tsa tga st - PATRIZIA Immobilien AG

Transcrição

tsa tga st - PATRIZIA Immobilien AG
PATRIZIA
[tsa tga st]
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kEditorial
k
Inhalt
Nerds –
Spießer 2.0
Wenn man vom
Zeitgeist spricht …
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Selten wurde man so häufig mit ihnen
konfrontiert wie heute: Der Nerd ist
salonfähig geworden, ja geradezu
lifestylig. Wie aber wurden die bebrillten
Antihelden zu Stilikonen? Eine Reflektion.
China
Megacity
Vom Schwarm
finanziert
Beeindruckend, befremdlich und doch
bildschön: die Fotografien asiatischer
Millionenstädte von Christian Höhn.
Crowdfunding ist ein zeitgeistiges Modell,
durch das soziale Netzwerke an monetärer
Bedeutung gewinnen. Seitdem nun auch
Crowdinvesting hinzugekommen
ist, wächst der junge Markt noch
rasanter als zuvor.
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Neues Denken 22
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Dreck unter den Fingernägeln …
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Innerstädtische Wohnlagen sind gefragt wie nie. Städteplaner und
Architekten stellt dies vor eine echte Herausforderung, denn Vorstadtidylle ist bei den neuen „Urbaniten“ ebenso wenig gefragt wie
Hochhaus-Klassiker.
… ist bei vielen Stadtjüngern zum trendigen Accessoire und
Ausdruck heutigen Lebensgefühls geworden. Eine Betrachtung des
Phänomens „Urban Gardening“.
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Platz ist in der kleinsten Hütte! Und wenn nicht, dann bieten Selfstorage-Anlagen unkomplizierte, sichere und erschwingliche Abhilfe.
Grün ist das neue Grau
Die Aussicht bei den Architekturtrends 2014 ist wonnig: Die Natur
nimmt Einzug in die urbane Landschaft – und mit ihr das private
Gartenglück in jeglicher Form, auch auf dem kleinsten städtischen
Fleckchen „Land“.
Sinkende Zinsen …
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… sind der Fluch der heutigen Zeit! Ob, wann und wie schnell sie
irgendwann auch wieder steigen werden – eine Antwort darauf
hätten sie alle gerne, die Anleger, egal ob Stiftungen, Versicherer
oder Fonds.
Deutschland entdeckt Selfstorage 28
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Privat oder öffentlich?
Galt die Privatisierung von öffentlichen Wohnungsbeständen viele
Jahre als „Patentrezept“ zur Sanierung der Haushalte, wird seit
einiger Zeit auch die Frage nach Rekommunalisierung wieder lauter.
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Visionär und Macher
Horst Erhardt ist einer der Gründer und ehrenamtlicher Geschäftsführer
der Nachsorgeeinrichtung „Bunter Kreis“. Im estatements Magazin
spricht er über Erkennen, Zupacken, Umsetzen, aber auch Loslassen.
IMPRESSUM
Herausgeber: PATRIZIA Immobilien AG | PATRIZIA Bürohaus | Fuggerstraße 26 | 86150 Augsburg | Telefon +49 821 50910-000 | Telefax +49 821 50910-999 | [email protected] | www.patrizia.ag V.i.S.d.P.: Andreas Menke (Group Head of Corporate Communications)
Verlag: vmm wirtschaftsverlag gmbh & co. kg | Augsburg | www.vmm-wirtschaftsverlag.de
Autoren dieser Ausgabe: Simone Wipplinger (Chefredaktion), Barbara Brubacher, Martin
Brunkhorst, Dr. Dankwart Guratzsch, Christian Hunziker, Meike Schreiber, Thomas Rosenhain, Stefan Weißenborn, Dr. Markus A. Will Bildquellen: Gentrification in Schöneberg:
Sugar Ray Banister/www.sugarraybanister.de | Archiv Willy Karisch | Getty Images (© Andrew
Rich, © Steve Geer, stevedun-leavy.com, © pidjoe, Jonathan Hill) | © Charles De Vaivre | www.bristol-street-art.co.uk, Justin Staple; Installation: Filthy Luker | Baumbaron GmbH | © Darren A. Bradley | Anne Gierlich | Fotolia (dennisjacobsen) | PRIME Selfstorage GmbH | Christian Höhn | iStockphoto (magicsea_design) | Horst Erhardt und Rainer Grotz | PATRIZIA
Immobilien AG Grafik: Anne Gierlich Lektorat: Gaby Feldmann Druckerei: AZ Druck und
Datentechnik, Kempten Disclaimer: Dieses Magazin stellt keine Anregung oder Aufforderung
zum Kauf, Verkauf oder sonstigem Handel von Wertpapieren der PATRIZIA Immobilien AG
dar. Die zur Verfügung gestellten Informationen und Daten bieten dem Leser einen Überblick
über das Unternehmen zu Informationszwecken. Dieses Magazin enthält keine Informationen,
aufgrund derer wert-papierrechtliche Ansprüche geltend gemacht werden können.
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… so kann man das in vielen Ländern ganz ohne
Fremdsprachenkenntnisse oder Übersetzungshilfen
tun. Denn „Zeitgeist“ ist eines der wenigen deutschen
Wörter, das man 1:1 auch in Italien, Frankreich, England und den USA findet. Und das liegt nicht etwa
daran, dass der Begriff Ende des 18. Jahrhunderts
hierzulande von Johann Gottfried Herder quasi „erfunden“ wurde, nein. Es liegt vielmehr daran, dass
das, was dieses Wort inhaltlich tatsächlich aussagt,
nicht ohne einen gewissen Sinnverlust in andere
Sprachen übersetzbar ist. Dennoch ist der Zeitgeist
– wenn auch „made in Germany“ – kein urdeutsches
Phänomen: Er charakterisiert weltweit gewisse soziologisch, politisch und wirtschaftlich bedingte Trends
und Strömungen sowie daraus resultierende Lebensweisen; manche davon sind kurzlebig, vergänglich,
geradezu ein Hauch und gehören schon bald nach dem
„Heute“ bereits wieder dem „Gestern“ an. Andere
haben einen langfristig prägenden Einfluss auf die
gesamte Weltgeschichte, oder – wenn man so will –
den „Weltgeist“. In unserem estatements Magazin
haben wir uns unterschiedlichsten Zeitgeisterscheinungen genähert. Was sie alle gemeinsam haben,
sind ihre Aktualität sowie ihr Bezugspunkt „Mensch“.
Letzterer bestimmt die für den Zeitgeist entscheidenden Parameter wie Individualität, Autonomie,
Selbstverwirklichung, Konflikt, Empathie, aber auch
Wirtschaftsdenken oder Geistesleben. Kurz: gesellschaftliche Stellgrößen. Und unter diesen Aspekten
bewegt uns der Lifestyle-Nerd ebenso wie der „neue
Urbanite“, der Selfstorage-Gedanke ebenso wie Chinas Megacites und die sinkenden Zinsen ebenso wie
die „Schwarmfinanzierung“. Welches Zeitgeistphänomen dabei ein flüchtiges bleibt, während ein anderes
seine Bedeutung auch in die Zukunft hineinträgt,
bleibt gegenwärtig offen. Denn schließlich sprechen
wir hier ja vom Zeitgeist, nicht vom Zeitreisen.
Viel Freude beim Lesen wünscht Ihnen
Ihr
Wolfgang Egger
Vorstandsvorsitzender
PATRIZIA Immobilien AG
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Die Zukunft gehört
dem neuen Denken
Groß ist der Druck auf neuen Wohnungsbau,
wenn auch nur in ganz bestimmten, durch
Zuzug begünstigten – oder soll man sagen
„bedrängten“ – Regionen. Und fast reflexartig
fällt die Antwort der Stadtverordneten und
Planungsämter aus: „Wir müssen dringend
neue Baugebiete an den Stadträndern ausweisen! Und wir müssen einen neuen sozialen
Wohnungsbau in Gang bringen. Und die Eigenheimzulage und die Kilometerpauschale reaktivieren.“ Es sind die Antworten von gestern
und vorgestern.
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atsächlich werden neue Wohnungen vor­
dringlich in Stadtinnenlage gesucht. Und
das hat mit den neuen Wohnwünschen und
Lebensplanungen zu tun. Sie verlangen den Planern,
Verwaltungsbeamten und Politikern eine Richtungs­
änderung um 180 Grad ab. Die glauben noch immer
an das, was sie vor 40 Jahren auf den Hochschulen
gelernt haben. Gefragt sei das Häuschen im Grünen,
die Etagenwohnung im Punkthochhaus, die Wohn­
idylle auf dem einstigen Kartoffelacker. Aber das war
gestern. Vielerorts sogar schon vorgestern.
Auf Schritt und Tritt spürt der Besucher, dass hier
das Prinzip der Massenproduktion von Wohnraum
ohne jede Rücksicht auf die Individualität der Bewoh­
ner durchgezogen wurde. Was wie Einfamilienhaus­
bebauung aussieht, ist in Wahrheit eine Art zerstü­
ckelter Plattenbau, zwischen den zur Dekoration und
Kaschierung Grünstreifen mit der unvermeidlichen
Garage als Blickfang geflochten sind. Die „Magistrale“
aus uniformen Endloszeilen erinnert an Plattenbau­
komplexe des sozialistischen Städtebaus, den man
für immer überwunden glaubte.
Pulsierendes Stadtleben
statt Landidylle
Urbane Mischung
Denn es hat sich herumgesprochen: Das Stadtrand­
wohnen ist teuer und es kann von keiner Regierung
so vergoldet werden, dass die vielfältigen Nach­
teile durch ein Glücksgefühl kompensiert werden.
Familienleben am Stadtrand lässt sich fast nur mit
Hilfskräften organisieren, erfordert in der Regel
zwei Autos, kostet lange Anfahrtswege und damit
ein Riesenbudget an Freizeit, kompliziert den Schul­
besuch. Noch ungünstiger stellt sich die Bilanz für
den Single- und den Rentnerhaushalt dar, denn das
„Ruhe“-Bedürfnis ist bei den Jungen und Alten ähn­
lich gering. Sie suchen die brodelnde City und wollen
nicht endlose Wege für das Einkaufen, den Postgang,
das Krankenhaus und die Apotheke auf sich nehmen.
Städte mit uferlosen Stadtrandprojekten verfrühstü­
cken ihre Zukunft und versäumen es, die Wohnungs­
nachfrage dort abzubauen, wo sie zu Bewohnerver­
drängung und Mietenexplosion führt.
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Kurze Wege, grüne Höfe,
hohe Wohnzufriedenheit:
Das Französische Viertel in
Tübingen zeigt eindrucksvoll,
was modernen Wohnbau
ausmachen kann.
Ein Musterbeispiel negativer Art ist Frankfurt am
Main. Mit einer Kursänderung im Wohnungsbau wurde
hier schon unter der Oberbürgermeisterin Petra Roth
(CDU), dem Planungsdezernenten Edwin Schwarz
und dem Planungsamtsleiter Dieter von Lüpke eine
Wende in die Vorzeit der neuen Urbanität vollzogen,
die im neu angelegten Stadtteil Riedberg einen – wie
Kritiker spotten – „Würfelhusten auf der grünen Wiese“
hervorgebracht hat.
Entstanden sind endlos aufgereihte „Häuser von der
Stange“ in monoton gleicher, einfallsloser Gestaltung.
Dass es auch anders geht, wurde auf eindrucksvolle
Weise im Französischen Viertel in Tübingen, in den
Freiburger Neubauvororten Vauban und Rieselfeld
vorgeführt: Abwechslungsreiche Fassaden, städte­
bauliche Dichte und die urbane Mischung städti­
scher Funktionen erzeugen Stadtteile mit kurzen
Wegen, grünen Höfen und hoher Wohnzufriedenheit.
Ähnliches war auch in Frankfurt mit der Bebauung
des früheren Schlachthofviertels und des West- und
Osthafens auf beispielgebende Weise gelungen:
Mischbebauung für eine gemischte Bevölkerung
mit dichtem Angebot von Läden, Gaststätten, Park­
anlagen, Freizeiteinrichtungen und Arbeitsplätzen,
die genau das einlöste, was die neuen „Urbaniten“
suchen: lebendige Stadt für eine bunte, aktive, dyna­
mische Stadtgesellschaft.
Es ist ernüchternd, dass die beiden Konzepte in ein
und derselben Stadt aufeinandertreffen und dass da­
bei das „modernere“ Konzept das frühere, das altmo­
dischere das jüngere ist. Hier beweist sich die völlige
Orientierungslosigkeit einer Planungs- und Politelite
in zentralen Fragen der Gesellschaftspolitik. Natür­
lich kann man „neue Quartiere“ auch am Stadtrand
bauen; aber das unterste Erfordernis wäre, dass sie
dann den Kriterien entgegenkommen, derent­wegen
Land- und Stadtrandbewohner heute wieder das Flair
und die Vitalität der städtischen Zentren suchen.
Sonst nämlich baut man den Druck, der sich auf die
Innenstädte (und ihre Bewohner) richtet, nicht ab,
sondern sorgt nur für noch höheren Druck auf die
begehrten Altbauquartiere.
