasteten, kanzelte der Macho ab: „Ich bin kein Pipi-Experte, ich bin Verbandspräsident.“ Primo Nebiolo erlag am 7. November in Rom einem Herzinfarkt. Werbeseite Werbeseite Personalien JEREMY / CORBIS SYGMA DPA Joachim Kardinal Meisner, 65, Erzbischof von Köln, und seine nordrheinwestfälischen Bischofskollegen fühlen sich durch einen Passus zur Frauenförderung in einem Hochschul-Gesetzentwurf der NRW-Landesregierung diskriminiert. In einem Brief an Ministerpräsident Wolfgang Clement beschwerten sich die katholischen Würdenträger darüber, dass bei der Verteilung von Haushaltsmitteln durch die Hochschul-Rektorate auch Fortschritte bei der Gleichstellung von Männern und Frauen belohnt werden sollen. Bei Meisner der Priesterausbildung an den katholisch-theologischen Fakultäten, klagten die Kirchenmänner, sei die „Einführung von Frauenquoten“ aber „nicht umsetzbar“. Frauenquoten verböten sich schon deshalb, erläuterten sie dem Ministerpräsidenten ihr Dilemma, weil „die Priesteramtskandidaten in der Regel von Priestern ausgebildet werden sollen“. Banderas, Griffith Melanie Griffith, 42, amerikanische Schauspielerin („Celebrity“, „Crazy in Alabama“), hat ihr Altersproblem auf Kosten ihres derzeitigen Ehemanns, des spanischen Regisseurs Antonio Banderas, 39, gelöst. Die paar Falten, die ihr das Alter ins Gesicht geschlagen hat, machten ihr rein gar nichts aus, sagt sie, „denn ich fühle mich wie 18 “. So lange sie das glauben könne, werde es ihr wahrscheinlich auch immer gut gehen. „In derselben Minute, in der ich realisiere, dass ich 42 bin, werde ich zusammenbrechen“, gesteht die Aktrice, die sich im Lauf ihrer über 20-jährigen Hollywood-Karriere von der Lolita zum Vamp entwickelte. Ihren Ehemann interessieren ihre Altersgeschichten „herzlich wenig“. Banderas, drei Jahre jünger als Griffith, bekümmere mehr sein eigenes Aussehen, denn er glaube, er sei in den vergangenen drei Jahren übermäßig gealtert: „Seine Mutter“, so berichtet Griffith, „hat ihm gesagt, in Spanien heiße es, dass ich jetzt jünger aussehe als er. Da war er total fertig.“ F. OSSENBRINK Wolfgang Clement, 59, SPD-Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, steht fest – und überzeugend – zu seinem Land. Am Vorabend des 9. November trifft Clement in der Berliner Bonn-Nostalgie-Kneipe „Ständige Vertretung“ auf den Intendanten des Westdeutschen Rundfunks Köln, Fritz Pleitgen, 61. „Mensch, ’ne tolle Stimmung hier in Berlin“, begrüßt der Rundfunkmann den Landesherrn. „Diese Gigantomanie hier und nur heiße diese ganzen Schaumschläger.“ Pleitgen Luft“, widerspricht Clement. Wo denn in zögert, dann: „Nun ja, wissen Sie, wir nehBerlin die Arbeitsplätze seien, die Unter- men uns auch keine Wohnung in Berlin. nehmen, die hier investieren? Selbst die Das stimmt schon mit NRW.“ Bauwirtschaft gehe bald wieder nach Hause. Pleitgen: „Na ja, hier in Mitte mit Potsdamer Platz, da sind schon Arbeitsplätze.“ „Ach Quatsch, Herr Pleitgen“, hält der nordrheinwestfälische Ministerpräsident dagegen, „nun mal wirklich, Sie und der WDR stecken die hier doch nun mal alle in die Tasche. Bei uns in NRW ist so viel Arbeitskräfte-Potenzial in den neuen Medienbereichen, da ist das hier in Babelsberg und so doch gar nix. Schauen Sie mal auf die Zahlen, die sprechen nur für NRW und nicht für Pleitgen, Clement 336 d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9 Günter Schabowski, 70, früheres Politbüromitglied und wegen der Todesschüsse an der Mauer rechtskräftig