Leseprobe - Emons Verlag
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Leseprobe - Emons Verlag
Katrin Rohde, Jahrgang 1968, wurde in Braunschweig geboren und lebt in ihrer Heimatstadt. Wenn sie nicht schreibt, geht sie ihrem Beruf als Konstrukteurin in einem großen Autokonzern nach. Die Ideen für ihre Geschichten fallen ihr Schritt für Schritt beim Joggen durch Braunschweigs grüne Lunge ein. K ATRIN ROHDE Löwenbrut NIEDERSACHSEN KRIMI Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig. Rohde_Löwenbrut_06.indd 2-3 emons: 09.04.15 11:04 Für Micha Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: © mauritius images/imageBROKER/Siepmann Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch Gestaltung Innenteil: César Satz & Grafik GmbH, Köln Lektorat: Christine Derrer Druck und Bindung: CPI – Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany 2015 ISBN 978-3-95451-557-8 Niedersachsen Krimi Originalausgabe Unser Newsletter informiert Sie regelmäßig über Neues von emons: Kostenlos bestellen unter www.emons-verlag.de Rohde_Löwenbrut_06.indd 4-5 09.04.15 11:04 Prolog Der kühle Novembermorgen kroch an den Beinen des Mannes empor, der seit geraumer Zeit auf einer Holzbank verharrte. Sein Atem hinterließ eine weiße Wolke in der klaren Luft, während er konzentriert die Schar von Menschen im Auge behielt, die sich mit Ferngläsern bewaffnet bereit machte, den Aussichtsturm zu besteigen. Der Mann fingerte nervös mit seinen klammen Händen eine Zigarette aus der Innentasche seines Mantels. Er zündete sie an und blies den Rauch wie eine kleine Dampfmaschine hervor. Seine innere Anspannung stieg mit jedem Schritt, den die Männer und Frauen die Holztreppe hinaufstiegen. Jetzt musste es bald so weit sein, ein ganz spezielles Objekt würden sie durch ihre Ferngläser erspähen. Aufgeregt schnippte er die Zigarette beiseite und beugte sich gespannt nach vorn. Plötzlich durchbrach ein gellender Schrei die morgendliche Stille. Eine Hand wies hektisch auf etwas, die Ferngläser wurden daraufhin ausgerichtet. Das schrille Kreischen einer Frau erklang, und das Gemurmel schwoll an zu blankem Entsetzen. Aufgeschreckte Vögel suchten mit schnellen Flügelschlägen das Weite und schnatterten aufgeregt. Dem Beobachter huschte ein zufriedenes Lächeln über das Gesicht, während die Ersten ihre Handys zückten, um die verstörende Nachricht der Polizei zu melden. Eine heiße Welle durchflutete seinen Körper, als er erneut in den Mantel griff und sein Telefon hervorzog, es aufklappte und die Schnellwahltaste Eins drückte. Es klingelte nur einmal, bevor sich am anderen Ende eine leise Stimme meldete. »Ja?« »Sie haben unsere Überraschung gefunden.« »Gut.« Er ließ das Handy zuschnappen und stand auf. Sein Körper wirkte nach dem Sitzen in der Kälte taub und eingeschlafen, aber das pulsierende Gefühl in seinen Adern brachte seine Lebensgeister zurück. Endlich war es so weit: Das Spiel begann. Ein blutiges Spiel, das nur ein Ziel verfolgte. 7 Rohde_Löwenbrut_06.indd 6-7 09.04.15 11:04 Eins Mit hoher Geschwindigkeit preschte der silberne Wagen den Weg entlang. Das Blaulicht auf dem Dach und die eingeschaltete Sirene ließen Spaziergänger zur Seite springen und drohend dem Auto hinterherwinken. Der Fahrer ignorierte die bösen Blicke und Beschimpfungen der Menschen. Der Wagen kam vor dem Flatterband der Polizeiabsperrung abrupt zum Stehen. Der laute Signalton erstarb, mit ihm der Motor. »Was ist das für eine Scheiße hier?