Umdenken ist gefragt
Was ansteht, das ist der Abschied von monofunktio­
nalen Geschäfts-, Büro- und Wohnquartieren, wie sie
nach dem Krieg in vielen deutschen Städten mit Bom­
bentotalschäden hochgezogen worden sind. Es ist die
Absage an Not- und Behelfslösungen, die damals – in
Mitteldeutschland noch lange – dankbar angenom­
men wurden, heute aber obsolet sind. Gefordert sind
ein radikaler Rückbau sowie ein Weiter- und Über­
bauen von weder ökonomisch noch ökologisch mehr
tragfähigen Quartieren des weiland „aufgelockerten,
durchgrünten Städtebaus“. Für bestehende Gebäude
und ganze Straßenzüge müssen Rucksack-, Turmbauund Prothesenlösungen entwickelt werden, die einem
neuen verdichteten Städtebau der gemischten Funk­
tionen und kurzen Wege den Weg ebnen.
Dabei sind zwei Parameter von herausragender Be­
deutung: gestalterischer Individualismus für das
Einzelgebäude und strikte Trennung und Zuord­
nung öffentlicher und privater Räume. Einer der
verhängnisvollsten, folgenreichsten Denkfehler der
städtebaulichen Moderne war der Abschied von
der Blockrandbebauung der Gründerzeit. Nur durch
konsequentes Schließen der Blöcke können in den
Hofbereichen jene privaten Grün- und Rückzugszo­
nen gewonnen werden, die für die neuen, vom Land
in die Städte strömenden „Urbaniten“ so wichtig
sind. Nur die Blockrandbebauung garantiert hinrei­
chenden Schutz vor Lärm, Abgasen, Hundekot sowie
Durchgangsverkehr von Skatern und Radfahrern. Nur
sie verbürgt aber auch das Entstehen der plötzlich
so leidenschaftlich gesuchten neuen „Urbanität“: an
den Außenkanten der Blöcke im Straßenbereich.
Räume“ Elemente der Freiheit und Transparenz in
die von Verslumung bedrohten Innenstädte gebracht
werden könnten, hat den Städtebau nach 1945 wie
eine Heils- und Weltverbesserungslehre geprägt.
Fundamentalen
Wandel verschlafen
Es ist Zeit für einen Wandel. Mit Leitbildern der Nach­
kriegsjahre lassen sich die Wohnbedürfnisse des
21. Jahrhunderts nicht mehr abdecken. Der Stadtum­bau braucht gerade deshalb selbstbewusste, auf­
geklärte Investoren, die der Planungsbürokratie mit
der Überzeugungskraft abgesicherter Argumente
und Qualitätsbegriffe begegnen und sich auf die
neuen Städter einzustellen vermögen. Ihnen gehört
die Zukunft.
Diejenigen, die in dieser neuen Konkurrenz um den
Umbau der Nachkriegsstädte die Nase vorn haben
wollen, müssen besonderes Stehvermögen gegen­
über Architekten und Planungsämtern beweisen.
Denn so paradox es klingt: Ausgerechnet die Exper­
ten und Lenker des Städtebaus haben, wie schon ge­
zeigt wurde, den fundamentalen Wandel der Wohn­
wünsche verschlafen. Sie schwören noch immer auf
das Leitbild der 1920er-Jahre-Siedlungen, die sie auf
den Sockel des Weltkulturerbes gehoben haben. Die
Vorstellung, dass nur durch Offenheit und „fließende
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In Freiburg Rieselfeld werden die
neuen „Urbaniten“ fündig: Das
Quartier bietet alle Voraussetzungen für eine bunte, aktive,
dynamische Stadtgesellschaft.
Es war die amerikanische Soziologin Jane Jacobs,
die in ihrem urbanistischen Kultbuch „Tod und Leben
großer amerikanischer Städte“ (1963) als Erste auf
die allen Erfahrungen spottende Unsinnigkeit dieser
Lehre hingewiesen hatte. Den Aposteln der Offen­
heit hielt sie entgegen: „Die dichte Konzentration
von Menschen ist eine notwendige Voraussetzung
für städtische Mannigfaltigkeit.“ Und sie schrieb
ihnen ins Stammbuch: „Die überfüllten Slums der
Planungsliteratur sind lebensvolle Gebiete mit hohen
Wohndichten.“ Zahllose Planungsgewaltige haben
diese Richtigstellung bis heute nicht verstanden.
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Dr. Dankwart Guratzsch
k DR. Dankwart
Guratzsch
Dr. Dankwart Guratzsch ist
seit 1980 Korrespondent
Städtebau/Architektur für
die Tageszeitung DIE WELT.
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Nerds sind
„Spießer 2.0“
Wenn die Hornbrille wirklich einen echten Nerd kennzeichnet, dann hat es diese Typen
schon immer gegeben. In meiner Schulklasse der 1970er- und 80er-Jahre trugen solche
Sonderlinge noch Hornbrillen, als alle anderen Brillenträger bereits auf Metallrahmen
umgestiegen waren. Der einzige Unterschied scheint mir zu sein, dass der komplizierte
Taschenrechner von Texas Instruments heute dem iPad mit seinen digitalen Accessoires
gewichen ist. Und ehrlich gesagt, beherrsche ich auf dem iPad auch nicht mehr Funktionen
als ehedem die Grundrechenarten auf dem TI-Taschenrechner.
N
erds sind eigentlich kaum anders als die Spießer des letzten
Jahrhunderts – mit dem feinen Unterschied, dass diese sozialen Autisten sich in den nicht selten sehr (a)sozialen Netzwerken tummeln. Sie flashmobben und shitstormen durch ihre ganz eigene
Spielewelt der großen Game Conventions. Auf den Punkt gebracht sind
Nerds die Spießer der Generation 2.0. Nerds sind Fachidioten und deshalb schon Außenseiter, schwachköpfig und deshalb schon langweilig,
oberschlau und deshalb Sonderlinge, aber vor allem digital und für mich
deshalb irgendwie sozial degeneriert. Für den normalen Menschen sind
sie Avatare aus einer binären Welt.
Etymologisch gefallen mir zwei Varianten der Wortschöpfung für Nerd:
Einmal sei es die Abkürzung für „non emotionally responding dudes“,
also nicht emotional ansprechbare Typen, was perfekt auf den alten
Spießer passt. Wer wollte schon mit den Pausenbrotessern auch nur im
Ansatz etwas zu tun haben? Ein anderes Mal sind Nerds nicht betrunken – non-drunk –, weil sie nicht auf Partys gehen und nur vor ihrem PC
hocken. Spricht man nämlich drunk englisch rückwärts aus, tönt „knurd“
wie Nerd, was auch perfekt zum Spießer der prä-digitalen Welt passt.
Denn wer hätte diese Spießer überhaupt auf eine ordentliche Party
eingeladen, von deren Geschehnissen Mama nicht immer alles wissen
sollte?
Im Second Life kommt
die Pizza aus dem Drucker
Nennen wir diese digitalen Spießer doch einfach „Spießer 2.0“. Nerds
leben im Second Life, zahlen mit Bitcoins und daten über W-Lan. Sie
haben Cybersex und liken statt zu fxxxxx. Sorry for that. Sie haben nur
Facebook-Freunde und definieren Nähe über Klicks – nicht ohne Grund
heißt es doch „klick mich“. Nerds googeln sich auf jede Straße dieser
Welt und verlassen dennoch kaum ihr Haus. Und sobald man Pizza DreiD mit Geschmackstropfen aus der druckereigenen Tintenpatrone ausdrucken kann, werden sie ihre vier Wände gar nicht mehr verlassen. Sie
sind genauso spießig wie ihre prähistorischen Vorfahren aus der Zeit vor
dem Internet.
Wieso dann allerdings gerade diese Partypupser zu Stilikonen und Lifestyle Helden erkoren werden, erschließt sich erst mal nicht. Warum werden diese „Spießer 2.0“ zu Vorbildern? Bei der Antwort auf diese Frage
müssen wir den Zeitgeist zurückdrehen und uns zunächst mit dem guten
alten Spießer befassen: unbeweglich, engstirnig und dann auch noch
bürgerlich und meist alt. Das war, ist und bleibt spießig. So haben es die
Linken 68er definiert, von denen heute die meisten allerdings „Neo-Spießer“ sind, wie die taz diese „Neuen Bürgerlichen“ beschreibt. Der lange
Marsch hat die Apos nicht nur durch die Institutionen geführt, sondern
sie auch zu Opas oder Ministern gemacht. Der Marsch hat manchen
Linken nicht nur spießig, sondern auch erfolgreich gemacht. Und Erfolg
macht immer noch sexy.
Im Mittelalter war der Spießbürger meist „nur“ ein erfolgreicher Kleinbürger, der zum Großbürger aufschaute und in dessen Kreise aufsteigen
wollte. Zwischen seinem Neureichtum und dem alten Geld der Bourgeoisie entstand des Spießbürgers grundsätzliche Enge. Man denkt unweigerlich an Otto Schily und Joschka Fischer. Erster ein ewiger Bourgeois,
letzterer ein früherer Taxifahrer. Während Schily schon bei den Grünen
immer Anzug trug, sah man Fischer darin erst, als er als Grüner endlich
Außenminister wurde. Aber sexy sah er schon darin aus.
Ob Fischer heute spießig ist, sei einmal dahingestellt. Er hat sicher ganz
anders begonnen. Aber Fischer erfüllt im Alter sicher die gängigen
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Klischees des klassischen Spießers. Erfolg ist das Markenzeichen der
Spießer, gerade weil sie sich immer hocharbeiten wollen und nicht mit
der Gelassenheit des Großbürgers an die Dinge des Lebens herangehen
können. Sie haben etwas geschafft auf dem langen Marsch. Das macht
sie für uns alle so greifbar, und dies, je älter wir Normalbürger werden.
Spießer sind im Grunde unsere geheimen Vorbilder.
Der Spießbürger zeichnet sich durch ausgeprägte Konformität mit gesellschaftlichen Normen (des Großbürgertums), geistiger Unbeweglichkeit und Abneigung gegen jedwede Veränderungen der gewohnten
Lebensumgebung aus. Im Grunde war der Spießbürger apolitisch und
im bestehenden System erfolgreich. Veränderungen kamen zumeist von
unten (siehe den jungen Fischer) und ganz gelegentlich von oben (siehe
den damals schon reifen Schily). Erst wenn das Veränderungspotenzial
seine kritische Masse erreicht hatte, wechselte der Spießbürger die Seiten. Spießbürger sind Opportunisten, die etwas „hypochondrisch Egoistisches“ haben, wie Ödön von Horváth den Doppelmoralisten beschreibt.
Nerds finden digitale Dates cool
Auch die Nerds sind erfolgreich – im Netz. Ihre Anhänger leben wie sie in
den sozialen Medien. Man kennt sich, zumindest per Klick. Sie erfinden
an ihren PCs die segensreichsten Dinge wie die Möglichkeit der Formung
digitaler Knochen am 3-D-Drucker oder synthetisch entwickelte Haut für
Menschen. Von Amazon bis Zalando reicht das Alphabet der OnlineShops. Erfolg macht auch hier sexy – genauer: cybersexy. Man denkt
unweigerlich an Mark Zuckerberg, der zwar keine Hornbrille trägt, aber
im Ehevertrag festschreiben lassen musste, wie viele Minuten pro Woche
er seine Frau sehen muss. Nerds wollen alle so sein wie Zuckerberg und
finden nichts dabei, digital zu daten und Zeitkonten der Liebe zu führen.
Für Nerds ist das sogar cool. Vielleicht gibt es dafür sogar eine Tauschbörse. Bitcoins for love – die 2.0-Variante der käuflichen Liebe. Auch der
alte Spießer isst schließlich nicht nur bei Mama.
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Die Dorflinde des global village der Nerdianer liegt im Silicon Valley, Julian Assange ist ihr Gott mit Edward Snowden zu seiner Rechten sitzend.
Der Applaus ist ihnen gewiss. Aber das ist aus meiner Sicht nur die eine
Variante, über die man hinweglächeln könnte. Die andere Variante der
Nerds macht mir Sorge; denn Nerds sind ebenfalls apolitisch wie ihre
analogen Väter und Mütter. Sie sind mit von Horváth so etwas wie „digital egoistisch“, weil ihnen die Welt um uns herum real egal ist. Nun wird
der aufmerksame Leser einwenden, dass es doch die sozialen Netzwerke
sind, die Revolutionen wie den arabischen Frühling möglich gemacht haben, die in Brasilien und in der Türkei ganz aktuell die Menschen auf die
Straße bringen. Das ist richtig, doch es waren nicht die Nerds, die die
ersten Hashtags gesetzt haben. Selbstverständlich nutzt das Volk soziale
Medien, um auf die Straße zu gehen, aber der Nerd mit seiner Hornbrille bleibt lieber zu Hause, drückt den „Gefällt mir“-Button und nimmt
allenfalls als eine Art Demo-Drohne digital an den Veränderungen der
Lebensumgebung teil, in die er sich doch so gemütlich eingepasst hat.
Im Grunde gehen mir Nerds genauso auf die Nerven (welches Wortspiel) wie die Spießer damals in meiner Schule. Mit denen will man
nichts zu tun haben, wenn man halbwegs normal geblieben ist. Und
dennoch werden die T-Shirt-Träger auch irgendwann im Anzug Minister im E-Government von „Neuland“ sein. Unter dieser Voraussicht bleibt tatsächlich zu hoffen, dass uns Merkel, Steinbrück und
selbst Fischer noch lange im Altland mit Internet erhalten bleiben.
