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DER TITICACA-SEE: Landschaften – Kulturen – Menschen
Vortrag von Dr. Robert Flury
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DER TITICACA-SEE
Landschaften – Kulturen – Menschen
Einleitung
In meinem Referat vor drei Jahren habe ich über die Inkas berichtet und Ihnen einen
Überblick über die Vorläufer-Kulturen der Inkas in Peru gegeben. Mit den Inkas und
dem Reich Tiahuanaco werden wir es auch heute wieder zu tun haben, aber Erinnerungen an meine damaligen Ausführungen werden dabei nicht vorausgesetzt. Im
Mittelpunkt stehen die Kulturen rund um den Titicaca-See, inmitten der Anden, auf
einer Höhe von 3800 m: es ist die Region des Altiplano, ein Grenzgebiet von Peru
und Bolivien. Neben der Region Cuzco, Urubamba-Tal und Machu Picchu ist das
Gebiet am Titicaca-See dank seinen landschaftlichen Schönheiten und seiner gewichtigen archäologischen Präsenz eine der meistbesuchten Gegenden Perus.
Die im Titel vorgegebene Reihenfolge möchte ich leicht ändern und mit den Landschaften beginnen, deren topographische Beschaffenheit, Höhe und Klima zunächst
wichtige Bedingungen für die Entwicklung der Kultur schaffen. Die extreme Höhenlage verleitet ja auch zur Annahme, dass diese Kultur zumindest in ihren Grundzügen
widerstandsfähiger und dauerhafter sein werde als im Tiefland, das den Wanderbewegungen und Eroberungen schutzloser ausgeliefert ist.
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Basel, 7. September 2010
DER TITICACA-SEE: Landschaften – Kulturen – Menschen
Vortrag von Dr. Robert Flury
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LANDSCHAFTEN
1.1 Der Titicaca-See
Der Titicaca-See liegt im nördlichen Altiplano, in den Anden, auf 3812 m Höhe, noch
400 m höher als das Jungfraujoch (3454 m). Er ist der grösste Hochlandsee und der
höchste schiffbare See der Erde. Seine Wasseroberfläche, zusammen mit den Inseln, beträgt 8559 km2 und ist damit mehr als 15 Mal grösser als der Bodensee
(538.5 km2). Er ist 176 km lang und maximal 70, im Mittel 50 km breit, mit einer maximalen Tiefe von 274 m. Der Wasserstand differiert jährlich um 80 cm. Die Niederschläge und 25 Flüsse liefern je rund die Hälfte des Zuflusses.
Der See gefriert nie, die durchschnittliche Wassertemperatur beträgt zwischen 10°
und 13° (11° im Winter, 15° im Sommer).
Der Name Titicaca ist eine Zusammensetzung: „titi“ bedeutet „Wildkatze, Puma“, „caca“ bedeutet „Felsen“. Titicaca heisst also Pumafelsen; der Name war früher ausschliesslich auf die Sonneninsel, eine der Inseln im Titicaca-See beschränkt.
Der See lässt sich in drei Teile unterteilen: den Lago Grande oder Mayor, der ¾ der
Fläche einnimmt, den Lago Pequeño oder Menor, ca. 1/6 und die grosse Bucht von
Puno, die sich zum Lago Mayor auf einer Breite von 6.5 km öffnet, mit einem Anteil
von 7%. Der Grosse und der Kleine See sind miteinander verbunden durch die 850
m breite Enge von Tiquina, über die eine Fähre verkehrt.
55% der Seefläche sind peruanisches, 45% bolivianisches Hoheitsgebiet. Die Grenze verläuft mitten durch den See.
Die Entfernung des Sees von Lima, der Hauptstadt Perus, beträgt – von Puno am
Westufer des Sees gerechnet – 1335 km, was eine Busfahrt von 24 Stunden erfordert. Mit dem Flugzeug sind es vom 45 km entfernten Flugplatz Juliaca 1½ Stunden
Direktflug. Nach Cuzco beträgt die Entfernung 390 km, das sind mit der Eisenbahn
12 Stunden – störungsfreie Fahrt vorausgesetzt - mit dem Bus 7 Stunden oder ½
Stunde Flug ab Juliaca. Nach La Paz, der Hauptstadt Boliviens, mit 1½ Millionen
Einwohnern, sind es 2 Stunden Busfahrt (115 km).
1.2 Der Altiplano
Der Titicaca-See ist als grösstes und wichtigstes Becken in das Hochland des Altiplano eingebettet, das sich zwischen der Westkordillere (Cordillera Occidental) und
der Ostkordillere (Cordillera Oriental) im Höhenbereich von 3600 – 4200 m auf peruanischem und bolivianischem Gebiet ausdehnt. Die Ostkordillere, die mit ihren
Sechstausendern den Altiplano nochmals um 2000 – 3000 m überragt, bildet den
imposanten Hintergrund mit den majestätischen, schneebedeckten Gipfeln des Illimani, 6882 m, und Illampu, 6550 m, den höchsten Erhebungen der Cordillera Real,
der Königskordillere. Hier findet sich die höchste Skipiste der Welt auf 5400 m: Chacaltaya.
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Die Ostkordillere bildet eine grosse natürliche Barriere gegen die feuchten Winde aus
dem östlichen Tiefland Boliviens und ist mitverantwortlich für das trockene und kalte
Klima der Region, das zwei ausgeprägte Jahreszeiten kennt: die mehr oder weniger
niederschlagsfreie Zeit von Mai – August, die unserem Winter entspricht, und die
Jahreszeit mit den kräftigen, oft tropisch heftigen Niederschlägen in den Monaten
Dezember – März. Die durchschnittlichen Maximal- und Minimal-Temperaturen bewegen sich zwischen + 15° und – 1°. Dabei profitieren die Uferlandschaften bis zu 3°
vom Wärmeausgleich des Sees. Das Thermometer kann aber im Altiplano bis auf –
20° fallen.
Auf dem Altiplano wechseln Hochflächen mit Hügelketten, tiefen Schluchten und – im
Süden – mit Wüste. Unendliche Flächen von Weideland schaffen einen natürlichen
Lebensraum für Viehzüchter, für den Weidegang der Kameliden: der Llamas, Alpacas und Vicuñas sowie für die Schafe, die von den Spaniern eingeführt wurden.
Flüsse sorgen für die Bewässerung der Gebiete, wo begrenzter Ackerbau betrieben
werden kann: Kartoffeln und Quinua (der Reis der Anden), wobei die Landreserven
durch die an den Hängen angelegten Anbauterrassen, die andenes, bis zum Äussersten ausgenützt wurden. Künstliche Lagunen, die cochas, dienten zur Sicherstellung der Bewässerung. Die Hochbeete, spanisch camellones, in der Sprache der
Einheimischen waru-waru genannt, gewährleisteten sichere Erträge. Sie waren bis
drei Meter breit und von ein Meter tiefen Gräben umgeben, in die Wasser in Kanälen
hergeleitet wurde. Die Gräben dienten sowohl der Bewässerung als auch der Entwässerung. Das Wasser schuf ein Mikroklima, das die Tageswärme speicherte und
nächtliche Frostschäden verhinderte. Der Schlamm, der sich zur Regenzeit periodisch absetzte, trug zur Düngung der Beete bei. Sie erwiesen sich als landwirtschaftliches Hochleistungssystem. Die Auswertung von Luftaufnahmen zeigt auf Abertausenden von Hektaren Spuren dieser Hochbeete, die dann unter den Spaniern verkümmerten. Die Entwicklungshilfe, an der auch die Schweiz beteiligt war, ermunterte
die Landbewohner, zu diesem System zurückzukehren. Die Versuche verliefen erfolgreich, brachten bessere Ernten ein als die gewöhnlichen Felder und lösten einen
eigentlichen waru-waru-Boom aus, der inzwischen wieder abgeflaut ist. Denn zur
Wiederherstellung von 1 ha waru-waru sind etwa 760 Arbeitstage erforderlich.
Diese Agrartechnologien dürften bis ca. 1000 v. Chr. zurückgehen, Viehzucht, Weidegang und Fischfang noch früher. Sie wurden bis zum Ende des Inka-Reiches praktiziert. Unter den Spaniern, die andere Prioritäten verfolgten, wurden sie dann aber
sträflich vernachlässigt.
Die Errungenschaften der modernen Zivilisation: Wasserversorgung, Kanalisation,
Telefon etc. haben in den Dörfern erst teilweise Einzug gehalten. In den zerstreuten
Siedlungen auf dem Hochland fehlen sie noch vollständig.
Verkehrsmässig wird die Region durch Autobusse erschlossen, ganz entfernte Siedlungen müssen sich mit Lastwagen behelfen.