«, brummte Lars Henkel hinter dem Lenkrad schlecht gelaunt, bevor er seine Jacke vom Beifahrersitz fischte und blitzschnell seinen Blick wandern ließ. Vor ihm lag eine Weggabelung, an der links eine Schneise zwischen zwei großen Teichen entlangführte, der rechte Pfad verschwand im Wald. Nahe der Weggabelung ragte ein hoher Holzturm in die Höhe. Der komplette Bereich wurde durch das rot-weiße Plastikband als polizeiliche Sperrzone ausgewiesen. Innerhalb ging es zu wie in einem Taubenschlag: Uniformierte und Polizisten in Zivil liefen wild durcheinander, telefonierten oder waren in Gespräche vertieft. In den Augen von Lars wirkte es alles andere als koordiniert. »Ein riesiger Sauhaufen«, fluchte er, als er die Fahrertür aufstieß, ausstieg und sich die Jacke überzog. Wie aus dem Nichts tauchte seine Kollegin Henrike Noske auf. »Da bist du ja endlich«, begrüßte sie ihn ungeduldig, »hier ist die Hölle los. So was habe ich noch nie gesehen. Unglaublich.« In ihrer Stimme schwang eine Spur von kriminalistischer Begeisterung mit. »Du bist ja völlig aus dem Häuschen.« »Musst du dir selbst ein Bild machen. Die Presse hat auch schon Wind davon bekommen.« »Scheint ja eine Sensation in der Luft zu liegen.« »Endlich mal etwas anderes als die üblichen Trunkenheits8 Rohde_Löwenbrut_06.indd 8-9 morde oder Raubüberfälle. Ist doch super.« Henrikes Stimme überschlug sich ein wenig. Lars schlüpfte unter der Absperrung hindurch und folgte ihr zum Uferbereich. Sie blickten zu der Stelle des kleinen Sees, an der sich weiß gekleidete Kollegen um die Spurensicherung kümmerten. Sie trugen zusätzlich hüfthohe Gummianzüge mit Hosenträgern, um sich vor dem Wasser und Schlamm zu schützen. Lars kniff seine Augen zusammen und versuchte, aus der Distanz zu erkennen, wo sich das Opfer befand. Aber außer abgestorbenen Baumstümpfen, die mit ihren Ästen bizarr über die Wasseroberfläche herausragten, konnte er nichts entdecken. Allmählich verstand er Henrikes Aufregung, denn dieser Tatort war ungewöhnlich. Meist lagen die Opfer tot auf der Straße oder in Wohnungen, nicht aber in der Mitte eines Sees. Seine Alarmglocken klingelten warnend, und sein Instinkt sagte ihm, dass dieser Fall sich zu einem Problem entwickeln könnte. »Die Spurensicherung ist so gut wie fertig, na ja, im Wasser ist auch nicht viel zu finden. Bevor sie die Leiche da rausholen, können wir sie uns ansehen.« Sie hob einen wasserdichten Hosenanzug vom Boden auf und drückte ihn Lars in die Hand. »Den brauchst du.« Den Tag erneut verfluchend, zog er die Schuhe aus und den Öl-Anzug über die Jeans. Die integrierten Gummistiefel kniffen an seinen Füßen, denn seine Füße waren im Verhältnis zu seiner Körpergröße von einem Meter achtzig relativ groß. Auch der Anzug war ihm deutlich zu klein. Henrike hatte ihr olivgrünes Ölzeug bereits übergestreift und winkte ihm ungeduldig zu. Gemeinsam traten die beiden in den flachen Teich, dessen Kälte rasch durch die wasserabweisende Kleidung drang. »Verflucht noch eins, der Tag entwickelt sich nicht gut«, brummte Lars vor sich hin. Henrike erreichte als Erste den Ort des Verbrechens, wo bereits etliche Beamte standen und miteinander tuschelten. Einige schüttelten fortwährend den Kopf und konnten den Blick nicht von dem Bild abwenden, das sich ihnen bot. Neugierig schloss 9 09.04.15 11:04 Lars zu Henrike auf, die den Kopf tief gesenkt hielt und das Objekt anstarrte, das den Trubel ausgelöst hatte: Knapp unter der Wasseroberfläche lag der Tote. Er glotzte seine Betrachter mit weit aufgerissenen Augen an. Was Lars zuvor für einen Ast gehalten hatte, entpuppte sich als rechter Arm der Leiche, der unnatürlich mit ausgestrecktem Zeigefinger auf das gegenüberliegende Ufer wies. Am Finger baumelte eine goldene Kette mit einem schlichten Kreuz. »Das ist doch ein schlechter Witz«, sagte Lars eine Spur zu laut und schreckte die leise murmelnden Beamten auf. »Wurde der so gefunden? Mit dem ausgestreckten Zeigefinger und dem Anhänger dran?