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Dr. Markus A. Will
k DR. MARKUS A. WILL
Der Autor ist erfolgreicher Romanautor von Wirtschaftsthrillern. Wills
„bad banker“ ist ein Bestseller. Zeitgemäß gibt es seine Bücher auf
Papier und als eBooks. Sein Papierwerk „der schwur von Piräus“
ist gerade erst als „bad banker im währungskrieg“ als eBook bei
HEY-Publishing unter www.heypublishing.com/e-book/206749/
bad-banker-im-waehrungskrieg erschienen. Mehr über den Autor und
seine Bücher finden Sie unter www.markuswill.com.
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Grün ist das neue Grau
Von kommunikativen Dächern & persönlichen Rückzugsorten: Die Aussicht
bei den Architekturtrends 2014 ist wonnig! Die Natur nimmt Einzug in die
urbane Landschaft – und mit ihr das private Gartenglück in jeglicher Form
auch auf dem kleinsten städtischen Fleckchen „Land“.
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Grüne Tentakel an innerstädtischen Gebäuden sind Street Art Künstler
Filthy Lukers‘ ganz persönliche Interpretation von „Natur in der City“.
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er nach Trends in Mode, Design, Lifestyle und Architektur
sucht, kommt an der französischen Agentur Carlin International nicht vorbei. Seit 1947 erspürt das Unternehmen mit
seinen „trend forecasting books“ den Zeitgeist und was in naher Zukunft
„in“ ist. Für 2014 haben sie jedenfalls eine beruhigende Perspektive ausgemacht: „Es wird fröhlich“ – trotz der Up- and Down-Phase zwischen
Finanzkrise und Innovationslust. Und schwelgen erst mal in Farben: Von
der Sonne gebleichte Farben wie Butter, Sonnenblume, Mango und Anis
in Balance mit neutralen Tönen wie Lehm oder Blau sowie Grün in allen Variationen sollen frischen Wind in die allgegenwärtigen Töne Nude,
Greige und Taupe im Interiour-Design bringen.
Rooftop Gardening
Und auch vor der Tür wird es grün: Ganz im Sinne des Trends Neo-Ökologie
wird die Poesie der Natur noch stärker in das Grau der Städte Einzug halten und immer mehr Kräutergärten werden mit urbaner Umgebung kontrastieren, meinen die Carlin-Trendspezialisten. „Lebende Wände“ oder
„vertikale Gärten“ im Privaten wie auch an öffentlichen Gebäuden boomen, wie beim Musée Branly von Jean Nouvel in Paris. Und der englische
Street-Art Künstler Filthy Luker installiert leuchtend grüne – wenn auch
nicht echte –, wie Tentakel einer Riesenkrake anmutende Monsterpflanzen an Gebäuden und bringt so das Grün im XXL-Format in die Städte.
Dass Gemeinschaftsgärten, Blumen- und Gemüseanbau in Baulücken
und auf Dächern genauso nutzbringend wie kommunikativ sind und wei-
terhin stark im Trend liegen, bestätigt der amerikanische Architekt und
Blogger John Hill in seinen „12 Vorhersagen für Architektur 2013“ auf
der Online-Plattform houzz.com. Nicht nur in New York, wo Community- und Rooftop-Gardens aus dem Boden sprießen und sogar Honig und
legefrische Eier produzieren, oder etwa vor dem Weißen Haus, wo Michelle Obama kürzlich einen Kräuter- und Gemüsegarten anlegte.
Ideen gibt es auch in Deutschland – unter anderem in Berlin: Hier entstanden auf dem Dach eines alten Gasometers tortenstückförmige Eigentumswohnungen mit dazugehörigen Dachgärten. Mitten in München
verwirklichte eine Familie kürzlich ein grün-innovatives Bauprojekt: Das
alte Satteldach eines ehemaligen Mietshauses wurde durch ein weiteres
Geschoss mit Flachdach ersetzt und mit einer Blumenwiese bepflanzt.
Und es werden immer mehr. „Ein Garten auf dem Dach steigert nicht
nur den Wert einer Stadtimmobilie, sondern ist auch gleichzeitig ein Kostensparmodell“, erläutert Wolfgang Ansel vom Deutschen Dachgärtner
Verband e.V. den Trend zur grünen Dachexpansion. Schließlich sei der
Grund und Boden für das private Gartenglück ja bereits bezahlt.
Drinnen ist das neue drauSSen
Die Natur kurzerhand von draußen nach drinnen zu holen, ist ebenfalls
trendy. Am Amsterdamer Flughafen Schiphol wurde Urban Gardening
kurzerhand in die Abflughalle verlegt: Zwischen grünen Baumwipfeln,
Fahrradklingeln und Hundegebell sitzen Fluggäste auf Baumstämmen
und sehen virtuellen Schmetterlingen zu. „An diesem Ort verändert
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Dem Himmel ein Stückchen näher… Baumhäuser
werden heutzutage auch gerne von den Großen als
Hort des Rückzugs vom Alltag genutzt.
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Rooftop Garden in The Loop, Downtown Chicago
„Vertikale Gärten“ durch dicht bepflanzte
Außenwände wie hier am Pariser Musée
Branly sind Trend.
der Megatrend Neo-Ökologie die Räume, in denen wir leben. Öffentliche,
städtische Bereiche werden im Zuge des Megatrends Urbanisierung als
lebenswerter Gestaltungsraum neu definiert“, so erklärt Cornelia Kelber,
Redakteurin der Frankfurter Zukunftsinstitut GmbH die neu interpretierte
Liebe zur Natur.
sich auch Franziska Essler von der Starnberger raumstation Architekten
GmbH. „Vom Bauherren her geht der Trend im Gebäudebereich zu ökologischen Materialien. Statt Vollwärmeschutzhäusern werden vermehrt
wieder reine Ziegelhäuser nachgefragt, mit einer Dachdämmung aus Zellulose oder etwa Holzfasern“, meint die Architektin.
Das neue „Outdoor comes indoor“-Konzept hat Carlin auch im Billunder
Hauptsitz von Lego entdeckt, wo Wände im blau-weißen Wolkenlook, Vogelgezwitscher und Blumenduft die Sinne fürs Natürliche wecken. Und
erst kürzlich eröffnete im Brunnthaler Ikea-Möbelhaus eine neue Verkaufsfläche für Garten- und Außenmöbel, die wie ein riesiges Treibhaus
anmutet – luftig, hell, grün – mit einem Café im Freiluftstil.
Spannend findet sie, Materialien im Hausbau in einen anderen Kontext
zu setzen, was sie selbst auch immer wieder bei ihren Bauvorhaben umsetzt: Bei einem jüngsten Bauprojekt haben die raumstation Architekten
zum Beispiel gebogene Drahtschuppen, wie sie zur Jahrhundertwende in
Berlin häufig für Zäune verwendet wurden, zum Treppengeländer oder
als Absturzsicherung vor Fenstern umfunktioniert. Oder französische
„Claustra“-Ziermauerziegel auf Fassaden angebracht, die üblicherweise
als Trennwände oder Zäune verwendet werden.
Interiour Design goes nature
Immer mehr Einzug hält die Natur auch in den eigenen vier Wänden. Vermutlich, weil der Megatrend „zurück in die Stadt“ weiterhin anhält, wie
Alexander Rieck, Partner des Laboratory for Visionary Architecture (LAVA)
in Stuttgart, festgestellt hat. Die neuesten Couch-Entwürfe „Borghese“
des Möbeldesigners Noé Duchaufour-Lawrance erinnern an Bäume und
Blattwerk; die Israelin Shayna Leib kreiert mit ihrer „Organelle-Serie“ Glasskulpturen, die wie Meerespflanzen aussehen. „Dazu passend gibt es
Muster und Dekore, bei denen die Welt der Pflanzen, Bäume und Blumen
Modell stehen – bunte Stoffe im Fischschuppen-Dessin, Jacquards und
Drucke im überbordenden Blumenmuster oder Leder im Look ungewöhn­
licher Tierhäute“, erläutert Sabine Fanny Karpf von Carlin.
Mit der Suche nach ungewöhnlichen, „natürlichen“ Materialien für den
Innen- wie Außenbereich und diese neu zu kombinieren, beschäftigt
Moderne Rückzugsorte
Neben so viel Revitalisierung der Natur gibt es noch einen weiteren Aspekt in der Architektur, der Trends auslöst: Die weiterhin fortschreitende
digitale Vernetzung. Mehr als 3,7 Millionen E-Mails wechseln weltweit
ihren Empfänger – pro Sekunde, meldet Radicati.com, gewünschte, aber
auch zahllose unerwünschte.
Zunehmend ziehen sich User deshalb auch wieder aus Netzwerken wie
Facebook zurück, sehnen sich nach einer „well controlled privacy“, heißt
es im Trendbericht 2014 des Europäischen Zentralverbandes Visuelles
Marketing Merchandising. Das sogenannte „Downshifting“ – eine Bewegung zu freiwilliger Einfachheit und Minimalismus spiegelt sich immer
mehr auch im Bereich Wohnen und Bauen wider.
Der Trend zum Baumhaus – vor allem für Erwachsene – ist ein Beispiel
für diese Bewegung des bewussten Rückzugs, der Einfachheit und Privatheit. Johannes Schelle, Baumhausspezialist aus München, entwirft
mit seiner Firma „Baumbaron“ private Baumhäuser und sogar ganze
Baumhaushotels. „Baumhäuser sind ein Ort des Rückzugs, zugleich ein
Abenteuer für Körper, Geist und Seele“, findet der Zimmermeister. Mit
Dachfenstern und einer freien Sicht auf die Sterne, Stromanschluss, fließend Wasser und gedämmten Wänden aus Kork, Schafwolle oder Hanf
werden Baumhäuser zum ganz persönlichen Luxusrefugium.
alle Familienmitglieder und für (Koch-)Feste weiterhin bestehen, bestätigt
Adrian Zenere, Direktor der australischen Archizen Architects, in seinen
„Architektur-Trends 2013“. Womit wir wieder am Anfang unserer Geschichte wären: Mit diesen Aussichten wird 2014 mit Sicherheit fröhlich!
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Barbara Brubacher
Heiner Scharfenorth von Architektur & Wohnen sieht ebenfalls die
Downshift-Bewegung in der Architektur angekommen: Er nennt es „Minimal-Architektur“ und meint, dass möglichst reduzierte Behausungen
auf kleinstem Raum ihrem Besitzer einen ganz persönlichen Lustgewinn
bringen. Und wenn ein Zufluchtsort außerhalb der eigenen vier Wände
nicht realisierbar ist, wird das Eigenheim zum Ruhepol, wo alles im (langsameren) Flow ist. „Danach sehnen sich Menschen besonders in einer
Zeit, in der alles schnell geht und Effektivität an vorderster Stelle steht“,
so das Portal muenchenarchitektur.com in seinen „Wohntrends 2013“.
„Bei Inneneinrichtungskonzepten ist deshalb weiterhin Offenheit mit
fließenden Übergängen gefragt“, meint der Bauträger Euro Grundinvest:
Klar abgegrenzte Räume verwandeln sich in weiche, miteinander verschmolzene Flächen, wobei Parkettböden über die gesamte Fläche ohne
Schwellen verlegt werden. Selbst das Badezimmer wird zum barrierefreien
Wohlfühltempel, mit freistehender Dusche im Raum.
Glücklicherweise bleibt der Trend zur offenen Küche als „Nervenzentrum“ des gesamten Hauses, als kommunikativer Versammlungsraum für
k BARBARA BRUBACHER
Barbara Brubacher, Jahrgang 1968, lebt und arbeitet in Neuried bei
München. Nach ihrem Magisterabschluss in Kommunikationswissenschaften, Neuerer und Alter Geschichte arbeitete sie als feste freie
Journalistin für die Süddeutsche Zeitung. 2010 gründete sie ihre
eigene Text & Lektorats-Agentur die.optimierer und ist seitdem für
diverse Verlage als Redakteurin tätig, unter anderem für CUBE – Das
Metropolmagazin für Architektur, modernes Wohnen und Lebensart
mit Ausgaben in Hamburg, Essen, Düsseldorf, Köln/Bonn, Frankfurt,
Stuttgart, München und bald Berlin. Außerdem lektoriert sie Publikationen der Münchner Frank Trurnit Verlagsgruppe.
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Fluch
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1998
6,8 %
der
Eines ist klar: Irgendwann werden sie wieder steigen, die Zinsen am Kapitalmarkt. Doch wann und
wie schnell? Eine Antwort auf diese Frage sehnen
viele herbei: private ebenso wie professionelle Anleger, also Stiftungen, Versicherer und Fonds. Sie
alle leiden darunter, dass Wertanlagen seit Jahren
immer weniger abwerfen, weil die Zentralbanken
die Märkte mit billigem Geld fluten und die Zinsen
auf Rekordtiefstände drücken, um die Wirtschaft
anzukurbeln. Anders ausgedrückt: Ein bisschen
mehr Inflation wäre wünschenswert.
sinken
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2013
1,5 %
20
D
ie Not ist groß: Deutsche Kapitalsammelstellen müssen in der
Regel mindestens vier Prozent Rendite erwirtschaften, um ausschütten zu können, was sie ihren Kunden versprochen haben. Mit
Zinsen von aktuell 1,5 Prozent für eine zehnjährige Bundesanleihe ist
das nicht drin, zumal die – wenn auch geringe – Inflationsrate alles an
Rendite wegfrisst.