Die Bewohner sind überwiegend, zu ca. 60% „Indígenas“, die eigentlichen Ureinwohner. Die Bezeichnung „Indios“ empfinden sie als abwertend. Die Bezeichnung
„Indígenas“ betont dagegen den Ursprung und die Anwesenheit vor dem Eindringen
der Spanier. Völlig unpassend wäre es, sie „Indianer“ zu nennen. Auf der boliviani-
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schen Seite sind es die Aymarás des Departements La Paz, auf der peruanischen
die Quechuas und eine Minderheit von Aymaras im Departement Puno, einem der
ärmsten Departemente Perus. Ihre Lebensweise unterscheidet sie kaum, so dass wir
im Folgenden auf eine Darstellung nach Nationalitäten verzichten werden.
Auf dem Altiplano finden sich nur wenige grössere Städte: Puno und Copacabana.
Puno, die Hauptstadt des gleichnamigen Departements, zählt über 100’000 Einwohner und gilt heute als ein Zentrum der Folklore. Zur Zeit der spanischen Kolonialherrschaft war Puno eine der reichsten Städte des Kontinents, „la ciudad de plata“, wegen der Silberminen von Laykakota in der Nähe der Stadt. Heute ist sie ein provinzielles Handelszentrum, idealer Ausgangspunkt für Exkursionen.
6 km vom Hafen von Puno entfernt stossen wir auf die Inseln der Uros, künstliche
Inselchen, die aus mächtigen Bündeln von Schilfrohr, „totora“, zusammengefügt und
verankert werden. Da die untersten Lagen im Wasser allmählich verfaulen, müssen
die Inselchen von oben immer wieder neu beschichtet werden. Die Hütten sind aus
dem gleichen Material errichtet. Die Kochstelle befindet sich ausserhalb. Ihre Boote –
die „balsas de totora“ – dienen zum Fischfang und zu Fahrten mit Touristen. Von den
ca. 80 künstlichen Inselchen sind fünf als grosse Attraktionen für die Touristen zugänglich.
1978 wurde das nationale Schutzgebiet Titicaca vor Puno errichtet, und der gesamte
See steht unter dem Schutz der Konvention Ramsar für geschützte Feuchtgebiete.
Copacabana, in Bolivien, ist ein vielbesuchter Wallfahrtsort und Ausgangspunkt für
den Besuch der Sonnen- und Mond-Insel, von deren archäologischen Stätten noch
die Rede sein wird.
Zwischen Puno und Copacabana liegt Juli, während Jahrhunderten ein Missionszentrum der Jesuiten.
Von den Inseln steht das peruanische Taquile regelmässig auf den Reiseprogrammen. Sie ist von Puno aus in dreistündiger Bootsfahrt erreichbar und wird als „Insel
der strickenden Männer“ leicht belächelt. Hier sind es tatsächlich die Männer, die - in
aller Öffentlichkeit – stricken. Die 1600 Bewohner führen keine Hotels und leben ohne Elektrizität. Touristen können aber privat übernachten, was ihnen die Möglichkeit
zu engeren Kontakten mit den Indigenas bietet.
Die Insel Amantaní, auf der 800 Familien leben, ist noch weiter entfernt als Taquile
und weniger bekannt. So gewährt ein Besuch mehr Ruhe und Beschaulichkeit, insbesondere, wenn man sich die Mühe nimmt, die beiden Hügel Pachatata und Pachamama zu besteigen, wo noch heute feierliche vorchristliche Kulte begangen werden. Die Namen weisen auf den Dualismus von Vater (tata) und Mama hin. Zudem
geniesst man von hier aus einen überwältigenden Rundblick auf den See.
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KULTUREN
2.1 Die Entwicklung der frühesten Kulturen
Die Region um den Titicaca-See, und der Altiplano insgesamt, veranschaulichen in
eindringlicher Weise die Auseinandersetzung der frühen Bewohner mit den schwierigen topographischen und klimatischen Verhältnissen in grosser Höhe. Sie zeigen die
Entstehung erster Kulturen, deren Aufstieg und Niedergang, bis zur Heranbildung
von Hochkulturen wie Tiahuanaco und dem Inka-Reich. Dabei konnte jede neue Kultur auf die Errungenschaften und Traditionen der vorangehenden aufbauen und sie
weiterentwickeln, bis dann mit dem Eindringen der Spanier, der Macht aus einem
fremden Kulturbereich, die natürliche Entwicklungslinie jäh unterbrochen wurde.
Die ersten Bewohner dürften den Altiplano, den Flussläufen folgend, um 12'000 v.
Chr. besiedelt und sich ihren Lebensunterhalt als Jäger und Sammler gesichert haben. Spuren haben sie in Fels- und Höhlenzeichnungen hinterlassen.
Nach dem Übergang zur Sesshaftigkeit, zur Viehzucht und zur Bebauung des Landes – gegen 2'000 v. Chr. – entwickelten sich ungefähr zur gleichen Zeit zwei erste
Macht- und Kulturzentren: Chiripa, auf der Halbinsel Taraco, am Südende, auf der
Ostseite des Titicaca-Sees, und Pucará, etwa 100 km vom heutigen Puno entfernt.
Chiripa
Die Anfänge des Reiches werden auf 1350 v. Chr. angesetzt, sein Ende auf 100 n.
Chr. Um 1000 v. Chr. wurde mit dem Bau einer terrassierten Plattform begonnen, die
sich im Laufe der Jahrhunderte zu einem monumentalen Bauwerk entwickelte. Auf
der obersten Stufe befand sich ein halbunterirdischer oder vertiefter Hof (so die
Übersetzung des spanischen „semisubterranea“), der auf allen Seiten von 16 regelmässigen, zum Hof hin offenen Räumen umgeben war. Typisch waren bei derartigen
Zeremonialbauten die Verwendung monolithischer Blöcke und der vertiefte Einbau
von Höfen. Beides wurde später von Tiahuanaco übernommen.
Die heute noch zu sehenden Überreste sind allerdings höchst bescheiden und warten noch auf die wissenschaftliche Bearbeitung.
Eine bessere Vorstellung vom Tempelbau dieser Frühzeit gewährt uns der Tempel
von Chisi, in einiger Entfernung von Chiripa, der ebenfalls halb in die Erde eingegraben ist und dessen Aussenmauern durch Monolithe abgestützt sind. Ein Pfeiler am
Eingang zeigt eine menschliche Figur in Hochrelief, eines der ältesten Zeugnisse der
Chiripa-Kultur. Die Verwendung von Monolithen zur Abstützung des Mauerwerks
wird ein Jahrtausend später ein typisches Merkmal von Tiahuanaco sein.
In Chiripa treffen wir auch erstmals auf die vorhin erwähnten Hochbeete, die camellones oder waru-waru.
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Pukará
Ungefähr zu gleicher Zeit wie Chiripa, 250 v.Chr. bis 380 n.Chr., entwickelte sich Pukará zum wichtigsten religiösen und administrativen Zentrum des Altiplano. Es dehnte seinen Einflussbereich bis nach Cuzco im Norden, Arequipa im Westen und bis
nach Bolivien aus. Auch hier treffen wir auf eine Agrikultur mit Hochbeeten. Von Interesse ist das Auftauchen des Stabgottes und des Raubtiergottes in der PukaráKultur. Das deutet auf eine Übernahme von Traditionen aus Chavín hin, einer Mutterkultur Perus, wo der Stabgott heimisch war. Der Stabgott ist später als Erbe auch
von Tiahuanaco aufgenommen worden. Pukará dürfte dabei die Vermittlerrolle gespielt haben.
2.2 Tiahuanaco
Um Christi Geburt bahnt sich eine Ablösung und Verlagerung der regionalen Mächte
von Chiripa und Pukará nach dem 20 km südlich von Chiripa und vom Titicaca-See
gelegenen Tiahuanaco an. Der Name lässt zwei Übersetzungen zu: „Volk der Söhne
der Sonne“ oder „Vertrocknetes Ufer“. Letztere könnte darauf hindeuten, dass der
Seespiegel einst 35 m höher lag und bis Tiahuanaco reichte, wo man auch einige
Mauern als Überreste von Hafenanlagen deutet.
