Didi-Huberman · Remontagen der erlittenen Zeit
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Didi-Huberman · Remontagen der erlittenen Zeit
Didi-Huberman · Remontagen der erlittenen Zeit Bild und Text herausgegeben von G OT T F R I E D B O E H M GABRIELE BRANDSTETTER BERND STIEGLER begründet von G OT T F R I E D B O E H M KARLHEINZ STIERLE Georges Didi-Huberman Remontagen der erlittenen Zeit Das Auge der Geschichte II Aus dem Französischen von Markus Sedlaczek Wilhelm Fink Titel der französischen Originalausgabe: Remontages du temps subi. L’œil de l’histoire, 2. © 2010 by Les Éditions de Minuit Veröffentlicht mit Unterstützung des französischen Ministeriums für Kultur – Centre national du livre und der Maison des sciences de l’homme, Paris Umschlagabbildung: Im Atelier von Christian Boltanski, 2009 Foto: Georges Didi-Huberman Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte, Zeichnungen oder Bilder durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 UrhG ausdrücklich gestatten. © 2014 Wilhelm Fink, Paderborn Wilhelm Fink GmbH & Co. Verlags-KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn Internet: www.fink.de Satz: Martin Mellen, Bielefeld Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München Printed in Germany Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn ISBN 978-3-7705-5226-9 Inhalt I D I E L AG E R Ö F F N E N, D I E AU G E N S C H L I E S S E N: B I L D, G E S C H I C H T E, L E S B A R K E I T Bild und Lesbarkeit der Geschichte. Gesättigte Erinnerung, bedrohte Erinnerung: Wie Auschwitz, »das«, was nie wieder sein soll, lesbar machen? Lesbarkeit und Sichtbarkeit nach Walter Benjamin: »das Prinzip der Montage in die Geschichte zu übernehmen«. Das Bild als Singularität, »kritischer Punkt«, von dem her die historische Erkenntnis konstruiert wird. Blitz (Fragilität der Erscheinung) und Konstellation (Überdeterminierung des Phänomens) .................................... 15 Der Beweis: Die Augen für den Ortsbefund öffnen. Die Lager öffnen: Die Rote Armee in Majdanek und Auschwitz, die ersten von Roman Karmen gefilmten Bilder. Die »negative Epiphanie« der Lager: eine Sichtbarkeit ohne Lesbarkeit. Vom Konstatieren (Ortsbefund) zum Kontrakt: das gehandhabte Bild. Juristische Zielsetzung der von Militärs aufgenommenen Bilder in den Nürnberger Prozessen: Belastungsmaterial oder Beweisstücke ............................................................ 22 Das Erlittene: Die Augen für den Zeitbefund öffnen. Der Ortsbefund und seine Grenze: eine unhaltbare Zeitlichkeit, die Lücke zwischen ihr und der Erfahrung, die sie dokumentiert. Den Zeitbefund lesbar machen: den »kritischen Punkt« jenseits der Legende hervortreten lassen, die Bilder in einer anderen Montage rekontextualisieren. Primo Levi, vom Bericht über Auschwitz zum Bericht über die Öffnung des Lagers in Ist das ein Mensch? Robert Antelme und die Prüfung der Unlesbarkeit ................................................................................... 31 6 I N H A LT Die Empörung: Den Mördern die Augen öffnen. Samuel Fuller im Lager Falkenau, 7.–8. Mai 1945. Vom Augenzeugen (eye-witness) zum »Augenöffner« (eye-opener). Das Unmögliche der Lager jenseits des Schrecklichen. Die Empörung der Soldaten angesichts des empörend würdelosen Verhaltens der Bürger von Falkenau. Eine würdevolle Geste aufzwingen: ein Begräbnisritual, begleitet von seinem visuellen Zeugnis. Sam Fullers Stummfilm. Dialektisieren, um lesbar zu machen .......................................................................................... 42 Die Würde: Den Toten die Augen schließen. Samuel Fuller in Emil Weiss’ Film Falkenau, vision de l’impossible (1988). Keine imago von Wert ohne dignitas. Fullers Worte als Totenrede und Konstruktion von Wissen. Fünf »Lesbarkeitsfaktoren«, in Frage stehen: der Autor, der Beweis, die »Atmosphäre«, die Gesichter, die Würde. »Eine kurze Lektion in Menschlichkeit in einundzwanzig Minuten« ................. 58 Geschichte und Lesbarkeit des Bildes. Samuel Fullers Pädagogik: das Motiv der Kindheit. Die »Unschuld des Blicks« nach Serge Daney: den Blick [auf etwas] richten, bevor man den Blick- oder Standpunkt findet; filmen »ohne Böses dabei zu denken«, bevor man das Böse denkt; im Lager umhergehen, bevor man sich an den Montagetisch setzt. Antwort auf Hubert Damisch in Bezug auf die »Bildprobleme«. Fuller und Welles. »Man bittet, die Augen zuzudrücken«: den Toten die Augen schließen, um unsere Augen im Hinblick auf ihren Tod offen zu halten. Geschichte als Zeugnisablegen. Wo das Überleben aufhört und wo das Nachleben beginnt .......................................... 66 II D I E Z E I T E N Ö F F N E N, D I E AU G E N B EWA F F N E N: M O N TAG E, G E S C H I C H T E, RESTITUTION Anprangern (die Gewalt der Welt). Das Bild als Objekt von Blicken, Gesten und Gedanken zugleich. Harun Farockis gereckte Faust: Denken, zur Höhe eines Zorns erhoben. NICHT löschbares Feuer: die Faust auf dem Tisch und die Verbrennung durch die Zigarette. Farocki vs. Chris Burden. Die Dialektik der Aufklärung. Warum hat die Produktion von Bildern teil an der Vernichtung von Menschen? I N H A LT Militärische Bilder und Überwachungsbilder. Abstraktion und Liquidation. Kritik der Gewalt. Das Bild als technisches, historisches und juristisches Objekt ......................................................................... 7 85 Wieder neu lernen (allseits). Der Film als Essay: eine Montage, in der die Dinge ihre Konflikte exponieren. Der Essay als Form gemäß Adorno. Eine Lesbarkeit ohne Wörterbuch. Exegese, Kritik, Interpretation. Das »Moment des Unauslöschlichen«. Bescheidenheit, Anspruch, Einspruch: eine unreine und dialektische Methode. Neu sehen, neu lesen, neu montieren, neu lernen. Anonyme Geschichte (Giedion), Sehmaschine (Virilio), Krieg der Bilder (Kittler), technische Unvernunft (Flusser). Die Augen entwaffnen und wieder neu bewaffnen ... 108 Wieder neu nehmen (an die Hand). Vom Archiv zum Atlas. Warburgs Prinzip: Singularität des Dokuments und Konstellation der Montage. Aufschub: die Bilder aus Westerbork, neu montiert von Farocki. Arbeit der Lesbarkeit und Arbeit der Sichtbarkeit. Ethik der Montage: »Wie Opfer zeigen?