tsa tga st - PATRIZIA Immobilien AG
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PATRIZIA [tsa tga st] 2 3 kEditorial k Inhalt Nerds – Spießer 2.0 Wenn man vom Zeitgeist spricht … 8 Selten wurde man so häufig mit ihnen konfrontiert wie heute: Der Nerd ist salonfähig geworden, ja geradezu lifestylig. Wie aber wurden die bebrillten Antihelden zu Stilikonen? Eine Reflektion. China Megacity Vom Schwarm finanziert Beeindruckend, befremdlich und doch bildschön: die Fotografien asiatischer Millionenstädte von Christian Höhn. Crowdfunding ist ein zeitgeistiges Modell, durch das soziale Netzwerke an monetärer Bedeutung gewinnen. Seitdem nun auch Crowdinvesting hinzugekommen ist, wächst der junge Markt noch rasanter als zuvor. 32 Neues Denken 22 4 Dreck unter den Fingernägeln … 24 Innerstädtische Wohnlagen sind gefragt wie nie. Städteplaner und Architekten stellt dies vor eine echte Herausforderung, denn Vorstadtidylle ist bei den neuen „Urbaniten“ ebenso wenig gefragt wie Hochhaus-Klassiker. … ist bei vielen Stadtjüngern zum trendigen Accessoire und Ausdruck heutigen Lebensgefühls geworden. Eine Betrachtung des Phänomens „Urban Gardening“. 12 Platz ist in der kleinsten Hütte! Und wenn nicht, dann bieten Selfstorage-Anlagen unkomplizierte, sichere und erschwingliche Abhilfe. Grün ist das neue Grau Die Aussicht bei den Architekturtrends 2014 ist wonnig: Die Natur nimmt Einzug in die urbane Landschaft – und mit ihr das private Gartenglück in jeglicher Form, auch auf dem kleinsten städtischen Fleckchen „Land“. Sinkende Zinsen … 18 … sind der Fluch der heutigen Zeit! Ob, wann und wie schnell sie irgendwann auch wieder steigen werden – eine Antwort darauf hätten sie alle gerne, die Anleger, egal ob Stiftungen, Versicherer oder Fonds. Deutschland entdeckt Selfstorage 28 38 Privat oder öffentlich? Galt die Privatisierung von öffentlichen Wohnungsbeständen viele Jahre als „Patentrezept“ zur Sanierung der Haushalte, wird seit einiger Zeit auch die Frage nach Rekommunalisierung wieder lauter. 40 Visionär und Macher Horst Erhardt ist einer der Gründer und ehrenamtlicher Geschäftsführer der Nachsorgeeinrichtung „Bunter Kreis“. Im estatements Magazin spricht er über Erkennen, Zupacken, Umsetzen, aber auch Loslassen. IMPRESSUM Herausgeber: PATRIZIA Immobilien AG | PATRIZIA Bürohaus | Fuggerstraße 26 | 86150 Augsburg | Telefon +49 821 50910-000 | Telefax +49 821 50910-999 | [email protected] | www.patrizia.ag V.i.S.d.P.: Andreas Menke (Group Head of Corporate Communications) Verlag: vmm wirtschaftsverlag gmbh & co. kg | Augsburg | www.vmm-wirtschaftsverlag.de Autoren dieser Ausgabe: Simone Wipplinger (Chefredaktion), Barbara Brubacher, Martin Brunkhorst, Dr. Dankwart Guratzsch, Christian Hunziker, Meike Schreiber, Thomas Rosenhain, Stefan Weißenborn, Dr. Markus A. Will Bildquellen: Gentrification in Schöneberg: Sugar Ray Banister/www.sugarraybanister.de | Archiv Willy Karisch | Getty Images (© Andrew Rich, © Steve Geer, stevedun-leavy.com, © pidjoe, Jonathan Hill) | © Charles De Vaivre | www.bristol-street-art.co.uk, Justin Staple; Installation: Filthy Luker | Baumbaron GmbH | © Darren A. Bradley | Anne Gierlich | Fotolia (dennisjacobsen) | PRIME Selfstorage GmbH | Christian Höhn | iStockphoto (magicsea_design) | Horst Erhardt und Rainer Grotz | PATRIZIA Immobilien AG Grafik: Anne Gierlich Lektorat: Gaby Feldmann Druckerei: AZ Druck und Datentechnik, Kempten Disclaimer: Dieses Magazin stellt keine Anregung oder Aufforderung zum Kauf, Verkauf oder sonstigem Handel von Wertpapieren der PATRIZIA Immobilien AG dar. Die zur Verfügung gestellten Informationen und Daten bieten dem Leser einen Überblick über das Unternehmen zu Informationszwecken. Dieses Magazin enthält keine Informationen, aufgrund derer wert-papierrechtliche Ansprüche geltend gemacht werden können. | … so kann man das in vielen Ländern ganz ohne Fremdsprachenkenntnisse oder Übersetzungshilfen tun. Denn „Zeitgeist“ ist eines der wenigen deutschen Wörter, das man 1:1 auch in Italien, Frankreich, England und den USA findet. Und das liegt nicht etwa daran, dass der Begriff Ende des 18. Jahrhunderts hierzulande von Johann Gottfried Herder quasi „erfunden“ wurde, nein. Es liegt vielmehr daran, dass das, was dieses Wort inhaltlich tatsächlich aussagt, nicht ohne einen gewissen Sinnverlust in andere Sprachen übersetzbar ist. Dennoch ist der Zeitgeist – wenn auch „made in Germany“ – kein urdeutsches Phänomen: Er charakterisiert weltweit gewisse soziologisch, politisch und wirtschaftlich bedingte Trends und Strömungen sowie daraus resultierende Lebensweisen; manche davon sind kurzlebig, vergänglich, geradezu ein Hauch und gehören schon bald nach dem „Heute“ bereits wieder dem „Gestern“ an. Andere haben einen langfristig prägenden Einfluss auf die gesamte Weltgeschichte, oder – wenn man so will – den „Weltgeist“. In unserem estatements Magazin haben wir uns unterschiedlichsten Zeitgeisterscheinungen genähert. Was sie alle gemeinsam haben, sind ihre Aktualität sowie ihr Bezugspunkt „Mensch“. Letzterer bestimmt die für den Zeitgeist entscheidenden Parameter wie Individualität, Autonomie, Selbstverwirklichung, Konflikt, Empathie, aber auch Wirtschaftsdenken oder Geistesleben. Kurz: gesellschaftliche Stellgrößen. Und unter diesen Aspekten bewegt uns der Lifestyle-Nerd ebenso wie der „neue Urbanite“, der Selfstorage-Gedanke ebenso wie Chinas Megacites und die sinkenden Zinsen ebenso wie die „Schwarmfinanzierung“. Welches Zeitgeistphänomen dabei ein flüchtiges bleibt, während ein anderes seine Bedeutung auch in die Zukunft hineinträgt, bleibt gegenwärtig offen. Denn schließlich sprechen wir hier ja vom Zeitgeist, nicht vom Zeitreisen. Viel Freude beim Lesen wünscht Ihnen Ihr Wolfgang Egger Vorstandsvorsitzender PATRIZIA Immobilien AG 4 5 Die Zukunft gehört dem neuen Denken Groß ist der Druck auf neuen Wohnungsbau, wenn auch nur in ganz bestimmten, durch Zuzug begünstigten – oder soll man sagen „bedrängten“ – Regionen. Und fast reflexartig fällt die Antwort der Stadtverordneten und Planungsämter aus: „Wir müssen dringend neue Baugebiete an den Stadträndern ausweisen! Und wir müssen einen neuen sozialen Wohnungsbau in Gang bringen. Und die Eigenheimzulage und die Kilometerpauschale reaktivieren.“ Es sind die Antworten von gestern und vorgestern. 6 7 T atsächlich werden neue Wohnungen vor dringlich in Stadtinnenlage gesucht. Und das hat mit den neuen Wohnwünschen und Lebensplanungen zu tun. Sie verlangen den Planern, Verwaltungsbeamten und Politikern eine Richtungs änderung um 180 Grad ab. Die glauben noch immer an das, was sie vor 40 Jahren auf den Hochschulen gelernt haben. Gefragt sei das Häuschen im Grünen, die Etagenwohnung im Punkthochhaus, die Wohn idylle auf dem einstigen Kartoffelacker. Aber das war gestern. Vielerorts sogar schon vorgestern. Auf Schritt und Tritt spürt der Besucher, dass hier das Prinzip der Massenproduktion von Wohnraum ohne jede Rücksicht auf die Individualität der Bewoh ner durchgezogen wurde. Was wie Einfamilienhaus bebauung aussieht, ist in Wahrheit eine Art zerstü ckelter Plattenbau, zwischen den zur Dekoration und Kaschierung Grünstreifen mit der unvermeidlichen Garage als Blickfang geflochten sind. Die „Magistrale“ aus uniformen Endloszeilen erinnert an Plattenbau komplexe des sozialistischen Städtebaus, den man für immer überwunden glaubte. Pulsierendes Stadtleben statt Landidylle Urbane Mischung Denn es hat sich herumgesprochen: Das Stadtrand wohnen ist teuer und es kann von keiner Regierung so vergoldet werden, dass die vielfältigen Nach teile durch ein Glücksgefühl kompensiert werden. Familienleben am Stadtrand lässt sich fast nur mit Hilfskräften organisieren, erfordert in der Regel zwei Autos, kostet lange Anfahrtswege und damit ein Riesenbudget an Freizeit, kompliziert den Schul besuch. Noch ungünstiger stellt sich die Bilanz für den Single- und den Rentnerhaushalt dar, denn das „Ruhe“-Bedürfnis ist bei den Jungen und Alten ähn lich gering. Sie suchen die brodelnde City und wollen nicht endlose Wege für das Einkaufen, den Postgang, das Krankenhaus und die Apotheke auf sich nehmen. Städte mit uferlosen Stadtrandprojekten verfrühstü cken ihre Zukunft und versäumen es, die Wohnungs nachfrage dort abzubauen, wo sie zu Bewohnerver drängung und Mietenexplosion führt. k Kurze Wege, grüne Höfe, hohe Wohnzufriedenheit: Das Französische Viertel in Tübingen zeigt eindrucksvoll, was modernen Wohnbau ausmachen kann. Ein Musterbeispiel negativer Art ist Frankfurt am Main. Mit einer Kursänderung im Wohnungsbau wurde hier schon unter der Oberbürgermeisterin Petra Roth (CDU), dem Planungsdezernenten Edwin Schwarz und dem Planungsamtsleiter Dieter von Lüpke eine Wende in die Vorzeit der neuen Urbanität vollzogen, die im neu angelegten Stadtteil Riedberg einen – wie Kritiker spotten – „Würfelhusten auf der grünen Wiese“ hervorgebracht hat. Entstanden sind endlos aufgereihte „Häuser von der Stange“ in monoton gleicher, einfallsloser Gestaltung. Dass es auch anders geht, wurde auf eindrucksvolle Weise im Französischen Viertel in Tübingen, in den Freiburger Neubauvororten Vauban und Rieselfeld vorgeführt: Abwechslungsreiche Fassaden, städte bauliche Dichte und die urbane Mischung städti scher Funktionen erzeugen Stadtteile mit kurzen Wegen, grünen Höfen und hoher Wohnzufriedenheit. Ähnliches war auch in Frankfurt mit der Bebauung des früheren Schlachthofviertels und des West- und Osthafens auf beispielgebende Weise gelungen: Mischbebauung für eine gemischte Bevölkerung mit dichtem Angebot von Läden, Gaststätten, Park anlagen, Freizeiteinrichtungen und Arbeitsplätzen, die genau das einlöste, was die neuen „Urbaniten“ suchen: lebendige Stadt für eine bunte, aktive, dyna mische Stadtgesellschaft. Es ist ernüchternd, dass die beiden Konzepte in ein und derselben Stadt aufeinandertreffen und dass da bei das „modernere“ Konzept das frühere, das altmo dischere das jüngere ist. Hier beweist sich die völlige Orientierungslosigkeit einer Planungs- und Politelite in zentralen Fragen der Gesellschaftspolitik. Natür lich kann man „neue Quartiere“ auch am Stadtrand bauen; aber das unterste Erfordernis wäre, dass sie dann den Kriterien entgegenkommen, derentwegen Land- und Stadtrandbewohner heute wieder das Flair und die Vitalität der städtischen Zentren suchen. Sonst nämlich baut man den Druck, der sich auf die Innenstädte (und ihre Bewohner) richtet, nicht ab, sondern sorgt nur für noch höheren Druck auf die begehrten Altbauquartiere. Umdenken ist gefragt Was ansteht, das ist der Abschied von monofunktio nalen Geschäfts-, Büro- und Wohnquartieren, wie sie nach dem Krieg in vielen deutschen Städten mit Bom bentotalschäden hochgezogen worden sind. Es ist die Absage an Not- und Behelfslösungen, die damals – in Mitteldeutschland noch lange – dankbar angenom men wurden, heute aber obsolet sind. Gefordert sind ein radikaler Rückbau sowie ein Weiter- und Über bauen von weder ökonomisch noch ökologisch mehr tragfähigen Quartieren des weiland „aufgelockerten, durchgrünten Städtebaus“. Für bestehende Gebäude und ganze Straßenzüge