Seinen Aufstieg zum ersten echten andinen Imperium verdankte Tiahuanaco einem
intensiven Ackerbau auf den Ackerbauterrassen, den andenes, und auf den Hochbeeten, waru-waru, den Bewässerungsanlagen mit den künstlichen Lagunen, den
cochas, aber auch der Entwicklung der Llama- und Alpaca-Zucht. Als Ergebnis seiner Expansion beherrschte es die südliche Hochebene des Altiplano, die Südküste
Perus und Nordküste Chiles sowie einen grösseren Teil Boliviens bis zum nordwestlichen Argentinien. Wirtschaftlich wertvoll waren dabei besonders die Gebiete zwischen der Hauptstadt und dem Pazifik, die auf einer Höhenskala zwischen 0 und
3800 m lagen und deren Mikroklimata es nun gestatteten, Nahrungsmittel zu produzieren, die auf dem Altiplano nicht möglich waren: u.a. Mais, Baumwolle und auch
Coca. In diesen Gebieten wurden zur Sicherung eigentliche Kolonien mit administrativen Zentren angelegt und mit Leuten aus dem Altiplano besiedelt. Damit schuf nun
Tiahuanaco Verbindungen zwischen der Küste, dem Altiplano und der AmazonasSeite der Anden. Voraussetzung dazu war die Errichtung eines engmaschigen Strassennetzes, das später von den Inkas übernommen und dann fälschlicherweise auch
ihnen zugeschrieben wurde.
Bemerkenswert ist, dass die Ausdehnung des Reiches nicht mit militärischen Mitteln
erfolgte, sondern durch die Ausstrahlung, Ausbreitung und Durchsetzung einer neuen Kultur, die sich auf friedliche Weise auf die lokalen Kulturen überlagerte, insbesondere aber durch den neuen Glauben, der sich in Tiahuanaco entwickelt hatte: den
Kult des Stabträger-Gottes, der die Stadt in ein Zeremonialzentrum und einen Wallfahrtsort verwandelte, wo Götter zuhause waren.
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Die neue religiöse Ideologie formte auch die Sozialstruktur von Stadt und Reich, mit
der Elite der Priesterschaft an der Spitze.
Indirekt gestützt wurde Tianhuanaco durch das Reich der Huari, ein anderes neues
Grossreich, das sich von Moquegua bis zum Lambayequetal und bis Cuzco erstreckte. Die Huari hatten Religion und Kultur von Tiahuanaco ebenfalls übernommen.
Zwischen den beiden Reichen bestand ein konstantes politisches Gleichgewicht, das
sich auch in der gegenseitigen Anerkennung der jeweiligen Herrschaftsgebiete äusserte.
Der Niedergang der beiden Reiche nach 1000 n. Chr. wird mit Dürreperioden in Zusammenhang gebracht, die den Zusammenbruch der Landwirtschaft und einen Bevölkerungsrückgang zur Folge hatten, möglicherweise auch gleichzeitig mit
Volksaufständen gegen die herrschende Klasse. Um 1300 wurde die Stadt Tiahuanaco endgültig aufgegeben.
Die Baudenkmäler in Tiahuanaco
Noch heute beeindrucken die baulichen Überreste, die uns erhalten geblieben sind.
Selbst der brutale Raubbau, der an den Baudenkmälern betrieben wurde, vermag
deren Eindrücklichkeit nicht zu schmälern. Unzählige der exakt behauenen Blöcke
aus Andesit, einem vulkanischen Andengestein wurden von der Pyramide abgetragen und für den Bau der Kathedrale im 70 km entfernten La Paz sowie für die Ortskirche und für den Unterbau der Eisenbahn verwendet. Und die oberste Stufe der
Pyramide wurde durch die Spanier bei der Schatzsuche erheblich beschädigt und
verunstaltet.
Das archäologisch sorgfältig bearbeitete Zeremonialzentrum belegt eine Fläche von
450 x 1000 m.
Dominierendes Monument ist die Akapana-Pyramide, „der Ort, wo man sieht“, mit
einer Grundfläche von 180 x 135 m und einer Höhe von 18 m., wobei ein natürlicher
Hügel als Kern diente. Stützmauern formten 7 Plattformen. Auf der obersten stand
ein in die Erde gebauter, semisubterraner Tempel.
Zum Templete semisubterraneo am Fuss der Pyramide führen 7 Stufen hinunter.
Sein Grundriss ist fast quadratisch, mit Seitenlängen um 26 m. 57 Monolithe aus rotem Sandstein stützen als Pfeiler die 7 m hohen Mauern, die 2 m tief in der Erde ruhen. Die Vertiefung dürfte auf den Anden-Dualismus zurückgehen: Jedes Gebäude
sollte zur Harmonie der unter- und oberirdischen Welt beitragen. In die Mauern sind
175 Nagelköpfe eingefügt, cabezas clavas, die Menschen darstellen. Jeder Kopf ist
individuell gearbeitet.
Wir kennen die cabezas clavas bereits aus Chavín. Sie weisen möglicherweise auf
die Enthauptung von Gefangenen und Opfern hin und auf die Köpfe, die als Trophäen dienten, die cabezas trofeos.
In der Mitte des Tempels stehen drei Monolithe, darunter die Barbado-Stele, die
grösste.
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Vom Templete semisubterraneo gelangt man über eine breite Treppenanlage und
durch ein Tor in die Kalasasaya, wörtlich: „stehender Stein“, mit den Ausmassen 129
x 119 m. Sie ist auf allen vier Seiten ummauert mit roten, trapezförmigen, in den Boden gerammten Sandsteinblöcken, deren Zwischenräume mit Quadersteinen ausgefüllt sind. Im vertieft angelegten Innenhof steht der Monolith Ponce. In der Kalasasaya wie in den übrigen Bauten funktionierte ein perfektes Abwasser-System mit
Haupt- und Nebenkanälen, die zum Fluss führten.
Das Sonnentor, die Puerta del Sol
Das Sonnentor – der Name ist eine Erfindung des 19. Jahrhunderts – ist wohl die
berühmteste Skulptur der Andenwelt. Es war Teil eines gedeckten Tempels, und sein
jetziger Standort dürfte nicht der ursprüngliche sein.
Das aus einem einzigen Block gehauene, 100 Tonnen schwere, aber entzweiebrochene Monument, das 1908 wieder aufgerichtet wurde, ist 3.84 m breit, 2.73 m
hoch und 50 cm dick.
Das Sonnentor ist berühmt wegen des Flachreliefs auf dem oberen Teil der Vorderseite, das streng geometrisch gegliedert ist. Es hat schon die verschiedensten Deutungen erfahren: eine religiöse, als Ackerbaukalender und als Darstellung symbolischer Tanzszenen. In der Mitte ragt die gedrungene Figur der zentralen, menschenähnlichen Hauptperson en face hervor. Sie steht auf einer gestuften Plattform, öffnet
die Arme und hält zwei Zepter oder Stäbe in den Händen. Daher der Name Stabgott.
Das Haupt ist von einer Kopfbedeckung eingefasst, von der strahlenförmig 19 Anhängsel ausgehen. Unter dem Kinn hängen 5 Metallscheiben. Das Kleid ist reich
verziert, mit einem Gürtel und einer Brustplatte. Unter den Augen sind Punkte oder
Ringe zu sehen, die als Tränen gedeutet worden sind.
An den Seiten sind symmetrisch 48 kleine Figuren angeordnet, im Profil, jede mit
einem Zepter in der Hand. Sie sind beidseits in 3 Reihen von je 8 Figuren unterteilt.
Die Figuren der mittleren Reihe haben eine Kondormaske vor dem Gesicht, während
diejenigen der oberen und unteren Reihe Gesichter mit menschlichen Zügen tragen.
Der Künstler hat sie nach einem Grundmodell geschaffen. Alle tragen Kopfbedeckungen und reichen Schmuck und sind mit Flügeln und Schwänzen ausgestattet. –
Unterhalb dieser Figuren schliesst der Fries mit einem Mäanderband, auf dem 15
kleine Köpfe en face alternieren.
Neu ist das Skulptur-Schema. Die Figuren sind in ein rechtwinkliges Rastersystem
eingeordnet, Darstellung und Formen sind geometrisiert. Diese Stilisierung der Motive wurde durch die Textilkunst beeinflusst, die ihrerseits Merkmale aus dem Bereich
der Südküste übernahm.
Eine eindeutige und allgemein anerkannte Interpretation des Frieses liegt bis heute
noch nicht vor. Tiahuanaco wirft – wie häufig in der Archäologie – mehr Fragen auf,
als dass es gesicherte Antworten zulässt. Die plausibelste Deutung ist die religiöse,
die in der zentralen Figur eine Gottheit sieht, den Gott mit den Stäben, (den Schöpfergott Viracocha?), dem die knienden Personen huldigen.
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Der Gott mit den Stäben findet sich bereits 1000 Jahre früher in der Mutterkultur Perus von Chavín, am eindrücklichsten dargestellt in der Raimondi-Stele: einer Gestalt
mit Raubkatzenzähnen, die stehend in jeder Hand einen langen Stab oder ein Zepter
hält und die wahrscheinlich die Hauptgottheit des Neuen Tempels in Chavín darstellt.