« Eine Pädagogik ohne »Umerziehung« durch das Bild. Anbieten, Öffnen, Position beziehen. Farocki mit Vertov und Brecht: der Autor als Produzent. Wenn »die Arbeit selbst das Wort ergreift«. Episch, dialektisch, experimental. Der emanzipierte Zuschauer ...... 127 Wieder aufspalten (durch Montage). Wieder aufspalten: Position beziehen, das Sichtbare öffnen. Bilder der Welt und Inschrift des Krieges: von der Aufklärung der Vernunft zur Luftaufklärung von Auschwitz und zur im Auschwitzalbum dokumentierten Barbarei. Die Blickpunkte umkehren. Vom Unvergleichlichen zum Vergleich. Remontierte Zeit: die Zeit gemäß einer doppelten Optik exponiert und belichtet. Montagetisch, Dialektik und die Weigerung, einen Schlussstrich zu ziehen. Der Vergleich als Exposition von Komplexitäten, Bilder gegen Bilder. Installation, geteilte Erkenntnis ..................................................... 154 Wieder zurückgeben (denen mit einem Rechtsanspruch). Wem gehören die Bilder? Privatrecht oder öffentliches Recht? Wie Farocki allen restituiert, was er einigen nimmt. Weder Entwendung noch stilistische Aneignung à la Warhol. Restitution nach Derrida. Generosität: Überfülle. Bescheidenheit: Bilder als Gemeingut. Respektieren, profanieren. Farocki in den Welten der Kunst. Jenseits von Adorno. Vorbild Bresson. Farocki-Godard: Was von dem, was sie zu sehen gibt, gibt eine Montage wieder zurück? Stil oder Klarheit, Kunst oder Bilder, Malraux oder Warburg ................................................................... 184 8 I N H A LT Begreifen (das Leid der Welt). Mit den Sinnen erfassen (Nähe) und den Sinn erfassen (Distanz). Leidensfähigkeit und Lesbarkeit. Bilderschatz, oder der Bilderatlas als Leidschatz: Farocki mit Warburg und Blumenberg. Geste, Film, Politik. Das Leiden in unseren »Kriegsmaschinen« begreifen. Lob der dritten Person: »Die Emotion sagt nicht ›ich‹«. Die Form des Essays, oder das Ausdrucksmoment im Denken. Adorno und Kracauer. Verstehen und Leiden. Hin zu einer »Phänomenologie der kleinen, minderen Bilder« ........................................................ 211 Anhang 1 W E N N E I N E R N I E D R I G T E R AU F E I N E N ANDEREN ERNIEDRIGTEN BLICKT Wenn es dem Erniedrigten gelingt, trotz allem zu schauen: Agustí Centelles im Lager Bram, 1939. Überleben der Bilder und genealogischer Anspruch. Bild und Würde. Wenn der anblickende Erniedrigte mit dem angeblickten Erniedrigten dieselbe Erfahrung teilt: Schauen und Erleiden. Ortsbefund und Subjektbefund. Wenn das, was außerhalb des Sehfelds der Bilder vom Lager liegt, immer noch das Lager ist. Implizierter Blick, das Sehfeld öffnender Blick. Wenn die Arbeit der Erniedrigung sichtbar gemacht wird: Dokumente des nackten Lebens. Kreis der Erniedrigung, Kreis der Scheiße und des Todes. Die Zerstörung jedes einzelnen und die Wiederherstellung von Seinesgleichen. Wenn der Blick eine Arbeit gegen die Erniedrigung ins Werk setzt: die »permanente Rebellion«, das gemeinsame Schweigen von siebzehntausend Menschen. Von der erlittenen Erfahrung zur erworbenen Erfahrung: Akte des Wissens, politische Akte. Frei produzierte Formen: Gegenstände, Spiele, Gesten ............................................ 229 I N H A LT 9 Anhang 2 G RO S S E S TÖ D L I C H E S S PI E L Z E U G »[…] es ist Asche. Wir lachen darüber«: Christian Boltanski oder das ergraute Kind. 1944 geboren sein: Untergehen oder spielen. Der Künstler, Schon-Toter und Immer-noch-Knirps. Kleiderhaufen und Eisenkiefer. Weihe und Entweihung. Personnes: die Mit-Möglichkeit von jeder und alle. »Exemplar« sein: Würde mit Demut. Die Frage nach Seinesgleichen. Das Werk anerkennt und respektiert die gemeinen Leute, nicht umgekehrt. Der Künstler spricht von uns und nicht von sich. Marcel Proust: Die Zersplitterung der erlittenen Zeit und ihre Remontage. Das Spiel ist aus. Ein Riesenspielzeug. »Wir sind ein Puzzle aus Toden«. Moral des Spielzeugs: Spiel, Krieg, Kunst nach Baudelaire. Spielzeug des Reichen und Spielzeug des Armen: weihevoller, eingeweihter Künstler vs. verspielter Künstler. Willkür und Ernst des Spiels. Übermittlung durch das Spiel und durch das Bild. Anachronismus und Genealogie. Die Würde der Verschwundenen als Gegenstand des Bildes ............................................................................. 251 Bibliographischer Hinweis ............................................................... 275 Abbildungsverzeichnis ..................................................................... 277 »[…] sobald wir uns dann an die Arbeit machen, holt unsere Seele sie von neuem hervor […] und verhilft Gefühlen, die nicht mehr existieren, zu einer Art von Weiterleben. Gewiß, wir sind gezwungen, mit dem Mut des Arztes, der die gefährliche Spritze noch einmal an sich selbst erprobt, unser persönliches Leiden noch einmal zu durchleben. Gleichzeitig jedoch müssen wir es in einer allgemeinen Form denken, dank der wir bis zu einem gewissen Grad seinem Zugriff entrinnen und die alle zu Teilhabern unseres Leidens macht und dadurch sogar nicht ganz ohne Freude ist. Da, wo das Leben einen in Mauern einschließt, schafft der Verstand einen Ausweg, denn wenn es auch kein Heilmittel für eine unerwiderte Liebe gibt, so kommt man davon durch das bloße Konstatieren des Leidens, wäre es auch nur, indem man die Konsequenzen zieht, die es in sich birgt. Der Verstand kennt diese eingeschlossenen Situationen des ausweglosen Lebens nicht.« Marcel Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit – Die wiedergefundene Zeit (1927) »Demontieren und remontieren bis zur Intensität.« Robert Bresson, Notizen zum Kinematographen (1975) »Er denkt mit dem fast hilflos erstaunten, jäh dann aufleuchtenden Auge. Mit solchem Blick mögen wohl Unterdrückte ihres Leidens Herr werden.« Theodor W. Adorno, »Der wunderliche Realist. Über Siegfried Kracauer« (1964)* * Marcel Proust, À la Recherche du temps perdu. Le temps retrouvé, Paris: Gallimard (Bibliothèque de la Pléiade) 1954, 3. Band, S. 905 (deutsch: Die wiedergefundene Zeit, übersetzt von Eva Rechel Mertens, revidiert von Lucius Keller, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004, S. 315). Robert Bresson, Notes sur le cinématographe, Gallimard, Paris, 1975 (Neuaufl. 