Brückenschlag zwischen den Kulturen

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Brückenschlag zwischen den Kulturen
S C H W E R P U N K T | G e m e in w e s e n a r b e i t
NR.6_JUNI 2010 | SOZIALAKTUELL
Brückenschlag in Oerlikon
Text: Sibylle Mani
Das Kooperationsprojekt «… ich bin
auch einE OerlikerIn» ist ein Versuch,
die Barrieren zwischen den verschiedenen Kulturen im urbanen Zürich-Oerlikon aufzubrechen und die Vielfalt des
Quartiers zum Leben zu erwecken. Das
Projekt brachte einen Stein in Richtung
mehr Lebensqualität im Quartier ins
Rollen. Eine Zwischenbilanz.
Oerlikon ist eines der boomenden Zürcher Stadtquartiere. Rund 20 800 Menschen leben im Quartier, 7150 (34,4%)
von ihnen sind AusländerInnen aus insgesamt über neunzig Nationen. Verschiedene Projekte, so etwa ein monatlicher
«Weltmarkt» auf dem zentral gelegenen
Marktplatz von Oerlikon, setzen positive
Zeichen für ein Zusammenleben der verschiedenen Kulturen. Bis anhin bemühen
sich die traditionellen Gruppierungen in
Oerlikon jedoch kaum um eine aktive
Öffnung zur Migrationsbevölkerung.
Auf der anderen Seite organisieren sich
viele MigrantInnen-Gruppen ganz in sich
geschlossen und beteiligen sich wenig
am Quartierleben. Ein gegenseitiger Austausch zwischen SchweizerInnen und
MigrantInnen ist kaum spürbar. Das Nebeneinander läuft meistens reibungslos,
bis zu einem integrativen Lebensstil ist es
jedoch noch ein langer Weg.
Projektidee und Projektziele
Diese Kluft zu überwinden, ist das An­
liegen des Projektes «… ich bin auch einE
OerlikerIn», welches das TEZET Quar-
Sibylle Mani
ist im TEZET Quartierzentrum Oerlikon zuständig für
Quartier- und Projektarbeit.
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«… ich bin auch einE OerlikerIn»: Wo sich kurdische
Gitarrenlieder und Hip-Hop treffen
tierzentrum Oerlikon vergangenes Jahr
gemeinsam mit dem Quartierverein Oerlikon und der Gewerkschaft Syna startete. Das Projekt soll eine gesellschaftliche,
soziokulturelle Integration der sprachlich-ethnischen Minderheiten der Oerliker Bevölkerung in das Quartier ermöglichen. Konkret bestehen folgende längerfristige Ziele:
• Die Kommunikation und die Kom­
munikationsstrukturen zwischen der
schweizerischen und der nicht schweizerischen Wohnbevölkerung sowie
zwischen den verschiedenen Sprachgruppen sind aufgebaut und werden als
lebendiger Prozess laufend gefördert.
• Das soziale Zusammenleben der verschiedenen Sprach- und Kulturgruppen
ist aktiv und zukunftsgerichtet gestaltet.
• Die Wohnbevölkerung nimmt vermehrt am Quartierleben teil.
• Massnahmen zur nachhaltigen Sicherung einvernehmlichen Zusammenlebens der Bevölkerung sind erarbeitet
und umgesetzt.
Sprache als Kriterium
In Oerlikon sind über neunzig verschiedene Nationalitäten und Sprachen an­
zutreffen. Obschon geringe Deutschkenntnisse nicht unbedingt mit sozialer
Isola­tion gleichzusetzen sind, spielen
sprachliche Kompetenzen eine zentrale
Rolle im gesellschaftlichen Leben. Daher
hat sich die Trägerschaft entschieden, für
dieses Projekt die Zielgruppen anhand
der statistischen Daten zu den grössten
Sprachgruppen in Oerlikon festzulegen.
Neben der (Schweizer-)Deutsch sprechenden Bevölkerung sind darin nun
­folgende Sprachgruppen vertreten:
• Portugiesisch
• Türkisch
• Albanisch
• Englisch
• Französisch
• Arabisch
Im Bewusstsein, dass sich die gesteckten
Ziele nur in einem längerfristigen Kon-
text und in einem fortlaufenden Prozess
erreichen lassen, entschied sich die Trägerschaft, das Projekt in einem FlowingProzess anzugehen. Der Start des interkulturellen Austauschs «… ich bin auch
einE OerlikerIn – Wir bauen Brücken
zwischen den Kulturen» wurde auf September 2009 festgelegt. An diesem
Abend sollten der aktuelle Bedarf und bestehende Anliegen der Zielgruppen abgeklärt werden. Je nach den Ergebnissen
der Veranstaltung sollte zudem in Absprache mit den Anwesenden entschieden werden, ob und in welcher Form das
Projekt weiterverfolgt wird.