müssen Rucksack-, Turmbauund Prothesenlösungen entwickelt werden, die einem neuen verdichteten Städtebau der gemischten Funk tionen und kurzen Wege den Weg ebnen. Dabei sind zwei Parameter von herausragender Be deutung: gestalterischer Individualismus für das Einzelgebäude und strikte Trennung und Zuord nung öffentlicher und privater Räume. Einer der verhängnisvollsten, folgenreichsten Denkfehler der städtebaulichen Moderne war der Abschied von der Blockrandbebauung der Gründerzeit. Nur durch konsequentes Schließen der Blöcke können in den Hofbereichen jene privaten Grün- und Rückzugszo nen gewonnen werden, die für die neuen, vom Land in die Städte strömenden „Urbaniten“ so wichtig sind. Nur die Blockrandbebauung garantiert hinrei chenden Schutz vor Lärm, Abgasen, Hundekot sowie Durchgangsverkehr von Skatern und Radfahrern. Nur sie verbürgt aber auch das Entstehen der plötzlich so leidenschaftlich gesuchten neuen „Urbanität“: an den Außenkanten der Blöcke im Straßenbereich. Räume“ Elemente der Freiheit und Transparenz in die von Verslumung bedrohten Innenstädte gebracht werden könnten, hat den Städtebau nach 1945 wie eine Heils- und Weltverbesserungslehre geprägt. Fundamentalen Wandel verschlafen Es ist Zeit für einen Wandel. Mit Leitbildern der Nach kriegsjahre lassen sich die Wohnbedürfnisse des 21. Jahrhunderts nicht mehr abdecken. Der Stadtumbau braucht gerade deshalb selbstbewusste, auf geklärte Investoren, die der Planungsbürokratie mit der Überzeugungskraft abgesicherter Argumente und Qualitätsbegriffe begegnen und sich auf die neuen Städter einzustellen vermögen. Ihnen gehört die Zukunft. Diejenigen, die in dieser neuen Konkurrenz um den Umbau der Nachkriegsstädte die Nase vorn haben wollen, müssen besonderes Stehvermögen gegen über Architekten und Planungsämtern beweisen. Denn so paradox es klingt: Ausgerechnet die Exper ten und Lenker des Städtebaus haben, wie schon ge zeigt wurde, den fundamentalen Wandel der Wohn wünsche verschlafen. Sie schwören noch immer auf das Leitbild der 1920er-Jahre-Siedlungen, die sie auf den Sockel des Weltkulturerbes gehoben haben. Die Vorstellung, dass nur durch Offenheit und „fließende v In Freiburg Rieselfeld werden die neuen „Urbaniten“ fündig: Das Quartier bietet alle Voraussetzungen für eine bunte, aktive, dynamische Stadtgesellschaft. Es war die amerikanische Soziologin Jane Jacobs, die in ihrem urbanistischen Kultbuch „Tod und Leben großer amerikanischer Städte“ (1963) als Erste auf die allen Erfahrungen spottende Unsinnigkeit dieser Lehre hingewiesen hatte. Den Aposteln der Offen heit hielt sie entgegen: „Die dichte Konzentration von Menschen ist eine notwendige Voraussetzung für städtische Mannigfaltigkeit.“ Und sie schrieb ihnen ins Stammbuch: „Die überfüllten Slums der Planungsliteratur sind lebensvolle Gebiete mit hohen Wohndichten.“ Zahllose Planungsgewaltige haben diese Richtigstellung bis heute nicht verstanden. v Dr. Dankwart Guratzsch k DR. Dankwart Guratzsch Dr. Dankwart Guratzsch ist seit 1980 Korrespondent Städtebau/Architektur für die Tageszeitung DIE WELT. 8 9 Nerds sind „Spießer 2.0“ Wenn die Hornbrille wirklich einen echten Nerd kennzeichnet, dann hat es diese Typen schon immer gegeben. In meiner Schulklasse der 1970er- und 80er-Jahre trugen solche Sonderlinge noch Hornbrillen, als alle anderen Brillenträger bereits auf Metallrahmen umgestiegen waren. Der einzige Unterschied scheint mir zu sein, dass der komplizierte Taschenrechner von Texas Instruments heute dem iPad mit seinen digitalen Accessoires gewichen ist. Und ehrlich gesagt, beherrsche ich auf dem iPad auch nicht mehr Funktionen als ehedem die Grundrechenarten auf dem TI-Taschenrechner. N erds sind eigentlich kaum anders als die Spießer des letzten Jahrhunderts – mit dem feinen Unterschied, dass diese sozialen Autisten sich in den nicht selten sehr (a)sozialen Netzwerken tummeln. Sie flashmobben und shitstormen durch ihre ganz eigene Spielewelt der großen Game Conventions. Auf den Punkt gebracht sind Nerds die Spießer der Generation 2.0. Nerds sind Fachidioten und deshalb schon Außenseiter, schwachköpfig und deshalb schon langweilig, oberschlau und deshalb Sonderlinge, aber vor allem digital und für mich deshalb irgendwie sozial degeneriert. Für den normalen Menschen sind sie Avatare aus einer binären Welt. Etymologisch gefallen mir zwei Varianten der Wortschöpfung für Nerd: Einmal sei es die Abkürzung für „non emotionally responding dudes“, also nicht emotional ansprechbare Typen, was perfekt auf den alten Spießer passt. Wer wollte schon mit den Pausenbrotessern auch nur im Ansatz etwas zu tun haben? Ein anderes Mal sind Nerds nicht betrunken – non-drunk –, weil sie nicht auf Partys gehen und nur vor ihrem PC hocken. Spricht man nämlich drunk englisch rückwärts aus, tönt „knurd“ wie Nerd, was auch perfekt zum Spießer der prä-digitalen Welt passt. Denn wer hätte diese Spießer überhaupt auf eine ordentliche Party eingeladen, von deren Geschehnissen Mama nicht immer alles wissen sollte? Im Second Life kommt die Pizza aus dem Drucker Nennen wir diese digitalen Spießer doch einfach „Spießer 2.0“. Nerds leben im Second Life, zahlen mit Bitcoins und daten über W-Lan. Sie haben Cybersex und liken statt zu fxxxxx. Sorry for that. Sie haben nur Facebook-Freunde und definieren Nähe über Klicks – nicht ohne Grund heißt es doch „klick mich“. Nerds googeln sich auf jede Straße dieser Welt und verlassen dennoch kaum ihr Haus. Und sobald man Pizza DreiD mit Geschmackstropfen aus der druckereigenen Tintenpatrone ausdrucken kann, werden sie ihre vier Wände gar nicht mehr verlassen. Sie sind genauso spießig wie ihre prähistorischen Vorfahren aus der Zeit vor dem Internet. Wieso dann allerdings gerade diese Partypupser zu Stilikonen und Lifestyle Helden erkoren werden, erschließt sich erst mal nicht. Warum werden diese „Spießer 2.0“ zu Vorbildern? Bei der Antwort auf diese Frage müssen wir den Zeitgeist zurückdrehen und uns zunächst mit dem guten alten Spießer befassen: unbeweglich, engstirnig und dann auch noch bürgerlich und meist alt. Das war, ist und bleibt spießig. So haben es die Linken 68er definiert, von denen heute die meisten allerdings „Neo-Spießer“ sind, wie die taz diese „Neuen Bürgerlichen“ beschreibt. Der lange Marsch hat die Apos nicht nur durch die Institutionen geführt, sondern sie auch zu Opas oder Ministern gemacht. Der Marsch hat manchen Linken nicht nur spießig, sondern auch erfolgreich gemacht. Und Erfolg macht immer noch sexy. Im Mittelalter war der Spießbürger meist „nur“ ein erfolgreicher Kleinbürger, der zum Großbürger aufschaute und in dessen Kreise aufsteigen wollte. Zwischen seinem Neureichtum und dem alten Geld der Bourgeoisie entstand des Spießbürgers grundsätzliche Enge. Man denkt unweigerlich an Otto Schily und Joschka Fischer. Erster ein ewiger Bourgeois, letzterer ein früherer Taxifahrer. Während Schily schon bei den Grünen immer Anzug trug, sah man Fischer darin erst, als er als Grüner endlich Außenminister wurde. Aber sexy sah er schon darin aus. Ob Fischer heute spießig ist, sei einmal dahingestellt. Er hat sicher ganz anders begonnen. Aber Fischer erfüllt im Alter sicher die gängigen k 10 Klischees des klassischen Spießers. Erfolg ist das Markenzeichen der Spießer, gerade weil sie sich immer hocharbeiten wollen und nicht mit der Gelassenheit des Großbürgers an die Dinge des Lebens herangehen können. Sie haben etwas geschafft auf dem langen Marsch. Das macht sie für uns alle so greifbar, und dies, je älter wir Normalbürger werden. Spießer sind im Grunde unsere geheimen Vorbilder. Der Spießbürger zeichnet sich durch ausgeprägte Konformität mit gesellschaftlichen Normen (des Großbürgertums), geistiger Unbeweglichkeit und Abneigung gegen jedwede Veränderungen der gewohnten Lebensumgebung aus. Im Grunde war der Spießbürger apolitisch und im bestehenden System erfolgreich. Veränderungen kamen zumeist von unten (siehe den jungen Fischer) und ganz gelegentlich von oben (siehe den damals schon reifen Schily). Erst wenn das Veränderungspotenzial seine kritische Masse erreicht hatte, wechselte der Spießbürger die Seiten. Spießbürger sind Opportunisten, die etwas „hypochondrisch Egoistisches“ haben, wie Ödön von Horváth den Doppelmoralisten beschreibt. Nerds finden digitale Dates cool Auch die Nerds sind erfolgreich – im Netz. Ihre Anhänger leben wie sie in den sozialen Medien. Man kennt sich, zumindest per Klick. Sie erfinden an ihren PCs die segensreichsten Dinge wie die Möglichkeit der Formung digitaler Knochen am 3-D-Drucker oder synthetisch entwickelte Haut für Menschen. Von Amazon bis Zalando reicht das Alphabet der OnlineShops. Erfolg macht auch hier sexy – genauer: cybersexy. Man denkt unweigerlich an Mark Zuckerberg, der zwar keine Hornbrille trägt, aber im Ehevertrag festschreiben lassen musste, wie viele Minuten pro Woche er seine Frau sehen muss. Nerds wollen alle so sein wie Zuckerberg und finden nichts dabei, digital zu daten und Zeitkonten der Liebe zu führen. Für Nerds ist das sogar cool. Vielleicht gibt es dafür sogar eine Tauschbörse. Bitcoins for love – die 2.0-Variante der käuflichen Liebe. Auch der alte Spießer isst schließlich nicht nur bei Mama. 11 Die Dorflinde des global village der Nerdianer liegt im Silicon Valley, Julian Assange ist ihr Gott mit Edward Snowden zu seiner Rechten sitzend. Der Applaus ist ihnen gewiss. Aber das ist aus meiner Sicht nur die eine Variante, über die man hinweglächeln könnte. Die andere Variante der Nerds macht mir Sorge; denn Nerds sind ebenfalls apolitisch wie ihre analogen Väter und Mütter. Sie sind mit von Horváth so etwas wie „digital egoistisch“, weil ihnen die Welt um uns herum real egal ist. Nun wird der aufmerksame Leser einwenden, dass es doch die sozialen Netzwerke sind, die Revolutionen wie den arabischen Frühling möglich gemacht haben, die in Brasilien und in der Türkei ganz aktuell die Menschen auf die Straße bringen. Das ist richtig, doch es waren nicht die Nerds, die die ersten Hashtags gesetzt haben. Selbstverständlich nutzt das Volk soziale Medien, um auf die Straße zu gehen, aber der Nerd mit seiner Hornbrille bleibt lieber zu Hause, drückt den „Gefällt mir“-Button und nimmt allenfalls als eine Art Demo-Drohne digital an den Veränderungen der Lebensumgebung teil, in die er sich doch so gemütlich eingepasst hat. Im Grunde gehen mir Nerds genauso auf die Nerven (welches Wortspiel) wie die Spießer damals in meiner Schule. Mit denen will man nichts zu tun haben, wenn man halbwegs normal geblieben ist. Und dennoch werden die T-Shirt-Träger auch irgendwann im Anzug Minister im E-Government von „Neuland“ sein. Unter dieser Voraussicht bleibt tatsächlich zu hoffen, dass uns Merkel, Steinbrück und selbst Fischer noch lange im Altland mit Internet erhalten bleiben. v Dr. Markus A. Will k DR. MARKUS A. WILL Der Autor ist erfolgreicher Romanautor von Wirtschaftsthrillern. Wills „bad banker“ ist ein Bestseller. Zeitgemäß gibt es seine Bücher auf Papier und als eBooks. Sein Papierwerk „der schwur von Piräus“ ist gerade erst als „bad banker im währungskrieg“ als eBook bei HEY-Publishing unter www.heypublishing.com/e-book/206749/ bad-banker-im-waehrungskrieg erschienen. Mehr über den Autor und seine Bücher finden Sie unter www.markuswill.com. 12 13 Grün ist das neue Grau Von kommunikativen Dächern & persönlichen Rückzugsorten: Die Aussicht bei den Architekturtrends 2014 ist wonnig! Die Natur nimmt Einzug in die urbane Landschaft – und mit ihr das private Gartenglück in jeglicher Form auch auf dem kleinsten städtischen Fleckchen „Land“. 