2001), S. 56 (deutsch: »Notizen zum Kinematographen«, übersetzt von Andrea Spingler und Robert Fischer, hg. von Robert Fischer, Berlin: Alexander Verlag 2007, S. 48 [Übers. modifiziert; A.d.Ü.]). Theodor W. Adorno, »Der wunderliche Realist. Über Siegfried Kracauer«, in: Noten zur Literatur, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974/2003, S. 388–408, hier S. 392. I DIE LAGER ÖFFNEN, DIE AUGEN SCHLIESSEN: BILD, GESCHICHTE, LESBARKEIT Bild und Lesbarkeit der Geschichte Als der 60. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz begangen wurde, machten sich viele auf den Weg dorthin. Es wurden Schweigeminuten abgehalten, anschließend waren zahlreiche Politikerreden zu hören. Viele Menschen kamen zusammen. Bestimmte Bücher wurden neu aufgelegt. Bestimmte Bilder wurden von neuem betrachtet. Einige Wochen lang haben Magazine das Grauen der Lager auf ihre Titelseiten [en couverture] gesetzt – so als könnte das Grauen als eine Art »Decke« [couverture] dienen, aber um was genau zu »verdecken«? Bestimmte Filme wurden wieder gezeigt, und man blickte neuerlich auf Dokumente aus Archiven, bei denen es durchaus sinnvoll ist, sie immer wieder einmal vor Augen zu führen. Das Fernsehen hat zahlreiche »Themenabende« und »Gesprächsrunden« veranstaltet, mit ebenjenem strikten Zeitrahmen, ebenjener Art der Fragestellung und ebenjener formalen Vulgarität, die sozusagen zu seiner Arbeitsregel – oder vielmehr zur Regel seiner Nicht-Arbeit – geworden sind. Zu den ernsthafteren Herangehensweisen zählen die Eröffnung neuer Gedenkstätten und Museen, mit den entsprechenden, ihnen angegliederten Bibliotheken. Warum bleibt inmitten all dieser Aktivitäten der doppelte Eindruck zurück, dass all dies einerseits politisch notwendig ist – denn es rüttelt ein wenig am Verdrängen, dem auch die Wohlmeinenden immer wieder erliegen, während die Leugner mit ihren üblen Absichten dadurch zumindest zeitweise zum Schweigen gebracht werden –, dass andererseits und gleichzeitig aber auch eine gewaltige Kluft besteht zwischen alldem und dem Ziel, das mit diesen Ritualen des Erinnerns (»Nie wieder!«) verfolgt wird? Annette Wieviorka spricht völlig zu Recht von einer »gesättigten Erinnerung«, aber auch von den zahlreichen Verdächtigungen, die heute jeden Versuch begleiten, immer noch über diesen Teil unserer Geschichte zu arbeiten: »Perverse Faszination durch das Grauen, tödlicher Geschmack am Vergangenen, politische Instru- 16 D I E L AG E R Ö F F N E N, D I E AU G E N S C H L I E S S E N mentalisierung der Opfer.«¹ Diese Abwehrhaltung – dieser Wille zum Vergessen – wurde bereits vernehmbar, als die Lager kaum ein Jahr geöffnet waren: »Immer noch! werden die Überdrüssigen sagen, für die die Wörter ›Gaskammer‹, ›Selektion‹, ›Folter‹ nicht zur lebendigen Wirklichkeit gehören, sondern nur zum Wortschatz vergangener Jahre«, schrieb Olga Wormser-Migot im Jahre 1946.² Wodurch wurde diese Erinnerung so schnell gesättigt? Annette Wieviorkas Antwortet lautet: »Auschwitz wird mehr und mehr von der Geschichte abgekoppelt, die es hervorgebracht hat. […] Vor allem wurde es praktisch zu einem Begriff erhoben, zum Begriff für das absolut Böse, [so dass] das ›dies‹³ von Auschwitz-Birkenau zwar mit Moral gesättigt, aber von zu wenig historischem Wissen durchdrungen ist« – jenem nie abschließbaren Wissen, das darin besteht, »Auschwitz so lesbar wie möglich zu machen«.4 Dass eine gesättigte Erinnerung in ihrer Wirksamkeit selbst bedroht ist, ist leicht zu verstehen.5 Schwieriger ist es da schon zu wissen, was zu tun sei, um die Erinnerung zu ent-sättigen, und zwar eben nicht durch Vergessen, sondern etwas anderes als das Vergessen. Um im Grunde genommen eine neue Art von ars memoria zu erfinden, die in der Lage wäre, lesbar zu machen, was die Lager waren, insbesondere dadurch, dass man die schriftlichen Quellen und die Zeugnisse der Überlebenden zusammen mit den visuellen Dokumenten bearbeitet; mittlerweile begreifen die Historiker nämlich, dass man den visuellen Dokumenten eine ihrer Spezifität und ihrem Kontext entsprechende Aufmerksamkeit widmen muss, auch wenn ihr Material verstörend wirken oder seiner scheinbaren Evidenz wegen die Gefahr von Fehlinterpretationen verstärken kann.6 1 Annette Wieviorka, Auschwitz. 60 ans après, Paris: Robert Laffont 2005, S. 9. 2 Zitiert nach ebd., S. 9–10. 3 Im Orig. le »ça« d’Auschwitz-Birkenau: die Formulierung greift die französische Fassung der Formel »Nie wieder!« auf, die »plus jamais ça!« lautet, wörtlich: »Nie wieder dies!« (A.d.Ü.). 4 Annette Wieviorka, Auschwitz. 60 ans après, a.a.O., S. 14 und 20. 5 Vgl. Régine Robin, La Mémoire saturée, Paris: Stock 2003, S. 217–375 (»Une mémoire menacée: la Shoah [Eine bedrohte Erinnerung: die Shoah«]). 6 Ebd., S. 304–314 (wo man feststellen kann, dass Régine Robin Mühe hat, ausgehend vom sogenannten »Streit um die Bilder aus den Lagern« einen eigenen Standpunkt zu entwickeln). Als eine hervorragende – auch zugespitzte – Synthese hinsichtlich der verschiedenen Weisen des Gebrauchs, der von der Erinnerung an die Geschichte gemacht wird, vgl. Enzo Traverso, Le Passé, modes d’emploi. Histoire, BILD UND LESBARKEIT DER GESCHICHTE 17 Lesbar machen, das kann bedeuten, die allgemeinen und umfassenden Fragen neu aufzuwerfen, wie zum Beispiel Florent Brayart es tat, als er die »Endlösung« ausgehend von den Techniken und den zeitlichen Abläufen ihrer Entscheidungen untersuchte.7 Das kann, bescheidener angelegt, aber auch bedeuten, sich auf der Grundlage eines lokalen oder »mikrologischen« Prinzips – wie es von Aby Warburg propagiert, von Walter Benjamin theoretisch gefasst und von Carlo Ginzburg und seinem »Indizienparadigma«8 dann auf seine Art ins Werk gesetzt wurde – über ein singuläres Einzelobjekt zu beugen, um zu entdecken, inwiefern es durch die ihm innewohnende Komplexität sämtliche Fragen neu aufwirft, als deren Kristallisationspunkt es dient.9 Die Lesbarkeit eines historischen Ereignisses vom Ausmaß und der Komplexität der Shoah hängt zu einem beträchtlichen Teil davon ab, wie die unzähligen singulären Einzelheiten [singularités] in den Blick genommen werden, die dieses Ereignis durchziehen, so zum Beispiel bei Raul Hilberg, der beschloss, die Rolle der Eisenbahn bei der Organisation der Deportationen und der Massenvernichtung detailliert herauszuarbeiten.