Die Umsetzung kann beginnen!
Um die Zielgruppen zu erreichen, wurden zwei Wege gewählt. Zum einen
wurde die Einladung in den verschiedenen Sprachen an alle Migrationsvereine
der Stadt Zürich verschickt. Zum andern
wurden Gespräche mit Personen der verschiedenen Migrationsgruppen geführt.
Der Besitzer des Kebab-Ladens, die Angestellten des iranischen Reisebüros, der
türkische Schneider – sie alle und noch
weitere Angehörige der Zielgruppe erhielten auf persönlicher Ebene Informa­
tionen zum Abend des kulturellen Austausches sowie eine Einladung. Zudem
wurden die bestehenden Kontakte der
Trägerorganisationen zu der Quartierbevölkerung in Oerlikon genutzt.
Nach einer viermonatigen intensiven Vorarbeit fand im September 2009 die Veranstaltung «Interkultureller Austausch»
statt – ein voller Erfolg: Angemeldet hatten sich zwanzig Personen, letztlich kamen aber gut fünfzig. Und das Publikum
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war bunt gemischt: Neben Frauen, Männern und Kindern aus einem Dutzend
Ländern fanden sich auch VertreterInnen
des Turnvereins, des Männerchors und
der Jugendmusik ein.
Die anfänglich zurückhaltende Stimmung wurde durch den vielfältigen kulturellen Einstieg – vom klassischen japanischen Tanz über kurdische Gitarrenlieder bis zu einer Hip-Hop-Darbietung –
aufgelockert. Anschliessend wurde in
Gruppen das Wissen betreffend kultur-
Soziokulturjoker
Temporäre Unterstützung auf
Profiniveau
Politische Gemeinden und Kirchgemeinden stehen oft vor der Schwierigkeit, Stellen in der offenen Jugendarbeit mit geeignetem Fachpersonal zu besetzen. Vor sechs Jahren entwickelten
die beiden Träger «Teampuls Futuremanagement Stäfa» und «Schule für Diakonie» deshalb
das Dienstleistungsangebot Jugendjoker. Das
Angebot hat sich gut etabliert, bis jetzt fanden
27 Einsätze statt.
Nicht nur in der Jugendarbeit, sondern im gesamten Bereich der Soziokultur stellt sich das
Problem von Stellenvakanzen oder von zeitlich
begrenztem Know-how-Bedarf. Der Jugendjoker
wurde deshalb um den Soziokulturjoker erweitert. Dieser kann in der Gemeinwesenarbeit, für
Quartierprojekte oder in Gemeinschaftszentren
eingesetzt werden. Als Jugend- und SoziokulturjokerInnen werden Fachleute der Sozialarbeit,
Sozialpädagogik und Soziokulturellen Animation
beschäftigt. Sie stehen für kurz- und mittelfris­
tige Einsätze zur Verfügung. Während drei bis
neun Monaten gewährleisten sie die kontinuierliche Weiterführung der Arbeit gemäss den Vorstellungen des/der AuftraggeberIn. Sie nutzen
diese Übergangszeit zudem, um das laufende
Konzept zu überprüfen oder eine Situations­
analyse vorzunehmen. mw
> www.soziokulturjoker.ch
verbindender Bemühungen sowie eventueller Mängel in Oerlikon ausgetauscht.
Trotz sprachlichen Schwierigkeiten wurde das gemeinsame Nachtessen für bilaterale Gespräche rege genutzt. Die anwesenden ÜbersetzerInnen wurden kaum
in Anspruch genommen.
Im letzten Teil der Veranstaltung wurden
Ideen und Anliegen gesammelt und im
Plenum vorgestellt. Nach der Priorisierung der Ideen entschieden die Anwesenden, ein zweites Treffen zu vereinbaren,
um die Ideen zu konkretisieren. Nach
Kaffee und Kuchen löste sich die Gruppe
langsam auf.
Fortsetzung folgt
Obschon deutlich weniger Personen das
Folgetreffen im November 2009 besuchten, nutzten die Anwesenden die Zeit sehr
angeregt zur Weiterentwicklung der Ideen.