14 15 k Grüne Tentakel an innerstädtischen Gebäuden sind Street Art Künstler Filthy Lukers‘ ganz persönliche Interpretation von „Natur in der City“. W er nach Trends in Mode, Design, Lifestyle und Architektur sucht, kommt an der französischen Agentur Carlin International nicht vorbei. Seit 1947 erspürt das Unternehmen mit seinen „trend forecasting books“ den Zeitgeist und was in naher Zukunft „in“ ist. Für 2014 haben sie jedenfalls eine beruhigende Perspektive ausgemacht: „Es wird fröhlich“ – trotz der Up- and Down-Phase zwischen Finanzkrise und Innovationslust. Und schwelgen erst mal in Farben: Von der Sonne gebleichte Farben wie Butter, Sonnenblume, Mango und Anis in Balance mit neutralen Tönen wie Lehm oder Blau sowie Grün in allen Variationen sollen frischen Wind in die allgegenwärtigen Töne Nude, Greige und Taupe im Interiour-Design bringen. Rooftop Gardening Und auch vor der Tür wird es grün: Ganz im Sinne des Trends Neo-Ökologie wird die Poesie der Natur noch stärker in das Grau der Städte Einzug halten und immer mehr Kräutergärten werden mit urbaner Umgebung kontrastieren, meinen die Carlin-Trendspezialisten. „Lebende Wände“ oder „vertikale Gärten“ im Privaten wie auch an öffentlichen Gebäuden boomen, wie beim Musée Branly von Jean Nouvel in Paris. Und der englische Street-Art Künstler Filthy Luker installiert leuchtend grüne – wenn auch nicht echte –, wie Tentakel einer Riesenkrake anmutende Monsterpflanzen an Gebäuden und bringt so das Grün im XXL-Format in die Städte. Dass Gemeinschaftsgärten, Blumen- und Gemüseanbau in Baulücken und auf Dächern genauso nutzbringend wie kommunikativ sind und wei- terhin stark im Trend liegen, bestätigt der amerikanische Architekt und Blogger John Hill in seinen „12 Vorhersagen für Architektur 2013“ auf der Online-Plattform houzz.com. Nicht nur in New York, wo Community- und Rooftop-Gardens aus dem Boden sprießen und sogar Honig und legefrische Eier produzieren, oder etwa vor dem Weißen Haus, wo Michelle Obama kürzlich einen Kräuter- und Gemüsegarten anlegte. Ideen gibt es auch in Deutschland – unter anderem in Berlin: Hier entstanden auf dem Dach eines alten Gasometers tortenstückförmige Eigentumswohnungen mit dazugehörigen Dachgärten. Mitten in München verwirklichte eine Familie kürzlich ein grün-innovatives Bauprojekt: Das alte Satteldach eines ehemaligen Mietshauses wurde durch ein weiteres Geschoss mit Flachdach ersetzt und mit einer Blumenwiese bepflanzt. Und es werden immer mehr. „Ein Garten auf dem Dach steigert nicht nur den Wert einer Stadtimmobilie, sondern ist auch gleichzeitig ein Kostensparmodell“, erläutert Wolfgang Ansel vom Deutschen Dachgärtner Verband e.V. den Trend zur grünen Dachexpansion. Schließlich sei der Grund und Boden für das private Gartenglück ja bereits bezahlt. Drinnen ist das neue drauSSen Die Natur kurzerhand von draußen nach drinnen zu holen, ist ebenfalls trendy. Am Amsterdamer Flughafen Schiphol wurde Urban Gardening kurzerhand in die Abflughalle verlegt: Zwischen grünen Baumwipfeln, Fahrradklingeln und Hundegebell sitzen Fluggäste auf Baumstämmen und sehen virtuellen Schmetterlingen zu. „An diesem Ort verändert k k Dem Himmel ein Stückchen näher… Baumhäuser werden heutzutage auch gerne von den Großen als Hort des Rückzugs vom Alltag genutzt. 16 17 k k Rooftop Garden in The Loop, Downtown Chicago „Vertikale Gärten“ durch dicht bepflanzte Außenwände wie hier am Pariser Musée Branly sind Trend. der Megatrend Neo-Ökologie die Räume, in denen wir leben. Öffentliche, städtische Bereiche werden im Zuge des Megatrends Urbanisierung als lebenswerter Gestaltungsraum neu definiert“, so erklärt Cornelia Kelber, Redakteurin der Frankfurter Zukunftsinstitut GmbH die neu interpretierte Liebe zur Natur. sich auch Franziska Essler von der Starnberger raumstation Architekten GmbH. „Vom Bauherren her geht der Trend im Gebäudebereich zu ökologischen Materialien. Statt Vollwärmeschutzhäusern werden vermehrt wieder reine Ziegelhäuser nachgefragt, mit einer Dachdämmung aus Zellulose oder etwa Holzfasern“, meint die Architektin. Das neue „Outdoor comes indoor“-Konzept hat Carlin auch im Billunder Hauptsitz von Lego entdeckt, wo Wände im blau-weißen Wolkenlook, Vogelgezwitscher und Blumenduft die Sinne fürs Natürliche wecken. Und erst kürzlich eröffnete im Brunnthaler Ikea-Möbelhaus eine neue Verkaufsfläche für Garten- und Außenmöbel, die wie ein riesiges Treibhaus anmutet – luftig, hell, grün – mit einem Café im Freiluftstil. Spannend findet sie, Materialien im Hausbau in einen anderen Kontext zu setzen, was sie selbst auch immer wieder bei ihren Bauvorhaben umsetzt: Bei einem jüngsten Bauprojekt haben die raumstation Architekten zum Beispiel gebogene Drahtschuppen, wie sie zur Jahrhundertwende in Berlin häufig für Zäune verwendet wurden, zum Treppengeländer oder als Absturzsicherung vor Fenstern umfunktioniert. Oder französische „Claustra“-Ziermauerziegel auf Fassaden angebracht, die üblicherweise als Trennwände oder Zäune verwendet werden. Interiour Design goes nature Immer mehr Einzug hält die Natur auch in den eigenen vier Wänden. Vermutlich, weil der Megatrend „zurück in die Stadt“ weiterhin anhält, wie Alexander Rieck, Partner des Laboratory for Visionary Architecture (LAVA) in Stuttgart, festgestellt hat. Die neuesten Couch-Entwürfe „Borghese“ des Möbeldesigners Noé Duchaufour-Lawrance erinnern an Bäume und Blattwerk; die Israelin Shayna Leib kreiert mit ihrer „Organelle-Serie“ Glasskulpturen, die wie Meerespflanzen aussehen. „Dazu passend gibt es Muster und Dekore, bei denen die Welt der Pflanzen, Bäume und Blumen Modell stehen – bunte Stoffe im Fischschuppen-Dessin, Jacquards und Drucke im überbordenden Blumenmuster oder Leder im Look ungewöhn licher Tierhäute“, erläutert Sabine Fanny Karpf von Carlin. Mit der Suche nach ungewöhnlichen, „natürlichen“ Materialien für den Innen- wie Außenbereich und diese neu zu kombinieren, beschäftigt Moderne Rückzugsorte Neben so viel Revitalisierung der Natur gibt es noch einen weiteren Aspekt in der Architektur, der Trends auslöst: Die weiterhin fortschreitende digitale Vernetzung. Mehr als 3,7 Millionen E-Mails wechseln weltweit ihren Empfänger – pro Sekunde, meldet Radicati.com, gewünschte, aber auch zahllose unerwünschte. Zunehmend ziehen sich User deshalb auch wieder aus Netzwerken wie Facebook zurück, sehnen sich nach einer „well controlled privacy“, heißt es im Trendbericht 2014 des Europäischen Zentralverbandes Visuelles Marketing Merchandising. Das sogenannte „Downshifting“ – eine Bewegung zu freiwilliger Einfachheit und Minimalismus spiegelt sich immer mehr auch im Bereich Wohnen und Bauen wider. Der Trend zum Baumhaus – vor allem für Erwachsene – ist ein Beispiel für diese Bewegung des bewussten Rückzugs, der Einfachheit und Privatheit. Johannes Schelle, Baumhausspezialist aus München, entwirft mit seiner Firma „Baumbaron“ private Baumhäuser und sogar ganze Baumhaushotels. „Baumhäuser sind ein Ort des Rückzugs, zugleich ein Abenteuer für Körper, Geist und Seele“, findet der Zimmermeister. Mit Dachfenstern und einer freien Sicht auf die Sterne, Stromanschluss, fließend Wasser und gedämmten Wänden aus Kork, Schafwolle oder Hanf werden Baumhäuser zum ganz persönlichen Luxusrefugium. alle Familienmitglieder und für (Koch-)Feste weiterhin bestehen, bestätigt Adrian Zenere, Direktor der australischen Archizen Architects, in seinen „Architektur-Trends 2013“. Womit wir wieder am Anfang unserer Geschichte wären: Mit diesen Aussichten wird 2014 mit Sicherheit fröhlich! v Barbara Brubacher Heiner Scharfenorth von Architektur & Wohnen sieht ebenfalls die Downshift-Bewegung in der Architektur angekommen: Er nennt es „Minimal-Architektur“ und meint, dass möglichst reduzierte Behausungen auf kleinstem Raum ihrem Besitzer einen ganz persönlichen Lustgewinn bringen. Und wenn ein Zufluchtsort außerhalb der eigenen vier Wände nicht realisierbar ist, wird das Eigenheim zum Ruhepol, wo alles im (langsameren) Flow ist. „Danach sehnen sich Menschen besonders in einer Zeit, in der alles schnell geht und Effektivität an vorderster Stelle steht“, so das Portal muenchenarchitektur.com in seinen „Wohntrends 2013“. „Bei Inneneinrichtungskonzepten ist deshalb weiterhin Offenheit mit fließenden Übergängen gefragt“, meint der Bauträger Euro Grundinvest: Klar abgegrenzte Räume verwandeln sich in weiche, miteinander verschmolzene Flächen, wobei Parkettböden über die gesamte Fläche ohne Schwellen verlegt werden. Selbst das Badezimmer wird zum barrierefreien Wohlfühltempel, mit freistehender Dusche im Raum. Glücklicherweise bleibt der Trend zur offenen Küche als „Nervenzentrum“ des gesamten Hauses, als kommunikativer Versammlungsraum für k BARBARA BRUBACHER Barbara Brubacher, Jahrgang 1968, lebt und arbeitet in Neuried bei München. Nach ihrem Magisterabschluss in Kommunikationswissenschaften, Neuerer und Alter Geschichte arbeitete sie als feste freie Journalistin für die Süddeutsche Zeitung. 2010 gründete sie ihre eigene Text & Lektorats-Agentur die.optimierer und ist seitdem für diverse Verlage als Redakteurin tätig, unter anderem für CUBE – Das Metropolmagazin für Architektur, modernes Wohnen und Lebensart mit Ausgaben in Hamburg, Essen, Düsseldorf, Köln/Bonn, Frankfurt, Stuttgart, München und bald Berlin. Außerdem lektoriert sie Publikationen der Münchner Frank Trurnit Verlagsgruppe. 