Begrenzter Spielraum
Das Problem wäre nicht so groß, wenn es sich um eine kurzfristige Erscheinung handeln würde. Tatsächlich aber rentieren deutsche Staatsanleihen bereits seit 2009 mit weniger als vier Prozent. Selbst riskante
Ramsch-Unternehmensanleihen werfen kaum mehr ab als sechs Prozent
– und in sie dürfen die meisten Fonds ohnehin nur begrenzt investieren.
Der Spielraum ist also äußerst klein. Und erst wenn sich die Konjunktur
im Euroraum wieder stabilisiert, wird die Politik des leichten Geldes ein
Ende haben. In den USA gibt es bereits erste Anzeichen dafür, dass die
Notenbank Federal Reserve (Fed) ihren Kurs ändern könnte. Allein: So
nebulös, wie sich Fed-Gouverneur Ben Bernanke ausdrückt, ist ungewiss, wann dieser Zeitpunkt endlich da ist.
Doch vor allem langfristig orientierten Anlegern läuft die Zeit davon. Ihnen hilft bislang noch, dass lang laufende, höher verzinsliche Anleihen
ihren Anlagebestand dominieren. Allerdings endet demnächst die Laufzeit vieler dieser Papiere. Ersatz muss her – und meist sind das niedriger verzinste Wertpapiere. Noch schwerer hat es, wer jetzt komplett
neu anlegt, etwa weil er eine Stiftung gründen will – laut Bundesverband
Deutscher Stiftungen ist das im vergangenen Jahr im Schnitt immerhin
zweimal pro Tag passiert. Kurzum: Viele Anleger müssen ihre Strategie
überdenken.
„Sie können heute nicht mehr blindlings in Anleihen investieren“, sagt
Jürgen Olbermann, Geschäftsführer von Feri Trust, einem Beratungs- und
Analysehaus für institutionelle Anleger in Bad Homburg. Elke König, die
Präsidentin der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin),
warnte jüngst die Versicherer. Sie hätten sich zwar auf das Problem der
21
dauerhaften Magerzinsen eingestellt. Doch angesichts der jetzigen Bedingungen gehe die Ertragskraft ihrer Kapitalanlagen zwangsläufig zurück. „Ohne rechtzeitige Vorsorge kann das auf lange Sicht kaum gut
gehen.“
Die Sorge wächst
Das Fondshaus Natixis Global Asset Management hat in einer aktuellen
Umfrage unter 40 institutionellen Investoren in Deutschland herausgefunden, dass 87 Prozent der Befragten die niedrigen Renditen für ein
bedeutendes Risiko halten. Zwei Drittel rechnen in den kommenden drei
Jahren mit Problemen bei der Finanzierung langfristiger Verpflichtungen.
Die betroffenen Fonds müssen ihre Anlagen daher heute viel stärker
streuen, ohne dabei ihre Ziele aus dem Auge zu verlieren: stetige Einnahmen bei Kapitalerhalt. Auf der Suche nach Rendite seien viele zuletzt
auf Schwellenländer- oder Niedrigbonitätsanleihen ausgewichen, sagt
Olbermann von Feri Trust. „Aber man verlässt damit den sicheren Hafen.
Nach den Statuten dürfen viele professionelle Anleger, etwa Stiftungen,
fast ausschließlich in Anleihen guter Bonität investieren.“
Auch Aktien gehören dazu. Hier hätten viele Anleger, besonders Stiftungen, den Spielraum, den ihnen die Aufsicht gewährt, nicht ausgeschöpft.
Angesichts hoher Kursschwankungen und fehlender Ausschüttungs­
sicherheit hielten sie sich zurück.
Laut einer Studie des Centrums für soziale Investitionen und Innovationen
(CSI) der Universität Heidelberg dürfen lediglich 36 Prozent aller
20.000 deutschen Stiftungen völlig ohne Anlageeinschränkungen agieren.
Alle anderen müssen sich an Vorgaben halten, wobei knapp die Hälfte
der Stiftungen den Kapitalerhalt als wichtigstes Ziel definiert hat. „Die
Erfordernisse des Marktes verlangen von den Stiftungen, sich wie sonstige institutionelle Investoren als professionelle freie Anleger auf dem
Kapitalmarkt zu bewegen“, heißt es in der Studie aus dem Jahr 2012 zum
Anlageverhalten der kapitalstärksten deutschen Stiftungen.
Trend zu alternativen Investments
In der Gunst gestiegen sind daher Vermögensklassen, die bei vergleichsweise überschaubarem Risiko noch stetig Zinsen bringen – zum Beispiel
Infrastruktur-, Hedge- und Private-Equity-Fonds. 73 Prozent der von
Natixis befragten Anleger halten die Investition in diese alternativen
Investments für essenziell, um Risiken zu streuen.
Vor allem Private-Equity- und Hedge-Fonds – in Deutschland wegen ihrer
teils rüden Anlagemethoden und hohen Renditeziele als „Heuschrecken“
in Verruf geraten – gehen inzwischen auf ihre Kunden zu und öffnen sich.
„Sie diskutieren diese Strategien mit ihren Anlegern heute viel intensiver
als früher“, sagt Feri-Geschäftsführer Olbermann. Das sei vor allem für
Stiftungen wichtig, die darauf achten müssten, dass die Art der Anlage
in Private Equity nicht einem gemeinwohlorientierten Stiftungszweck widerspricht.
Gefragt: Immobilien
Mit Blick auf die sehr guten Objekte sei der Markt daher inzwischen fast
leer gefegt. Die Versicherer schlügen deshalb immer öfter in B-Lagen
und bei nicht-erstklassigen Häusern zu. Mit Blick auf die Nutzungsart der
Immobilien erwartet Ernst & Young den größten Sprung im Einzelhandel
und Wohnen – hier wollen 87 beziehungsweise 74 Prozent der Befragten
zukaufen.
Gestiegene Anforderungen
Aber ganz gleich, ob Aktien, Immobilien oder Schwellenländeranleihen:
Für viele institutionelle Investoren wird es immer schwieriger, das Risiko
ihres Portfolios unter Kontrolle zu halten. Vor allem kleine Stiftungen und
Versicherer stellt das vor große Herausforderungen. „Die Anforderungen
an die Qualifikation der Mitarbeiter sind enorm gestiegen“, weiß FeriGeschäftsführer Olbermann.
Am attraktivsten aber sind derzeit für viele Anleger die Immobilien. Zwei
Drittel der befragten Versicherer etwa wollen ihre Immobilienquote erhöhen, so das Ergebnis des diesjährigen „Trendbarometers Immobil­ien­anlagen der Assekuranz“ der Berater von Ernst & Young (E&Y).
90 Milliarden Euro ihrer Kapitalanlagen von insgesamt 1,3 Billionen Euro
haben die Versicherer in Immobilien investiert, Tendenz steigend. Zum
Jahresende 2013 wird die Immobilienquote der Versicherer laut Studie
von 7 auf 7,6 Prozent steigen. Aufsichtsrechtlich sind laut Ernst & Young
sogar bis 25 Prozent möglich. „Die Handbremse ist gelockert“, sagt
E&Y-Partner Dietmar Fischer.
Bleibt die Frage, was eigentlich passiert, wenn die so heiß ersehnte
Zinswende wirklich kommt. Schließlich fallen dann im Gegenzug zu
steigenden Renditen die Kurse der Anleihen – auch der, die die Investoren bereits halten. Daraus könnte sich Abschreibungsdruck ergeben.
Feri-Geschäftsführer Olbermann gibt jedoch Teilentwarnung: Langfristanleger bewerten ihre Anleihen in der Regel nicht zum Marktwert und
müssen sie daher bei einem Kurssturz nicht wertberichtigen. Und letztlich hänge es von der Entwicklung der Konjunktur ab, wie die Märkte
reagieren. Unter dem Strich wäre eine solche Wende jedoch positiv, sagt
Olbermann: „Eine Zinswende wäre für die gesamte Anlegergemeinschaft
ein Segen.“ Kurzfristig allerdings, werde es nicht dazu kommen.
Dabei treibt die Versicherer weniger die Angst vor der Inflation in die Immobilien, wie es bei vielen Privaten der Fall ist. Es ist vielmehr die Sorge,
die Garantieverzinsung nicht einhalten zu können. Langfristig vermietete
Objekte lösen Staatsanleihen als Anlage teilweise ab. Dabei werfen
auch Immobilien nicht mehr so viel ab wie früher: Hätten die Versicherer 2012 noch durchschnittlich 5,2 Prozent für direkte Investments via
Immobilien­käufe sowie 5,8 Prozent für indirekte via Fondskäufe erwartet, seien es 2013 nur noch 4,9 und 5,5 Prozent. „Den Verantwortlichen
geht es vor allem um ein gut gestreutes Portfolio“, sagt Fischer.
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Meike Schreiber
k MEIKE SCHREIBER
Meike Schreiber, Jahrgang 1975, arbeitet als freie Journalistin in
Frankfurt. Von dort schreibt sie vor allem über Bank- und Immobilienthemen, etwa für Manager Magazin Online. Ihr besonderes
Steckenpferd ist die bunte Welt der Landesbanken und Sparkassen.
Diesen Themen hat sie sich auch bei der Financial Times Deutschland
gewidmet, wo sie von Anfang 2002 bis zur Einstellung der Zeitung im
Jahr 2012 als Redakteurin gearbeitet hat.
22
Finanzierung von
Fans und Freunden
2.000 Euro für ein neues Tanztheaterstück, 9.000 Euro für eine Radtour nach
China, eine halbe Million Dollar für einen
neuen Film oder 32 Millionen Dollar für
die Neuentwicklung eines Smartphones.
Wer neuerdings Geld braucht, fragt
seine Freunde und Fans aus den sozialen
Netzwerken. Denn die oben zitierten
Finanzierungsfragen sind reale Projekte,
die durch Crowdfunding zustande gekommen sind oder noch umgesetzt werden
sollen. Eine ganz neue Dynamik bekommt
der junge Markt nun durch die spezielle
Variante des Crowd­investing.
estatements magazin 02|13
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estatements magazin 02|13
C
rowdfunding ist die Schnittstelle, an der soziale Netzwerke monetäre Bedeutung gewinnen.
Eine Masse (englisch: crowd) tut sich mit kleinen Beträgen zusammen, um eine große Finanzierung
zu stemmen. „Crowdfunding kommt von der Musikindustrie oder besser von der Abkehr davon zustande“,
erläutert Konrad Lauten von Inkubato, einer deutschen
Crowdfunding-Plattform. So haben Musikbands vor
rund zehn Jahren erstmals über ihre Fans neue Platten
oder Konzerte finanziert.
Finanzaufsicht SEC ausformuliert. Und schon jetzt haben über 80 Investmentplattformen eine Zulassung für
den Markt beantragt, der wohl in der zweiten Jahreshälfte ins Rollen kommen wird. Seine Größe wird sich
laut einer aktuellen Studie der Elite-Universität Berkeley auf bis zu vier Milliarden Dollar pro Jahr belaufen.
„Crowdfund Investing könnte den Markt grundlegend
verändern“, urteilen die Forscher um Professor Lee
Fleming. Eine neue Assetklasse werde sich hier entwickeln.
Wachsender Markt
In Deutschland erwartet Klein für dieses Jahr ein Finanzierungsvolumen im Crowdinvesting-Bereich von
13 bis über 15 Millionen Euro. Der Markt könnte sein
Volumen damit verfünffachen. Zum Vergleich hat sich
das Crowdfunding im ersten Halbjahr ebenfalls im
Volumen verdoppelt, in dem zwei Millionen Euro für
Projekte eingesammelt wurden. Auf Sicht von drei
Jahren traut Klein dem Crowdfunding hierzulande ein
Marktvolumen von zehn Millionen Euro zu, dem Crowdinvesting etwa die fünffache Größe. In der EU ist der
Markt für Crowdinvesting Lauten zufolge zwar weltweit
Vorreiter, aber auf höchst unterschiedlichem Niveau. In
einigen Ländern gibt es erste Regulierungsansätze, in
anderen Ländern gibt es gar keine Regulierung. Erste
Gesprächsrunden auf EU-Ebene in Brüssel, um zu einem einheitlich regulierten Markt zu kommen, endeten
bislang ergebnislos.
Seitdem Crowdinvesting hinzugekommen ist, wächst
der Markt noch rasanter als bereits zuvor. Inzwischen
gibt es spezialisierte Plattformen, die beispielsweise
ausschließlich Erotikfilme oder medizinische Entwicklungen finanzieren. „Crowdinvesting hat seit 2012 an
Fahrt gewonnen und inzwischen ein höheres Volumen als Crowdfunding erreicht“, erklärt René Klein,
Geschäftsführer von „Für Gründer“. Seit Mitte 2011
gibt er einen Crowdfunding Monitor he­raus, seit vergangenem Jahr nun auch einen Crowdinvesting Monitor. „Beim Crowdfunding auf Startnext in Deutschland
oder Kickstarter in den USA ist die Gegenleistung ein
materielles oder immaterielles Gut, aber kein Geld.“
Anders sieht es bei Crowdinvesting aus. Auch hier sind
es in der Regel Plattformen, auf denen sich Projekte
präsentieren, die innerhalb von ein bis zwei Monaten
Gelder einsammeln. Doch hier werden Beteiligungen
am Unternehmen, Verzinsungen oder Renditen für die
Einlagen zugesagt. „Dass man Crowdfunding als Finanzierungsinstrument für Start-ups benutzt, ist neu“,
erklärt Lauten.