« Ein junger Polizist, den Lars nicht kannte, trat nach vorn. »Die Vogelkundler haben ihn entdeckt.« »Das war nicht meine Frage«, entgegnete Lars übellaunig. »Wurde am Tatort etwas verändert?« Der junge Beamte lief rot an. »Nein, es wurde nichts verändert.« »Gut.« Lars beugte sich zu der Wasseroberfläche hinab, um einen Eindruck vom Gesicht des Toten zu erlangen. Die schräg stehende Sonne spiegelte sich auf dem Wasser und erschwerte eine genaue Betrachtung. Dennoch erkannte er, dass das Gesicht keinerlei äußerliche Verletzungen aufwies. Der restliche Körper schien nackt zu sein, aber das schlammige Wasser, das durch die Umherstehenden immer wieder aufgewühlt wurde, verhinderte eine genaue Inaugenscheinnahme. »Der muss aus dem Wasser raus, so kann man nichts erkennen«, sagte Lars in die Runde. »Wir holen ein Boot und bringen ihn dann an Land«, schlug der junge Polizist vor. Lars beugte sich dicht an dessen Uniform und las seinen Namen auf dem aufgenähten Schild. »Dann mal los, Krupke, kommen Sie in Gang, oder wollen Sie, dass der Tote im Wasser ersäuft?« Im Hintergrund lachte jemand, während Krupke rasch gen Ufer stapfte, um seinen Auftrag zu erfüllen. Indes beugte sich Henrike konzentriert über den Toten. »Ich 10 Rohde_Löwenbrut_06.indd 10-11 bin gespannt, was uns die Rechtsmedizin über ihn erzählen kann.« Bevor Lars ihr antworten konnte, klingelte sein Handy. »Hallo, Chef«, meldete er sich. »Was ist da draußen los?«, polterte Walter Kimmichs Stimme in einer Lautstärke, die alle Anwesenden mithören ließ. »Die Presse läuft mir die Bude ein. Heute ist Sonntag, Himmel und Herrgott noch mal.« Im Hintergrund redete eine weibliche Stimme beruhigend auf Kimmich ein. »Wir ziehen ihn gleich aus dem Wasser. Dann muss die Rechtsmedizin erst mal ran. Ich fahre nach Hause und haue mich wieder aufs Sofa. Letzte Nacht war es spät, weil ich mit der –« »Lars, du bleibst da und kümmerst dich um den Fall«, fiel ihm sein Vorgesetzter laut ins Wort. »Sonst gibt es morgen einen ordentlichen Einlauf.« Lars knirschte hörbar mit den Zähnen. »Okay, geht klar.« Ohne Verabschiedung drückte er das Gespräch weg, in dem Wissen, dass Kimmich gewohnheitsmäßig an die Decke gehen und ihn zum wiederholten Male zum Teufel wünschen würde. Lars blickte zum Ufer. »Was machen die da hinten? Wir sind doch nicht beim Kaffeekränzchen. Wenn die nicht gleich den Scheißkaffee wegpacken, gehe ich da rüber, und dann rumst es.« Henrike konnte sich das Grinsen nicht verkneifen, denn Lars kam langsam auf Touren, und es war besser, wenn es von nun an wie am Schnürchen lief. Henrike und Lars beobachteten vom Ufer aus, wie das Boot mit dem Toten in ihre Richtung gezogen wurde. In Ufernähe hatten Polizeibeamte einen Sichtschutz aus Planen errichtet, hinter dem das tropfende Opfer vor den Augen der Umwelt verschwand. »So, und nun bitte alle raus«, rief Lars in die Runde. Er hatte den dringlichen Wunsch, nur mit Henrike die erste Begutachtung vorzunehmen. Nachdem die Kollegen seiner Aufforderung nachgekommen 11 09.04.15 11:04 waren, verhängte Lars den Eingang mit einer grauen Polizeidecke. Das Licht wurde dämmrig, denn die Sonne stand tief, dennoch war es ausreichend für eine erste Untersuchung. Respektvoll näherte Henrike sich dem nackten Toten und kniete sich neben ihn. »So etwas habe ich wirklich noch nie gesehen.