18 19 Fluch r De 1998 6,8 % der Eines ist klar: Irgendwann werden sie wieder steigen, die Zinsen am Kapitalmarkt. Doch wann und wie schnell? Eine Antwort auf diese Frage sehnen viele herbei: private ebenso wie professionelle Anleger, also Stiftungen, Versicherer und Fonds. Sie alle leiden darunter, dass Wertanlagen seit Jahren immer weniger abwerfen, weil die Zentralbanken die Märkte mit billigem Geld fluten und die Zinsen auf Rekordtiefstände drücken, um die Wirtschaft anzukurbeln. Anders ausgedrückt: Ein bisschen mehr Inflation wäre wünschenswert. sinken den n e s n i Z 2013 1,5 % 20 D ie Not ist groß: Deutsche Kapitalsammelstellen müssen in der Regel mindestens vier Prozent Rendite erwirtschaften, um ausschütten zu können, was sie ihren Kunden versprochen haben. Mit Zinsen von aktuell 1,5 Prozent für eine zehnjährige Bundesanleihe ist das nicht drin, zumal die – wenn auch geringe – Inflationsrate alles an Rendite wegfrisst. Begrenzter Spielraum Das Problem wäre nicht so groß, wenn es sich um eine kurzfristige Erscheinung handeln würde. Tatsächlich aber rentieren deutsche Staatsanleihen bereits seit 2009 mit weniger als vier Prozent. Selbst riskante Ramsch-Unternehmensanleihen werfen kaum mehr ab als sechs Prozent – und in sie dürfen die meisten Fonds ohnehin nur begrenzt investieren. Der Spielraum ist also äußerst klein. Und erst wenn sich die Konjunktur im Euroraum wieder stabilisiert, wird die Politik des leichten Geldes ein Ende haben. In den USA gibt es bereits erste Anzeichen dafür, dass die Notenbank Federal Reserve (Fed) ihren Kurs ändern könnte. Allein: So nebulös, wie sich Fed-Gouverneur Ben Bernanke ausdrückt, ist ungewiss, wann dieser Zeitpunkt endlich da ist. Doch vor allem langfristig orientierten Anlegern läuft die Zeit davon. Ihnen hilft bislang noch, dass lang laufende, höher verzinsliche Anleihen ihren Anlagebestand dominieren. Allerdings endet demnächst die Laufzeit vieler dieser Papiere. Ersatz muss her – und meist sind das niedriger verzinste Wertpapiere. Noch schwerer hat es, wer jetzt komplett neu anlegt, etwa weil er eine Stiftung gründen will – laut Bundesverband Deutscher Stiftungen ist das im vergangenen Jahr im Schnitt immerhin zweimal pro Tag passiert. Kurzum: Viele Anleger müssen ihre Strategie überdenken. „Sie können heute nicht mehr blindlings in Anleihen investieren“, sagt Jürgen Olbermann, Geschäftsführer von Feri Trust, einem Beratungs- und Analysehaus für institutionelle Anleger in Bad Homburg. Elke König, die Präsidentin der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin), warnte jüngst die Versicherer. Sie hätten sich zwar auf das Problem der 21 dauerhaften Magerzinsen eingestellt. Doch angesichts der jetzigen Bedingungen gehe die Ertragskraft ihrer Kapitalanlagen zwangsläufig zurück. „Ohne rechtzeitige Vorsorge kann das auf lange Sicht kaum gut gehen.“ Die Sorge wächst Das Fondshaus Natixis Global Asset Management hat in einer aktuellen Umfrage unter 40 institutionellen Investoren in Deutschland herausgefunden, dass 87 Prozent der Befragten die niedrigen Renditen für ein bedeutendes Risiko halten. Zwei Drittel rechnen in den kommenden drei Jahren mit Problemen bei der Finanzierung langfristiger Verpflichtungen. Die betroffenen Fonds müssen ihre Anlagen daher heute viel stärker streuen, ohne dabei ihre Ziele aus dem Auge zu verlieren: stetige Einnahmen bei Kapitalerhalt. Auf der Suche nach Rendite seien viele zuletzt auf Schwellenländer- oder Niedrigbonitätsanleihen ausgewichen, sagt Olbermann von Feri Trust. „Aber man verlässt damit den sicheren Hafen. Nach den Statuten dürfen viele professionelle Anleger, etwa Stiftungen, fast ausschließlich in Anleihen guter Bonität investieren.“ Auch Aktien gehören dazu. Hier hätten viele Anleger, besonders Stiftungen, den Spielraum, den ihnen die Aufsicht gewährt, nicht ausgeschöpft. Angesichts hoher Kursschwankungen und fehlender Ausschüttungs sicherheit hielten sie sich zurück. Laut einer Studie des Centrums für soziale Investitionen und Innovationen (CSI) der Universität Heidelberg dürfen lediglich 36 Prozent aller 20.000 deutschen Stiftungen völlig ohne Anlageeinschränkungen agieren. Alle anderen müssen sich an Vorgaben halten, wobei knapp die Hälfte der Stiftungen den Kapitalerhalt als wichtigstes Ziel definiert hat. „Die Erfordernisse des Marktes verlangen von den Stiftungen, sich wie sonstige institutionelle Investoren als professionelle freie Anleger auf dem Kapitalmarkt zu bewegen“, heißt es in der Studie aus dem Jahr 2012 zum Anlageverhalten der kapitalstärksten deutschen Stiftungen. Trend zu alternativen Investments In der Gunst gestiegen sind daher Vermögensklassen, die bei vergleichsweise überschaubarem Risiko noch stetig Zinsen bringen – zum Beispiel Infrastruktur-, Hedge- und Private-Equity-Fonds. 73 Prozent der von Natixis befragten Anleger halten die Investition in diese alternativen Investments für essenziell, um Risiken zu streuen. Vor allem Private-Equity- und Hedge-Fonds – in Deutschland wegen ihrer teils rüden Anlagemethoden und hohen Renditeziele als „Heuschrecken“ in Verruf geraten – gehen inzwischen auf ihre Kunden zu und öffnen sich. „Sie diskutieren diese Strategien mit ihren Anlegern heute viel intensiver als früher“, sagt Feri-Geschäftsführer Olbermann. Das sei vor allem für Stiftungen wichtig, die darauf achten müssten, dass die Art der Anlage in Private Equity nicht einem gemeinwohlorientierten Stiftungszweck widerspricht. Gefragt: Immobilien Mit Blick auf die sehr guten Objekte sei der Markt daher inzwischen fast leer gefegt. Die Versicherer schlügen deshalb immer öfter in B-Lagen und bei nicht-erstklassigen Häusern zu. Mit Blick auf die Nutzungsart der Immobilien erwartet Ernst & Young den größten Sprung im Einzelhandel und Wohnen – hier wollen 87 beziehungsweise 74 Prozent der Befragten zukaufen. Gestiegene Anforderungen Aber ganz gleich, ob Aktien, Immobilien oder Schwellenländeranleihen: Für viele institutionelle Investoren wird es immer schwieriger, das Risiko ihres Portfolios unter Kontrolle zu halten. Vor allem kleine Stiftungen und Versicherer stellt das vor große Herausforderungen. „Die Anforderungen an die Qualifikation der Mitarbeiter sind enorm gestiegen“, weiß FeriGeschäftsführer Olbermann. Am attraktivsten aber sind derzeit für viele Anleger die Immobilien. Zwei Drittel der befragten Versicherer etwa wollen ihre Immobilienquote erhöhen, so das Ergebnis des diesjährigen „Trendbarometers Immobilienanlagen der Assekuranz“ der Berater von Ernst & Young (E&Y). 90 Milliarden Euro ihrer Kapitalanlagen von insgesamt 1,3 Billionen Euro haben die Versicherer in Immobilien investiert, Tendenz steigend. Zum Jahresende 2013 wird die Immobilienquote der Versicherer laut Studie von 7 auf 7,6 Prozent steigen. Aufsichtsrechtlich sind laut Ernst & Young sogar bis 25 Prozent möglich. „Die Handbremse ist gelockert“, sagt E&Y-Partner Dietmar Fischer. Bleibt die Frage, was eigentlich passiert, wenn die so heiß ersehnte Zinswende wirklich kommt. Schließlich fallen dann im Gegenzug zu steigenden Renditen die Kurse der Anleihen – auch der, die die Investoren bereits halten. Daraus könnte sich Abschreibungsdruck ergeben. Feri-Geschäftsführer Olbermann gibt jedoch Teilentwarnung: Langfristanleger bewerten ihre Anleihen in der Regel nicht zum Marktwert und müssen sie daher bei einem Kurssturz nicht wertberichtigen. Und letztlich hänge es von der Entwicklung der Konjunktur ab, wie die Märkte reagieren. Unter dem Strich wäre eine solche Wende jedoch positiv, sagt Olbermann: „Eine Zinswende wäre für die gesamte Anlegergemeinschaft ein Segen.“ Kurzfristig allerdings, werde es nicht dazu kommen. Dabei treibt die Versicherer weniger die Angst vor der Inflation in die Immobilien, wie es bei vielen Privaten der Fall ist. Es ist vielmehr die Sorge, die Garantieverzinsung nicht einhalten zu können. Langfristig vermietete Objekte lösen Staatsanleihen als Anlage teilweise ab. Dabei werfen auch Immobilien nicht mehr so viel ab wie früher: Hätten die Versicherer 2012 noch durchschnittlich 5,2 Prozent für direkte Investments via Immobilienkäufe sowie 5,8 Prozent für indirekte via Fondskäufe erwartet, seien es 2013 nur noch 4,9 und 5,5 Prozent. „Den Verantwortlichen geht es vor allem um ein gut gestreutes Portfolio“, sagt Fischer. v Meike Schreiber k MEIKE SCHREIBER Meike Schreiber, Jahrgang 1975, arbeitet als freie Journalistin in Frankfurt. Von dort schreibt sie vor allem über Bank- und Immobilienthemen, etwa für Manager Magazin Online. Ihr besonderes Steckenpferd ist die bunte Welt der Landesbanken und Sparkassen. Diesen Themen hat sie sich auch bei der Financial Times Deutschland gewidmet, wo sie von Anfang 2002 bis zur Einstellung der Zeitung im Jahr 2012 als Redakteurin gearbeitet hat. 22 Finanzierung von Fans und Freunden 2.000 Euro für ein neues Tanztheaterstück, 9.000 Euro für eine Radtour nach China, eine halbe Million Dollar für einen neuen Film oder 32 Millionen Dollar für die Neuentwicklung eines Smartphones. Wer neuerdings Geld braucht, fragt seine Freunde und Fans aus den sozialen Netzwerken. Denn die oben zitierten Finanzierungsfragen sind reale Projekte, die durch Crowdfunding zustande gekommen sind oder noch umgesetzt werden sollen. Eine ganz neue Dynamik bekommt der junge Markt nun durch die spezielle Variante des Crowdinvesting. estatements magazin 02|13 23 estatements magazin 02|13 C rowdfunding ist die Schnittstelle, an der soziale Netzwerke monetäre Bedeutung gewinnen. Eine Masse (englisch: crowd) tut sich mit kleinen Beträgen zusammen, um eine große Finanzierung zu stemmen. „Crowdfunding kommt von der Musikindustrie oder besser von der Abkehr davon zustande“, erläutert Konrad Lauten von Inkubato, einer deutschen Crowdfunding-Plattform. So haben Musikbands vor rund zehn Jahren erstmals über ihre Fans neue Platten oder Konzerte finanziert. Finanzaufsicht SEC ausformuliert. Und schon jetzt haben über 80 Investmentplattformen eine Zulassung für den Markt beantragt, der wohl in der zweiten Jahreshälfte ins Rollen kommen wird. Seine Größe wird sich laut einer aktuellen Studie der Elite-Universität Berkeley auf bis zu vier Milliarden Dollar pro Jahr belaufen. „Crowdfund Investing könnte den Markt grundlegend verändern“, urteilen die Forscher um Professor Lee Fleming. Eine neue Assetklasse werde sich hier entwickeln. Wachsender Markt In Deutschland erwartet Klein für dieses Jahr ein Finanzierungsvolumen im Crowdinvesting-Bereich von 13 bis über 15 Millionen Euro. Der Markt könnte sein Volumen damit verfünffachen. Zum Vergleich hat sich das Crowdfunding im ersten Halbjahr ebenfalls im Volumen verdoppelt, in dem zwei Millionen Euro für Projekte eingesammelt wurden. Auf Sicht von drei Jahren traut Klein dem Crowdfunding hierzulande ein Marktvolumen von zehn Millionen Euro zu, dem Crowdinvesting etwa die fünffache Größe. In der EU ist der Markt für Crowdinvesting Lauten zufolge zwar weltweit Vorreiter, aber auf höchst unterschiedlichem Niveau. In einigen Ländern gibt es erste Regulierungsansätze, in anderen Ländern gibt es gar keine Regulierung. Erste Gesprächsrunden auf EU-Ebene in Brüssel, um zu einem einheitlich regulierten Markt zu kommen, endeten bislang ergebnislos. Seitdem Crowdinvesting hinzugekommen ist, wächst der Markt noch rasanter als bereits zuvor. Inzwischen gibt es spezialisierte Plattformen, die beispielsweise ausschließlich Erotikfilme oder medizinische Entwicklungen finanzieren. „Crowdinvesting hat seit 2012 an Fahrt gewonnen und inzwischen ein höheres Volumen als Crowdfunding erreicht“, erklärt René Klein, Geschäftsführer von „Für Gründer“. Seit Mitte 2011 gibt er einen Crowdfunding Monitor heraus, seit vergangenem Jahr nun auch einen Crowdinvesting Monitor. „Beim Crowdfunding auf Startnext in Deutschland oder Kickstarter in den USA ist die Gegenleistung ein materielles oder immaterielles Gut, aber kein Geld.