Dem Gott mit den Stäben sind wir auch in Pukará begegnet und nun also in Tiahuanaco, wo ihm allerdings die Raubkatzenzüge fehlen. Das zeigt, dass Traditionen, die
von Chavín ausgingen, über Jahrhunderte hinweg in anderen Kulturen weiterlebten.
Der ausserhalb des Zeremonialzentrums gelegene Bereich von Puma Punku mit einer Grundfläche von 155 x 122 m, gehört zu den wichtigsten Monumenten von Tiahuanaco. Die drei Plattformen sind stark beschädigt. Riesige, bis 6 m grosse, mörtellos gefügte Steinblöcke, perfekt behauen und geglättet, sind hier anzutreffen. Hoch
interessant ist die Verwendung von Bronce-Klammern zur Fixierung von Blöcken.
Mit allen diesen Techniken hat Tiahuanaco die Baukunst der Inkas entscheidend beeinflusst.
Nicht zu übersehen sind in Tiahuanaco die mächtigen, freistehenden Monolithe, die
wie riesige Steinnadeln aus der Erde aufragen. Ihre Vorbilder stehen in Chiripa und
Pukará, und auch die Stelen in Chavín (Raimondi) wären bereits dazu zu rechnen.
El Ponce, 3 m hoch, trägt eine Kopfbedeckung, Maske, Ohrringe, Gürtelschärpe,
Armbänder (an den Handgelenken und Fussknöcheln) und eine von kreisförmigen
Sinnbildern geschmückte Hose. Seine Arme liegen rechtwinklig am Körper an. Die
rechte Hand umschliesst offensichtlich ein Zeremonialmesser, die linke drückt einen
kero, einen Becher, gegen die Brust. Die Gesichtszüge sind streng und grob.
Die Beschaffung des Steinmaterials gibt noch heute Rätsel auf. An Ort war kein
brauchbares Gestein vorhanden. Das Material musste aus Steinbrüchen in mehr als
30 km Entfernung herbeigeschafft werden, die Andesit-Blöcke 60 km weit von der
Halbinsel Copacabana, zuerst auf dem See-, dann auf dem Landweg.
2.3 Die Nachfolge-Reiche von Tiahuanaco
Nach dem Niedergang von Tiahuanaco entstanden neue Machtbereiche. Auf dem
Altiplano waren es Colla und Lupaca, beide auf der Westseite des Titicaca-Sees, von
wo aus sie sich weiter ausdehnten: Lupaca Richtung Pazifik. Die beiden Mächte hatten eine gemeinsame Sprache, das Aymará, aber auch die gleiche Siedlungsweise,
Agrartechnologie und den Glauben an den Sonnengott und an die Gottheit des Sees,
bei der es sich möglicherweise um den Stabgott von Tiahuanaco handelt.
2.3.1 Lupaca
Wichtigstes Fürstentum im Altiplano wurde Lupaca, dessen wirtschaftliche Stärke auf
der Viehzucht beruhte. Der Hauptort war Chucuito am Titicaca-See, 20 km von Puno
entfernt, der den Besucher mit einem Zeremonialzentrum überrascht, das mit seinen
Phallos der Fruchtbarkeit gewidmet war, was freilich einige Forscher bestreiten. Sie
deuten es als astronomisches, astrologisches Zentrum und die einzelnen Steine als
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Darstellung einer Bergkuppe mit zwei Erhebungen und Zeremonialzentren: die eine,
die untere, als Bereich der Agrikultur, die männliche Domäne, die höhere als Symbol
der Hirtentätigkeit, den Bereich der Frauen. Das erinnert an den Dualismus der zwei
Hügel auf der Insel Amantaní. Die Aufstellung der Phallos ist erst in späterer Zeit
vorgenommen worden. Der Charakter als Stätte der Fruchtbarkeit ist aber noch immer im Volk verankert; das beweisen die Besuche kinderloser Frauen, die am Fusse
des grossen Phallos ihren Kinderwunsch gebetsweise anbringen.
2.3.2 Colla
Hauptort des Reichs Colla ist Hatun Colla. Bekannter ist aber die Nekropolis, Sillustani, mit ihren Grabtürmen, den Chullpas, die grösstenteils noch aus der Zeit vor
der Eroberung durch die Inkas stammen, d.h. aus dem 12. – 15. Jahrhundert. Es ist
aber erwiesen, dass dann auch die Inkas einige Chullpas errichtet haben. Sillustani
ist 30 km von Puno entfernt und liegt auf einer felsigen Halbinsel, die in den UmayoSee hineinragt, also nicht am Titicaca-See selbst. Hier drängen sich auf einer kleinen
Fläche circa 150 Grabtürme zusammen. Die Chullpas sind meistens rund, seltener
quadratisch, ihr Umfang vergrössert sich in der Regel nach oben. Die grösste, die
Lagarto, ist 12 m hoch, mit einem Durchmesser unten von 7.20 m und oben von 7.60
m. Ihr Innenraum besteht aus mehreren übereinander liegenden Grabkammern, die
an den Wänden mit Nischen ausgestattet waren. Eine kleine, enge Öffnung ermöglichte den Zugang. Die Toten wurden in Säcken aus Pflanzenfasern, den fardos, die
nur das Gesicht frei liessen, aufrecht, in Hockerstellung, in den Nischen beigesetzt.
In der Literatur findet sich der Hinweis, dass alljährlich die Toten aus den Chullpas
herausgeholt und in einer Prozession herumgetragen worden seien, auch vor ihre
Häuser, wo sie sich über deren Zustand und den ihrer Familie ins Bild setzen konnten: eine makabre Disziplinierungsmassnahme für die Nachkommen. Auch bei Zweifeln an diesem Brauch darf doch daran erinnert werden, dass auch in Cuzco an Festen die Mumienbündel der verstorbenen Inka-Herrscher aus der Coricancha, dem
Sonnentempel der Inkas in Cuzco, herausgeholt und in feierlicher Prozession durch
die Hauptstadt getragen wurden.
Rätsel geben in Sillustani noch die in der Nähe der Grabtürme gelegenen Steinkreise
mit einem Durchmesser von 15½ m auf. Handelt es sich um Kultplätze für den Sonnenkult, dienten sie astronomischen Zwecken, oder soll man an Plätze der Meditation denken?
2.3.3 Mollo
Eine weitere Kultur, die im Gefolge der Wanderbewegungen nach dem Untergang
von Tiahuanaco entstand, war diejenige der Mollo. Sie entwickelte sich bis zum Eindringen der Inkas, 1485, auf der Ostseite des Titicaca-Sees, im heutigen Bolivien, in
den gebirgigen Quertälern der Anden auf Höhen zwischen 1200 und 3700 m. Die
stadtartigen Siedlungen, ohne Tempel oder Heiligtümer, waren an strategischen Stellen, auf Terrassen an steilen Hängen errichtet, durch Stützmauern gesichert, zur Verteidigung gegen das Eindringen von Stämmen aus der Selva, dem Urwaldbereich.
Sie waren umgeben von Hunderten von Andenes (Ackerbau-Terrassen) an unzu-
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gänglich erscheinenden Orten, künstlich bewässert mit Hilfe von Aquädukten und
kilometerlangen Kanälen. Die Bewohner pflanzten in mühsamer Feldarbeit Mais, Yuka (ein Knollengemüse), Tomaten, Calabazas (Kürbisse), Bohnen und Erdnüsse und
nährten sich zusätzlich vom Fleisch der Llamas und Alpacas, von Meerschweinchen
und von Fischen.
Die repräsentativste Siedlung ist Iskanwaya, auf 1672 m Höhe, an einem steilen
Hang, im Tal des Río Llika. Die Entfernung von La Paz, von wo aus wir die Exkursion
unternommen haben, beträgt 325 km. Wir fahren zuerst dem Titicaca-See entlang,
wo wir den Überresten kegelförmiger Hütten der Umasuyos begegnen, die zum Volk
der Colla gehörten. Auf schlechten Schotterstrassen ins gebirgige Hinterland treffen
wir zuerst auf einen Markt, später auf eine Bus-Haltestelle im Freien, auf 4000 m Höhe. Nach 9 Stunden erreichen wir Aucapata „Höhe des Teufels“, ein entvölkertes
Dorf, das noch 200 Einwohner zählt. Vor 60 Jahren waren es noch 1700. Ein paar
hundert Familien sind nach La Paz, der Hauptstadt Boliviens, ausgewandert. In Aucapata bietet uns ein grösseres Haus bescheidene, aber saubere Übernachtungsmöglichkeiten, und eine private Küche, die sich als Restaurant ausgibt, verpflegt uns
mit einem währschaften Nachtessen.