« Sie wies mit dem Finger auf eine Stelle nahe der Leistengegend. »Was sind das denn für Beulen? Und da am Arm auch.« Abrupt stand sie auf und trat einen Schritt zurück. »Könnte eine ansteckende Krankheit sein.« Lars rieb sich grübelnd das unrasierte Kinn. »Das gefällt mir gar nicht. Ich glaube, hier treibt jemand Spielchen mit uns. Das ist doch kein Zufall, wenn eine Leiche im Wasser abgelegt wird, und zwar genau so, dass sie garantiert entdeckt wird. Und was soll das mit dem Kreuz bedeuten?« Er beugte sich ein wenig hinab und besah sich das Holzgestell, auf dem der tote Körper festgebunden war: eine solide Konstruktion aus Latten, deren rechteckiges Grundgerüst die stabile Lage im Teichgrund gewährleistet hatte. Zudem war sie mit Pflastersteinen beschwert gewesen, die die Bergung erheblich erschwert hatten. Der Tote selbst wurde durch senkrechte Hölzer in dieser eigenartigen Position gehalten. Der Kopf mit den weit aufgerissenen Augen war gen Himmel gerichtet und fiel mit dem unnatürlich abgewinkelten Arm mit dem ausgestreckten Zeige finger besonders ins Auge. »Lange lag er jedenfalls nicht im Wasser«, sagte Henrike. »Die letzte Wasserleiche aus dem Mittellandkanal, die wir im Sommer geborgen haben, sah völlig anders aus.« Lars nickte zustimmend und umrundete das Opfer. »Armer Teufel, hoffentlich war er schon tot, bevor man ihn auf das Holzgerüst geschnallt hat.« Henrike schrieb ihre Beobachtungen in ein kleines Notizbuch: »Ich schätze den Mann auf circa vierzig bis fünfzig Jahre, die Haare am Kopf wurden ihm vor Kurzem abrasiert, so hell, wie die Kopfhaut leuchtet. Ich würde sagen, er sieht ungepflegt aus. Da ist Dreck unter den zu langen Fingernägeln, auch die Fußnägel machen keinen besseren Eindruck. Außerdem wirkt 12 Rohde_Löwenbrut_06.indd 12-13 er dünn, fast abgemagert.« Sie zog die Stirn in Falten und ließ die Aufzeichnungen in der Jackentasche verschwinden. »Wir müssen die Ergebnisse der Rechtsmedizin abwarten.« Sie schlug rasch den Vorhang zur Seite und trat nach draußen, wo sie die kühle Herbstluft tief einsog. »Alles klar?«, fragte Lars. »Geht schon. Für einen Moment habe ich mir Sorgen gemacht, der Tote könnte eine ansteckende Krankheit haben und ich würde sie mit nach Hause zu meinen Kindern schleppen«, sagte Henrike nachdenklich. »Ist doch alles ausgerottet, die Seuchen, meine ich.« Lars klopfte ihr beschwichtigend auf die Schultern. »Hast ja recht, war nur ein schwacher Moment …« »Den ich ganz selten bei dir erleben darf.« »Und das ist auch gut so, denn eine Mimose bei der Kripo taugt nichts.« »Dann lass uns denjenigen befragen, der ihn entdeckt hat.« »Daraus wird heute nichts, der Mann ist vorhin zusammengeklappt, und der Arzt hat ihm eine Spritze sowie absolute Ruhe verpasst. Wir bestellen ihn am besten morgen ins Kommissariat.« »Einverstanden. Die Kollegen sollen die anderen Vogelkundler befragen. Ich mache mich auf den Weg nach Hause. Die letzte Nacht war anstrengend.« Lars gähnte laut. Henrike verdrehte die Augen. »Du und deine Frauengeschichten. Ich will nichts davon hören.« Lars grinste sie übermütig an und winkte ihr im Weggehen zu. Weit kam er nicht, denn eine weibliche Stimme rief laut seinen Namen. »Kommissar Henkel? Hallo?« Er erkannte die Stimme sofort, und ein Lächeln machte sich auf seinem Gesicht breit. Seine Augen suchten die gaffende Menge ab, die ungeduldig hinter der Absperrung verharrte. »Hier.