Es ist auch genau dieser Bereich, der Start-up-Firmen
aufmerken lässt. „Wir sehen Crowdfunding nicht als
Wettbewerb“, erklärt Harald Heidemann, Vorstandsmitglied der S-UBG, einer regionalen Beteiligungsgesellschaft einiger Sparkassen in der Region um
Aachen. Hier ginge es „meist um vergleichsweise geringe Summen. Ab einer gewissen Größenordnung
müssen sich ja auch die Finanzierer regulieren lassen“.
Eine Hürde, die nur wenige Initiatoren genommen haben. Eine Ausnahme ist hier etwa Bergfürst mit einer
Zulassung der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht. „Wir haben hier auch Kontakte aufgenommen
und diskutieren, inwieweit man komplementär Crowdfunding bei Venture-Capital-Finanzierungen einsetzen
kann“, beschreibt Heidemann sein Interesse an dem
neuen Marktsegment. „Oft sind Finanzierungen über
Crowdfunding eine Vorstufe, die Unternehmen erst
eine Struktur ermöglichen, ab der sie zu uns oder anderen Venture Capital Gesellschaften kommen.“
Neue Assetklasse
Zunächst war Crowdinvesting sogar auf Europa beschränkt. US-Präsident Barack Obama hat erst im
April letzten Jahres mit dem „Jobs Act“ eine gesetz­
liche Grundlage geschaffen, die Crowdinvesting auch
in den USA ermöglicht. Eine Entscheidung, die über die
nächsten Jahre enorme Auswirkungen haben dürfte.
Die genaue Marktregulierung wird derzeit von der
Nicht ohne Risiken
Egal, ob Funding oder Investing warnt Lauten davor, zu
blauäugig in Projekte zu investieren. „Man sollte sich
schon Gedanken darüber machen, ob derjenige in der
Lage ist, das vorgestellte Projekt zu realisieren.“
Mythen gibt es bereits im jungen Markt. So wird von den
Medien meist der Kinofilm der Serie „Stromberg“ als
Vorzeigeprojekt in Sachen Crowdfinanzierung zitiert.
In der Branche zweifelt man dieses Ergebnis an. Dass
man vor zwei Jahren bereits „innerhalb von einer Woche eine Million Euro einsammeln konnte, halte ich für
ein von der Marketingagentur produziertes Projekt“,
meint Lauten. Er habe sich selbst an dem Projekt beteiligt, ohne Feedback bekommen zu haben. „Hätten
sie das Projekt über eine der vielen Plattformen abgewickelt, wäre es transparent gewesen“, kritisiert er.
Mittlerweile ist die Millionengrenze auch für hiesige Plattformen zu knacken. Mitte Juni 2013 hat dies
erst wieder das Dresdner Start-up AoTerra gemeistert. Es verbindet Cloud-Computing mit Heizungssystemen. Stark vereinfacht soll das Heizen mit der
Wärme von Computern ermöglicht werden. Auf dem
Portal Seedmatch sammelten die findigen Sachsen dafür in wenigen Wochen über eine Million Euro
ein. Bis 2017 soll sich das Investment der CrowdFinanzierer zumindest verdoppeln, verspricht die optimistische Beispielrechnung auf der Plattform. Gier
und ein unregulierter Markt haben allerdings ihre
Risiken, vor allem können Projekte auch scheitern.
v
Thomas Rosenhain
k THOMAS ROSENHAIN
Thomas Rosenhain, Jahrgang 1971, arbeitet seit
2002 als Redakteur bei
der SparkassenZeitung
und schreibt auch für die
Fachzeitschriften Sparkasse und Betriebswirtschaftliche Blätter, die sich
ebenfalls an Fach- und
Führungskräfte aus der
Sparkassen-Finanzgruppe richten. Bereits
früh im Medienbereich tätig, war er 1989
Herausgeber des ersten deutsch-deutschen
Jugendmagazins. Seine Themengebiete
umfassen wirtschaftliche und gesellschaftspolitische Felder, insbesondere aber aktuelle
Fragestellungen der Anlage- und Investmentwelt sowohl der Privatanleger als auch der
institutionellen Investoren.
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Dreck
unter den
Nägeln
Säen, jäten, ernten – Städter entdecken
ihren grünen Daumen. Während Gärtnern
früher oft als spießig angesehen wurde, entspricht es aktuell voll dem Zeitgeist. Und ist
aus soziologischer Sicht weit mehr als ein
bloßer, spaßiger Zeitvertreib.
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26
W
enn man so will, ist die Geschichte uralt. Sie beginnt am
Euphrat vor rund 2.600 Jahren. Nebukadnezar II herrscht
über das Neubabylonische Reich, das sich zwischen Persischem Golf, Mittelmeer und Rotem Meer erstreckt. Der Legende nach
lässt der König in der Hauptstadt Babylon einen mächtigen Palast mit
Gewölbe und Pfeilern, Bewässerungsbrunnen und versiegelter, mehrstufiger Dachkonstruktion errichten. Eine dicke Humusschicht wird aufgebracht, aus der bald im Überfluss Pflanzen sprießen. Was der König
da verfügt, wird nichts Geringeres als eines der sieben Weltwunder der
Antike. Es sind die Hängenden Gärten von Babylon, Dachgärten in einer
der prächtigsten Städte der Antike. Und es ist der Beginn des „Urban
Gardening“ – wenn man so will.
Aneignung öffentlichen Raums
So antik und elitär die Hängenden Gärten waren, so postmodern und
subversiv ist das, was heute in Großstädten weltweit passiert. Menschen
kippen Muttererde in Innenhöfe und züchten dort Zucchini und Radieschen, bepflanzen Baumscheiben auf dem Bürgersteig mit Minze und Kapuzinerkresse oder zimmern aus Bauholz und Paletten Hochbeete. Es ist
die Aneignung des öffentlichen Raums durch den Bürger.
So oder so: Die Natur erhält Einzug in die Städte und Kunstprojekte
wie die „Nutzgärten vor urbaner Betonkulisse – Selbstversorger aus der
Nachbarschaft bepflanzen zwölf Parkplätze“, die die Künstlergruppe
Pony Pedro 2007 auf dem Dach eines leer stehenden Parkhauses am
Berliner U-Bahnhof Kottbusser Tor realisierte, sind nur medienwirksame
Eisbergspitzen. Überall gedeihen Stadtteil- oder Nachbarschaftsgärten
oder es sprießt auf den Dächern – wie seit einigen Jahren etwa in New
York. „Nutzpflanzen verkaufen sich plötzlich besser als Zierpflanzen“,
schreibt die Soziologin Christa Müller, Herausgeberin der Essay-Sammlung „Urban Gardening“.
27
Ein besonderes Bewusstsein dessen, was sie tun, kann den GuerillaGärtnern unterstellt werden, mit denen das moderne „Urban Gardening“
begann. Vor allem sie wollen mit ihrem Handeln politische Protestbotschaften aussenden. Der grüne Aktionismus kam in den 1970er-Jahren
im New Yorker Stadtteil Manhattan auf. Ein bekannter Vertreter in Europa ist der Londoner Richard Reynolds, der mit seinem Buch „Guerilla
Gardening“ von 2004 einen wahren Boom der eigenmächtigen Bepflanzung der Innenstädte auslöste. Ein mit Müll übersätes Beet vor seiner
Haustür gab den Anstoß. Reynolds besorgte sich Tulpen, Stiefmütterchen und Lilien und legte los.
Begehrt: Schrebergärten
Dass Gärtnern in ist, verdeutlicht auch der Run auf die Kleingartenanlagen. Die Wartelisten auf eine Parzelle sind oft lang, und das reglementierte Vereinsleben, das Arbeitseinsätze und einen prozentualen
Anteil des Schrebergartens als zu bewirtschaftende Nutzfläche vorsieht,
schreckt junge Familien nicht mehr. Man genießt die Tasse Kaffee unter
dem blühenden Apfelbaum mit Blick auf das Beet, wo die Sprösslinge
die Erde durchstoßen, und nimmt den Rest hin. Wobei schwarze Fingernägel vom Säen und Jäten genauso dazugehören wie Schweißränder auf
der Kleidung vom Mähen und Häckseln. Denn Gärtnern ist Arbeit, eine
Arbeit, die wahrhaft erdet. Für Städter weicht sie den Gegensatz zwischen Stadt und Land auf. „Der Garten wird ein Erfahrungsraum für die
grundlegenden Zusammenhänge des Lebens“, sagt Soziologin Müller.
Wer aus eigener Ernte koche und Lebensmittel für den Winter weiterverarbeite, werde „für die Natur sensibilisiert“.
Robert Harrison, Autor des Buches „Gärten. Ein Versuch über das Wesen
der Menschen“, schreibt sogar, dass die Kultivierung des Bodens und die
Kultivierung des Geistes „wesensgleiche Tätigkeiten“ sind. So könnte die
Erkenntnis durchsickern, dass die industrielle Landwirtschaft laut Weltagrarbericht 2010 „unter anderem wegen ihres immensen
Ressourcenverbrauchs und ihrer Abhängigkeit vom Öl nicht in der Lage
ist, die Menschheit zu ernähren“, schreibt Müller. Vor allem eine Spielart
des „Urban Gardening“, das „Urban Farming“, setzt hier an – und auf local food. Hier wird gegärtnert, um zu zeigen, wie es besser laufen könnte
mit der Lebensmittelproduktion.
Du bist, was du isst
Der Volkswirtschaftler Niko Paech, Gastprofessor an der Universität Oldenburg, deutet städtische Nutzgärten als „Phänomen einer Postwachstumsökonomie“. Mehr Karotten und Tomaten aus eigener Zucht wollen
die neuen Gärtner essen und weniger Gemüse aus industrieller und ressourcenaufwendiger Nahrungsmittelproduktion – von der Hand in den
Mund, klimaneutral, als politisches Statement. „,Urban Gardening‘ ist
hochgradig politisch, es verkörpert den konstruktiven Aufstand gegen
den Wahnsinn der industriellen Landwirtschaft und Lebensmittelbranche“, sagt Paech. Wenn Großstädter kollektiv ihren grünen Daumen entdecken, bildet sich ein urbaner, postmaterieller Lebensstil.
„Allein, wie viel Mühe es kostet, nur eine Pflanze durchzubringen, das
verändert das Konsumbewusstsein“, sagt Robert Shaw, Geschäftsführer des Berliner Prinzessinnengarten in Kreuzberg, dem Vorzeigeprojekt
städtischer Landwirtschaft in der Hauptstadt. Ökologisch bezeichnen
die Betreiber ihr Projekt, aber auch als soziale Landwirtschaft: Wer mitmache, schaffe in einem Bezirk mit vielen sozialen Problemen „einen
neuen Ort urbanen Lebens“.
Mietverhältnis Ackerparzelle
Aber das „Urban Gardening“ kann auch als schnödes Geschäftsmodell
dienen. Die Bonner Firma „Meine Ernte“ bietet Städtern bundesweit
Ackerparzellen zur Miete an – Ernte inklusive, „alles ökologisch bewirtschaftet und ohne den Einsatz von chemisch-synthetischen Pflanzenschutzmitteln“. Bundesweit gibt es über 20 Standorte – in Köln, Hamburg,
Frankfurt ebenso wie in Stuttgart, Essen und Wiesbaden. Gartengeräte
und Gießwasser werden gestellt. 179 Euro kostet ein 45 Quadratmeter
großer Garten in der Saison, geerntet werden könne „im Wert von rund
600 Euro“.
Unter dem Begriff „postmaterielles Wohlstandsmodell“ rangiert solches
Gärtnern unter Wissenschaftlern, politisch aufgeladen ist es weniger –
es ist eher so etwas wie die institutionalisierte Form des „Urban Gardening“, die Nachhut der Avantgardisten hat es übernommen. „Genießen
Sie die Zeit in der Natur, mit alten und neuen Freunden, Ihrer Familie,
Ihren Kindern oder Enkelkindern oder auch einfach allein, um abzuschalten und den Alltagsstress hinter sich zu lassen“, wirbt die Firma „Meine
Ernte“ auf ihrer Website.
Fast zynisch klingen Parolen wie solche, schaut man auf andere Erdteile.
In einem Elendsviertel am Rande der brasilianischen Metropole Rio de
Janeiro legten Bewohner jüngst einen eigenen Gemüse- und Zierpflanzenpark an. Für die Mitmachenden wurde die Favela Vidigal so ein Stück
lebenswerter. Und in Detroit, der seit Jahrzehnten ausblutenden „Motorcity“ im US-Staat Michigan, die im Juli 2013 Insolvenz anmelden musste,
wird „Urban Gardening“ seit ein paar Jahren als eine kleine Chance für
die Stadt gesehen.
Dass die Hängenden Gärten von Babylon jemals existierten, konnte von
Historikern übrigens nie abschließend belegt werden. Und ob von ihnen ein solcher Effekt auf die Babylonier ausging, darf stark bezweifelt
werden. Vor rund 2.600 Jahren ließ Nebukadnezar II übrigens noch ein
Bauwerk fertigstellen: den Turm zu Babel, der nach alttestamentarischer Erzählung als Versuchung Gottes galt und als Strafe die bekannte
Sprachverwirrung zur Folge hatte. Doch die urbanen Gärten von heute sollen Gegenteiliges bewirken: Menschen zusammenbringen und in
der Anonymität mancher Großstadtschlucht wieder miteinander ins Gespräch bringen.