¹0 Wenn die Erinnerung an die Lager 7 8 9 10 mémoire, politique, Paris: La Fabrique 2005 (deutsch: Gebrauchsanweisungen für die Vergangenheit. Geschichte, Erinnerung, Politik, übersetzt von Elfriede Müller, Münster: Unrast 2007). Florent Brayart, La »Solution finale de la question juive«: la technique, le temps et les categories de la décision, Paris: Fayard 2004. Vgl. Carlo Ginzburg, »Spie. Radici di un paradigm indiziaro«, in: Aldo Gargani (Hg.), Crisi della ragione, Turin 1979, S. 57–106 (deutsch: »Spurensicherung«, übersetzt von Gisela Bonz, in: ders., Spurensicherungen. Über verborgene Geschichte, Kunst und soziales Gedächtnis, München: dtv 1988, S. 78–125, hier S. 87) (A.d.Ü.). Vgl. Georges Didi-Huberman, »Pour une anthropologie des singularités formelles. Remarques sur l’invention warburgienne«, in: Genèses. Sciences sociales et histoire, Nr. 24, 1996, S. 145–163 (deutsch: »Für eine Anthropologie der formalen Eigenheiten. Bemerkungen zu Warburgs Erfindung«, übersetzt von Siegfried Loewe, in: Ilsebill Barta-Fliedl/Christoph Geissmar-Brandl/Naoki Sato (Hg.), Rhetorik der Leidenschaft. Zur Bildsprache der Kunst im Abendland, Hamburg/München: Dölling und Galitz 1999, S. 240–249), wo sich auch eine Diskussion des »Indizienparadigmas« von Ginzburg findet. Von diesem Prinzip ausgehend habe ich versucht, die vier Fotos zu befragen, die Mitglieder des »Sonderkommandos« von Birkenau im August 1944 aufgenommen hatten, vgl. Georges Didi-Huberman, Images malgré tout, Paris: Minuit 2003 (deutsch: Bilder trotz allem, übersetzt von Peter Geimer, München: W. Fink 2006). Raul Hilberg, The Destruction of the European Jews, Chicago 1961 (deutsch: Die Vernichtung der europäischen Juden, übersetzt von Christian Seeger, Harry Maor, 18 D I E L AG E R Ö F F N E N, D I E AU G E N S C H L I E S S E N als »gesättigt« erscheinen kann, so beruht dies darauf, dass sie nicht mehr imstande ist, die historischen Singularitäten miteinander in Verbindung zu bringen und sich daher – falls sie nicht schlicht und einfach geleugnet wird – in dem fixiert, was Annette Wieviorka einen »Begriff« nennt, das heißt wenn aus der Shoah als historischem Ereignis »die Shoah« als Abstraktion und absolute Grenze des Benennbaren, Denkbaren und Vorstellbaren wird. Die »gesättigte Erinnerung« ist nur der Effekt einer spontanen Philosophie, die für sich auf billige Weise einen Horizont historischer Transzendenz gefunden hat. Die Komplexitäten und die Ausnahmen der Geschichte werden so auf einfache, möglichst »radikale« Schlagwörter reduziert. Wir sollten uns jedoch die große methodologische Lehre ins Gedächtnis rufen, die Henri Bergson formulierte: Als er einkreisen wollte, was er die »unechten Probleme« nannte, sprach er zunächst davon, dass es der Philosophie an »Präzision [fehlt]«, wenn sie Begriffe schaffen will, die »so abstrakt und infolgedessen unbestimmt« sind, »dass man hierin neben dem Wirklichen alles Mögliche und selbst Unmögliches unterbringen kann«, während eine echte Lesbarkeit der Dinge voraussetzt, dass der richtig gedachte Begriff »mit [seinem] Gegenstand«, also mit seiner Singularität und seiner Komplexität, »fest verwachsen ist«.¹¹ Vermutlich war es Walter Benjamin, der auf dem Gebiet der Geschichte mit größter Finesse und Strenge formuliert hat, was Lesbarkeit bedeutet. Jenseits der großen Interpretationen struktureller und globaler Natur, die den orthodoxen historischen Materialismus charakterisierten, hat Benjamin dafür plädiert, dass die »Lesbarkeit« der Geschichte sich mit ihrer konkreten, immanenten und singulären »Anschaulichkeit« verbinden könne. Da es nicht nur darum gehe, zu sehen [voir], sondern zu wissen [savoir], sei es notwendig, »das Prinzip der Montage in die Geschichte zu übernehmen«¹²: ein literarisches Prinzip, das sich die Surrealisten zu eigen gemacht hatWalle Bengs und Wilfried Szepan, Frankfurt am Main: Fischer 1990, 3 Bände (durchgehend paginiert), S. 428–435, vgl. auch S. 487–490). 11 Henri Bergson, La Pensée et le mouvant (1934), in: ders., Œuvres, hg. von A. Robinet, Paris: PUF 1959, Neuaufl. 1970, S. 1253 (deutsch: Denken und schöpferisches Werden, übersetzt von Leonore Kottje, Meisenheim am Glan: Westkultur-Verlag/ Anton Hain 1948, S. 21). 12 Walter Benjamin, Das Passagen-Werk, in: Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1980, Band V.1, S. 575 [im Folgenden GS mit röm. Band- u. arab. Seitenangabe; A.d.Ü.]. BILD UND LESBARKEIT DER GESCHICHTE 19 ten, aber auch die Herausgeber der Zeitschrift Documents, die – wie Les Annales – im Jahre 1929 gegründet worden war; vor allem aber ein filmisches Prinzip, wie es zur selben Zeit von Sergej Eisenstein, Dziga Vertov, Abel Gance oder Fritz Lang entwickelt wurde. Benjamin stellt von Anfang an klar, dass dieses Prinzip nichts anderes bedeute als die Tatsache, die singulären Einzelheiten in den Vordergrund zu rücken, und zwar gedacht in ihren Relationen, Bewegungen und Intervallen: Bei der Montage gehe es nämlich darum, »die großen Konstruktionen aus kleinsten, scharf und schneidend konfektionierten Baugliedern zu errichten«, um anschließend »in der Analyse des kleinen Einzelmoments den Kristall des Totalgeschehens zu entdecken«.¹³ Von dieser Überlegung ausgehend wird die Lesbarkeit des Vergangenen von Benjamin als bildlich* charakterisiert, im Gegensatz zu jeglichem Streben nach Allgemeinbegriffen oder »Wesenheiten« – also gegen Heidegger, aber auch gegen die Archetypen nach C. G. Jung. Nun verstehen wir, dass das Vergangene dann lesbar und also erkennbar wird, wenn die singulären Einzelheiten in Erscheinung treten und sich auf dynamische Weise – durch Montage, Schrift, Kinematik – als ebensoviele Bilder in Bewegung miteinander verbinden: Was die Bilder von den »Wesenheiten« der Phänomenologie unterscheidet, das ist ihr historischer Index. (Heidegger sucht vergeblich die Geschichte für die Phänomenologie abstrakt, durch die »Geschichtlichkeit« zu retten.) […] Der historische Index der Bilder sagt nämlich nicht nur, daß sie einer bestimmten Zeit angehören, er sagt vor allem, daß sie erst in einer bestimmten Zeit zur Lesbarkeit kommen. Und zwar ist dieses »zur Lesbarkeit« gelangen ein bestimmter kritischer Punkt der Bewegung in ihrem Innern. Jede Gegenwart ist durch diejenigen Bilder bestimmt, die mit ihr synchronistisch sind: jedes Jetzt ist das Jetzt einer bestimmten Erkennbarkeit. In ihm ist die Wahrheit mit Zeit bis zum Zerspringen geladen. […] Nicht so ist es, daß das Vergangene sein Licht auf das Gegenwärtige oder das Gegenwärtige sein Licht auf das Vergangne wirft, sondern Bild ist dasjenige, worin das Gewesene mit dem Jetzt blitzhaft zu einer Konstellation zusammentritt. Mit anderen Worten: Bild ist die Dialektik im Stillstand. Denn während die Beziehung der Gegenwart zur Vergangenheit eine 13 Ebd. 20 D I E L AG E R Ö F F N E N, D I E AU G E N S C H L I E S S E N rein zeitliche ist, ist die des Gewesnen zum Jetzt eine dialektische: nicht zeitlicher sondern bildlicher Natur. Nur dialektische Bilder sind echt geschichtliche, d. h. nicht archaische Bilder. Das gelesene Bild, will sagen das Bild im Jetzt der Erkennbarkeit trägt im höchsten Grade den Stempel des kritischen, gefährlichen Moments, welcher allem Lesen zugrunde liegt.¹4 Dieses bewundernswerte Fragment – dieser kompakte, rätselhaft funkelnde Text-Kristall – sagt uns schon viel über die Bedingungen der »Lesbarkeit« und der »Erkennbarkeit« der Geschichte. Es schwebt, wie wir hier festhalten wollen, jenseits der endlosen Streitereien über den Primat des Lesbaren über das Sichtbare oder des Sichtbaren über das Lesbare, in die sich die Historiker und die Ikonologen – selbst die Strukturalisten – allzu oft verrannt haben, wie auch all jene, die, zum Beispiel, immer noch eine ontologische Hierarchie zwischen dem »Symbolischen« und dem »Imaginären« errichten möchten. Benjamins Sichtweise schöpft hier aus dem Unternehmen, das Aby Warburg vorangetrieben hatte: Nicht nur, weil hier ausdrücklich anerkannt wird, von welch zentraler Bedeutung die Frage des »Nachlebens« kultureller Bilder für jegliche historische Erkenntnis ist¹5, sondern auch, weil bereits die Warburgsche Ikonologie jenen Geschichtlichkeitsmodus¹6 verlangte, der sich nur erfassen lässt, wenn man »die Mühe nicht scheut, die natürliche Zusammengehörigkeit von Wort und Bild wieder herzustellen.«¹7 Die besten unter den heutigen Versuchen zur Neubegründung einer historischen Kul- 14 Ebd., S. 577–578. 15 Ebd., S. 575. Vgl. dazu Georges Didi-Huberman, Devant le temps. Histoire de l’art et anachronisme des images, Les Éditions de Minuit, Paris, 2000. Ders., L’Image survivante. Histoire de l’art et temps des fantômes selon Aby Warburg, Paris: Minuit 2002 (deutsch: Das Nachleben der Bilder. Kunstgeschichte und Phantomzeit nach Aby Warburg, übersetzt von Michael Bischoff, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2010). Cornelia Zumbusch, Wissenschaft in Bildern. Symbol und dialektisches Bild in Aby Warburgs Mnemosyne-Atlas und Walter Benjamins Passagen-Werk, Berlin: Akademie Verlag 2004. 16 Im Orig. régime d’historicité. Vgl. François Hartog, Régimes d’historicité. Présentisme et expériences du temps, Paris: Seuil 2003 (A.d.Ü.). 17 Aby Warburg, »Bildniskunst und florentinisches Bürgertum. Domenico Ghirlandaio in Santa Trinita. Die Bildnisse des Lorenzo de’ Medici und seiner Angehörigen« (1902), in: ders., Gesammelte Schriften. Studienausgabe, I.1. Die Erneuerung der heidnischen Antike, hg. von Horst Bredekamp und Michael Diers, Berlin: Akademie Verlag 1998, S. 96 (Reprint der Ausgabe von 1932). BILD UND LESBARKEIT DER GESCHICHTE 21 turanthropologie erkennen diesen Begriff der »Lesbarkeit« als Prinzip ihrer eigenen Methodologie an.¹8 Was sagt uns dieses Fragment, dieser Kristall? Dass die historische Erkenntnis – im Unterschied zu dem, was der Historiker selbst bei seiner Arbeit bisweilen spontan empfindet – keineswegs darin besteht, zum Vergangenen zurückzugehen, um es »an sich« zu beschreiben und zusammenzutragen. Historische Erkenntnis stellt sich nur ausgehend vom »Jetzt« ein, das heißt ausgehend von einem Zustand unserer gegenwärtigen Erfahrung, indem sich aus einem riesigen Archiv von Texten, Bildern oder Zeugnissen des Vergangenen ein Moment des Erinnerns und der Lesbarkeit herausschält, der – und hier handelt es sich um eine entscheidende Formulierung in Benjamins Konzeption – als ein kritischer Punkt erscheint, als ein Symptom, ein Unbehagen in der Tradition, die bislang ein mehr oder weniger wiedererkennbares Tableau des Vergangenen geboten hatte. Diesen kritischen Punkt nennt Benjamin ein Bild: Dabei handelt sich natürlich um keine bloße Phantasie, sondern um ein »dialektisches Bild«, beschrieben als die Art und Weise, wie »das Gewesene mit dem Jetzt blitzhaft zu einer Konstellation zusammentritt«. In dieser Formel bringt der Blitz das plötzliche Aufleuchten und die Fragilität dieser Erscheinung zum Ausdruck, die man gleichsam im Flug erhaschen muss, da es so leicht möglich ist, dass sie ungesehen vorübergeht. Die Konstellation hingegen bringt die in die Tiefe reichende Komplexität, sozusagen die Dichte zum Ausdruck, die Überdeterminiertheit dieses Phänomens, das einem Fossil in Bewegung vergleichbar wäre, einem Fossil, das aus einem flüchtigen Schimmer bestünde, wie ein Photogramm aus einem überdimensionierten Film. Zum Ausdruck kommt dabei auch die Notwendigkeit der Montage, damit der Blitz – diese Monade – nicht isoliert bleibt vom vielfältigen Himmel, von dem er sich flüchtig vorübergehend abhebt.¹9 Im Jahre 1940, kurz vor seinem Selbstmord auf der Flucht vor den Nazis, sollte Benjamin diese Ideen dann in achtzehn Thesen 18 Vgl. insbesondere Gerd Neumann/Sigrid Weigel (Hg.), Lesbarkeit der Kultur. Literaturwissenschaften zwischen Kulturtechnik und Ethnographie, München: W. Fink 2000. 19 In einem späteren Fragment des Passagen-Werks versucht Benjamin, den Begriff der Lesbarkeit der Geschichte in fünf Wörtern zusammenzufassen: »Bilder«, »Monade«, »Erfahrung«, »immanente Kritik« und schließlich »Rettung« der Erinnerung (Walter Benjamin, Das Passagen-Werk, in: GS V.1, S. 595–596). 