Die Ruinen von Iskanwaya sind anderntags von der Höhe aus gut überblickbar. Ausgegraben und gesäubert sind erst 11 von insgesamt 95 Häuserreihen, also rund
1/10. Sie sind jeweils um einen zentralen trapezförmigen Hof angelegt. Auch der
Grundriss der Häuser ist trapezförmig. Sie sind zweiteilig, mit einem zum Hof hin offenen Vorraum und einem abgeschlossenen Wohnraum dahinter, zu dem man durch
eine trapezförmige Öffnung, eine Art Fenster, offensichtlich eine Schutzvorrichtung,
gelangt. Die Mauern sind mit Lehm verputzt und ockerrot bemalt. Die Häuser waren
überdeckt mit einem stark geneigten Satteldach aus Stämmen und Zweigen und mit
Stroh gedeckt. Unter dem Vorraum befand sich ein kleiner Kellerraum. Die Wohnbauten weisen keine wesentlichen Unterschiede auf, eine soziale Abstufung ist nicht
erkennbar.
Die ab 1450 einsetzende Invasion der Inkas führte zum Niedergang der Mollo, die
durch die Eroberer zerstreut wurden. Aber die Inkas übernahmen von den Mollos die
Trapezform als geometrisches und konstruktives Element.
Die hundert Jahre später eindringenden Spanier liessen die Anbauterrasse veröden.
Die Bevölkerung, die ursprünglich 2500 – 3000 Einwohner gezählt haben dürfte,
wurde umgesiedelt, zum grossen Teil nach Potosí, wo sie in den Silberminen des
Cerro Rico ein trauriges Schicksal erwartete.
2.4 Die Inkas
Im 15. Jahrhundert treten nun erstmals die Inkas im Gebiet rund um den TiticacaSee auf den Plan, wie wir bereits bei der Unterwerfung der Mollo gehört haben. Das
Reich der Colla wird dabei als das Teilreich Collasuyu in das Inka-Imperium „Tahuantinsuyu“, das Reich der vier Teile, eingegliedert.
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Die Inkas haben keine schriftlichen Zeugnisse hinterlassen, und die spanischen
Chronisten, die über das Inka-Reich berichten, stützen sich auf mündliche Überlieferungen.
Ein bei den andinischen Völkern verwurzelter Glaube spricht von einer grossen
Überschwemmung, die von einer dichten Finsternis begleitet gewesen sei. Es ist dies
die Zeit der Chamacpacha (Zeit der Finsternis). Sonne und Mond hätten sich in dieser Zeit vor der Überschwemmung in zwei Höhlen im Heiligen Felsen (der Roca
sagrada) im Norden der Sonneninsel geflüchtet. Nach der Überschwemmung habe
sich die Sonne triumphierend zum Himmel emporgehoben, wobei sie gigantische
Fussspuren hinterlassen habe, die dem gläubigen Besucher noch heute gezeigt werden.
Hier setzt die Entstehungsgeschichte ein: Der Schöpfergott Viracocha, nach einer
anderen Version der Sonnengott, traurig darüber, dass die Menschen so kulturlos
lebten, habe seinen Sohn Manco Cápac und seine Tochter Ocllo aus dem TiticacaSee an Land steigen, d.h. die Erde betreten lassen, versehen mit einem goldenen
Stab und mit dem Auftrag, sich dort niederzulassen, wo der Stab tief in die Erde versinke, und alsdann die Menschen zu kultivieren. In der Umgebung von Cuzco zeigte
ihnen der Stab, wo sie sich niederlassen und das Inka-Reich schaffen sollten. Die
Gründung des Inka-Reiches wird so mit der Sonneninsel, d.h. dem Reich Tiahuanaco, in Beziehung gebracht, was einige Archäologen als historisch möglich bezeichnen.
Kehren wir wieder zu den geschichtlichen Tatsachen zurück: Mit der Unterwerfung
der Colla 1445-1450 und der Lupaca übernahmen die Inkas auch die kulturellen Errungenschaften der Völker am Titicaca-See, ihrer Vorgänger: die AckerbauTerrassen (andenes), die Hochbeete (camellones, waru-waru), die BewässerungsLagunen (cochas), das Strassennetz, die Kunst der Steinbearbeitung und die Verwendung grosser Blöcke sowie das geometrische Muster des Trapezes. Zu ihrem
Herrschaftsbereich gehörten nun auch die Sonnen- und die Mondinsel, die für sie als
heilige Inseln galten. Die Sonneninsel verwandelten sie durch umfangreiche Terrassierungen in einen riesigen Garten, von dem aber heute kaum mehr etwas zu sehen
ist. Alljährlich pilgerte der Inka zur Sonneninsel, die damals noch Titicaca hiess und
wo heute noch bescheidene Überreste an die Präsenz der Inkas erinnern.
Der Palast von Pachacutec, Pilcocaina, im Süden der Insel, war zweistöckig, die
Hauptfassade streng symmetrisch, mit trapezförmigen Nischen neben den eigentlichen Türen.
Rätselhaft ist ein weiträumiger Baukomplex, Chincana, im Norden der Insel, mit einer
verwirrenden Zahl von Gängen, die in Räume führen, von denen weitere Korridore
ausgehen, so dass man hier von einem eigentlichen Labyrinth sprechen kann. Die
Zweckbestimmung ist unbekannt.
Auf der bedeutend kleineren Mondinsel, Coati, befand sich das Acllahuasi, das Haus
der auserwählten Sonnenjungfrauen, das von einer Schwester des Inka geleitet wurde, eine U-förmige Anlage um einen rechteckigen Hof. Hier arbeiteten junge Frauen
in klösterlicher Abgeschiedenheit für den Inka und das Reich. Sie stellten Gewänder,
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Getränke und Speisen für die Rituale her, und sie pflanzten die heiligen Maissamen
an, deren Ernte alljährlich an alle Heiligtümer des Landes verteilt wurde.
2.5 Die Kolonialzeit
Die Eroberung Perus und Boliviens durch die Spanier, die Conquista, nach 1532,
brachte für das Land, und für die Bevölkerung des Altiplano im Speziellen, die unter
den Inkas nie eine Hungersnot erlebt hatten, eine tiefgreifende Verschlechterung ihrer Lebensbedingungen. Die Spanier, die in erster Linie an der Ausbeutung der Goldund Silberminen interessiert waren und einen grossen Teil der Landbevölkerung von
der Feldarbeit weg in die Minen beorderten, zerstörten damit das bestehende sinnvolle Öko-System. Die Anbauterrassen, die andenes, hatten die Bodenerosion, die
kontrollierte Tierhaltung die Überweidung verhindert. Die Wälder waren geschützt
gewesen.
Unter den Spaniern verwahrlosten Anbauterrassen, Hochbeete und Bewässerungskanäle. Und je mehr die schützenden Wälder und Pflanzen verschwanden, desto
schneller wurde der karge Humus-Mantel verweht oder weggewaschen. Das Land
verödete. Die Gemeinschaftsarbeit der Indígenas zerfiel.
Auch der militärische Sieg von 1824 über die Kolonialherren und die darauf folgende
Unabhängigkeit änderten wenig an den Lebensbedingungen der Eingeborenen. Der
konstituierende Kongress in Lima versprach „den edlen Söhnen der Sonne“ zwar, sie
seien die erste Sorge der Versammelten. Man arbeite daran, sie sofort glücklich zu
machen. Die neuen Herren waren die Nachkommen der eingewanderten und sesshaft gewordenen Spanier, die Kreolen, die während der Kolonialzeit zu grossem
Landbesitz gelangt waren und die als europäisch-amerikanisch gefärbte Oberschicht
weder ein soziales noch ein kulturelles Verständnis für die Indígenas hatten. Die
Grossgrundbesitzer blieben die feudalen Herrscher auf dem Land, und die Indígenas
blieben faktisch Leibeigene. Sie waren bis ins 20. Jahrhundert von der Politik ausgeschlossen. Damit setzte sich der jahrhundertelange Prozess der Entwurzelung, Ausbeutung, Entrechtung sowie kollektiver und individueller Demütigung fort, der klare
Züge von Rassismus aufwies. Indígena sein bedeutete andersartig, minderwertig,
ausgegrenzt sein aus der kolonialen und später aus der nationalen Gesellschaft.
Hinzu kommt, dass die politische Entwicklung in Peru und Bolivien zeitweise chaotisch verlief. Bolivien erlebte seit der Unabhängigkeit nach 1824 über 60 Revolutionen, 70 Staatspräsidenten und 11 verschiedene Verfassungen. In Peru beendeten
von den 102 Regierenden nur 16 ihre Amtszeit regulär. So ist es denn auch verständlich, dass die Indígenas am meisten unter der Rechtlosigkeit, Armut und Korruption litten.