verurteilt, söhnt sich mit dem westlichen wie östlichen Klassenfeind von einst aus. Der ehemalige SED-Mann, der mit einem Halbsatz am 9. November 1989 den ersten Anstoß zur Maueröffnung gab, wirbt nicht nur für die „Frankfurter Allgemeine“ per Anzeige, auch mit härtesten Gegnern des SEDRegimes kommt er inzwischen klar. „Stellen Sie sich mal vor“, entfuhr es dem Ex-Bonzen, als er am 9. November auf einem Empfang dem Ex-Dissidenten Ralf Hirsch begegnete, „der Herr Bundeskanzler hat mir die Hand geschüttelt – so kurz, bevor ick in’ Knast muss“. „Man darf nicht einmal eine Wasserspritzpistole mit in die Schule bringen“, so der Direktor, „warum sollten wir dann ein Bild mit einem Artilleriegeschütz zeigen?“ Darauf Hirsch, ohne vorherigen Händedruck des damaligen DDR-Staatschefs Honecker über zwei Jahre in DDR-Haft, gnädig: „Mir reicht das Urteil. Meinetwegen bräuchten Sie nicht hinter Gitter.“ Elizabeth II., 73, Königin von Großbri- AP tannien, beeindruckt ihre Untertanen mit Innenminister und erbitterter EU-Feind, Sparsamkeit. Die Herrscherin, nach Meischockte die Millionengemeinde der blau- nung der britischen Modedesignerin Viweiß-roten Radsportfans mit einem unge- vienne Westwood stets „phantastisch geheuerlichen Ansinnen. Der urgaullistische kleidet“, hatte bei ihrem Staatsbesuch in Senator, der seinen einstigen Spezi Jacques Ghana vergangene Woche einen triumChirac seit dessen Einzug in den Elysée-Palast für einen euro-infizierten Verräter an der nationalen Größe hält, will der nächsten „Tour de France“ den Titel aberkennen. Sie soll, um den „Verlust der nationalen Identität im gesamteuropäischen Brei“ zu verdeutlichen, zur „Tour d’Europe“ herabgestuft werden. Grund: die Veranstalter hätten sich ihrer Pflicht entledigt, durch „diesen großen Wettbewerb die Franzosen – ich als Erster – ihre Provinzen wieder entdecken zu lassen“. Stattdessen verscheuerten Elizabeth II. in Ghana sie Etappen wie „Exportartikel“ ins Ausland – nach England, Belgien und phalen Empfang. Rund 1,5 Millionen Irland wird die nächste Tour auch in Ghanaer säumten die Straßen. Doch Deutschland und der Schweiz rollen. während ihres Besuchs zeigte sich die Queen in einem Kleid, das sie, eine der Samantha Jones, 17, Absolventin der reichsten Frauen der Welt, bei wenigstens High School in Nevis, US-Staat Minneso- drei offiziellen Terminen schon mal getrata, ist Opfer rigider Sicherheitsmaßnah- gen hat: einen geblümten Hänger mit lanmen nach den tödlichen Schüssen an ame- gen Ärmeln. Man könne der Königin indes rikanischen Schulen. Für das Jahrbuch der „keineswegs Phantasielosigkeit“ unterSchule hatte die künftige Soldatin ein Foto stellen, urteilte das Boulevardblatt „Mireingereicht, das die Schulabgängerin auf ror“. Mit immer wechselnden Accessoires einer Haubitze sitzend zeigt. Die Schullei- verstehe sie es, ihr altes Kleid überzeutung lehnte den Abdruck des Fotos ab. gend zu verändern. Ein königlicher Mitarbeiter zur Kleiderordnung der Queen: „Da gibt es eine gewisse Wiederholung. Sie glaubt, dass man nichts vergeuden solle, auch nicht Kleidungsstücke.