22 D I E L AG E R Ö F F N E N, D I E AU G E N S C H L I E S S E N »Über den Begriff der Geschichte« entwickeln, denen unter anderem – aber als ein entscheidendes Supplement – zu entnehmen ist, dass die Frage der »Erkennbarkeit« sich in der Geschichte, in ihrer Bewegung selbst, als eine ethische und politische Frage präsentiert: Das wahre Bild der Vergangenheit huscht vorbei. Nur als Bild, das auf Nimmerwiedersehen im Augenblick seiner Erkennbarkeit eben aufblitzt, ist die Vergangenheit festzuhalten. […] Denn es ist ein unwiederbringliches Bild der Vergangenheit, das mit jeder Gegenwart zu verschwinden droht, die sich nicht als in ihm gemeint erkannte. […] Vergangenes historisch artikulieren heißt nicht, es erkennen ›wie es denn eigentlich gewesen ist‹. Es heißt, sich einer Erinnerung bemächtigen, wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzt. […] Die Gefahr droht sowohl dem Bestand der Tradition wie ihren Empfängern. Für beide ist sie ein und dieselbe: sich zum Werkzeug der herrschenden Klasse herzugeben. In jeder Epoche muß versucht werden, die Überlieferung von neuem dem Konformismus abzugewinnen, der im Begriff steht, sie zu überwältigen. […] Nur dem Geschichtsschreiber wohnt die Gabe bei, im Vergangenen den Funken der Hoffnung anzufachen, der davon durchdrungen ist: auch die Toten werden vor dem Feind, wenn er siegt, nicht sicher sein. Und dieser Feind hat zu siegen nicht aufgehört.²0 Der Beweis: Die Augen für den Ortsbefund öffnen²¹ Fünf Jahre später war der Hauptfeind, das nationalsozialistische Regime, von den alliierten Truppen besiegt. Nun wurden die Lager entdeckt und geöffnet, wenn nicht »befreit«. Und auch die Augen 20 Walter Benjamin, »Über den Begriff der Geschichte« (1940), in: GS I.2, S. 691– 704, hier S. 695 (Thesen V und VI). 21 Im Orig. état des lieux, wörtlich »Zustand der Örtlichkeiten/vor Ort«, hier nicht in seiner alltagssprachlichen Bedeutung einer »Bestandsaufnahme bei der Wohnungsübergabe«, sondern in einem übertragenen/erweiterten Sinn gebraucht. Vgl. dazu weiter unten S. 32–33 und 36 (A.d.Ü.). D E R B EW E I S 23 – die Augen der »zivilisierten Welt«, wie man so sagt – wurden mit einem Schlag, schreckerfüllt, geöffnet: für den Blick auf die Lager. Selbst jene, die von dem »schrecklichen Geheimnis«, wie Walter Laqueur es nannte, Kenntnis hatten – und sie waren zahlreich in den Reihen der Politik und des Militärs –, wollten ihren Augen nicht trauen.²² Wie sich ein Einzelner angesichts der Prüfung, die die Konfrontation mit dem Unvorstellbaren bedeutet, selber kneifen möchte, um sicher zu sein, keinem Alptraum zu erliegen, so haben die Generalstäbe systematisch auf visuelle Aufnahmetechniken – Film und Fotografie – gesetzt, um sich selbst und die ganze Welt zu überzeugen und gegen die Schuldigen unwiderlegliche »Beweismittel« für die unermessliche Grausamkeit der Nazilager zu erstellen. Ende Juli 1944 rückte die Rote Armee – der sich die Einheiten der Division Kościusko der polnischen Streitkräfte angeschlossen hatten – in Lublin ein und übernahm zum ersten Mal überhaupt die Kontrolle über ein deutsches Lager auf polnischem Gebiet: Majdanek, wo etwa anderthalb Millionen Menschen ermordet worden waren. Die Deutschen hatten zwar am 22. Juli noch die Verbrennungsöfen der Krematorien zerstört, doch sahen sich die Russen immer noch mit der schrecklichen Evidenz von Bergen aus Asche, vermischt mit menschlichen Knochenresten, 820 000 Paar Schuhen sowie riesigen Kleiderkammern konfrontiert.²³ Beinahe unmittelbar darauf erhielten zwei Filmteams – ein russisches unter der Leitung von Roman Karmen vom Zentralen Dokumentarfilmstudio in Moskau; und ein polnisches unter der Leitung des Regisseurs Aleksander Ford – den Auftrag, Filmaufnahmen zu machen; diese wurden dann gegen Ende des Herbstes rasch geschnitten und montiert, so dass der Film im November 1944 in Lublin gezeigt werden konnte, wo zu diesem Zeitpunkt bereits der Prozess gegen die Lageraufseher begann.²4 22 Walter Laqueur, The terrible secret, London: Weidenfeld and Nicolson 1981 (deutsch: Was niemand wissen wollte. Die Unterdrückung der Nachrichten über Hitlers »Endlösung«, übersetzt von Otto Weith, Frankfurt am Main/Berlin/Wien: Ullstein 1981, S. 7 ff.). 23 Soviet Government Statements on Nazi Atrocities, London: Hutchinson 1946, S. 222. 24 All diese Informationen stammen aus der überaus präzisen Studie von Stuart Liebman, »La libération des camps vue par le cinéma: l’exemple de Vernichtungslager Majdanek«, ins Franz. übersetzt von Jean-François Cornu, in: Les Cahiers du judaïsme, Nr. 15/2003, S. 49–60. 24 D I E L AG E R Ö F F N E N, D I E AU G E N S C H L I E S S E N Andere Beispiele sind bekannter: In den Tagen oder Wochen, die auf die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz am 27. Januar 1945 folgten, drehten vier Kameramänner der sowjetischen Armee vor Ort. Aus ihrem Film Chronik der Befreiung von Auschwitz stammt der Großteil der visuellen Dokumente über den Zustand des Lagers im Moment seiner Öffnung.²5 Auch beim Vormarsch der westlichen Armeen ergab sich dieselbe Handlungskette: öffnen [ouvrir], entdecken [découvrir], fotografieren und filmen, die Bilder montieren – sei es im Nebeneinander eines Zeitschriftenlayouts oder im zeitlichen Ablauf eines Dokumentarfilms – und sie alle zusammen zeigen. Unsere Kenntnis von den Lagern war zunächst, noch vor Veröffentlichung der großen Berichte der Überlebenden und der ersten Analysen von Historikern, eine – journalistisch, militärisch und politisch gefilterte – visuelle Kenntnis von den Lagern, wie sie im Zustand ihrer Zerstörung durch die Nazis und ihrer Öffnung durch die Alliierten gesehen worden waren. Diese ersten Bilder haben das Phänomen gleichwohl ins Bewusstsein gerückt: Sie führten zu einer »negativen Epiphanie« der Lager, wie Susan Sontag schrieb und wie Clément Chéroux in seiner Analyse der Rezeption dieser erschütternden Ikonographie ausführte.²6 Denken wir etwa an den Besuch General Eisenhowers im Lager Ohrdruf vom 12. April 1945, mit einem Tross Journalisten im Gefolge; oder denken wir an die großen Fotografen, die, kaum war ein Lager von der amerikanischen, britischen oder französischen Armee befreit, vor Ort entsandt wurden: Lee Miller und Margaret Bourke-White nach Buchenwald, Eric Schwab nach Dachau, Germaine Krull nach Vaihingen, George Rodger nach Bergen-Belsen…²7 25 Vgl. Renata Boguslawska-Swiebocka/Teresa Ceglowska, KL Auschwitz, Fotografie dokumentalne, Warschau: Krajowa Agencjy Wydawnicza 1980. Teresa Swiebocka (Hg.), Auschwitz. A History in Photographs, ins Engl. übersetzt von Jonathan Webber und Connie Wilsack, Oswiecim/Warszawa/Bloomington/Indianapolis: Auschwitz-Birkenau Museum/Ksiazka I Wiedza/Indiana University Press 1993, S. 190–215 und passim. Andrzej Strzelecki, The Evacuation, Dismantling and Liberation of KL Auschwitz, Oswiecim: Auschwitz-Birkenau State Museum 2001. Annette Wieviorka, Auschwitz. 