Folgende fünf Ideen wurden konkretisiert
und werden bis heute weiterbearbeitet:
Die StrickerInnen von Oerlikon
Zwei Frauen wollen ihre Leidenschaft für
das Stricken in einem regelmässigen
Strick-Treff mit anderen Frauen aus verschiedenen Kulturen teilen. Längerfristig
gesehen sollen die Stricksachen verkauft
werden, damit die Frauen einen kleinen
Verdienst erlangen können.
Interkulturelle Öffnung des Vereins­konvents
Oerlikon
Mit dem Ziel, einen besseren Zugang
der Migrationsgruppierungen zu ermöglichen, ergänzt der Quartierverein Oerlikon seine Adresskartei mit allen Migra­
tionsvereinen und Gruppierungen in
Oerlikon. Weitere Massnahmen sind
noch in Bearbeitung.
Kaffee-Tasse
Eine Frauengruppe einer arabischen
Schule in Oerlikon organisiert zusammen mit dem TEZET Oerlikon ein Bildungs- und Begegnungsprojekt. Das
­Angebot richtet sich einerseits an die
Lehrkräfte der Schule und anderseits an
die Mütter der Schulkinder.
Bei Kaffeehaus-Atmosphäre werden mit
Fachpersonen für die mehrheitlich bildungsfernen arabischen Mütter Veranstaltungen zu Themen wie «Das Schweizer Schulsystem», «Kindererziehung»,
«Gesundheit»,
«Rechte/Frauenrechte»
durchgeführt. Veranstaltungen zum Austausch mit Schweizer Frauen werden in
einer zweiten Projektphase angegangen.
Für die LehrerInnen der arabischen Schule findet ein regelmässiger Austausch mit
Lehrkräften aus der Schweiz statt. Ziel ist
das Kennenlernen des Schweizer Schulsystems, der grundlegenden pädagogischen Haltung und weiterer Themen des
Schweizer Bildungswesens.
Fest der Kulturen
2010 wird eine Veranstaltung zur Begegnung der verschiedenen Kulturen aus
Oerlikon geplant. Beinahe zeitgleich ist
die Idee der grossen Veranstaltung summerfäscht oerlikon von anderen Organisa­
tionen für 2011 entwickelt worden. In
Anbetracht der Nutzung von Synergien
und Ressourcen wäre ein Zusammenspannen der Vorhaben sehr sinnvoll. Diese Idee wird zurzeit mit den Betroffenen
überprüft.
Beratungsangebote
Die Gewerkschaft SYNA plant ein niederschwelliges, mobiles Beratungsangebot im TEZET und im Quartier. Mit einer
Schreibmaschine und einem Drucker
werden sporadische Open-Air-Büros im
Park, auf dem Marktplatz oder an anderen öffentlichen Orten installiert. Die
Menschen können sich spontan zu Themen wie Arbeit, Wohnung, Versicherungen beraten lassen.
Eine Zwischenbilanz
In der momentanen Situation lassen sich
folgende Schlussfolgerungen ziehen und
Massnahmen definieren:
Zur Ausgangslage
Zu Projektbeginn bestand kein akuter
Handlungsbedarf betreffend das Zusammenleben der verschiedenen Zielgrup37
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pen. Die Trägerorganisationen waren
sich jedoch einig, das Thema präventiv
anzugehen. Da kein offensichtlicher Leidensdruck vorhanden war, stellte sich die
Frage, wie motiviert und engagiert die
Bevölkerung sich dem Thema gegenüber
verhalten würde.
Sprachliche Vielfalt
Die Einladung für den interkulturellen
Austausch wurde in die ausgewählten
Sprachen übersetzt. Dank dem grossen
zeitlichen Aufwand öffneten sich dadurch einige Türen. Die zusätzlichen
«Bemühungen» wurden von den Zielgruppen sehr geschätzt.