Gegen Ende des letzten Jahrhunderts scheint sich nun allerdings eine Wende abzuzeichnen. In Peru und Bolivien kamen Präsidenten aus den Reihen der Indígenas an
die Macht: in Peru Toledo, in Bolivien Evo Morales, ein Aymará, ursprünglich Anführer der Coca-Pflanzer, der mit der Verfassung vom Januar 2009 eine erhebliche
rechtliche und kulturelle Besserstellung der Indígenas durchsetzte und dem man nur
wünschen kann, dass er sich durch die überwiegende Bestätigung in seinem Amt
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nicht zu autoritären Tendenzen verleiten lasse. Bolivien ist nach wie vor das ärmste
Land Südamerikas, zwei Drittel seiner Bevölkerung leben in Armut, und im SalpeterKrieg 1879 hat das Land noch seine Küstenprovinz und damit den Zugang zum Meer
verloren.
Wenden wir uns nun in einem letzten Kapitel den Menschen, den Indígenas zu, die
das Hochland bewohnen.
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DIE BEWOHNER DES ALTIPLANO
Rund 2 Millionen Menschen leben in den beiden Departementen, die den TiticacaSee und den Altiplano umschliessen, die Städte La Paz (1.5 Millionen) und Puno
(über 100'000) nicht miteingerechnet: 1.2 Millionen sind es auf peruanischer und
800'000 auf bolivianischer Seite. In beiden Departementen beträgt der Anteil der Indígenas ca. 60%.
Die ausserhalb grösserer Ortschaften lebenden Hochlandbewohner (in der Schweiz
würden wir von Bergbauern sprechen) wohnen in einfachen, selbstgebauten Hütten
aus Adobes, luftgetrockneten Ziegeln. Das Dach ist mit dem zähen Ichu-Gras, mit
Stroh oder – eine anspruchsvollere Lösung – mit Wellblech gedeckt. Der Innenraum
mit einem kleinen Fenster und mit dem Boden aus gestampftem Lehm hat in der Regel die Ausmasse von ca. 6 x 4 m und dient als Wohnraum, Küche, Schlafraum und
gleichzeitig als Vorratskammer. Allenfalls bietet er auch noch einem Llama Unterschlupf. Möbel fehlen meistens. Über Elektrizität, Telefon und Wasserversorgung
verfügen nur die paar Städte und grösseren Ortschaften. Und selbst hier fehlen sie
häufig. Viele Häuser sind oft nur dürftig oder erst provisorisch gebaut, die meisten
unverputzt. Auch hier, in den Städten, finden sich noch viele Behausungen – von
Wohnungen zu sprechen, verbietet sich – in denen grössere Familien in einem einzigen kleinen Raum zusammengepfercht leben müssen. Heizungen fehlen allgemein
in Wohnhäusern und Büros, wo die Angestellten in den kalten Monaten in ihren Wintermänteln arbeiten. Hotels stellen heute kleine Elektro-Öfen zur Verfügung.
Die Bewohner beider Departemente, die ihrerseits zu den ärmsten ihrer Länder gehören, sind mehrheitlich sehr arm; auf peruanischer und bolivianischer Seite sind es
zwei Drittel der Bevölkerung. Aber auch in den Städten und grösseren Ortschaften
sind viele Männer gezwungen, noch einem zweiten Beruf nachzugehen. Und so kann
man Lehrern und Polizisten auch als Taxifahrern begegnen. Oder sie sichern sich
das Existenzminimum mit einer kleinen Parzelle zum Gemüseanbau ausserhalb des
Ortes. Die Familien sind in der Regel mit zahlreichen Kindern gesegnet, die auf dem
Lande ihre Schulpflicht oft nicht erfüllen können und vorzeitig zur Mitarbeit auf dem
Felde oder – die Mädchen – zum Viehhüten benötigt werden. Entsprechend hoch ist
die Zahl der Analphabeten: durchschnittlich 19%; bei den Mädchen, für die die
Schulbildung offenbar als weniger lebensnotwendig eingestuft wird, ist sie noch einiges höher als bei den Knaben.
Die Landflucht, die häufig noch durch Erbteilungen verschärft wird, bereitet weiterhin
Sorgen, weil die Flucht in die Stadt die sozialen Probleme nicht löst, sondern eher
noch verschlimmert, wenn man an die trostlosen Armenviertel in Lima und La Paz
denkt.
Der Ackerbau wird zum Teil noch wie zu Zeiten der Inkas betrieben: mit dem Spaten
(tailla), dem Holzpflug und mit Ochsengespannen. Maschinen fehlen weitgehend,
aus Kostengründen oder weil die topographischen Verhältnisse es nicht zulassen.
Mit der Agrar-Reform von 1953 gelangten nun viele Indigenas erstmals in den Besitz
von Land, das die Hacienda-Besitzer abtreten mussten. Es entstanden auch genossenschaftlich organisierte Dorfgemeinschaften.
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Angepflanzt werden Quinua, ein stark proteinhaltiges Berggetreide, das heute auch
Eingang in unsere Lebensmittelgeschäfte gefunden hat. Das Departement Puno produziert 31'000 Tonnen Quinua, das sind 80% der Landesproduktion von Peru. Die
Kartoffelernte beläuft sich auf ½ Million Tonnen. Ein Teil der Kartoffelproduktion wird
dehydriert, d.h. wechselweise der Kälte und der Sonnenwärme ausgesetzt und ihr so
das Wasser entzogen: eine Prozedur wie zu Zeiten der Inkas, die die Kartoffeln lange haltbar macht. – Die Region um den Titicaca-See soll das Ursprungsgebiet des
Kartoffelanbaus sein.
Auf den Märkten findet unter den Indígenas noch immer Tauschhandel, ohne Geld,
statt.
Erhalten haben sich auch die Gemeinschaftsarbeiten wie die Instandstellung der
Bewässerungskanäle. Auch privat leisten sich die Bewohner gegenseitig Hilfe etwa
beim Bau eines Hauses.
Weiden werden meist kommunal bewirtschaftet. Von den 7-8 Millionen hockerlosen
Kleinkamelen Südamerikas leben 90% in den Anden Perus und Boliviens. Die Llamas und Alpacas gehören zu den ersten seit 5000 Jahren domestizierten Tieren.
Beide stammen von den Guanacos ab, die heute vor allem noch in Patagonien heimisch sind.
Die Llamas sind ein ideales Lasttier auf den Höhen des Altiplano von 4000 m. Sie
vermögen 35 kg über eine Tagesstrecke von 30 km zu tragen, verlieren aber mit zunehmender Motorisierung an Bedeutung. Ihre Wolle ist nicht so wertvoll wie die der
Alpacas. Das Departement Puno liefert mit 2600 Tonnen Alpaca-Wolle den grössten
Anteil, 60%, an der gesamten Produktion des Landes. Die Qualität der Alpaca-Wolle
übertrifft fast alle Schafwoll-Sorten.
Die zierlicheren Vicuñas, die lange von der Ausrottung bedroht waren, sind heute
wieder mit 150'000 Tieren in den Anden vertreten, oberhalb der Baum- und unterhalb
der Schneegrenze. Peru hat zwei grosse Reservate geschaffen. Die Vicuña-Wolle ist
die feinste und teuerste der Welt. Schon im Inka-Reich war sie dem Inka und seinen
höchsten Würdenträgern vorbehalten. Heute unterliegt der Handel mit Vicuña-Wolle
strengsten Vorschriften. Die Schur im April ergibt nur etwa 200 g pro Tier.
Nicht unerwähnt bleiben darf der Anbau und der Konsum von Coca.
Wenn Sie nach dem Flug von Lima nach Cuzco oder nach Juliaca innerhalb von 1½
Stunden den enormen Höhenunterschied von 3500 bzw. 3800 m überwunden haben,
wird Ihnen das Hotel zum Empfang eine Tasse Coca-Tee offerieren, ein gesundheitlich völlig unbedenkliches Mittel gegen die gefürchtete Höhenkrankheit Soroche. Auf
der Heimreise werden Sie aber darauf verzichten müssen, einen Beutel getrockneter
Coca-Blätter mit nach Hause zu nehmen. Der Zoll stellt die Einfuhr unter Strafe, weil
Sie damit gegen das Betäubungsmittelgesetz verstossen.
Die Bewohner der Anden konsumieren Coca als nährstoffreiches Lebensmittel, das
eine Reihe von Spurenelementen, Mineralstoffen und Vitaminen enthält. Es dient
ihnen zur Dämpfung der Hungergefühle und zur leistungsfördernden Stimulierung
und gehört so zu den Überlebensstrategien insbesondere der Minenarbeiter. Für die
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Anden-Bewohner ist Coca jedoch noch mehr: Es ist eine mystische Pflanze, die seit
Jahrhunderten zur Heilung physischer und psychischer Krankheiten verwendet wird.