“ Anders sieht es bei Crowdinvesting aus. Auch hier sind es in der Regel Plattformen, auf denen sich Projekte präsentieren, die innerhalb von ein bis zwei Monaten Gelder einsammeln. Doch hier werden Beteiligungen am Unternehmen, Verzinsungen oder Renditen für die Einlagen zugesagt. „Dass man Crowdfunding als Finanzierungsinstrument für Start-ups benutzt, ist neu“, erklärt Lauten. Es ist auch genau dieser Bereich, der Start-up-Firmen aufmerken lässt. „Wir sehen Crowdfunding nicht als Wettbewerb“, erklärt Harald Heidemann, Vorstandsmitglied der S-UBG, einer regionalen Beteiligungsgesellschaft einiger Sparkassen in der Region um Aachen. Hier ginge es „meist um vergleichsweise geringe Summen. Ab einer gewissen Größenordnung müssen sich ja auch die Finanzierer regulieren lassen“. Eine Hürde, die nur wenige Initiatoren genommen haben. Eine Ausnahme ist hier etwa Bergfürst mit einer Zulassung der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht. „Wir haben hier auch Kontakte aufgenommen und diskutieren, inwieweit man komplementär Crowdfunding bei Venture-Capital-Finanzierungen einsetzen kann“, beschreibt Heidemann sein Interesse an dem neuen Marktsegment. „Oft sind Finanzierungen über Crowdfunding eine Vorstufe, die Unternehmen erst eine Struktur ermöglichen, ab der sie zu uns oder anderen Venture Capital Gesellschaften kommen.“ Neue Assetklasse Zunächst war Crowdinvesting sogar auf Europa beschränkt. US-Präsident Barack Obama hat erst im April letzten Jahres mit dem „Jobs Act“ eine gesetz liche Grundlage geschaffen, die Crowdinvesting auch in den USA ermöglicht. Eine Entscheidung, die über die nächsten Jahre enorme Auswirkungen haben dürfte. Die genaue Marktregulierung wird derzeit von der Nicht ohne Risiken Egal, ob Funding oder Investing warnt Lauten davor, zu blauäugig in Projekte zu investieren. „Man sollte sich schon Gedanken darüber machen, ob derjenige in der Lage ist, das vorgestellte Projekt zu realisieren.“ Mythen gibt es bereits im jungen Markt. So wird von den Medien meist der Kinofilm der Serie „Stromberg“ als Vorzeigeprojekt in Sachen Crowdfinanzierung zitiert. In der Branche zweifelt man dieses Ergebnis an. Dass man vor zwei Jahren bereits „innerhalb von einer Woche eine Million Euro einsammeln konnte, halte ich für ein von der Marketingagentur produziertes Projekt“, meint Lauten. Er habe sich selbst an dem Projekt beteiligt, ohne Feedback bekommen zu haben. „Hätten sie das Projekt über eine der vielen Plattformen abgewickelt, wäre es transparent gewesen“, kritisiert er. Mittlerweile ist die Millionengrenze auch für hiesige Plattformen zu knacken. Mitte Juni 2013 hat dies erst wieder das Dresdner Start-up AoTerra gemeistert. Es verbindet Cloud-Computing mit Heizungssystemen. Stark vereinfacht soll das Heizen mit der Wärme von Computern ermöglicht werden. Auf dem Portal Seedmatch sammelten die findigen Sachsen dafür in wenigen Wochen über eine Million Euro ein. Bis 2017 soll sich das Investment der CrowdFinanzierer zumindest verdoppeln, verspricht die optimistische Beispielrechnung auf der Plattform. Gier und ein unregulierter Markt haben allerdings ihre Risiken, vor allem können Projekte auch scheitern. v Thomas Rosenhain k THOMAS ROSENHAIN Thomas Rosenhain, Jahrgang 1971, arbeitet seit 2002 als Redakteur bei der SparkassenZeitung und schreibt auch für die Fachzeitschriften Sparkasse und Betriebswirtschaftliche Blätter, die sich ebenfalls an Fach- und Führungskräfte aus der Sparkassen-Finanzgruppe richten. Bereits früh im Medienbereich tätig, war er 1989 Herausgeber des ersten deutsch-deutschen Jugendmagazins. Seine Themengebiete umfassen wirtschaftliche und gesellschaftspolitische Felder, insbesondere aber aktuelle Fragestellungen der Anlage- und Investmentwelt sowohl der Privatanleger als auch der institutionellen Investoren. 24 Dreck unter den Nägeln Säen, jäten, ernten – Städter entdecken ihren grünen Daumen. Während Gärtnern früher oft als spießig angesehen wurde, entspricht es aktuell voll dem Zeitgeist. Und ist aus soziologischer Sicht weit mehr als ein bloßer, spaßiger Zeitvertreib. 25 26 W enn man so will, ist die Geschichte uralt. Sie beginnt am Euphrat vor rund 2.600 Jahren. Nebukadnezar II herrscht über das Neubabylonische Reich, das sich zwischen Persischem Golf, Mittelmeer und Rotem Meer erstreckt. Der Legende nach lässt der König in der Hauptstadt Babylon einen mächtigen Palast mit Gewölbe und Pfeilern, Bewässerungsbrunnen und versiegelter, mehrstufiger Dachkonstruktion errichten. Eine dicke Humusschicht wird aufgebracht, aus der bald im Überfluss Pflanzen sprießen. Was der König da verfügt, wird nichts Geringeres als eines der sieben Weltwunder der Antike. Es sind die Hängenden Gärten von Babylon, Dachgärten in einer der prächtigsten Städte der Antike. Und es ist der Beginn des „Urban Gardening“ – wenn man so will. Aneignung öffentlichen Raums So antik und elitär die Hängenden Gärten waren, so postmodern und subversiv ist das, was heute in Großstädten weltweit passiert. Menschen kippen Muttererde in Innenhöfe und züchten dort Zucchini und Radieschen, bepflanzen Baumscheiben auf dem Bürgersteig mit Minze und Kapuzinerkresse oder zimmern aus Bauholz und Paletten Hochbeete. Es ist die Aneignung des öffentlichen Raums durch den Bürger. So oder so: Die Natur erhält Einzug in die Städte und Kunstprojekte wie die „Nutzgärten vor urbaner Betonkulisse – Selbstversorger aus der Nachbarschaft bepflanzen zwölf Parkplätze“, die die Künstlergruppe Pony Pedro 2007 auf dem Dach eines leer stehenden Parkhauses am Berliner U-Bahnhof Kottbusser Tor realisierte, sind nur medienwirksame Eisbergspitzen. Überall gedeihen Stadtteil- oder Nachbarschaftsgärten oder es sprießt auf den Dächern – wie seit einigen Jahren etwa in New York. „Nutzpflanzen verkaufen sich plötzlich besser als Zierpflanzen“, schreibt die Soziologin Christa Müller, Herausgeberin der Essay-Sammlung „Urban Gardening“. 27 Ein besonderes Bewusstsein dessen, was sie tun, kann den GuerillaGärtnern unterstellt werden, mit denen das moderne „Urban Gardening“ begann. Vor allem sie wollen mit ihrem Handeln politische Protestbotschaften aussenden. Der grüne Aktionismus kam in den 1970er-Jahren im New Yorker Stadtteil Manhattan auf. Ein bekannter Vertreter in Europa ist der Londoner Richard Reynolds, der mit seinem Buch „Guerilla Gardening“ von 2004 einen wahren Boom der eigenmächtigen Bepflanzung der Innenstädte auslöste. Ein mit Müll übersätes Beet vor seiner Haustür gab den Anstoß. Reynolds besorgte sich Tulpen, Stiefmütterchen und Lilien und legte los. Begehrt: Schrebergärten Dass Gärtnern in ist, verdeutlicht auch der Run auf die Kleingartenanlagen. Die Wartelisten auf eine Parzelle sind oft lang, und das reglementierte Vereinsleben, das Arbeitseinsätze und einen prozentualen Anteil des Schrebergartens als zu bewirtschaftende Nutzfläche vorsieht, schreckt junge Familien nicht mehr. Man genießt die Tasse Kaffee unter dem blühenden Apfelbaum mit Blick auf das Beet, wo die Sprösslinge die Erde durchstoßen, und nimmt den Rest hin. Wobei schwarze Fingernägel vom Säen und Jäten genauso dazugehören wie Schweißränder auf der Kleidung vom Mähen und Häckseln. Denn Gärtnern ist Arbeit, eine Arbeit, die wahrhaft erdet. Für Städter weicht sie den Gegensatz zwischen Stadt und Land auf. „Der Garten wird ein Erfahrungsraum für die grundlegenden Zusammenhänge des Lebens“, sagt Soziologin Müller. Wer aus eigener Ernte koche und Lebensmittel für den Winter weiterverarbeite, werde „für die Natur sensibilisiert“. Robert Harrison, Autor des Buches „Gärten. Ein Versuch über das Wesen der Menschen“, schreibt sogar, dass die Kultivierung des Bodens und die Kultivierung des Geistes „wesensgleiche Tätigkeiten“ sind. So könnte die Erkenntnis durchsickern, dass die industrielle Landwirtschaft laut Weltagrarbericht 2010 „unter anderem wegen ihres immensen Ressourcenverbrauchs und ihrer Abhängigkeit vom Öl nicht in der Lage ist, die Menschheit zu ernähren“, schreibt Müller. Vor allem eine Spielart des „Urban Gardening“, das „Urban Farming“, setzt hier an – und auf local food. Hier wird gegärtnert, um zu zeigen, wie es besser laufen könnte mit der Lebensmittelproduktion. Du bist, was du isst Der Volkswirtschaftler Niko Paech, Gastprofessor an der Universität Oldenburg, deutet städtische Nutzgärten als „Phänomen einer Postwachstumsökonomie“. Mehr Karotten und Tomaten aus eigener Zucht wollen die neuen Gärtner essen und weniger Gemüse aus industrieller und ressourcenaufwendiger Nahrungsmittelproduktion – von der Hand in den Mund, klimaneutral, als politisches Statement. „,Urban Gardening‘ ist hochgradig politisch, es verkörpert den konstruktiven Aufstand gegen den Wahnsinn der industriellen Landwirtschaft und Lebensmittelbranche“, sagt Paech. Wenn Großstädter kollektiv ihren grünen Daumen entdecken, bildet sich ein urbaner, postmaterieller Lebensstil. „Allein, wie viel Mühe es kostet, nur eine Pflanze durchzubringen, das verändert das Konsumbewusstsein“, sagt Robert Shaw, Geschäftsführer des Berliner Prinzessinnengarten in Kreuzberg, dem Vorzeigeprojekt städtischer Landwirtschaft in der Hauptstadt. Ökologisch bezeichnen die Betreiber ihr Projekt, aber auch als soziale Landwirtschaft: Wer mitmache, schaffe in einem Bezirk mit vielen sozialen Problemen „einen neuen Ort urbanen Lebens“. Mietverhältnis Ackerparzelle Aber das „Urban Gardening“ kann auch als schnödes Geschäftsmodell dienen. Die Bonner Firma „Meine Ernte“ bietet Städtern bundesweit Ackerparzellen zur Miete an – Ernte inklusive, „alles ökologisch bewirtschaftet und ohne den Einsatz von chemisch-synthetischen Pflanzenschutzmitteln“. Bundesweit gibt es über 20 Standorte – in Köln, Hamburg, Frankfurt ebenso wie in Stuttgart, Essen und Wiesbaden. Gartengeräte und Gießwasser werden gestellt. 179 Euro kostet ein 45 Quadratmeter großer Garten in der Saison, geerntet werden könne „im Wert von rund 600 Euro“. Unter dem Begriff „postmaterielles Wohlstandsmodell“ rangiert solches Gärtnern unter Wissenschaftlern, politisch aufgeladen ist es weniger – es ist eher so etwas wie die institutionalisierte Form des „Urban Gardening“, die Nachhut der Avantgardisten hat es übernommen. „Genießen Sie die Zeit in der Natur, mit alten und neuen Freunden, Ihrer Familie, Ihren Kindern oder Enkelkindern oder auch einfach allein, um abzuschalten und den Alltagsstress hinter sich zu lassen“, wirbt die Firma „Meine Ernte“ auf ihrer Website. Fast zynisch klingen Parolen wie solche, schaut man auf andere Erdteile. In einem Elendsviertel am Rande der brasilianischen Metropole Rio de Janeiro legten Bewohner jüngst einen eigenen Gemüse- und Zierpflanzenpark an. Für die Mitmachenden wurde die Favela Vidigal so ein Stück lebenswerter. Und in Detroit, der seit Jahrzehnten ausblutenden „Motorcity“ im US-Staat Michigan, die im Juli 2013 Insolvenz anmelden musste, wird „Urban Gardening“ seit ein paar Jahren als eine kleine Chance für die Stadt gesehen. Dass die Hängenden Gärten von Babylon jemals existierten, konnte von Historikern übrigens nie abschließend belegt werden. Und ob von ihnen ein solcher Effekt auf die Babylonier ausging, darf stark bezweifelt werden. Vor rund 2.600 Jahren ließ Nebukadnezar II übrigens noch ein Bauwerk fertigstellen: den Turm zu Babel, der nach alttestamentarischer Erzählung als Versuchung Gottes galt und als Strafe die bekannte Sprachverwirrung zur Folge hatte. Doch die urbanen Gärten von heute sollen Gegenteiliges bewirken: Menschen zusammenbringen und in der Anonymität mancher Großstadtschlucht wieder miteinander ins Gespräch bringen. v Stefan Weißenborn k STEFAN WEISSENBORN v Ernten, was man sät – auch ein Aspekt des Trends „Urban Gardening“. Stefan Weißenborn arbeitet als freier Journalist und Blogger in Berlin mit Schwerpunkt auf den Themenkomplexen Gesellschaft, Reisen und Mobilität. Zu seinen Kunden gehören Tageszeitungen, Magazine, Online-Medien und der dpa-Themendienst, die Verbraucherredaktion der Deutschen Presse-Agentur. Wie erdend und entspannend die Gartenarbeit sein kann, weiß er seit Kurzem aus eigener Erfahrung als Pächter einer Kleingartenparzelle. Selbstversorger will Weißenborn trotz reicher Bohnen- und Tomatenernte zwar nicht sein, Dreck unter den Fingernägeln kommt aber trotzdem vor, wie er beim Tippen auf der Tastatur immer wieder feststellt (www.boardingcompleted.me). 