« Ihr Anblick hob sich atemberaubend von den anderen Passanten ab. Die hochgewachsene Frau mit den schulterlangen Haaren erwiderte warmherzig sein Lächeln und zog ihn wie ein Magnet an. Ihre Kleidung war eindeutig nicht für einen sonntäglichen Spaziergang ausgewählt, denn der leuchtend rote 13 09.04.15 11:04 Mantel und die hochhackigen Stiefel passten eher zu einem Stadtbummel. »Yvonne Grüner, welch Überraschung, Sie hier zu sehen«, begrüßte er sie und reichte ihr die Hand. »Die Freude ist ganz auf meiner Seite«, hauchte sie ihm entgegen und gewährte ihm länger als nötig die Hand, die er gern umschlossen hielt. Die beiden sahen sich tief in die Augen und dachten im selben Moment an die Nacht zurück, die sie leidenschaftlich miteinander verbracht hatten. Es war bei diesem einen Mal geblieben, denn schnell hatte Lars das wahre Wesen von Yvonne Grüner erkannt: zielstrebig, eiskalt, karrieregeil. Deshalb hielt er das »Sie« für angebrachter als beim persönlichen »Du« zu bleiben. »Was treibt Sie denn hierher?«, fragte er scheinheilig und entlockte ihr ein einnehmendes Lächeln. »Die Arbeit natürlich, Herr Kommissar.« »Ist denn die Zeitung für morgen nicht schon längst im Druck?« »Bei so einer wichtigen Geschichte wird der Druck sofort gestoppt, das ist doch selbstverständlich.« Lars war auf der Hut, er wusste, Yvonne Grüner würde alle Mittel benutzen, um ihm Informationen zu entlocken. »Es gibt aber noch nichts zu berichten«, brummte er. »Das kann doch nicht sein, ich habe Sie vorhin gesehen, wie Sie bei der Leiche standen. Die Polizisten munkeln, dass sie gruselig aussieht. Erzählen Sie doch mal.« Die Gaffer um die beiden herum verstummten und lauschten unverhohlen dem Gespräch. Lars spürte die knisternde Spannung unter der Meute, die ungeduldig mit den Füßen scharrte, bereit, sich auf sensationelle Neuigkeiten zu stürzen. Lars ließ sich davon nicht beeindrucken, tippte sich zum Gruß an die Stirn und drehte Yvonne Grüner und den Schaulustigen den Rücken zu, um wortlos von dannen zu ziehen. Die Enttäuschung in seinem Rücken überschlug sich wie eine brechende Welle und erreichte ihn mit leisen Beschimpfungen und enttäuschten Ausrufen. 14 Rohde_Löwenbrut_06.indd 14-15 Yvonne Grüner zeigte sich amüsiert über seine Reaktion. »Na warte, Lars, so leicht entkommst du mir nicht«, flüsterte sie drohend. Der ältere Mann neben ihr blickte sie neugierig an und zog seine Augenbrauen in die Höhe. Sie schenkte ihm ihr schönstes Lächeln, während sie sich schwungvoll abwandte und einen leichten Hauch ihres Parfüms zurückließ. Währenddessen verdammte Lars zum wiederholten Male diesen Tag und stieg in sein Auto, um nach Hause zu fahren. Er brauchte dringend eine Mütze Schlaf, denn ab morgen würde eine Menge Arbeit auf ihn zukommen. Die Arbeit schreckte ihn nicht, vielmehr die Aussicht, die Journalistenmeute am Hals zu haben, zudem seinen cholerischen Chef und einen Mordfall, der ihn voraussichtlich mehr beschäftigen würde, als ihm lieb war. 15 09.04.15 11:04 Zwei »›Grausiger Leichenfund in Riddagshausen. Ist die Polizei mit dem Fall überfordert?‹« Wütend knallte Walter Kimmich die Zeitung auf den Schreibtisch. »Ist doch nur ein Käseblatt«, kommentierte Lars achselzuckend. »Die Braunschweiger Nachrichten lesen eine Menge Leute, denen wird das Frühstücksei im Hals stecken bleiben.« »Mir egal.« »Lars!