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Stefan Weißenborn
k STEFAN WEISSENBORN
v
Ernten, was man sät
– auch ein Aspekt des
Trends „Urban Gardening“.
Stefan Weißenborn arbeitet als freier Journalist und Blogger in Berlin
mit Schwerpunkt auf den Themenkomplexen Gesellschaft, Reisen
und Mobilität. Zu seinen Kunden gehören Tageszeitungen, Magazine,
Online-Medien und der dpa-Themendienst, die Verbraucherredaktion
der Deutschen Presse-Agentur. Wie erdend und entspannend die
Gartenarbeit sein kann, weiß er seit Kurzem aus eigener Erfahrung als
Pächter einer Kleingartenparzelle. Selbstversorger will Weißenborn
trotz reicher Bohnen- und Tomatenernte zwar nicht sein, Dreck unter
den Fingernägeln kommt aber trotzdem vor, wie er beim Tippen auf
der Tastatur immer wieder feststellt (www.boardingcompleted.me).
28
Selfstorage –
Zeitzeugen
zeitgeistig
verwahren
Wer kennt das nicht – trotz vermeintlicher Disziplin und dem festen Willen, nach dem
Prinzip des „Simplify your life“ die Devotionalien des Lebens so gering wie möglich zu
halten, sammelt sich im Laufe der Zeit im eigenen Haushalt meist doch so einiges an:
Neben Büchern und Kleidungsstücken auch Schallplatten und der entsprechende
–spieler dazu, Modelleisenbahnen oder selten benötigte Sportgeräte, zumeist erworben
wenn der Sommer vor der Tür und die Strandfigur weit entfernt war.
29
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31
v
Aus den Augen, aber sicher
verstaut und nicht aus dem Sinn:
In Selfstorage-Anlagen wie hier bei
PRIME Selfstorage sind Güter aller
Art wohl verwahrt.
I
rgendwann platzt auch der geräumigste Keller oder Dachboden aus
allen Nähten und es drängt sich die Frage auf, wie all die Zeitzeugen
diverser Lebensabschnitte verwahrt werden können. Die Antwort
bieten Selfstorage-Anlagen: Dabei handelt es sich um Lagermöglichkeiten in speziell für diesen Zweck errichteten und sehr gut mit dem
Auto erreichbaren Immobilien. Die separaten, zwischen einem und 50
Quadratmeter großen Flächen können für einen flexiblen Zeitraum angemietet werden. Sie sind abschließbar und blickdicht, im Gegensatz zu
vielen Kellern trocken und geschützt. In etlichen deutschen Großstädten
wurden in den vergangenen Jahren Selfstorage-Immobilien errichtet –
und der Trend hält an. Doch was für eine Art Immobilie ist das überhaupt,
woher kommt das Geschäftsmodell, und wer hat es nach Deutschland
gebracht?
Vorreiter USA
Der Ursprung des Selfstorage liegt – wie so oft bei innovativen Ideen –
in den USA, wo in den 1960er-Jahren erstmals Garagen in Lagerflächen
umgebaut wurden, um Stauraum für die Bewohner von Häusern ohne
Keller zu schaffen. Anfang der 1970er-Jahre griff ein ehemaliger Lehrer in Seattle die Selfstorage-Idee auf: Charles „Chuck“ Barbo. In der
Stadt im Nordwesten der USA arbeiteten damals viele Menschen bei
Boeing. Auch einige Eltern der Schüler von Barbo waren bei Boeing tätig
und er erlebte, wie sie bei jedem Wirtschaftszyklus binnen weniger Tage
nicht nur ihren Job, sondern auch ihr Haus und ihren gesamten Besitz
verloren. In den USA war es zu dieser Zeit üblich, dass Menschen, die
ihr Hypothekendarlehen nicht mehr bedienen konnten, ihr Haus einfach
verließen und den Schlüssel unter die Fußmatte legten. Barbo erkannte,
dass von einem Jobverlust Betroffene sicher bereit wären, etwas Geld
auszugeben, um ihr Hab und Gut zwischenzulagern, bis sie die nächste
Arbeitsstelle und eine neue Bleibe gefunden hatten. Also quittierte er
den Staatsdienst, ließ sich seine Lehrerpension auszahlen und baute aus
dem Holz der einheimischen Redwood-Zedern eine Anlage zum Einlagern
von Gegenständen, die er und seine Frau Linda „Selfstorage“ nannten.
Eine amerikanische Erfolgsgeschichte
Die Idee entsprach dem Zeitgeist – und die Erfolgsgeschichte begann.
„Shurgard Selfstorage“, so hatte Barbo seine Firma genannt, wuchs in
den darauf folgenden Jahren enorm. 1994 ging das Unternehmen als
REIT an die New Yorker Börse. Als es 2006 in einer feindlichen Übernahme von der Nummer eins der Selfstorage-Branche, der ebenfalls börsen­
notierten „Public Storage Inc.“, geschluckt wurde, betrieb es bereits
879 Selfstorage-Anlagen in Nordamerika und Europa. Public Storage
führt die Marke „Shurgard“ weiter, betreibt aktuell über 2.200 Selfstorage-Anlagen und wächst kontinuierlich. Obwohl das Unternehmen unangefochten Marktführer in den USA ist, hat es dort nur einen Marktanteil
von 5,6 Prozent. Die Top-Ten-Unternehmen teilen lediglich zwölf Pro­zent des Selfstorage-Marktes unter sich auf. Ende 2012 gab es in den
USA rund 52.500 Selfstorage-Anlagen mit insgesamt rund 210 Millionen Quadratmeter Lagerfläche. Jedem US-Amerikaner stehen damit
0,68 Quadratmeter Selfstorage-Fläche zur Verfügung. Es existieren eine
Vielzahl von Betreiber- und Qualitätsformen. Neben Neubauimmobilien
in verkehrlich sehr guten Lagen bieten auch sogenannte „Mom and Dad
Stores“ – das US-amerikanische Pendant zum Tante-Emma-Laden –
Selfstorage an.
Vorteile: Sicherheit und Flexibilität
Zwei Faktoren sind für den Siegeszug des Selfstorage entscheidend.
Zum einen der Sicherheitsaspekt: Die eingelagerten Gegenstände sind
durch Wachdienste, Alarmanlagen und Videoüberwachung besser gegen Diebstahl geschützt, als wenn sie zu Hause gelagert würden. Aber
auch der Schutz gegen Naturgewalten wie Hochwasser sowie Feuer oder
Ungeziefer ist besser als in den meisten Wohngebäuden. Zum anderen
bieten Selfstorage-Anlagen ein Höchstmaß an Flexibilität, von der neben
Menschen ohne Keller auch profitiert, wer ein platzintensives Hobby hat,
eine Zeit lang im Ausland lebt oder besonders empfindliche Gegenstände
wie Gemälde lagern will. Die Vertragskonditionen sind in der Regel sehr
kundenfreundlich: Eine variable Mietdauer mit kurzen Kündigungsfristen,
lange Öffnungszeiten der Lagerflächen sowie eine große Vielfalt der verfügbaren Flächengrößen.
Durchbruch in Europa in den 1990erN
Trotz dieser offensichtlichen Vorteile von Selfstorage gegenüber einem
feuchten Keller oder einem staubigen Dachboden brauchte es einige
Zeit, bis sich das Konzept auch in Europa bzw. Deutschland durchsetzte.
Der Schwede Michael Fogelberg war Ende der 1980er-Jahre zum Studieren in die USA gegangen und hatte dort während einer Reise durch
das Land das Geschäftsmodell Selfstorage kennengelernt. Nach seiner
Rückkehr rief er bei Shurgard Inc. an und bat um einen Termin mit dem
Firmengründer. Tatsächlich empfing Chuck Barbo den jungen Schweden
persönlich – und bereits ein halbes Jahr später flog Dave Grant, Vorstand
der Shurgard Inc., mit seiner Frau und seinen kleinen Töchtern OneWay nach Brüssel. Shurgard Inc. und Grana International, teils im Besitz von Michael Fogelberg und seinem Vater Åke, gründeten zusammen
die Shurgard Europe mit Sitz in Brüssel und nahmen den europäischen
Markt ins Visier. Åke Fogelberg war seit Jahrzehnten in der Immobilienbranche tätig und verfügte über das nötige Know-how für die Expansion.
Unter der Führung von Fogelberg und Grant wuchs die Firma binnen
weniger Jahre zum unangefochtenen Marktführer in Europa mit aktuell
187 Niederlassungen in sieben europäischen Ländern.
Seit 1997 auch in Deutschland
Dieser Markterfolg blieb nicht unentdeckt und rief Nachahmer auf den
Plan. So gibt es aktuell in Großbritannien mehr als 800 Selfstorage-
Anlagen – die höchste Zahl in ganz Europa. Dennoch beträgt die ProKopf-Lagerfläche in England lediglich ein Zehntel der Pro-Kopf-Lager­
fläche in den USA. Im deutschsprachigen Raum ist diese nochmals deutlich geringer. Die erste Selfstorage-Anlage eröffnete 1997 in Düsseldorf
und aktuell gibt es fast 100 Standorte, vor allem in den Großstädten der
Bundesrepublik. Waren die Deutschen jedoch lange Zeit deutlich sesshafter als die US-Amerikaner, wächst inzwischen auch hierzulande die
Bereitschaft, der Arbeit zu folgen oder temporär ins Ausland zu ziehen.
Das erhöht natürlich die Nachfrage nach Lagermöglichkeiten, wie sie
Selfstorage-Anlagen bieten. Zudem nutzen zunehmend auch Gewerbe­
kunden Selfstorage, um Lagerspitzen auszugleichen oder selten benötigte, sperrige Gegenstände wie Messestände oder Ähnliches zentral
zu lagern. Das Marktpotenzial in Deutschland und Europa ist erheblich,
denn es ist bereits heute abzusehen, dass sich die Zahl der Selfstorage-Anlagen in den nächsten Jahren um ein Vielfaches erhöhen wird.
v
Martin Brunkhorst
k MARTIN BRUNKHORST
Martin Brunkhorst ist Geschäftsführer der PRIME Selfstorage GmbH.
Seit insgesamt zwölf Jahren in verantwortlicher Position in der Selfstorage-Branche, gehört er in Deutschland zu den erfahrensten
Köpfen in dieser Branche. Brunkhorst ist außerdem Executive Director beim europäischen Selfstorage-Verband FEDESSA in London und
war acht Jahre lang Präsident des Verbandes deutscher Selfstorage
Unternehmen e.V. Als ständiges Mitglied im „Arbeitsausschuss
Transport und Lagerung“ beim Deutschen Institut für Normung,
Berlin, sowie in gleicher Tätigkeit beim CEN Brüssel ist er einer der
Mitautoren des Self-storage DIN/CEN Standards 15 696.
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China Megacity
Die Fotografien von Christian Höhn
v
Chongqing, die größte Stadt der Welt, entstanden am größten Staudamm der Welt,
erschließt den Westen des Riesenreiches China. Eine ständig wachsende Zahl von
Vorstädten nimmt bereits heute eine Fläche von der Größe Österreichs ein.
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k
Linke Seite: Qingdao, einst unter
dem Namen „Tsingtau“ eine deutsche „Musterkolonie“, offenbart als
Metropole am Gelben Meer noch
heute Elemente einer wilhelminischen deutschen Stadt, umgeben
von Wolkenkratzern. Die „GermaniaBrauerei“ ist mit ihrem „TsingtaoBier“ die größte in China.
k
Rechte Seite: Peking, das Zentrum
tief greifenden Wandels, ist Mittelpunkt einer langen Geschichte und
auch heute noch das Zentrum der
Macht. Äußerlich hat sich die Stadt
so radikal verändert, dass von den
alten Strukturen kaum noch etwas
erkennbar ist.
Alles beginnt mit einem Blick auf ein Bild,
das eine Stadt zeigt. Diese Stadt gibt es.
Genau so. Und als Betrachter von Christian
Höhns Fotografien weiß ich das natürlich.
Eigentlich. Dennoch fällt es mir bisweilen
schwer zu glauben, dass das, was ich sehe,
„zeitgenössisch“ ist, will heißen, dass es wie
abgebildet gerade in dem Moment, in dem
ich es hier betrachte, irgendwo anders genau
so zu finden ist.
Z
u „zukünftig“ erscheint mir der Anblick, beinahe artifiziell die Anmutung, zu sehr habe ich das Gefühl, ich finde keinen Halt in den
Bildern, habe keinen Platz in diesen fremd wirkenden Welten. Und
werde doch förmlich in sie hineingezogen. Ist das wirklich Zeitgeist oder
doch Utopie? Die Arbeiten Christian Höhns aus der Werkreihe „China
Megacity“ zeigen auf beeindruckende Art und Weise, was geschieht,
wenn wirtschaftlicher Aufschwung und Stadtentwicklung aufeinandertreffen. Insgesamt sechs asiatische Megacities, also Städte, die per Definition mehr als zehn Millionen Einwohner haben, hat der Nürnberger
Fotograf in den Jahren 2011 und 2012 aufgenommen: Peking, Shanghai, Chongqing, Hongkong, Shenzhen und Qingdao. Die großformatigen
Panoramen dieser chinesischen Riesenstädte – Christian Höhn selbst
spricht lieber von „Kulissen“ – sind urbane Stillleben, die sich alle ähneln
und von denen doch jedes seine ganz eigene Geschichte erzählt. Auf
den wenigsten seiner Bilder findet man übrigens Menschen. Und das in
Städten, die davon ja eigentlich nur so wimmeln. Das liegt vielleicht ein
bisschen daran, dass Höhn viele seiner Bilder nachts macht. Aber: Die
Protagonisten seiner Kunstwerke bestehen nun mal einfach nicht aus
Fleisch und Blut, sondern aus Wolkenkratzern, Fly-Overs, Flussläufen,
Sportstadien und Parkanlagen.