60 ans après, a.a.O., S. 23–37. 26 Clément Chéroux (Hg.), Mémoire des camps. Photographies des camps de concentration et d’extermination Nazis (1933–1999), Paris: Patrimoine photographique-Marval 2001, S. 103–127. 27 Ebd., S. 128–171. D E R B EW E I S 25 Mit dem Ausdruck »negative Epiphanie« wollte Susan Sontag die doppelte Bewegung bezeichnen, die solch ein zutage gefördertes Grauen auslöst: Die Bilder aus den Lagern haben uns angesichts ihrer Sichtbarkeit vor Entsetzen »erstarren« lassen, sie markierten jedoch auch das Einsetzen einer seelischen Regung, die mit unseren existentiellen, politischen und moralischen Erwartungen untrennbar verbunden ist, »es begannen die Tränen« zu fließen, die »ich immer noch weine«.²8 Betrachtet man heute diese Bilder, wird man jedoch von etwas anderem ergriffen: es ist der ihnen innewohnende Mangel an Lesbarkeit, das heißt die Schwierigkeit, mit der wir uns konfrontiert sehen, diese Bilder als »dialektische Bilder« zu verstehen, als Bilder, die imstande sind, ihren eigenen »kritischen Punkt« und ihr Feld der »Erkennbarkeit« ins Werk zu setzen. Wir müssen heute also zweimal hinsehen, um von dieser so schwer zu ertragenden Sichtbarkeit ausgehend zu einer historischen Lesbarkeit zu gelangen. Wenn man zum Beispiel weiß, dass die beiden Filmteams in Majdanek von jüdischen Regisseuren geleitet wurden – und auch die Kameramänner Stanislaw Wohl, Adolf und Wladyslaw Forbert waren Juden, und Kommunisten, Mitglieder der für die filmische Avantgarde der 1930er Jahre repräsentativen Gruppe Start –, während der fertig montierte Film den Anteil der Juden, die in den organisierten Massenmorden des Lagers umkamen, minimiert, dann lastet auf den Bildern des Films auch eine neue Lesbarkeit: Die Lesbarkeit der Feststellung [constat] wird überlagert von der Lesbarkeit eines impliziten Vertrags [contrat] – ja sogar Zwangs [contrainte] –, der darauf abzielte, die Tatsache, dass die auf polnischem Gebiet befindlichen Lager durch die Sowjetmacht geöffnet wurden, politisch zu instrumentalisieren.²9 Um ein weiteres Beispiel zu erwähnen: Wir wissen, dass in Auschwitz »das Elend in den Baracken nicht unmittelbar gefilmt werden konnte, [weil] die Häftlinge, die so gut wie erfroren waren, schnellstmöglich woandershin gebracht werden mussten.«³0 28 Susan Sontag, On Photography, New York: Farrar, Straus & Giroux 1977 (deutsch: Über Fotografie, übersetzt von Mark W. Rien und Gertrud Baruch, München: Hanser 1978/Frankfurt am Main: Fischer 1980, S. 25–26 [aus Kontextgründen hier nach dem Wortlaut der franz. Übersetzung; A.d.Ü.]). 29 Vgl. Stuart Liebman, »La libération des camps vue par le cinéma…«, a.a.O., S. 55. 30 Zeugenaussage von Alexandr Voronzov, zitiert in Annette Wieviorka, Auschwitz. 60 ans après, a.a.O., S. 27–28. 26 D I E L AG E R Ö F F N E N, D I E AU G E N S C H L I E S S E N Bekannt ist auch, dass man in Mauthausen, wo die Öffnung des Lagers unter niederschmetternden und düsteren Umständen ziemlich konfus erfolgte, nachträglich noch einmal eine »Befreiung« des Lagers nachstellte – mit lächelnden Häftlingen, die Transparente hielten und einem vorüberfahrenden amerikanischen Panzer zujubelten –, um die glorreiche Erinnerung daran fotografisch festzuhalten.³¹ Bekannt ist schließlich ebenfalls, in welchem Maße die Bilder aus Bergen-Belsen – bis hin zum Film Nacht und Nebel von Alain Resnais – die Sichtbarkeit des Grauens in einer richtiggehenden historischen Fehldeutung auf die Leichen konzentrierten, die in dem Glauben gezeigt wurden, mit ihnen das Phänomen der massenhaften Vergasung »illustrieren« zu können. Das Öffnen der Lager hat also eine Flut solcher Bilder hervorgebracht, bei denen die »Schockpädagogik« nicht ohne sorgfältiges Filtern der Information erfolgte, so dass Sylvie Lindeperg die gesamte Filmnachrichtenproduktion des Jahres 1945 als das charakterisieren konnte, was sie eine »blinde Leinwand« nennt.³² Kurzum: Die historische Lesbarkeit der bei der Befreiung der Lager produzierten Bilder scheint definitiv von der Konstruktionsweise, der (manipulierenden) Handhabung³³ und den Gebrauchs- 31 Vgl. Ilsen About/Stephan Matyus/Gabriele Pflug/Jean-Marie Winkler (Hg.), Das sichtbare Unfassbare. The visible part. Fotografien vom Konzentrationslager Mauthausen, Wien: Bundesministerium für Inneres 2005, S. 130–141, wo nacheinander die (schlechten) Aufnahmen vom 5. Mai 1945 und die vom 7. Mai zu sehen sind, als die Befreiung des Lagers nachgestellt wurde. 32 Vgl. Marie-Anne Matard-Bonucci/Édouard Lynch (Hg.), La Libération des camps et le retour des déportés, Brüssel: Éditions Complexe 1995, S. 63–73 (»La pédagogie de l’horreur«) und S. 163–175 (»Les filtres successifs de l’information«). Christian Delporte, »Les médias et la découverte des camps (presse, radio, actualités filmées)«, in: François Bédarida/Laurent Gervereau (Hg.), La Déportation. Le système concentrationnaire nazi, Paris: Musée d’Histoire contemporaine-BDIC 1995, S. 205–213. Dagmar Barnouw, Germany 1945. Views of War and Violance, Bloomington: Indiana University Press 1996. Claudine Drame, »Représenter l’irreprésentable: les camps nazis dans les actualités françaises de 1945«, in: Cinémathèque, Nr. 10, 1996, S. 12–28. Sylvie Lindeperg, Clio de 5 à 7. Les actualités filmées de la Libération, archives du future, Paris: CNRS-Éditions 2000, S. 155–209. 33 Im Orig. manipulation, wobei der Begriff im Französischen nicht immer und von Hause aus negativ besetzt ist wie im deutschen Alltagsgebrauch; von lat. manus (»Hand«) her bedeutet er zunächst einmal »Handhabung«, kann dann weiter in Richtung »Bearbeitung« bis schließlich zum pejorativen Sinn von »Manipulation« gehen. Vgl. die im Duden (Fremdwörterbuch) verzeichneten Bedeutungen: techn. »Handhabung«, med. »geschickter Handgriff«. Vgl. dazu auch hier weiter unten, S. 85 (A.d.