28 Selfstorage – Zeitzeugen zeitgeistig verwahren Wer kennt das nicht – trotz vermeintlicher Disziplin und dem festen Willen, nach dem Prinzip des „Simplify your life“ die Devotionalien des Lebens so gering wie möglich zu halten, sammelt sich im Laufe der Zeit im eigenen Haushalt meist doch so einiges an: Neben Büchern und Kleidungsstücken auch Schallplatten und der entsprechende –spieler dazu, Modelleisenbahnen oder selten benötigte Sportgeräte, zumeist erworben wenn der Sommer vor der Tür und die Strandfigur weit entfernt war. 29 30 31 v Aus den Augen, aber sicher verstaut und nicht aus dem Sinn: In Selfstorage-Anlagen wie hier bei PRIME Selfstorage sind Güter aller Art wohl verwahrt. I rgendwann platzt auch der geräumigste Keller oder Dachboden aus allen Nähten und es drängt sich die Frage auf, wie all die Zeitzeugen diverser Lebensabschnitte verwahrt werden können. Die Antwort bieten Selfstorage-Anlagen: Dabei handelt es sich um Lagermöglichkeiten in speziell für diesen Zweck errichteten und sehr gut mit dem Auto erreichbaren Immobilien. Die separaten, zwischen einem und 50 Quadratmeter großen Flächen können für einen flexiblen Zeitraum angemietet werden. Sie sind abschließbar und blickdicht, im Gegensatz zu vielen Kellern trocken und geschützt. In etlichen deutschen Großstädten wurden in den vergangenen Jahren Selfstorage-Immobilien errichtet – und der Trend hält an. Doch was für eine Art Immobilie ist das überhaupt, woher kommt das Geschäftsmodell, und wer hat es nach Deutschland gebracht? Vorreiter USA Der Ursprung des Selfstorage liegt – wie so oft bei innovativen Ideen – in den USA, wo in den 1960er-Jahren erstmals Garagen in Lagerflächen umgebaut wurden, um Stauraum für die Bewohner von Häusern ohne Keller zu schaffen. Anfang der 1970er-Jahre griff ein ehemaliger Lehrer in Seattle die Selfstorage-Idee auf: Charles „Chuck“ Barbo. In der Stadt im Nordwesten der USA arbeiteten damals viele Menschen bei Boeing. Auch einige Eltern der Schüler von Barbo waren bei Boeing tätig und er erlebte, wie sie bei jedem Wirtschaftszyklus binnen weniger Tage nicht nur ihren Job, sondern auch ihr Haus und ihren gesamten Besitz verloren. In den USA war es zu dieser Zeit üblich, dass Menschen, die ihr Hypothekendarlehen nicht mehr bedienen konnten, ihr Haus einfach verließen und den Schlüssel unter die Fußmatte legten. Barbo erkannte, dass von einem Jobverlust Betroffene sicher bereit wären, etwas Geld auszugeben, um ihr Hab und Gut zwischenzulagern, bis sie die nächste Arbeitsstelle und eine neue Bleibe gefunden hatten. Also quittierte er den Staatsdienst, ließ sich seine Lehrerpension auszahlen und baute aus dem Holz der einheimischen Redwood-Zedern eine Anlage zum Einlagern von Gegenständen, die er und seine Frau Linda „Selfstorage“ nannten. Eine amerikanische Erfolgsgeschichte Die Idee entsprach dem Zeitgeist – und die Erfolgsgeschichte begann. „Shurgard Selfstorage“, so hatte Barbo seine Firma genannt, wuchs in den darauf folgenden Jahren enorm. 1994 ging das Unternehmen als REIT an die New Yorker Börse. Als es 2006 in einer feindlichen Übernahme von der Nummer eins der Selfstorage-Branche, der ebenfalls börsen notierten „Public Storage Inc.“, geschluckt wurde, betrieb es bereits 879 Selfstorage-Anlagen in Nordamerika und Europa. Public Storage führt die Marke „Shurgard“ weiter, betreibt aktuell über 2.200 Selfstorage-Anlagen und wächst kontinuierlich. Obwohl das Unternehmen unangefochten Marktführer in den USA ist, hat es dort nur einen Marktanteil von 5,6 Prozent. Die Top-Ten-Unternehmen teilen lediglich zwölf Prozent des Selfstorage-Marktes unter sich auf. Ende 2012 gab es in den USA rund 52.500 Selfstorage-Anlagen mit insgesamt rund 210 Millionen Quadratmeter Lagerfläche. Jedem US-Amerikaner stehen damit 0,68 Quadratmeter Selfstorage-Fläche zur Verfügung. Es existieren eine Vielzahl von Betreiber- und Qualitätsformen. Neben Neubauimmobilien in verkehrlich sehr guten Lagen bieten auch sogenannte „Mom and Dad Stores“ – das US-amerikanische Pendant zum Tante-Emma-Laden – Selfstorage an. Vorteile: Sicherheit und Flexibilität Zwei Faktoren sind für den Siegeszug des Selfstorage entscheidend. Zum einen der Sicherheitsaspekt: Die eingelagerten Gegenstände sind durch Wachdienste, Alarmanlagen und Videoüberwachung besser gegen Diebstahl geschützt, als wenn sie zu Hause gelagert würden. Aber auch der Schutz gegen Naturgewalten wie Hochwasser sowie Feuer oder Ungeziefer ist besser als in den meisten Wohngebäuden. Zum anderen bieten Selfstorage-Anlagen ein Höchstmaß an Flexibilität, von der neben Menschen ohne Keller auch profitiert, wer ein platzintensives Hobby hat, eine Zeit lang im Ausland lebt oder besonders empfindliche Gegenstände wie Gemälde lagern will. Die Vertragskonditionen sind in der Regel sehr kundenfreundlich: Eine variable Mietdauer mit kurzen Kündigungsfristen, lange Öffnungszeiten der Lagerflächen sowie eine große Vielfalt der verfügbaren Flächengrößen. Durchbruch in Europa in den 1990erN Trotz dieser offensichtlichen Vorteile von Selfstorage gegenüber einem feuchten Keller oder einem staubigen Dachboden brauchte es einige Zeit, bis sich das Konzept auch in Europa bzw. Deutschland durchsetzte. Der Schwede Michael Fogelberg war Ende der 1980er-Jahre zum Studieren in die USA gegangen und hatte dort während einer Reise durch das Land das Geschäftsmodell Selfstorage kennengelernt. Nach seiner Rückkehr rief er bei Shurgard Inc. an und bat um einen Termin mit dem Firmengründer. Tatsächlich empfing Chuck Barbo den jungen Schweden persönlich – und bereits ein halbes Jahr später flog Dave Grant, Vorstand der Shurgard Inc., mit seiner Frau und seinen kleinen Töchtern OneWay nach Brüssel. Shurgard Inc. und Grana International, teils im Besitz von Michael Fogelberg und seinem Vater Åke, gründeten zusammen die Shurgard Europe mit Sitz in Brüssel und nahmen den europäischen Markt ins Visier. Åke Fogelberg war seit Jahrzehnten in der Immobilienbranche tätig und verfügte über das nötige Know-how für die Expansion. Unter der Führung von Fogelberg und Grant wuchs die Firma binnen weniger Jahre zum unangefochtenen Marktführer in Europa mit aktuell 187 Niederlassungen in sieben europäischen Ländern. Seit 1997 auch in Deutschland Dieser Markterfolg blieb nicht unentdeckt und rief Nachahmer auf den Plan. So gibt es aktuell in Großbritannien mehr als 800 Selfstorage- Anlagen – die höchste Zahl in ganz Europa. Dennoch beträgt die ProKopf-Lagerfläche in England lediglich ein Zehntel der Pro-Kopf-Lager fläche in den USA. Im deutschsprachigen Raum ist diese nochmals deutlich geringer. Die erste Selfstorage-Anlage eröffnete 1997 in Düsseldorf und aktuell gibt es fast 100 Standorte, vor allem in den Großstädten der Bundesrepublik. Waren die Deutschen jedoch lange Zeit deutlich sesshafter als die US-Amerikaner, wächst inzwischen auch hierzulande die Bereitschaft, der Arbeit zu folgen oder temporär ins Ausland zu ziehen. Das erhöht natürlich die Nachfrage nach Lagermöglichkeiten, wie sie Selfstorage-Anlagen bieten. Zudem nutzen zunehmend auch Gewerbe kunden Selfstorage, um Lagerspitzen auszugleichen oder selten benötigte, sperrige Gegenstände wie Messestände oder Ähnliches zentral zu lagern. Das Marktpotenzial in Deutschland und Europa ist erheblich, denn es ist bereits heute abzusehen, dass sich die Zahl der Selfstorage-Anlagen in den nächsten Jahren um ein Vielfaches erhöhen wird. v Martin Brunkhorst k MARTIN BRUNKHORST Martin Brunkhorst ist Geschäftsführer der PRIME Selfstorage GmbH. Seit insgesamt zwölf Jahren in verantwortlicher Position in der Selfstorage-Branche, gehört er in Deutschland zu den erfahrensten Köpfen in dieser Branche. Brunkhorst ist außerdem Executive Director beim europäischen Selfstorage-Verband FEDESSA in London und war acht Jahre lang Präsident des Verbandes deutscher Selfstorage Unternehmen e.V. Als ständiges Mitglied im „Arbeitsausschuss Transport und Lagerung“ beim Deutschen Institut für Normung, Berlin, sowie in gleicher Tätigkeit beim CEN Brüssel ist er einer der Mitautoren des Self-storage DIN/CEN Standards 15 696. 32 33 China Megacity Die Fotografien von Christian Höhn v Chongqing, die größte Stadt der Welt, entstanden am größten Staudamm der Welt, erschließt den Westen des Riesenreiches China. Eine ständig wachsende Zahl von Vorstädten nimmt bereits heute eine Fläche von der Größe Österreichs ein. 34 35 k Linke Seite: Qingdao, einst unter dem Namen „Tsingtau“ eine deutsche „Musterkolonie“, offenbart als Metropole am Gelben Meer noch heute Elemente einer wilhelminischen deutschen Stadt, umgeben von Wolkenkratzern. Die „GermaniaBrauerei“ ist mit ihrem „TsingtaoBier“ die größte in China. k Rechte Seite: Peking, das Zentrum tief greifenden Wandels, ist Mittelpunkt einer langen Geschichte und auch heute noch das Zentrum der Macht. Äußerlich hat sich die Stadt so radikal verändert, dass von den alten Strukturen kaum noch etwas erkennbar ist. Alles beginnt mit einem Blick auf ein Bild, das eine Stadt zeigt. Diese Stadt gibt es. Genau so. Und als Betrachter von Christian Höhns Fotografien weiß ich das natürlich. Eigentlich. Dennoch fällt es mir bisweilen schwer zu glauben, dass das, was ich sehe, „zeitgenössisch“ ist, will heißen, dass es wie abgebildet gerade in dem Moment, in dem ich es hier betrachte, irgendwo anders genau so zu finden ist. Z u „zukünftig“ erscheint mir der Anblick, beinahe artifiziell die Anmutung, zu sehr habe ich das Gefühl, ich finde keinen Halt in den Bildern, habe keinen Platz in diesen fremd wirkenden Welten. Und werde doch förmlich in sie hineingezogen. Ist das wirklich Zeitgeist oder doch Utopie? Die Arbeiten Christian Höhns aus der Werkreihe „China Megacity“ zeigen auf beeindruckende Art und Weise, was geschieht, wenn wirtschaftlicher Aufschwung und Stadtentwicklung aufeinandertreffen. Insgesamt sechs asiatische Megacities, also Städte, die per Definition mehr als zehn Millionen Einwohner haben, hat der Nürnberger Fotograf in den Jahren 2011 und 2012 aufgenommen: Peking, Shanghai, Chongqing, Hongkong, Shenzhen und Qingdao. Die großformatigen Panoramen dieser chinesischen Riesenstädte – Christian Höhn selbst spricht lieber von „Kulissen“ – sind urbane Stillleben, die sich alle ähneln und von denen doch jedes seine ganz eigene Geschichte erzählt. Auf den wenigsten seiner Bilder findet man übrigens Menschen. Und das in Städten, die davon ja eigentlich nur so wimmeln. Das liegt vielleicht ein bisschen daran, dass Höhn viele seiner Bilder nachts macht. Aber: Die Protagonisten seiner Kunstwerke bestehen nun mal einfach nicht aus Fleisch und Blut, sondern aus Wolkenkratzern, Fly-Overs, Flussläufen, Sportstadien und Parkanlagen. Langsames Annähern Wie aufwendig diese Bilder in ihrer Entstehung sind und was in den oft vielen Monaten vor der eigentlichen Reise zum „Motiv“ steht, erklärt Christian Höhn so: „Alles beginnt damit, dass ich mich über eine Stadt, die ich vielleicht fotografieren möchte, erst mal schlaumache – zunächst ganz simpel via Internet. Wenn mir das, was ich dort finde, interessant und für meine Zwecke geeignet vorkommt, gehe ich sukzessive immer ein Stück mehr in die Tiefe, arbeite mich in die Stadt ein.