“ Sergej Awdejew, 43, russischer Kosmonaut, hat während seines 748 Tage dauernden Aufenthalts in der Raumstation „Mir“ seine Schachkenntnisse verbessert. Nach endlosen Wochen der Langeweile bestellte Awdejew Anfang des Jahres in der Bodenstation ein Schachprogramm, das mit einem Transportflug angeliefert wurde. Das Programm „Fritz“ aus der Hamburger Software-Schmiede Chessbase vertrieb, wie erst jetzt bekannt wurde, auf einem gleichfalls mitgelieferten Fujitsu-Notebook installiert, den Männern im Orbit die Zeit. Als Awdejew und seine Kollegen die schrottreife „Mir“ am 27. August verließen, nahmen sie das Notebook mit. „Fritz“ blieb an Bord der Station, die demnächst zum Absturz gebracht wird. Jones 337 DPA Charles Pasqua, 72, französischer Ex- Hohlspiegel Rückspiegel Aus der „Hannoverschen Allgemeinen Zeitung“: „Rund die Hälfte der Bundesbürger sterben jährlich an Herz-Kreislauf-Versagen, knapp eine Million im Jahr an akutem Herzinfarkt, immerhin fünfzig Prozent in den ersten dreißig Tagen nach dem Infarkt.“ Zitate Aus der „Computerwoche“ Aus dem „Südkurier“ Aus der Fernsehzeitschrift „Hörzu“: „Erstmals stellen Frauen mehr als die Hälfte der Abiturientinnen …“ Aus der „Westdeutschen Allgemeinen “ Aus der Zeitung „Reformiert“ zu einer Leseraktion: „Und: Bitte legen Sie ein Foto von sich bei – möglichst kein Passfoto, sondern ein Foto, auf dem das Gesicht gut zu erkennen ist.“ Aus der „Nordwest Zeitung“ Aus „Bild der Frau“ Aus „Die Zeit“ 338 Das Branchenblatt „Werben & Verkaufen“ über die erste Ausgabe von „SPIEGEL-Reporter – Monatsmagazin für Reportage, Essay, Interview“: Beim Inhalt sind sich unsere Titeltester so einig wie selten zuvor: Es macht Spaß, das Heft zu lesen. PR-Profi Moritz Hunzinger spricht von „Leseschmaus“, (Blattmacherin Gabriele –d. Red.) Fischer meint: „Die Edelfedertexte sind zum überwiegenden Teil wunderbar.“ RWE-Öffentlichkeitschef Dieter Schweer hat „endlich einmal neue journalistische Ansätze“ entdeckt: „SPIEGEL-Reporter erfüllt alle Ansprüche, die der Titel verspricht.“ Was Werber Holger Jung unterstreicht. Er findet, die „spannende Themenmischung“ und ihre Aufbereitung passe „perfekt auf den Markenanspruch der Marke SPIEGEL“. Medienberater Hans Lauber lobt: „Ein großer Wurf“. Und Alexander Demuth schwärmt: „Endlich mal etwas für Gourmets, endlich ein innovatives Konzept nach langem Herumbasteln. Das Heft bietet Lesestoff und Bildmaterial, das einen vergessen macht, dass es Fernsehen gibt.“ HMS/Carat-Geschäftsführer Heinrich Kernebeck spricht von „hoffnungsfrohem Ansatz“ und „hervorragender stilistischer Qualität“. Das „Liechtensteiner Volksblatt“ zum SPIEGEL-Bericht „Liechtenstein – Einladung zur Geldwäsche“, wie der Zwergstaat das Geld von Mafia, Drogenkartellen und russischen Großkriminellen anzieht (Nr. 45/1999): Langsam, aber sicher nimmt die SPIEGELAffaire komische Konturen an. Knapp eine Woche nach Bekanntwerden des Berichtes über unser Land im SPIEGEL weiß die Regierung angeblich immer noch nicht, ob es dieses Dossier gibt oder nicht. Sowohl der Regierungschef als auch die Außenministerin windeten sich an der Pressekonferenz, damit sie auf konkrete Fragen keine konkreten Antworten geben mussten. Auch der deutsche Botschafter in Bern konnte sich nur so aus der Affaire ziehen, indem er immer wieder auf die gute Zusammenarbeit zwischen den beiden Staaten bezüglich Geldwäsche verwies. Die Schuld an der Affaire wird von allen Seiten dem SPIEGEL zugeschoben. Nur ein Ablenkungsmanöver? Weiß die Regierung mehr, als sie sagt? Es stellt sich die Frage, weshalb sowohl vom Botschafter als auch von der Regierung keine klaren Antworten zum Dossier abgegeben werden … Weshalb spricht Deutschland nicht Klartext in Sachen Dossier? Tatsache ist: Falls es das Dossier nicht gäbe, hätte Deutschland schon lange dementiert. d e r s p i e g e l 4 6 / 1 9 9 9