Und Schamanen lesen aus Coca-Blättern die Zukunft.
Für Evo Morales, den Staatspräsidenten Boliviens, beruht der Konsum von CocaBlättern für die Bewohner der extrem hoch gelegenen Regionen auf einer physiologichen Notwendigkeit. Er sagt Ja zu Coca, aber Nein zu Kokain.
Die Coca-Blätter, eines Strauchs der Storchenschnabelpflanzen, der bis 5 m hoch
wird und leicht anzubauen ist, können jährlich bis viermal geerntet werden. Sie werden im Andenraum seit mehreren Jahrtausenden konsumiert: von der Priester-Elite
in Tiahuanaco ebenso wie von den Inkas, wo die Coca-Pflanzungen Staatseigentum
des Inka und seiner Würdenträger waren. Coca wurde aber bei den Inkas auch an
die Truppen als Stimulans bei langen Märschen und am Vorabend einer Schlacht
abgegeben. Die europäischen Kolonialherren wussten mit Coca nichts anzufangen,
es entsprach nicht dem europäischen Geschmack. Die Spanier versuchten zuerst
den Anbau und Konsum der „Teufelsblätter“ zu verbieten, erfolglos. Sie entdeckten
dann aber doch einen wirtschaftlichen Vorteil darin, dass mit Coca die Leistungsfähigkeit, d.h. die Ausbeutung der Minenarbeiter gesteigert werden konnte, weil Coca
Hunger und Erschöpfung verdrängte. So wurde der Coca-Anbau für die Gutsbesitzer
doch noch zu einem lukrativen Geschäft, auch für die Krone und die Kirche.
Coca ist nicht Kokain
Die Herstellung von Kokain, des gefährlichen Suchtmittels, entwickelte sich nach
1860 und schuf eine neue Situation.
Zur Herstellung von 5 kg Kokain sind 1 Tonne Coca-Blätter erforderlich. Die getrockneten Coca-Blätter werden von den pisaderos zusammen mit den notwendigen
Chemikalien mit blossen Füssen zur Kokain-Basis-Paste zusammengestampft, die
dann zu Kokain raffiniert wird.
Die Bekämpfung der Droge am Ort der Entstehung war bisher erfolglos und scheint
hoffnungslos zu sein. Die Anbaufläche bleibt allen Eindämmungsbemühungen und
Ausmerzaktionen zum Trotz stabil. Für 1 kg getrockneter Blätter werden Höchstpreise von 3-5 $ pro kg bezahlt. Die Ware wird in den Dörfern abgeholt und – was wichtig ist - bar bezahlt. Von den alternativen Pflanzungen, die von den Regierungen gefördert werden: Kartoffeln, Kaffee, Kakao oder Ölpalmen, verhilft keine zu vergleichbaren Einkünften. Die grossen Gewinne kassieren jedoch die Zwischenhändler und
die Kokain-Maffia, was den Gegensatz zwischen Reich und Arm noch weiter verschärft und bis in die Politik hineinspielt.
Justiz und Polizei scheinen diesen Machenschaften machtlos gegenüberzustehen.
Oft sind sie selber in die Aktivitäten des Untergrundes verwickelt, in Schmuggel und
Bestechung. „Korruption“ – so hat sich ein Präsidentschaftskandidat in Peru geäussert – „ist die stabilste Institution des Landes“, Ende Zitat. Sie ist nicht zu entschuldigen, so wenig wie die Kriminalität, die vor allem in den Städten des Landes grassiert.
Aber für leichte Formen der Korruption kann man ein gewisses Verständnis aufbringen, weil oft bittere Not und nicht moralische Verwerflichkeit die Ursache illegaler
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Handlungen ist. So etwa, wenn etwa ein Polizist eine völlig illegale Gebühr für das
Befahren einer Nebenstrasse erhebt oder sich eine Verkehrsbusse mit einigen
Scheinen in die eigene Tasche abkaufen lässt. Polizisten sind, wie übrigens auch die
Lehrer, sehr schlecht bezahlt. Fehlender Schutz durch den Staat zwingt die Indígenas oft zur Selbsthilfe, etwa mit Bauernpatrouillen (rondas campesinas) gegen Viehdiebe. Oder wie auf einer der Inseln, wo ein junger Macho, der einem Mädchen Gewalt angetan hatte, eines Morgens tot vor seinem Haus aufgefunden wurde. Niemand wusste etwas von einem Täter, das ganze Dorf hielt dicht, niemand konnte
bestraft werden. Der Dorfpolizist hatte nicht den Mut gehabt, gegen den jungen Macho, Sohn einflussreicher Eltern, vorzugehen.
In diesem Zusammenhang interessieren auch zivilrechtliche Fragen. Mann und Frau
gelten nach Verfassung in beiden Ländern als gleichberechtigt. Sie haben, gegen
den Widerstand der Kirche, ein Recht auf eine Zivilehe und auf Scheidung. Die Frau
verrichtet die Hausarbeit im engeren Sinn, muss aber meistens auch bei den Feldarbeiten mithelfen: bei Aussaat und Ernte, beim Viehhüten und beim Verkaufen auf
dem Markt. Bei wiederholten Besuchen gewinnt man den Eindruck, dass die Frau
erheblich mehr leistet als der Mann, zusätzlich zur Kinderschar, die sie zur Welt
bringt und die sie als Kleinkinder, kunstvoll auf den Rücken gebunden, mit sich trägt.
Dass sich unter den Männern auch zahlreiche Machos finden, ist leider unbestreitbar, was bereits auf die Erziehung zurückgeht, die die Knaben bevorzugt behandelt.
So bedienen sich beispielsweise Ehefrau und Töchter beim Essen als letzte, nach
dem Mann und den Söhnen.
Die Hochland-Indígenas kennen als Besonderheit die Probe-Ehe (Sirvañacuy), zu
der zwei Menschen zusammenziehen, um die Aussichten für eine lebenslange Bindung zu prüfen. Die Probe-Ehe kann bis drei Jahre dauern. Führt sie nicht zu einem
positiven Ergebnis, so trennen sich die Partner wieder problemlos, ohne dass ihnen
der geringste Makel der Trennung anhaftet, auch allenfalls zur Welt gekommene
Kinder werden keineswegs als unehelich stigmatisiert.
Nach der Darstellung all der harten Lebensbedingungen im Altiplano soll nun auch
noch die Frage der Lebensaussichten zur Sprache kommen. Die Lebenserwartung
im Departement Puno ist ansteigend, liegt aber noch 10 Jahre unter dem schweizerischen Durchschnitt. Sie betrug im Durchschnitt der letzten 5 Jahre 69,2 Jahre: 66,8
Jahre für die Männer und 71,7 Jahre für die Frauen. Auch hier ein Plus von 5 Jahren
zugunsten der Frauen. Ein wichtiger Faktor ist die Kindersterblichkeit: Auf 1000 Lebendgeborene sterben auf peruanischer Seite 34 Kinder im ersten Lebensjahr, auf
bolivianischer Seite sind es 56. Evo Morales, der Präsident Boliviens, hatte 6 Geschwister, von denen nur zwei überlebten. Das staatliche Gesundheitswesen liegt
auf dem Lande, auf den abgelegenen Siedlungen noch im Argen. Ein Krankenschiff
versucht vom See aus die kleinen Uferorte und deren Hinterland medizinisch zu versorgen. Bei Geburten sind mit Motorrädern ausgerüstete Hebammen im Einsatz.
Aber grosses Vertrauen geniessen immer noch die Curanderos oder Schamanen,
die durchweg über hervorragende Kenntnisse der Heilkräuter verfügen, die vom Vater auf den Sohn übergehen. Und sie behandeln die Krankheiten im Einvernehmen
mit den alten Gottheiten.
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Unter den Schamanen – wir sprechen nur von den vertrauenswürdigen – sind die
Callawayas auf der bolivianischen Seite des Sees besonders bekannt und erfreuen
sich hoher Achtung im Volk. Sie finden auch zunehmend Anerkennung in wissenschaftlichen Kreisen. Sie wohnen in einer bergigen Provinz, in der 96 % der Bewohner in extremer Armut leben. Der Hauptort heisst Charazani mit ca. 300 Einwohnern.
Die Existenz dieser Schamanen reicht bis in die Tiahuanaco-Zeit zurück.