“ Dieses „Einarbeiten“ erfolgt über viele Stunden, die Christian Höhn mit dem Studium k 36 37 k Linke Seite: Shanghai, ein chinesisches Wirtschaftswunder, ist als Hafenstadt auch Eingangstor west licher Moderne. Koloniale Prachtbauten stehen direkt gegenüber der Wolkenkratzer-Skyline von Pudong, wo das neue Finanzzentrum Chinas entsteht. k Rechte Seite: Shenzhen, die Stadt aus dem Nichts, weist das schnellste Wachstum auf und ihre Bewohner verfügen über das höchste durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen in China. In nur 30 Jahren hat sich die Partnerstadt der Metropolregion Nürnberg vom Fischerdorf zu einer Millionenstadt entwickelt, ausgezeichnet vom Weltarchitektenverband. von Büchern, Bildern und Landkarten bzw. Stadtplänen zubringt. Er nähert sich der Stadt historisch, städtebaulich, aber auch politisch. Im nächsten Schritt beginnt einer der wesentlichsten Punkte für die Durchführung von Christian Höhns Arbeit: „Mein Team und ich müssen jetzt von Deutschland aus versuchen, ein möglichst gut funktionierendes Kontaktnetzwerk aufzubauen – das war in China nicht ganz leicht. Aber nur so kommt man zum Beispiel an weiteres Kartenmaterial, kann Genehmigungen eventuell schon beantragen oder zumindest die Zuständigkeiten klären und vielleicht sogar schon ausloten, welches hohe Gebäude bzw. welcher Punkt in der Stadt ein möglicher Standort für meine Aufnahme sein könnte.“ Fremd und doch vertraut Wenn Christian Höhn dann schließlich in einer der ausgewählten Städte ankommt, muss das für ihn vertraut und fremd zugleich sein: Vertraut, da er sich ja monatelang intensiv auf diesen Ort vorbereitet hat, fremd, da nun zu seinem gesammelten Wissen zum ersten Mal auch das Selber- Sehen, -Riechen, -Hören und -Fühlen dazukommt. Um dann den perfekten Ort für sein Bild zu finden, ist der Nürnberger oft ein paar Tage nur in der Stadt unterwegs, prüft, fragt nach Zutritt, verwirft, denkt um und erfindet neu. Und bisher hat er ihn immer gefunden: den Platz, von dem aus seine Kunst stattfinden kann. Schwindelnd hoch oben baut er dann sein Equipment auf und – wartet. Meist stundenlang. Auf diesen einen Moment, in dem dann einfach alles genau so ist, wie Christian Höhn es sich vorgestellt hat. Nach einer wegen des großen Erfolgs mehrmals verlängerten Ausstellung seines Zyklus „Megacities China“ im Museum Industriekultur in Nürnberg sind die Bilder von Christian Höhn ab Dezember 2013 im Stadthaus Ulm zu sehen. Des Weiteren ist im Verlag für moderne Kunst unter dem Titel „China Megacity“ (ISBN 978-3-86984-436-7) ein Bildband mit allen Aufnahmen erschienen. Die aktuellen Fotos werden darin mit historischen Stadtansichten kontrastiert. v k CHRISTIAN HÖHN Der Nürnberger Christian Höhn ist seit 1994 selbstständiger Fotodesigner. Höhn ist Mitglied im Bund Freier Fotodesigner e.V. (BFF) sowie in der Deutschen Gesellschaft für Photographie (DGPh). In den Jahren 2010/11 übernahm Höhn einen Lehrauftrag an der Georg Simon Ohm Technischen Hochschule Nürnberg. Bereits seit 1993 intensive Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Themen zu Architektur und Mensch. Diverse Buchveröffentlichungen sowie zahlreiche Ausstellungen im In- und Ausland, zuletzt in Arsenale, Venedig und im Museum Industriekultur, Nürnberg. 38 39 Private oder öffentliche Hand? Wenn Kommunen ihre Wohnungen an private Investoren verkaufen wollen, ist Streit programmiert. Die öffentliche Hand gebe leichtfertig ihren Einfluss auf den Wohnungsmarkt aus der Hand und liefere die Mieter renditegierigen Finanzinvestoren aus, kritisieren die Gegner der Privatisierung. Doch Fachleute sehen im Verkauf öffentlicher Wohnungen auch Vorteile. S o schnell ändert sich der Zeitgeist. Noch 2005 forderte der Landesrechnungshof Schleswig-Holstein die Städte dazu auf, weite Teile ihrer kommunalen Wohnungen zu verkaufen. Wohnraumbewirtschaftung, so lautete die Begründung des Rechnungshofs, stelle keine notwendige kommunale Aufgabe mehr dar. Nicht nur in Schleswig-Holstein folgten Städte dieser Argumentation: Bereits 2004 veräußerte beispielsweise Berlin seine kommunale Wohnungsbaugesellschaft GSW mit ihren 65.000 Wohnungen an ein Konsortium angelsächsischer Investmentgesellschaften, und 2006 machte Dresden mit dem Verkauf seiner Woba (48.000 Wohnungen) an die ebenfalls von Finanzinvestoren kontrollierte Gagfah Schlagzeilen. Rekommunalisierung – Gebot der Stunde? Heute weht der Zeitgeist aus der entgegengesetzten Richtung. In der Rekommunalisierung sehen weite Teile der Öffentlichkeit das Gebot der Stunde. Von einer „absoluten Kehrtwende“ spricht beispielsweise Ephraim Gothe, Staatssekretär in der Berliner Senatsverwaltung für Stadtentwicklung. Tatsächlich stockt Berlin seinen landeseigenen Wohnungsbestand kräftig auf – innerhalb von fünf Jahren soll die Zahl öffentlicher Wohnungen durch Ankäufe von 270.000 auf 300.000 steigen. Auch der Deutsche Mieterbund (DMB) lehnt die Privatisierung öffent licher Wohnungen als „fatales Signal für die betroffenen Mieterinnen und Mieter“ ab. Denn die neuen Eigentümer, beklagt DMB-Bundesdirektor Lukas Siebenkotten, würden jeweils schnell die Mieten erhöhen. Und sogar das politisch unverdächtige Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) hält fest, dass sich die in die Privatisierung gesetzten Erwartungen vielfach nicht erfüllt hätten. Ist die Privatisierung kommunaler Wohnungen also ein gescheitertes Modell? „Keineswegs“, antwortet Professor Dr. Michael Voigtländer, Leiter des Kompetenzfeldes Immobilienökonomik beim Institut der deutschen Wirtschaft (IW Köln). „Der Wohnungsmarkt“, sagt Voigtländer, „funktioniert auch ohne öffentliche Unternehmen sehr gut“. Einfluss sichern könnten sich die Kommunen auch ohne großen eigenen Wohnungsbestand. Um sicherzustellen, dass sozial schwache Haushalte angemessen wohnen könnten, biete sich beispielsweise die Möglichkeit, Belegungsrechte anzukaufen oder Mieter mit geringem Einkommen durch das Wohngeld zu unterstützen. Interessen der Mieter wahren Gleichzeitig eröffnet der Verkauf von Wohnungen nach Überzeugung von Klaus Schmitt, Vorstand der PATRIZIA Immobilien AG, den Kommunen neue Handlungsperspektiven: Statt viel Geld in den Unterhalt und die Sanierung veralteter Bestände zu investieren, sei es sinnvoller, das öffentliche Geld für den dringend nötigen Bau preiswerter Wohnungen auszugeben. „Der Staat“, fasst Schmitt das Prinzip zusammen, „baut neue Gebäude mit erschwinglichen Mieten, die private Immobilienwirtschaft liefert die dafür nötigen Mittel, indem sie der öffentlichen Hand die alten Bestände abkauft und für deren Erhalt sorgt“. Allerdings müssten die Kommunen bei diesem Vorgehen darauf achten, die Interessen der Mieter zu wahren. Dies lässt sich nach Ansicht Schmitts erreichen, „indem verkaufte Bestandswohnungen mit einer entsprechenden Sozialcharta versehen und nur in die Hände langfristig agierender und erfahrener Bestandshalter abgegeben werden“. „Es ist ein legitimer Schritt, wenn sich eine Kommune entscheidet, keine eigenen Wohnungen mehr haben zu wollen“, sagt auch Professor Dr. Guido Spars von der Bergischen Universität Wuppertal. Allerdings beurteilt Spars die Chancen der Privatisierung skeptischer als Voigtländer und Schmitt. Gerade jetzt, wo die Nachfrage nach günstigen Wohnungen in Ballungszentren so hoch sei, stellten Wohnungsbestände unter kommunaler Einflussnahme „ein wichtiges Steuerungselement“ für die öffentliche Hand dar, argumentiert er. Zudem biete die kommunale Wohnungswirtschaft „im Gegensatz zu den internationalen Eigentümern den Vorteil, die lokalen Problemlagen besser zu kennen und ein Interesse an langfristig stabilen Quartieren zu haben“. Dealer vs Farmer Allerdings dürfe man nicht alle Investoren über einen Kamm scheren, betont Spars. Er unterscheidet zwischen „Dealern“, die auf schnelle Rendite aus sind, und „Farmern“, die sich ihren Beständen langfristig verpflichtet fühlen. „Je kürzer der Horizont des Engagements ist, desto weniger nachhaltig ist die Unternehmenspolitik“, stellt Spars fest. Dabei nennt er drei Kriterien für die Beurteilung des Investorenverhaltens: „die Mietpreispolitik im Verhältnis zu den getätigten Investitionen, den Umgang mit Instandhaltungsrückständen und die Bereitschaft, mit der Kommune bei der Entwicklung des Quartiers zusammenzuarbeiten.“ Genau diese Bereitschaft, sich für die Entwicklung des Quartiers einzusetzen, bringen nach Einschätzung kommunaler und genossenschaftlicher Wohnungsunternehmen nicht alle privaten Investoren auf. Vielmehr gefährde deren Verhalten die Stabilität im Quartier, heißt es im Abschlussbericht der vom Landtag Nordrhein-Westfalen eingesetzten Enquetekommission „Wohnungswirtschaftlicher Wandel und neue Finanzinvestoren auf den Wohnungsmärkten in NRW“. Doch diesen Einwand lässt Michael Voigtländer vom IW Köln nicht gelten: Jedes Unternehmen, das große Bestände verwalte, habe „ein ureigenes Interesse, Kriminalität vorzubeugen oder allgemein das Umfeld attraktiv zu halten, um die Vermietungschancen zu verbessern“. Offene Kommunikation Einig sind sich die Fachleute darin, dass die Privatisierung öffentlicher Wohnungen ein Thema bleiben wird. Denn die leeren Kassen vieler Kommunen und der Umstand, dass Banken von hoch verschuldeten Kommunen höhere Zinsen verlan- gen, werden auch künftig Städte zum Verkauf zumindest eines Teils ihrer Wohnungen veranlassen. Dabei, betont Voigtländer, sei es wichtig, die Bürger mit ins Boot zu nehmen. „Man muss offen kommunizieren“, empfiehlt er, „was die Alternative zum Verkauf ist und wofür die Kommune das eingenommene Geld ausgeben kann“. Sonst droht den Verantwortlichen die gleiche Erfahrung wie der Rathausspitze von Freiburg im Jahr 2006: Damals, als der Zeitgeist eigentlich noch für die Privatisierung war, erteilten die Freiburger in einem Bürgerentscheid dem geplanten Verkauf der kommunalen Freiburger Stadtbau GmbH eine Absage. v Christian Hunziker k CHRISTIAN HUNZIKER Christian Hunziker arbeitet als freier Journalist in Berlin und ist auf Themen der Immobilienwirtschaft und der Stadtentwicklung spezialisiert. Regelmäßig schreibt der gebürtige Schweizer für Tageszeitungen wie das Handelsblatt und den Tagesspiegel sowie für Fachmagazine wie Die Wohnungswirtschaft und den immobilienmanager. Den studierten Historiker und Germanisten interessieren besonders die Wechselwirkungen zwischen Immobilienwirtschaft und Gesellschaft. 