«, brüllte Kimmich und lief rot an. Beschwichtigend hob Lars die Hand und überflog den Artikel. Wie vermutet wusste die Presse zurzeit noch weniger als die Polizei, vermochte dennoch dies geschickt zu kaschieren und am Ende des Artikels Fragen zu stellen, die ihn beunruhigten: Läuft ein Verrückter umher? Müssen wir uns bedroht fühlen? Was tut die Polizei zu unserer Sicherheit? Der Artikel war mit den Initialen YG gekennzeichnet. Yvonne Grüner. Natürlich hatte die Zeitung die ehrgeizigste Reporterin auf die Geschichte angesetzt. Lars seufzte. Wie befürchtet entwickelte sich die neue Woche nicht nach seinem Geschmack. Kimmich stand zur Salzsäure erstarrt vor Lars’ Schreibtisch. Lars musterte ihn. Mit Mitte vierzig, Bluthochdruck und seinen cholerischen Anfällen konnte es durchaus passieren, dass er ihm irgendwann an die Gurgel sprang. Oder besser noch vorher aus dem Fenster. Der Gedanke amüsierte ihn. »Was gibt es da zu grinsen?«, blaffte Kimmich ihn an. Sein grau werdender Schnurrbart hüpfte dabei auf und ab. »Nichts, Chef.« »Dann verrate mir doch, was ihr gedenkt in der Sache zu unternehmen. Ich habe keine Lust, nachher unwissend vor die Presse treten zu müssen.« »Um zehn Uhr ist der Vogelkundler hier, der die Leiche entdeckt hat«, antwortete Lars leicht genervt, »den befragen 16 Rohde_Löwenbrut_06.indd 16-17 wir als Erstes. Dann brauchen wir unbedingt die Ergebnisse der Rechtsmedizin. Die einzig brauchbaren Hinweise liefert uns die Leiche. Das Holz von dem Gestell, auf dem sie festgebunden war, wird gerade untersucht, ob es vielleicht aus einem Baumarkt in der Nähe stammt, ebenso die Pflastersteine, mit denen es beschwert war.« Kimmich beruhigte sich ein wenig. »Haltet mich auf dem Laufenden. Wenn es etwas Neues gibt, will ich Bescheid wissen.« Erhobenen Hauptes rauschte er aus dem Büro. Lars rutschte tiefer in seinen Stuhl und atmete langsam aus. »Na, ersten Einlauf gut überstanden?« Froh gelaunt kam Henrike ins Büro. Ihre schlanke Figur steckte in engen Jeans und einem körperbetonten Rollkragenpullover. Lars hatte sich am Anfang ihrer dienstlichen Beziehung einmal bei dem Gedanken erwischt, wie es wohl wäre, mit einer sechzehn Jahre älteren Frau Sex zu haben. Die Idee schien ihm immer noch nicht abwegig, wenn auch in weite Ferne gerückt. Mit seinem Partner fing man eben nichts an. »Sag mal, wen willst du denn mit deinem sexy Outfit beeindrucken?« »Na, dich Jungspund bestimmt nicht«, lachte sie herzhaft, »vielleicht den Vogelkundler.« »Wie heißt der eigentlich?« »Sein Name ist Luca Voigt.« »Luca?« »Luca ist so ein neumodischer Name. Wenn du in die Geburtenanzeigen der Braunschweiger Nachrichten siehst, findet sich der Vorname dort sehr häufig.« Henrike schnalzte mit der Zunge. »Na, wie dem auch sei, der Mann ist einundfünfzig Jahre alt und verheiratet. Eine kinderlose Ehe.« »Einundfünfzig Jahre und ein neumodischer Name?« »Der Mann war seiner Zeit voraus.« Henrike ignorierte das breite Grinsen von Lars. »Gemeinsam bewirtschaften die beiden einen kleinen Bauernhof, auf dem sie Enten und Hühner züchten. Alles Bio natürlich. Seine Frau Johanna verkauft das Fleisch und hausgemachte Delikatessen in ihrem kleinen Hofladen. Zudem führt Luca Voigt sonntags Vogelinteressierte durch das 17 09.04.15 11:04 Naturschutzgebiet in Riddagshausen. Er und seine Frau sind bei uns unbeschriebene Blätter.« »Aha, sogenannte unbescholtene Bürger, die haben immer etwas zu verbergen.« Henrike legte die Informationen, die sie am Morgen gesammelt hatte, vor Lars auf den Tisch. »Dann bin ich gespannt, ob du Herrn Voigt seine Geheimnisse entlocken kannst.