Langsames Annähern
Wie aufwendig diese Bilder in ihrer Entstehung sind und was in den oft vielen Monaten vor der eigentlichen Reise zum „Motiv“ steht, erklärt Christian Höhn so: „Alles beginnt damit, dass ich mich über eine Stadt, die ich
vielleicht fotografieren möchte, erst mal schlaumache – zunächst ganz
simpel via Internet. Wenn mir das, was ich dort finde, interessant und für
meine Zwecke geeignet vorkommt, gehe ich sukzessive immer ein Stück
mehr in die Tiefe, arbeite mich in die Stadt ein.“ Dieses „Einarbeiten“
erfolgt über viele Stunden, die Christian Höhn mit dem Studium
k
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k
Linke Seite: Shanghai, ein chinesisches Wirtschaftswunder, ist als
Hafenstadt auch Eingangstor west­
licher Moderne. Koloniale Prachtbauten stehen direkt gegenüber der
Wolkenkratzer-Skyline von Pudong,
wo das neue Finanzzentrum Chinas
entsteht.
k
Rechte Seite: Shenzhen, die Stadt
aus dem Nichts, weist das schnellste
Wachstum auf und ihre Bewohner
verfügen über das höchste durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen
in China. In nur 30 Jahren hat sich
die Partnerstadt der Metropolregion Nürnberg vom Fischerdorf
zu einer Millionenstadt entwickelt,
ausgezeichnet vom Weltarchitektenverband.
von Büchern, Bildern und Landkarten bzw. Stadtplänen zubringt. Er
nähert sich der Stadt historisch, städtebaulich, aber auch politisch. Im
nächsten Schritt beginnt einer der wesentlichsten Punkte für die Durchführung von Christian Höhns Arbeit: „Mein Team und ich müssen jetzt
von Deutschland aus versuchen, ein möglichst gut funktionierendes Kontaktnetzwerk aufzubauen – das war in China nicht ganz leicht. Aber nur
so kommt man zum Beispiel an weiteres Kartenmaterial, kann Genehmigungen eventuell schon beantragen oder zumindest die Zuständigkeiten
klären und vielleicht sogar schon ausloten, welches hohe Gebäude bzw.
welcher Punkt in der Stadt ein möglicher Standort für meine Aufnahme
sein könnte.“
Fremd und doch vertraut
Wenn Christian Höhn dann schließlich in einer der ausgewählten Städte
ankommt, muss das für ihn vertraut und fremd zugleich sein: Vertraut,
da er sich ja monatelang intensiv auf diesen Ort vorbereitet hat, fremd,
da nun zu seinem gesammelten Wissen zum ersten Mal auch das Selber-
Sehen, -Riechen, -Hören und -Fühlen dazukommt. Um dann den perfekten Ort für sein Bild zu finden, ist der Nürnberger oft ein paar Tage nur
in der Stadt unterwegs, prüft, fragt nach Zutritt, verwirft, denkt um und
erfindet neu. Und bisher hat er ihn immer gefunden: den Platz, von dem
aus seine Kunst stattfinden kann. Schwindelnd hoch oben baut er dann
sein Equipment auf und – wartet. Meist stundenlang. Auf diesen einen
Moment, in dem dann einfach alles genau so ist, wie Christian Höhn
es sich vorgestellt hat.
Nach einer wegen des großen Erfolgs mehrmals verlängerten Ausstellung seines Zyklus „Megacities China“ im Museum Industriekultur in
Nürnberg sind die Bilder von Christian Höhn ab Dezember 2013 im
Stadthaus Ulm zu sehen. Des Weiteren ist im Verlag für moderne Kunst
unter dem Titel „China Megacity“ (ISBN 978-3-86984-436-7) ein Bildband mit allen Aufnahmen erschienen. Die aktuellen Fotos werden darin
mit historischen Stadtansichten kontrastiert.
v
k CHRISTIAN HÖHN
Der Nürnberger Christian Höhn
ist seit 1994 selbstständiger
Fotodesigner. Höhn ist Mitglied
im Bund Freier Foto­designer
e.V. (BFF) sowie in der
Deutschen Gesellschaft für
Photographie (DGPh). In den
Jahren 2010/11 übernahm
Höhn einen Lehrauftrag an der
Georg Simon Ohm Technischen
Hochschule Nürnberg. Bereits seit 1993 intensive
Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Themen
zu Architektur und Mensch. Diverse Buchveröffentlichungen sowie zahlreiche Ausstellungen im
In- und Ausland, zuletzt in Arsenale, Venedig und
im Museum Industriekultur, Nürnberg.
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Private oder öffentliche Hand?
Wenn Kommunen ihre Wohnungen an private Investoren verkaufen wollen, ist Streit
programmiert. Die öffentliche Hand gebe leichtfertig ihren Einfluss auf den Wohnungsmarkt aus der Hand und liefere die Mieter renditegierigen Finanzinvestoren aus, kritisieren die Gegner der Privatisierung. Doch Fachleute sehen im Verkauf öffentlicher
Wohnungen auch Vorteile.
S
o schnell ändert sich der Zeitgeist. Noch
2005 forderte der Landesrechnungshof
Schleswig-Holstein die Städte dazu auf,
weite Teile ihrer kommunalen Wohnungen zu verkaufen. Wohnraumbewirtschaftung, so lautete die
Begründung des Rechnungshofs, stelle keine notwendige kommunale Aufgabe mehr dar. Nicht nur
in Schleswig-Holstein folgten Städte dieser Argumentation: Bereits 2004 veräußerte beispielsweise
Berlin seine kommunale Wohnungsbaugesellschaft
GSW mit ihren 65.000 Wohnungen an ein Konsortium angelsächsischer Investmentgesellschaften,
und 2006 machte Dresden mit dem Verkauf seiner
Woba (48.000 Wohnungen) an die ebenfalls von Finanzinvestoren kontrollierte Gagfah Schlagzeilen.
Rekommunalisierung –
Gebot der Stunde?
Heute weht der Zeitgeist aus der entgegengesetzten
Richtung. In der Rekommunalisierung sehen weite
Teile der Öffentlichkeit das Gebot der Stunde. Von einer „absoluten Kehrtwende“ spricht beispielsweise
Ephraim Gothe, Staatssekretär in der Berliner
Senatsverwaltung für Stadtentwicklung. Tatsächlich stockt Berlin seinen landeseigenen
Wohnungsbestand kräftig auf – innerhalb von
fünf Jahren soll die Zahl öffentlicher Wohnungen durch Ankäufe von 270.000 auf 300.000
steigen. Auch der Deutsche Mieterbund (DMB)
lehnt die Privatisierung öffent­
licher Wohnungen
als „fatales Signal für die betroffenen Mieterinnen und Mieter“ ab. Denn die neuen Eigentümer, beklagt DMB-Bundesdirektor Lukas Siebenkotten, würden jeweils schnell die Mieten erhöhen.
Und sogar das politisch unverdächtige Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) hält
fest, dass sich die in die Privatisierung gesetzten
Erwartungen vielfach nicht erfüllt hätten.
Ist die Privatisierung kommunaler Wohnungen also
ein gescheitertes Modell? „Keineswegs“, antwortet
Professor Dr. Michael Voigtländer, Leiter des Kompetenzfeldes Immobilienökonomik beim Institut der
deutschen Wirtschaft (IW Köln). „Der Wohnungsmarkt“, sagt Voigtländer, „funktioniert auch ohne
öffentliche Unternehmen sehr gut“. Einfluss sichern
könnten sich die Kommunen auch ohne großen eigenen Wohnungsbestand. Um sicherzustellen, dass
sozial schwache Haushalte angemessen wohnen
könnten, biete sich beispielsweise die Möglichkeit,
Belegungsrechte anzukaufen oder Mieter mit geringem Einkommen durch das Wohngeld zu unterstützen.
Interessen der Mieter wahren
Gleichzeitig eröffnet der Verkauf von Wohnungen
nach Überzeugung von Klaus Schmitt, Vorstand
der PATRIZIA Immobilien AG, den Kommunen neue
Handlungsperspektiven: Statt viel Geld in den Unterhalt und die Sanierung veralteter Bestände zu
investieren, sei es sinnvoller, das öffentliche Geld
für den dringend nötigen Bau preiswerter Wohnungen auszugeben. „Der Staat“, fasst Schmitt
das Prinzip zusammen, „baut neue Gebäude mit
erschwinglichen Mieten, die private Immobilienwirtschaft liefert die dafür nötigen Mittel, indem sie
der öffentlichen Hand die alten Bestände abkauft
und für deren Erhalt sorgt“. Allerdings müssten die
Kommunen bei diesem Vorgehen darauf achten, die
Interessen der Mieter zu wahren. Dies lässt sich
nach Ansicht Schmitts erreichen, „indem verkaufte
Bestandswohnungen mit einer entsprechenden Sozialcharta versehen und nur in die Hände langfristig
agierender und erfahrener Bestandshalter abgegeben werden“.
„Es ist ein legitimer Schritt, wenn sich eine Kommune entscheidet, keine eigenen Wohnungen mehr haben zu wollen“, sagt auch Professor Dr. Guido Spars
von der Bergischen Universität Wuppertal. Allerdings beurteilt Spars die Chancen der Privatisierung
skeptischer als Voigtländer und Schmitt. Gerade
jetzt, wo die Nachfrage nach günstigen Wohnungen
in Ballungszentren so hoch sei, stellten Wohnungsbestände unter kommunaler Einflussnahme „ein
wichtiges Steuerungselement“ für die öffentliche
Hand dar, argumentiert er. Zudem biete die kommunale Wohnungswirtschaft „im Gegensatz zu den internationalen Eigentümern den Vorteil, die lokalen
Problemlagen besser zu kennen und ein Interesse
an langfristig stabilen Quartieren zu haben“.
Dealer vs Farmer
Allerdings dürfe man nicht alle Investoren über einen Kamm scheren, betont Spars. Er unterscheidet
zwischen „Dealern“, die auf schnelle Rendite aus
sind, und „Farmern“, die sich ihren Beständen langfristig verpflichtet fühlen. „Je kürzer der Horizont
des Engagements ist, desto weniger nachhaltig ist
die Unternehmenspolitik“, stellt Spars fest. Dabei
nennt er drei Kriterien für die Beurteilung des Investorenverhaltens: „die Mietpreispolitik im Verhältnis
zu den getätigten Investitionen, den Umgang mit
Instandhaltungsrückständen und die Bereitschaft,
mit der Kommune bei der Entwicklung des Quartiers zusammenzuarbeiten.“
Genau diese Bereitschaft, sich für die Entwicklung
des Quartiers einzusetzen, bringen nach Einschätzung kommunaler und genossenschaftlicher Wohnungsunternehmen nicht alle privaten Investoren
auf. Vielmehr gefährde deren Verhalten die Stabilität
im Quartier, heißt es im Abschlussbericht der vom
Landtag Nordrhein-Westfalen eingesetzten Enquetekommission „Wohnungswirtschaftlicher Wandel und
neue Finanzinvestoren auf den Wohnungsmärkten
in NRW“. Doch diesen Einwand lässt Michael Voigtländer vom IW Köln nicht gelten: Jedes Unternehmen, das große Bestände verwalte, habe „ein ureigenes Interesse, Kriminalität vorzubeugen oder
allgemein das Umfeld attraktiv zu halten, um die
Vermietungschancen zu verbessern“.
Offene Kommunikation
Einig sind sich die Fachleute darin, dass die Privatisierung öffentlicher Wohnungen ein Thema
bleiben wird. Denn die leeren Kassen vieler Kommunen und der Umstand, dass Banken von hoch
verschuldeten Kommunen höhere Zinsen verlan-
gen, werden auch künftig Städte zum Verkauf zumindest eines Teils ihrer Wohnungen veranlassen. Dabei, betont Voigtländer, sei es wichtig, die
Bürger mit ins Boot zu nehmen. „Man muss offen
kommunizieren“, empfiehlt er, „was die Alternative zum Verkauf ist und wofür die Kommune das
eingenommene Geld ausgeben kann“. Sonst droht
den Verantwortlichen die gleiche Erfahrung wie
der Rathausspitze von Freiburg im Jahr 2006: Damals, als der Zeitgeist eigentlich noch für die Privatisierung war, erteilten die Freiburger in einem
Bürgerentscheid dem geplanten Verkauf der kommunalen Freiburger Stadtbau GmbH eine Absage.
v Christian Hunziker
k CHRISTIAN HUNZIKER
Christian Hunziker arbeitet
als freier Journalist in
Berlin und ist auf Themen
der Immobilienwirtschaft
und der Stadtentwicklung
spezialisiert. Regelmäßig
schreibt der gebürtige
Schweizer für Tageszeitungen wie das Handelsblatt
und den Tagesspiegel
sowie für Fachmagazine wie Die Wohnungswirtschaft und den immobilienmanager.