Die Praktiken der sogenannten „heidnischen Hexer“ vertrugen sich aber nicht mit
dem Missionseifer der Spanier, was sie zur Flucht und Rückkehr in die entlegenen
Gemeinden ihrer Herkunft zwang, wo sie weiterhin das Vertrauen der einheimischen
Bevölkerung besassen. Ihre Zahl verringerte sich aber im 20. Jahrhundert bis auf 50.
1914 waren sie beim Bau des Panama-Kanals am Kampf gegen die Malaria beteiligt.
Und noch heute begegnet man ihnen als Wanderärzten im übrigen Bolivien, in Peru
und in den Nachbarstaaten, wo sie zu Fuss oder auf einem Esel unterwegs sind. Sie
leben von freiwilligen Honoraren und von der Gastfreundschaft ihrer Patienten. Ein
junger Callawaya kennt nach einer Lehrzeit von 8-10 Jahren etwa 600 Pflanzen, deren Heilkraft, die Anwendung, den Fundort, die Zeit des Pflückens und die Art, sie
aufzubewahren.
Die alternative Kräuter-Medizin wäre aber nicht denkbar ohne die Rituale und die
Gebete zu den alten Gottheiten der Indígenas, insbesondere zu Pachamama, der
Mutter Erde, aber auch zu den Achachilas, den beschützenden Geistern der Vorfahren, sowie den Apus, den Gottheiten auf den Bergen. Ihnen allen werden Opfer dargebracht: Esswaren, Tiere, Baumwolle und Coca.
Die Callawayas werden nicht nur bei Verletzungen, und Krankheiten beigezogen, bei
Todesfällen stehen sie den Hinterlassenen bei der Trauerarbeit bei. Die Behandlung
gynäkologischer Leiden bleibt jedoch den Frauen vorbehalten.
Die Methode der Callawayas beruht auf der ganzheitlichen Behandlung des kranken
Menschen. Sie wirken gleichzeitig als Ärzte, Psychologen und Seelsorger.
Es kommt auch vor, dass sie einem Klienten aus Coca-Blättern die Zukunft lesen.
Sie erfreuen sich nach wie vor hoher Wertschätzung; ihr Eheleben gilt als vorbildlich,
ebenso ihre Enthaltsamkeit von Alkohol. In vielen Provinzen Boliviens, die medizinisch nicht versorgt sind und wo die Versorgung mit westlicher Medizin unerschwinglich ist, sind sie die einzige und letzte medizinische Hilfe.
Angeregt durch die Callawayas hat die Kräuter-Medizin auch in Peru einen grossen
Aufschwung erlebt und wird nun auch auf wissenschaftlicher Basis betrieben, und
das mit erheblichen finanziellen Einsparungen.
Das Vertrauen der Indigenas in die Naturheiler ist Bestandteil der andinen Weltanschauung, die heute noch praktisch gleichberechtigt neben dem katholischen Glauben weiterlebt. Nach wie vor werden Pachamama, Mutter Erde, die Achachilas, die
Geister der Vorfahren, und die Apus, die Berggötter, verehrt und mit Opfern wohlgesinnt erhalten. Ausbleibende oder übermässige Regenfälle deuten auf eine Störung
des Verhältnisses zwischen Menschen und Gottheiten hin, die mit Opfern behoben
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werden muss. Pachamama, die den Menschen Speise und Trank schenkt, muss
auch eine Gegengabe erhalten, und so ist ihr der erste Schluck eines Getränks und
das beste Coca-Blatt gewidmet. Mehr und mehr verschmilzt sie mit der Jungfrau Maria, ähnlich wie Santiago mit dem Donner- und Blitzgott Illapa. So verstehen die Indígenas die Religion in ihrem eigenen, von alten Traditionen geprägten Sinn. Der Klerus verhält sich gemässigt fortschrittlich tolerant und drückt bei heidnischen Praktiken
oft beide Augen zu.
96% der Bewohner beider Länder sind katholisch. Die Missionierung der Heiden galt
seinerzeit als Vorwand für die Suche nach Gold und Silber, die die Spanier zu ihren
Expeditionen nach Peru und Bolivien trieb. Das bedeutendste Symbol der katholischen Kirche in Bolivien ist heute der Wallfahrtsort Copacabana, wo eine schwarze
Madonna verehrt wird. Sie gilt als Beschützerin der Autofahrer, und so bilden sich
dann häufig Schlangen von Lastwagen, Autobussen und Privatautos, die hier gesegnet werden wollen.
Die Pflege alter Traditionen oder, wo sie bereits verloren gegangen waren, die Rückbesinnung darauf, und die Wiederbelebung alter Techniken fällt auch auf kulturellem
Gebiet auf. Sie ist unübersehbar bei den Kleidern, die für den Eigenbedarf noch in
vielen Familien nach alten Mustern selbst hergestellt werden, zum Teil noch auf den
aus der Inka-Zeit überlieferten Web-Einrichtungen. So begegnen wir an Sonn- und
Feiertagen Männern und Frauen in den typischen Gewändern ihrer Gegend (Trachten würden wir sagen), in denen starke Farben vorherrschen. Frauen tragen dabei
bis 7 Röcke und Unterröcke und dazu Filzhüte, die es einem Kenner sogleich ermöglichen, sie einer bestimmten Ortschaft zuzuordnen. Vielerorts geben die Hutbänder
auch Auskunft über den Zivilstand der Trägerin, ob sie noch ledig, verheiratet oder
verwitwet ist.
Neben Mützen werden noch Handschuhe, Strümpfe und Pullover gestrickt, die bei
Touristen sehr gefragt sind. Und auf den Web-Rahmen stellen die Frauen Wandbehänge und Teppiche her.
Zu einem Erlebnis wird auch immer der Besuch eines Marktes, wo die IndígenasFrauen Gemüse und Früchte tauschen und auch ihre Textilien und Keramik verkaufen, die in der Regel fabrikmässig hergestellt ist.
Freilich stellt man gerade an den Märkten auch auf dem Altiplano, auf 4000 m, das
Eindringen moderner Produkte fest: Plastik ersetzt Tonwaren, Kunstfasern die Wolle,
Jeans die bisherigen Hosen. Die Jungen kaufen sich Baseball-Mützen, wenn möglich
mit den Schriftzügen Coca Cola oder BMW. Radio- und Fernsehapparate haben
längst Eingang gefunden, und auch das Handy hat seinen Siegeszug angetreten. So
ist die Welt der Indígenas mit Phänomenen konfrontiert, die viele der traditionellen
Lebensformen zu verdrängen drohen. Es wird nicht zu vermeiden sein, dass sie sich
unter dem Einfluss der Modernisierung weiter wandeln werden.
Fiestas
Dass die Indigenas dem Leben auch frohe Seiten abgewinnen können, zeigen die
zahlreichen Fiestas, die ihnen die Gelegenheit bieten, aus der Monotonie des Alltags
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und dem Leben in Armut auszubrechen, die Mühen des Alltags eine Zeitlang zu vergessen und sich den Freuden eines Festes, dem Tanz, der Musik, der folkloristischen Buntheit eines Umzugs hinzugeben und anschliessend das dörfliche Zusammensein zu geniessen. So haben denn kirchliche Feiertage, der Namenstag des
Dorf-Schutzheiligen, staatliche Gedenktage und der Abschluss grösserer gemeinschaftlicher Arbeiten ihren unverrückbaren Platz im Jahresablauf.
Eine wichtige Rolle spielt die Musik. Nicht nur die Blechmusikkorps, die jeden Umzug
anführen, sondern auch die Instrumentalgruppen, mit Panflöte (zampoña), Querflöte
(quena), Charango (der fünfsaitigen Mandoline), Gitarre, Harfe und Trommel. Sie
haben abends ihre Auftritte in den Wirtschaften mit oft virtuosen Darbietungen und
spielen an Festtagen auch zum Tanz auf.
Jede Region hat ihren eigenen musikalischen Stil. Charakteristisch ist aber für die
Musik des Altiplano eine gewisse Melancholie, eine leise Traurigkeit, was nach all
dem, was ich Ihnen über den Altiplano vorgetragen habe, nicht überraschen kann.
Dies alles: die Musik, die Folklore, die Menschen, die sich im Kampf mit einer grossartigen, aber unerbittlichen Natur ihren Lebensunterhalt abringen müssen, die Zeugen einer grossen Vergangenheit (Tiahuanaco und Inka), die unbeschreiblich schönen Landschaften, die einzigartige Ruhe und Erhabenheit des Titicaca-Sees mit den
Kordilleren im Hintergrund: dies alles macht einen Besuch im Altiplano zu einem unvergesslichen Erlebnis und hinterlässt jedes Mal Hochachtung und Bewunderung für
diese Menschen und ihre Vorgänger und für die Kulturen, die sie geschaffen haben.
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