Vorschau
Die Themenschwerpunkte
der nächsten Ausgaben
Nr. 7–8/2010: Politische Soziale Arbeit:
fünf Jahre AvenirSocial
Redaktionsschluss: 20. Mai
Inserateschluss: 10. Juni
Nr. 9/2010: Jugendgewalt
Redaktionsschluss: 20. Juli
Inserateschluss: 10. August
Nr. 10/2010: Arbeitsbedingungen in der
Sozialen Arbeit
Redaktionsschluss: 20. August
Inserateschluss: 10. September
Nr. 11/2010: Armut und soziale Ausgrenzung
Redaktionsschluss: 20. September
Inserateschluss: 10. Oktober
Nr. 12/2010: Schulsozialarbeit
Redaktionsschluss: 20. Oktober
Inserateschluss: 10. November
Nr. 1/2011: Sexualität
Redaktionsschluss: 20. November
Inserateschluss: 10. Dezember
Kontakt: [email protected]
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Kontakte knüpfen – Vertrauen aufbauen
Dank der Vorarbeit, nämlich den diversen direkten Kontakten und Gesprächen,
wurde die Basis für eine vertrauensvolle
Zusammenarbeit geschaffen. Vertrauen
spielt für den Erfolg eines Integrationsprojekts eine entscheidende Rolle. Dieses
Vertrauen wächst nur langsam und basiert auf regelmässigen gemeinsamen
Aktivitäten, Begegnungen, Gesprächen
etc. Diese Art von Beziehung aufzu­
bauen, braucht viel Zeit, und sie kann
nicht mit einem einzelnen Anlass erreicht
werden. Demzufolge ist das vorliegende
Projekt klar als erster Schritt in diesem
langfristigen Prozess zu betrachten.
Die Konstellation der Projektorganisation
Die Trägerorganisationen haben bewusst
entschieden, sich in einem ersten Schritt
auf eine kleine, eher homogene Zusammensetzung der Trägerschaft zu konzentrieren. Man wollte zuerst mal den Bedarf bezüglich des Themas klären und
erst dann wenn nötig die Trägerschaft
ausweiten. In Anbetracht der überschaubaren Grösse der Projekte hat sich bis
heute nichts an der Trägerschaft verändert. Selbstkritisch zu bemerken ist, dass
vorerst unklar bleibt, in welchem Mass
die Trägerorganisationen wirklich bereit
sind, in einer multikulturellen Organisa­
tionsform zu arbeiten – wie offen die
Fachleute und die Trägerorganisationen
sein werden für die Ideen und Anliegen
der Zielgruppe, auch wenn diese nicht in
die Bilder der sogenannten «Leitkultur»
passen.
Aktueller Projektstand und Ausblick
Die Projekte stehen in verschiedenen
Entwicklungsphasen. Die einen gleichen
einem zarten Setzling, andere sind bereits zu einem jungen Baum herange-
wachsen. Wenn es gelingt, die Projekte
zu kräftigen Bäumen weiterzuentwickeln,
wird sich in Oerlikon bezüglich eines zukunftsweisenden transkulturellen Zusammenlebens in nächster Zeit doch einiges bewegen.
Bereits in dieser Phase können einige
Teilerfolge ausgewiesen werden. Die geknüpften Kontakte, die Durchführung
der Startveranstaltung, die Motivation
der Beteiligten sowie die Zusammenarbeit der Trägerschaft zählen dazu. Die
Vielfalt der Projektideen kann als ebenso
erfreulich bezeichnet werden wie der
­geknüpfte Zugang zu mehrheitlich bildungsfernen arabischen Frauen aus dem
Quartier.
Bis zum Erreichen der gesteckten Ziele
von «…ich bin auch einE OerlikerIn» ist
jedoch noch ein langer Weg zu gehen.
Um diesen Weg erfolgreich beschreiten
zu können, ist grosser Durchhaltewille
nötig sowie Mut zu unbekannten Methoden und die Fähigkeit, mit Unsicherheit und Leere einen kreativen Umgang
zu finden.
Neugier – Schlüssel zur Veränderung
Wer sich mit verschiedenen Kulturen auf
eine Reise macht, muss bereit sein, sich
auf ein Abenteuer einzulassen. Denn die
einen wollen mit dem Schnellzug reisen,
die andern mit dem Velo, die Dritten mit
dem Flugzeug und die Nächsten mit dem
Auto. Nebst dem Koordinieren der verschiedenen Tempi geht es darum, mit
den verschiedenen Sprachen, kulturellen
Codes und Verhaltensweisen sowie gegenseitigen Vorurteilen einen gangbaren
Weg zu finden. Dabei ist es zentral, die
Vielfalt als Chance und nicht als Risiko
wahrzunehmen und auch zu nutzen.
Dieser Weg ist kein leichter, aber voller
Überraschungen und neuer Entdeckungen. Im Wissen um die menschliche Neugier wird das Projekt «… ich bin auch
einE OerlikerIn» längerfristig die Vielfalt
der OerlikerInnen spür- und sichtbarer
machen – denn Neues ist möglich durch
uns!
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Links
> www.tezet-oerlikon.ch
> www.stadt-zuerich.ch/integration
> www.gz-zh.ch
> www.stadt-zuerich.ch/quartierspiegel/oerlikon