2011 wurde Christian Hunziker von der Wissenschaftlichen Vereinigung zur Förderung des Immobilienjournalismus e.V. mit dem Deutschen Preis für Immobilienjournalismus ausgezeichnet. 40 Nichts ist stärker als eine Vision, deren Zeit gekommen ist Er ist einer der Gründer und ehrenamtlicher Geschäftsführer der an der Augsburger Kinderklinik tätigen Nachsorgeeinrichtung „Bunter Kreis e. V.“, die sich seit mehr als 20 Jahren unermüdlich um die Bedürfnisse von Familien mit schwerst- und chronisch kranken Kindern kümmert: Horst Erhardt. Im estatements Magazin spricht er über Erkennen, Zupacken, Umsetzen, aber auch Loslassen. 41 42 estatements: Was ist „Zeitgeist“ – ist das ein Begriff, der bei der Stiftungsarbeit überhaupt eine Rolle spielt? _ Horst Erhardt: Eine Stiftung lebt weit über unsere Lebenszeit hinaus. Trotzdem ist sie aber natürlich getriggert von Dingen, die tagesaktuell sind, die jetzt wichtig sind, die man einfach machen muss. Wenn man das unter Zeitgeist versteht, dann sind wir zum Beispiel mit unserem Konzept, mit dem Ziegelhof ein Zentrum für tiergestützte Therapie zu bauen, voll im Zeitgeist, denn: Man möchte ambulant versorgen und zwar die ganze Familie und man bewegt sich von den klassischen Reha-Maßnahmen weg. Eine Stiftung hat die Aufgabe zu fragen, wo sind Bedarf und Bedürfnisse heute, in der jetzigen Zeit. Der Bunte Kreis ist wahrscheinlich in einer Zeit entstanden, in der er quasi entstehen musste. Vielleicht wäre das vor dieser Zeit gar nicht möglich gewesen. estatements: Warum nicht? _ Erhardt: Weil die Leute um uns herum noch nicht so weit gewesen sind, den Bedarf noch nicht so wahrgenommen haben. Mit den Einschneidungen der ganzen Krankenhausversorgung, den kürzeren Liegezeiten – der sogenannten „blutigen Entlassung“ – mehr und mehr ambulanter Versorgung war es einfach naheliegend, einen Ausgleich für die Familien zu schaffen. Ich glaube, dass die Entwicklung des „Bunten Kreises“ sowohl in der Politik als auch innerhalb des Gesundheitswesens einfach dem Zeitgeist entsprach. Es gibt das schöne Sprichwort: Nichts ist stärker als eine Vision, deren Zeit gekommen ist. Wenn Sie zur rechten Zeit die Vision haben und sie ist so stark, dass sie einem zentralen Bedürfnis gerecht wird, dann hält Sie niemand auf. Und ich denke, eine Stiftung hat tatsächlich die Aufgabe hinzuschauen, was ist Zeitgeist, was ist aktuell unsere Aufgabe? estatements: Der „Zeitgeist“ unterliegt kontinuierlicher Veränderung. Wie hat sich der „Bunte Kreis“ in den Jahren seit seiner Entstehung verändert? Und was ist gleich geblieben? _ Erhardt: Die große Idee, Familien nicht allein auf ihrem Weg aus der Klinik zu lassen, entstand aus einer Enttäuschung der Mitarbeiter. Wir haben diese Familien k Menschen stehen für Horst Erhardt (Zweiter von rechts oben) stets im Mittelpunkt – egal, ob bei seiner Tätigkeit für den „Bunten Kreis“ oder wie hier auf seiner Reise in die Mongolei. 43 _ Erhardt: Absolut. Ich bereite meine Auszeit nun schon seit zwei Jahren intensiv vor. Und ich kann nur jetzt fahren, wenn im „Ziegelhof“ die Bauphase läuft, denn meine Arbeit ist derzeit getan. Jetzt sind die Generalunternehmer, Projektplaner und Architekten am Zug – ich kann gerade gar keinen Beitrag leisten. Wenn die Hülle steht und es an die Innenausstattung und so weiter geht, werde ich wieder an Bord sein und mich natürlich auch die kommenden ca. zwei Jahre darum kümmern, dass das innere Konzept läuft. Die Auszeit ist für mich aber auch ein wichtiger Prozess, die Menschen selbstständig in ihre Verantwortung zu lassen und mal ohne den Horst Erhardt zu entscheiden. oft monatelang begleitet und betreut, die krebskranken, die behindert geborenen Kinder – wir haben ihre Schicksale so lange Zeit mitgetragen, versucht, sie auf einen neuen Lebensabschnitt vorzubereiten. Und dann mussten wir sie am Tag der Entlassung ins Ungewisse schicken und hatten oft das Gefühl, manche packen das wahrscheinlich gar nicht. So haben wir als Mitarbeiterinitiative der Augsburger Kinderklinik zusammen mit den Eltern und den Seelsorgern angefangen, Spenden zu sammeln, um damit Personal zu finanzieren, das dann die Arbeit der Klinik überschreitet. Das war die große Idee, getragen von den zentralen Bedürfnissen der Zeit, also einem Zeitgeist entsprechend, der quasi vorgibt, dass man so handeln muss. Das eigentlich Bemerkenswerte für mich ist aber vielmehr, dass die Menschen der ersten Stunde über 20 Jahre lang zusammengeblieben sind: Wir haben immer noch den ersten Vorstand und auch alle anderen Menschen um uns herum – übrigens auch die PATRIZIA als Partnerin der ersten Stunde, im Jahr 1996 – sind heute noch immer da. Im nächsten Schritt mussten wir ein soziales Netzwerk schaffen, Partner in der Politik ansprechen. Allein aus Spenden war unsere Idee nicht finanzierbar. kranken bzw. behinderten Kindern ihr Leben qualitativ besser gelingt, ja, den Gegebenheiten entsprechend eben bestmöglich gelingt. Das ist der Antrieb für mich und alle Mitarbeiter. Also haben wir mit der Stadt, dem Landkreis und Ministerien verhandelt und auch da war die Rückmeldung so positiv, dass wir ein solches Tempo bekommen haben und schließlich vor dem Bundestag standen, um eine Gesetzesinitiative einzureichen, die die sozialmedizinische Nachsorge zu einer Regelversorgung deklariert und ins Krankenversicherungsrecht aufnimmt. 2004 war dies dann geschafft. Und heute gibt es 80 „Bunte Kreise“ in ganz Deutschland. entsteht. Damit wären dann alle Sorgen die Zukunft betreffend weg und wir könnten uns durch die wegfallenden Kapazitäten des Spendeneinsammelns noch mehr auf unsere Kernthemen konzentrieren. Vorstandskollegen, Ralf Otte, in den Aufsichtsrat der Stiftung wechseln, mich um die Finanzen kümmern, weg von der operativen Arbeit. Dafür ist die nächste Generation schon da. estatements: Sind die Erfolgsfaktoren in der Stiftungsarbeit heute noch die gleichen wie zur Gründungszeit des „Bunten Kreises“? _ Erhardt: Weitestgehend ja. Zunächst kommt es darauf an, wie man mit Visionen umgeht. Ich erkläre das den Leuten immer so: Wenn ich eine Kirche bauen möchte, muss ich nicht im ersten Schritt wissen, wie diese konkret aussehen wird, aber ich muss wissen, wo sie mal stehen soll. Als Vision vor meinem inneren Auge. Und ich denke, das ist die „stärkste“ Stärke des „Bunten Kreises“ und macht unsere Arbeit so erfolgreich: dass es bei uns Menschen gibt, die aus Visionen Wirklichkeit werden lassen können. estatements: Was bedeutet für Horst Erhardt persönlich „Glück“? _ Erhardt: Das, was ich jetzt mache. Ich fahre in eine ganz archaische, einfache Welt und wenn ich dort bin, inmitten Tausender Kilometer Wüste und Steppe und da ist nichts mehr außer Ruhe und Stille – das löst bei mir echte Glücksgefühle aus. Ganz bei mir sein, ohne dass mich irgendetwas ablenkt, das ist für mich Glück. estatements: Was ist bei der Stiftungsarbeit der Motor, der einen antreibt? _ Erhardt: In den Statuten des „Bunten Kreises“ heißt der letzte Satz „… dass ihnen ihr Leben bestmöglich gelingt“. Gemeint ist damit, dass wir unseren Beitrag dazu leisten, dass Familien mit chronisch oder schwerst- estatements: Was ist die größte „Bremse“? _ Erhardt: Das fehlende Geld. Punkt. Eine andere Bremse gibt es nicht. Geld zu akquirieren, ist heute eine Ochsentour. Fast alle Sozialeinrichtungen sind heutzutage in einem „Drittelmix“ finanziert, das heißt Spenden und Sponsorings, eigene Mittel und öffentliche Zuwendungen. Da das öffentliche Geld immer weniger wird, müssen Sponsoring und Spenden entsprechend wachsen, um Ausgleich zu schaffen. Zum Glück gibt es inzwischen eine Vielzahl an Unternehmen – zu denen ja auch die PATRIZIA zählt –, die ihre soziale Verantwortung sehr ernst nehmen. Eine schwierige Aufgabe. Der nächste Schritt, den wir schaffen müssen, ist daher, dass wir von den vielen Einzelspenden wegkommen, die Abhängigkeit von der Spende nicht mehr da ist. Das soll möglichst über Erbschaften oder Nachlässe geregelt sein und so langfristig durch ein eigenes Vermögen, das estatements: Was für weitere Faktoren gibt es? _ Erhardt: Dass man bei Bewährtem bleibt, sich nicht dauernd neu erfindet, sich auf Kernkompetenzen konzentriert und Bestehendes weiterentwickelt. Nehmen wir nur das Beispiel des Zusammenspiels „,Bunter Kreis‘ – PATRIZIA KinderHaus-Stiftung“. Es hat sich bei inzwischen drei Projekten bewährt, dass die PATRIZIA über die Stiftung ihr volles Know-how in Form eines Neubaus, also eines PATRIZIA KinderHauses einbringt, während wir dieses dann „mit Leben“ füllen, was wiederum unsere Expertise ist. Jeder steuert das bei, was er am besten kann – entsprechend hoch ist dann das Niveau des gemeinsamen „Produkts“. estatements: Sie nehmen sich jetzt eine größere „Auszeit“, reisen für fünf Monate in die Mongolei – halten Sie es ohne den „Bunten Kreis“ denn aus? estatements: Wird das schwierig werden, wenn Sie wiederkommen? _ Erhardt: (lacht) Ja, für die anderen. Aber ernsthaft. Ich muss das selbst auch können und lernen. Überspitzt gesagt: Ich kann nicht nach fünf Monaten wiederkommen und sagen, jetzt bin ich wieder der „Oberguru“. Ich bin jetzt 57 Jahre alt, ich möchte, wenn ich so 60, 61 bin und der „Ziegelhof“ fertiggestellt ist und im Vollbetrieb läuft, zusammen mit meinem v Das Interview führte Simone Wipplinger. k HORST ERHARDT Horst Erhardt wurde 1956 in Augsburg geboren, ist verheiratet und Vater von drei Kindern. Zusammen mit Mitarbeitern der Kinderklinik und Klinikseelsorge sowie betroffenen Eltern gründete er 1991 den Verein zur Familiennachsorge Bunter Kreis e.V. und begann mit dem Aufbau der modellhaften Nachsorgeeinrichtung „Bunter Kreis“. Damit zählt er zu den Gründungsvätern des Pilotmodells „Bunter Kreis“ und war bis 1999 dessen Projektleiter und hauptamtlicher Geschäftsführer. Seither führt er die Geschäfte ehrenamtlich. Derzeit entwickelt er in der Nachsorgeeinrichtung „Bunter Kreis“ dessen letzte Ausbaustufe – die frühe familienorientierte Rehabilitation von Kindern nach schwerwiegenden Erkrankungen mit Aufbau eines eigenen Rehabilitationszentrums. k Die PATRIZIA Immobilien AG ist seit nahezu PATRIZIA Immobilien AG PATRIZIA Bürohaus Fuggerstraße 26 86150 Augsburg Telefon +49 821 50910 - 000 Telefax +49 821 50910 - 999 [email protected] www.patrizia.ag 30 Jahren mit über 600 Mitarbeitern als Investor und Dienstleister in über zehn Ländern auf dem Immobilienmarkt tätig. Das Spektrum der PATRIZIA umfasst dabei den Ankauf, die Verwaltung, die Wertsteigerung und den Verkauf von Wohn- und Gewerbeimmobilien. Als anerkannter Geschäftspartner großer institutioneller Investoren agiert das Unternehmen national und international und deckt die gesamte Wertschöpfungskette rund um die Immobilie ab. Derzeit betreut das Unternehmen ein Immobilienvermögen von 10 Mrd. Euro, größtenteils als Co-Investor und Portfoliomanager für Versicherungen, Altersvorsorgeeinrichtungen, Staatsfonds und Sparkassen.