« Der große, grobschlächtige Mann saß wie ein Häufchen Elend zusammengesunken auf dem viel zu kleinen Stuhl. Die prankenhaften Hände lagen gefaltet auf dem Tisch, sein Blick ruhte auf ihnen, nur ab und zu schüttelte er den Kopf. Lars beobachtete ihn eine Weile durch das kleine Sichtfenster in der Tür. Es war bereits einige Minuten nach zehn Uhr, mit Absicht ließ er den Mann zappeln, um herauszufinden, ob er unruhig oder gar nervös wurde. Ein untrügliches Zeichen, dass er etwas zu verbergen hatte. Aber nichts dergleichen zeichnete sich ab, sodass Lars schwungvoll in den kahlen Raum eintrat. Der Hüne von Mann schreckte zusammen und sah ihn beinahe verängstigt an, seine Augen waren gerötet, so als ob er vor Kurzem geweint hätte. Lars ließ sich ihm gegenüber am Tisch nieder, packte den mitgeführten Ordner auf die Tischplatte und hielt eine Sekunde stumm den Blickkontakt. Dann schlug er bedächtig langsam den Ordnerdeckel auf, blätterte durch die abgehefteten Seiten und räusperte sich. »So, Herr Voigt«, begann er das Gespräch, »da haben Sie ja gestern eine aufregende Entdeckung gemacht.« Voigt starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. »Wie, wie mei… mein… meinen Sie das?« Seine Unterlippe zitterte leicht. Lars merkte, sein forscher Ton würde ihm nicht unbedingt weiterhelfen. Rasch änderte er seine Taktik. »Na, da habe ich mich falsch ausgedrückt«, fuhr er einfühlender fort, »das muss ein gehöriger Schreck für Sie gewesen sein, den Leichnam statt der erhofften Vögel zu sehen.« Die angespannten Schultern seines Gegenübers sackten 18 Rohde_Löwenbrut_06.indd 18-19 erleichtert hinab, und die Verunsicherung in seinem Gesicht verschwand. »Das können Sie laut sagen. Mir ist der Schreck in die Glieder gefahren. Wissen Sie, wenn das Wasser aus dem Mittelteich im Herbst abgelassen wird, um die restlichen Fische herauszuholen, stehen vor allem Reiher Schlange.« Das Gesicht von Voigt strahlte. »Wie ruhig die Vögel auf ihre Chance warten und dann blitzschnell zuschlagen. Phantastisch.« Er geriet ins Stocken. »Und dann habe ich den aus dem Wasser ragenden Arm entdeckt. Durch mein Fernglas hatte ich ein gestochen scharfes Bild. Grausam.« Lars beobachtete ihn genau. Bei der beeindruckenden Statur hätte er nicht einen solch ängstlichen Mann erwartet. Vielleicht schauspielerte er nur? »Stehen Sie jeden Sonntag oben auf dem Aussichtsturm?« »Natürlich. Ich mache das seit Jahren und habe nur einmal wegen Krankheit absagen müssen.« Voigts Augen leuchteten hell. »Es ist jedes Mal spannend, eine Vogelart zu entdecken, die nur selten zu sehen ist. Dass die Vögel hier überhaupt Rast machen, verdanken wir den Zisterziensermönchen, die die Teiche vor über neunhundert Jahren künstlich angelegt haben.« »Wie weit weg ist eigentlich Ihr Bauernhof vom Tatort?« Voigt starrte Lars bewegungslos an. »Was tut das zur Sache?« »Nur aus Interesse. Eine Bekannte hat mich im Sommer genötigt, einen Sonntagsspaziergang mit ihr an den Teichen zu machen. Ich kann mich nicht erinnern, einen Bauernhof gesehen zu haben.« Voigt lächelte Lars verständig an. »Unser Hof liegt etwas verborgen in einem kleinen Waldabschnitt. Im Übrigen könnte ich sonntagnachmittags einem Spaziergang um die Teiche auch nichts abgewinnen. Da wird man nahezu totgetreten.« Lars verspürte einen Anflug von Sympathie für den Mann. »Ist Ihnen gestern oder die Tage zuvor etwas Besonderes aufgefallen? War ein Fahrzeug in der Nähe? Hat sich jemand dort herumgetrieben, der auffällig war?« Voigt überlegte einen Moment und schüttelte den Kopf. »Gut, wenn Ihnen noch etwas einfällt, melden Sie sich.« Lars reichte Voigt seine Visitenkarte. 19 09.04.15 11:04