Den studierten Historiker und Germanisten
interessieren besonders die Wechselwirkungen zwischen Immobilienwirtschaft und
Gesellschaft. 2011 wurde Christian Hunziker
von der Wissenschaftlichen Vereinigung zur
Förderung des Immobilienjournalismus e.V.
mit dem Deutschen Preis für Immobilienjournalismus ausgezeichnet.
40
Nichts ist stärker als eine Vision,
deren Zeit gekommen ist
Er ist einer der Gründer und ehrenamtlicher Geschäftsführer der an der Augsburger
Kinderklinik tätigen Nachsorgeeinrichtung „Bunter Kreis e. V.“, die sich seit mehr als
20 Jahren unermüdlich um die Bedürfnisse von Familien mit schwerst- und chronisch
kranken Kindern kümmert: Horst Erhardt. Im estatements Magazin spricht er über
Erkennen, Zupacken, Umsetzen, aber auch Loslassen.
41
42
estatements: Was ist „Zeitgeist“ – ist das ein Begriff, der bei der
Stiftungsarbeit überhaupt eine Rolle spielt?
_ Horst Erhardt: Eine Stiftung lebt weit über unsere Lebenszeit hinaus.
Trotzdem ist sie aber natürlich getriggert von Dingen, die tagesaktuell sind,
die jetzt wichtig sind, die man einfach machen muss. Wenn man das unter Zeitgeist versteht, dann sind wir zum Beispiel mit unserem Konzept,
mit dem Ziegelhof ein Zentrum für tiergestützte Therapie zu bauen, voll
im Zeitgeist, denn: Man möchte ambulant versorgen und zwar die ganze
Familie und man bewegt sich von den klassischen Reha-Maßnahmen weg.
Eine Stiftung hat die Aufgabe zu fragen, wo sind Bedarf und Bedürfnisse
heute, in der jetzigen Zeit. Der Bunte Kreis ist wahrscheinlich in einer Zeit
entstanden, in der er quasi entstehen musste. Vielleicht wäre das vor dieser Zeit gar nicht möglich gewesen.
estatements: Warum nicht?
_ Erhardt: Weil die Leute um uns herum noch nicht so weit gewesen sind,
den Bedarf noch nicht so wahrgenommen haben. Mit den Einschneidungen
der ganzen Krankenhausversorgung, den kürzeren Liegezeiten – der sogenannten „blutigen Entlassung“ – mehr und mehr ambulanter Versorgung
war es einfach naheliegend, einen Ausgleich für die Familien zu schaffen.
Ich glaube, dass die Entwicklung des „Bunten Kreises“ sowohl in der Politik als auch innerhalb des Gesundheitswesens einfach dem Zeitgeist entsprach. Es gibt das schöne Sprichwort: Nichts ist stärker als eine Vision,
deren Zeit gekommen ist. Wenn Sie zur rechten Zeit die Vision haben und
sie ist so stark, dass sie einem zentralen Bedürfnis gerecht wird, dann hält
Sie niemand auf. Und ich denke, eine Stiftung hat tatsächlich die Aufgabe
hinzuschauen, was ist Zeitgeist, was ist aktuell unsere Aufgabe?
estatements: Der „Zeitgeist“ unterliegt kontinuierlicher Veränderung.
Wie hat sich der „Bunte Kreis“ in den Jahren seit seiner Entstehung
verändert? Und was ist gleich geblieben?
_ Erhardt: Die große Idee, Familien nicht allein
auf ihrem Weg aus der Klinik zu lassen, entstand aus einer Enttäuschung der Mitarbeiter. Wir haben diese Familien
k
Menschen stehen für
Horst Erhardt (Zweiter
von rechts oben) stets
im Mittelpunkt – egal,
ob bei seiner Tätigkeit
für den „Bunten Kreis“
oder wie hier auf
seiner Reise in die
Mongolei.
43
_ Erhardt: Absolut. Ich bereite meine Auszeit nun schon seit zwei Jahren
intensiv vor. Und ich kann nur jetzt fahren, wenn im „Ziegelhof“ die Bauphase läuft, denn meine Arbeit ist derzeit getan. Jetzt sind die Generalunternehmer, Projektplaner und Architekten am Zug – ich kann gerade gar
keinen Beitrag leisten. Wenn die Hülle steht und es an die Innenausstattung und so weiter geht, werde ich wieder an Bord sein und mich natürlich
auch die kommenden ca. zwei Jahre darum kümmern, dass das innere
Konzept läuft. Die Auszeit ist für mich aber auch ein wichtiger Prozess, die
Menschen selbstständig in ihre Verantwortung zu lassen und mal ohne
den Horst Erhardt zu entscheiden.
oft monatelang begleitet und betreut, die krebskranken, die behindert geborenen Kinder – wir haben ihre Schicksale so lange Zeit mitgetragen,
versucht, sie auf einen neuen Lebensabschnitt vorzubereiten. Und dann
mussten wir sie am Tag der Entlassung ins Ungewisse schicken und hatten
oft das Gefühl, manche packen das wahrscheinlich gar nicht. So haben
wir als Mitarbeiterinitiative der Augsburger Kinderklinik zusammen mit den
Eltern und den Seelsorgern angefangen, Spenden zu sammeln, um damit
Personal zu finanzieren, das dann die Arbeit der Klinik überschreitet. Das
war die große Idee, getragen von den zentralen Bedürfnissen der Zeit, also
einem Zeitgeist entsprechend, der quasi vorgibt, dass man so handeln
muss. Das eigentlich Bemerkenswerte für mich ist aber vielmehr, dass
die Menschen der ersten Stunde über 20 Jahre lang zusammengeblieben
sind: Wir haben immer noch den ersten Vorstand und auch alle anderen
Menschen um uns herum – übrigens auch die PATRIZIA als Partnerin der
ersten Stunde, im Jahr 1996 – sind heute noch immer da. Im nächsten
Schritt mussten wir ein soziales Netzwerk schaffen, Partner in der Politik ansprechen. Allein aus Spenden war unsere Idee nicht finanzierbar.
kranken bzw. behinderten Kindern ihr Leben qualitativ besser gelingt, ja,
den Gegebenheiten entsprechend eben bestmöglich gelingt. Das ist der
Antrieb für mich und alle Mitarbeiter.
Also haben wir mit der Stadt, dem Landkreis und Ministerien verhandelt
und auch da war die Rückmeldung so positiv, dass wir ein solches Tempo
bekommen haben und schließlich vor dem Bundestag standen, um eine
Gesetzesinitiative einzureichen, die die sozialmedizinische Nachsorge zu
einer Regelversorgung deklariert und ins Krankenversicherungsrecht aufnimmt. 2004 war dies dann geschafft. Und heute gibt es 80 „Bunte Kreise“
in ganz Deutschland.
entsteht. Damit wären dann alle Sorgen die Zukunft betreffend weg und
wir könnten uns durch die wegfallenden Kapazitäten des Spendeneinsammelns noch mehr auf unsere Kernthemen konzentrieren.
Vorstandskollegen, Ralf Otte, in den Aufsichtsrat der Stiftung wechseln,
mich um die Finanzen kümmern, weg von der operativen Arbeit. Dafür ist
die nächste Generation schon da.
estatements: Sind die Erfolgsfaktoren in der Stiftungsarbeit heute
noch die gleichen wie zur Gründungszeit des „Bunten Kreises“?
_ Erhardt: Weitestgehend ja. Zunächst kommt es darauf an, wie man mit
Visionen umgeht. Ich erkläre das den Leuten immer so: Wenn ich eine Kirche bauen möchte, muss ich nicht im ersten Schritt wissen, wie diese konkret aussehen wird, aber ich muss wissen, wo sie mal stehen soll. Als Vision
vor meinem inneren Auge. Und ich denke, das ist die „stärkste“ Stärke des
„Bunten Kreises“ und macht unsere Arbeit so erfolgreich: dass es bei uns
Menschen gibt, die aus Visionen Wirklichkeit werden lassen können.
estatements: Was bedeutet für Horst Erhardt persönlich „Glück“?
_ Erhardt: Das, was ich jetzt mache. Ich fahre in eine ganz archaische,
einfache Welt und wenn ich dort bin, inmitten Tausender Kilometer Wüste
und Steppe und da ist nichts mehr außer Ruhe und Stille – das löst bei mir
echte Glücksgefühle aus. Ganz bei mir sein, ohne dass mich irgendetwas
ablenkt, das ist für mich Glück.
estatements: Was ist bei der Stiftungsarbeit der Motor, der einen antreibt?
_ Erhardt: In den Statuten des „Bunten Kreises“ heißt der letzte Satz „…
dass ihnen ihr Leben bestmöglich gelingt“. Gemeint ist damit, dass wir
unseren Beitrag dazu leisten, dass Familien mit chronisch oder schwerst-
estatements: Was ist die größte „Bremse“?
_ Erhardt: Das fehlende Geld. Punkt. Eine andere Bremse gibt es nicht.
Geld zu akquirieren, ist heute eine Ochsentour. Fast alle Sozialeinrichtungen sind heutzutage in einem „Drittelmix“ finanziert, das heißt Spenden
und Sponsorings, eigene Mittel und öffentliche Zuwendungen. Da das
öffentliche Geld immer weniger wird, müssen Sponsoring und Spenden
entsprechend wachsen, um Ausgleich zu schaffen. Zum Glück gibt es inzwischen eine Vielzahl an Unternehmen – zu denen ja auch die PATRIZIA
zählt –, die ihre soziale Verantwortung sehr ernst nehmen. Eine schwierige
Aufgabe. Der nächste Schritt, den wir schaffen müssen, ist daher, dass
wir von den vielen Einzelspenden wegkommen, die Abhängigkeit von der
Spende nicht mehr da ist. Das soll möglichst über Erbschaften oder Nachlässe geregelt sein und so langfristig durch ein eigenes Vermögen, das
estatements: Was für weitere Faktoren gibt es?
_ Erhardt: Dass man bei Bewährtem bleibt, sich nicht dauernd neu erfindet, sich auf Kernkompetenzen konzentriert und Bestehendes weiterentwickelt. Nehmen wir nur das Beispiel des Zusammenspiels „,Bunter Kreis‘
– PATRIZIA KinderHaus-Stiftung“. Es hat sich bei inzwischen drei Projekten
bewährt, dass die PATRIZIA über die Stiftung ihr volles Know-how in Form
eines Neubaus, also eines PATRIZIA KinderHauses einbringt, während wir
dieses dann „mit Leben“ füllen, was wiederum unsere Expertise ist. Jeder
steuert das bei, was er am besten kann – entsprechend hoch ist dann das
Niveau des gemeinsamen „Produkts“.
estatements: Sie nehmen sich jetzt eine größere „Auszeit“, reisen für
fünf Monate in die Mongolei – halten Sie es ohne den „Bunten Kreis“
denn aus?
estatements: Wird das schwierig werden, wenn Sie wiederkommen?
_ Erhardt: (lacht) Ja, für die anderen. Aber ernsthaft. Ich muss das selbst
auch können und lernen. Überspitzt gesagt: Ich kann nicht nach fünf Monaten wiederkommen und sagen, jetzt bin ich wieder der „Oberguru“. Ich
bin jetzt 57 Jahre alt, ich möchte, wenn ich so 60, 61 bin und der „Ziegelhof“ fertiggestellt ist und im Vollbetrieb läuft, zusammen mit meinem
v
Das Interview führte Simone Wipplinger.
k HORST ERHARDT
Horst Erhardt wurde 1956 in Augsburg geboren, ist verheiratet und
Vater von drei Kindern.
Zusammen mit Mitarbeitern der Kinderklinik und Klinikseelsorge
sowie betroffenen Eltern gründete er 1991 den Verein zur Familiennachsorge Bunter Kreis e.V. und begann mit dem Aufbau der
modellhaften Nachsorgeeinrichtung „Bunter Kreis“. Damit zählt er
zu den Gründungsvätern des Pilotmodells „Bunter Kreis“ und war
bis 1999 dessen Projektleiter und hauptamtlicher Geschäftsführer.
Seither führt er die Geschäfte ehrenamtlich. Derzeit entwickelt er in
der Nachsorgeeinrichtung „Bunter Kreis“ dessen letzte Ausbaustufe – die frühe familienorientierte Rehabilitation von Kindern nach schwerwiegenden Erkrankungen mit Aufbau
eines eigenen Rehabilitationszentrums.
k Die PATRIZIA Immobilien AG ist seit nahezu
PATRIZIA Immobilien AG
PATRIZIA Bürohaus
Fuggerstraße 26
86150 Augsburg
Telefon +49 821 50910 - 000
Telefax +49 821 50910 - 999
[email protected]
www.patrizia.ag
30 Jahren mit über 600 Mitarbeitern als Investor
und Dienstleister in über zehn Ländern auf dem
Immobilienmarkt tätig. Das Spektrum der PATRIZIA
umfasst dabei den Ankauf, die Verwaltung, die
Wertsteigerung und den Verkauf von Wohn- und
Gewerbeimmobilien. Als anerkannter Geschäftspartner großer institutioneller Investoren agiert das
Unternehmen national und international und deckt
die gesamte Wertschöpfungskette rund um die
Immobilie ab. Derzeit betreut das Unternehmen ein
Immobilienvermögen von 10 Mrd. Euro, größtenteils
als Co-Investor und Portfoliomanager für Versicherungen, Altersvorsorgeeinrichtungen, Staatsfonds
und Sparkassen.

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