Ü.). D E R B EW E I S 27 werten getrübt zu sein, denen die damals aufgenommenen Fotos und Filme unterlagen. Das Bild der Lager war rasch in schmerzlichen Paradoxa gefangen: zwischen dem Willen zur Erinnerung und dem Willen zum Vergessen; zwischen Schuld und Leugnung; zwischen dem Bestreben, die Geschichte zu montieren [monter], und der puren Lust daran, Geschichten zu zeigen [montrer]. Schließlich sprach man von einer »unfilmbaren Geschichte«, und Claude Lanzmann hat für seinen großen Film Shoah die radikale Lösung gefunden, sich aller Sichtbarkeit [visibilité] der Archive der Befreiung zu verweigern, um die Lesbarkeit [lisibilité] des historischen Phänomens auf der Grundlage dessen herzustellen [construire], dass man den Überlebenden aufmerksam zuhört.³4 Wenn aber Walter Benjamin mit seiner Behauptung recht hat, dass »der historische Index der Bilder […] nicht nur [sagt], daß sie einer bestimmten Zeit angehören, [sondern] vor allem, daß sie erst in einer bestimmten Zeit zur Lesbarkeit kommen«³5, dann dürfen wir uns nicht mit der Überlegung begnügen, wonach die Bilder von der Befreiung, weil (manipulierend) gehandhabt – aber sind nicht alle menschlichen Zeichen, seien es Bilder oder Worte, immer schon 34 Vgl. Annette Insdorf, Indelible Shadows: Film and the Holocaust, New York 1983 [franz. L’Holocaust à l’écran, Paris: Le Cerf 1985]. Ilan Avisar, Screening the Holocaust. Cinema’s Images of the Inimaginable, Blomington-Indianapolis: Indiana University Press 1988. Michel Deguy (Hg.), Au sujet de Shoah, le film de Claude Lanzmann, Paris: Belin 1990. Saul Friedländer (Hg.), Probing the Limits of Representation. Nazism and the »Final Solution«, Cambridge/London: Harvard University Press 1992. Béatrice Fleury-Vilatte, Cinéma et culpabilité en Allemagne, 1945–1990, Perpignan: Institut Jean Vigo 1995, S. 21–52. Guy Gauthier, Le Documentaire, un autre cinema, Paris: Armand Colin 1995 (Neuaufl. 2005), S. 224–228. Barbie Zelizer, Remembering to Forget. Holocaust Memory Through the Camera’s Eye, Chicago/ London: The University of Chicago Press 1998. Francesco Monicelli/Carlo Saletti (Hg.), Il racconto della catastrofe. Il cinema di fronte a Auschwitz, Verona: Società Letteraria-Cierre Edizioni 1998. Philippe Mesnard, »La mémoire cinématographique de la Shoah«, in: Catherine Coquio (Hg.), Parler des champs, penser les genocides, Paris: Albin Michel 1999, S. 473–490. François Niney, L’Épreuve du reel à l’écran. Essai sur le principe de réalité documentaire, Brüssel: De Boeck Université 2000 (Neuaufl. 2002), S. 253–292. Vincent Lowy, L’Histoire infilmable. Les camps d’extermination Nazis à l’écran, Paris: L’Harmattan 2001, S. 38–56. Omer Bartov/ Atina Grossmann/Mary Nolan (Hg.), Crimes of War. Guilt and Denial in the Twentieth Century, New York: The New Press 2002, S. 61–99. Waltraud »Wara« Wende (Hg.), Geschichte im Film. Mediale Inszenierungen des Holocaust und kulturelles Gedächtnis, Stuttgart/Weimar: Metzler 2002. Sven Kramer (Hg.), Die Shoah im Bild, München: Text + Kritik 2003. 35 Walter Benjamin, Das Passagen-Werk, a.a.O., S. 577. 28 D I E L AG E R Ö F F N E N, D I E AU G E N S C H L I E S S E N Gegenstand einer (manipulierenden) Handhabung, im Schlimmen wie im Guten? – von unserer Lektüre der Geschichte ausgeschlossen werden müssten. Wir müssen uns vielmehr der doppelten Aufgabe stellen, diese Bilder lesbar zu machen, indem ihre Konstruktionsweise selbst sichtbar gemacht wird. Ein wesentliches Element dieser Konstruktionsweise ist die juristische Zielsetzung eines Großteils jener Bilder, die im Moment der Öffnung der Lager aufgenommen wurden. Nichts ist verständlicher als das: Wenn das Lager, wie Giorgio Agamben es definiert, dieser »Raum der Ausnahme« ist, dieses »Teilstück eines Territoriums, das außerhalb der normalen Rechtsordnung steht«³6 – wo nicht einmal das Gefängnisrecht mehr seinen Platz hat –, dann war es ganz logisch, dass die erste Reaktion beim Öffnen der Lager darin bestand, den Raum des Rechts wieder neu zu behaupten und so die vielfache Schuld, mit der wir es bei dieser monströsen kriminellen Organisation zu tun haben, juristisch aufzuarbeiten und festzuhalten. Die Lager zu entdecken, sie zu beschreiben und sich daranzumachen, ihre Geschichte zu schreiben, fiel zunächst mit dem Willen in eins, ihnen den Prozess zu machen.³7 Daher wollen die ersten Bilder aus den Lagern – wie die ersten schriftlichen Beschreibungen oder die ersten Zeugenaussagen – vor allem visuelle Augenzeugenberichte beziehungsweise visuelle Zeugnisse [témoignages visuels] sein.³8 Daher haben die alliierten Füh36 Giorgio Agamben, »Che cos’è un campo?«, in: Mezzi senza fine. Note sulla politica, Turin Bollati Boringhieri 1996, S. 35–41 (deutsch: »Was ist ein Lager?«, in: Mittel ohne Zweck. Noten zur Politik, übersetzt von Sabine Schulz, Berlin/Zürich: diaphanes 2001/2009, S. 43–49, hier S. 45). Vgl. ders., Homo sacer. Il potere sovrano e la nuda vita, Turin: Einaudi 1995 (deutsch: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, übersetzt von Hubert Thüring, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002, S. 179). 37 Vgl. Florent Brayart (Hg.), Le Génocide des juifs entre procès et histoire, 1943–2000, Paris/Brüssel: IHTP-Éditions Complexe 2000. Zum Verhältnis von Geschichte und Recht – das heißt zwischen dem Historiker und dem Richter – vgl. Carlo Ginzburg, Il giudice e lo storico (1991) (deutsch: Der Richter und der Historiker. Überlegungen zum Fall Sofri, übersetzt von Walter Kögler, Berlin: Wagenbach 1991. Ders., Rapporti di forza (2000) (deutsch: Die Wahrheit der Geschichte. Rhetorik und Beweis, übersetzt von Wolfgang Kaiser, Berlin: Wagenbach 2001, S. 11 ff.). 38 Zur allgemeinen Frage des visuellen Zeugnisses und des Bildes als Beweismittel, vgl. Renaud Dulong, Le Témoin oculaire. Les conditions sociales de l’attestation personnelle, Paris: Éditions de l’EHESS 1998. Peter Burke, Eyewitnessing. The Uses of Images as Historical Evidence, Ithaca: Cornell University Press 2001. François Niney (Hg.), La Preuve par l’image? L’évidence des prises de vue, Valence: Centre de Recherche et d’Action culturelle 2003 [Der im Orig. verwendete Ausdruck témoignage