Fabeln des Äsop in Fraktur

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Fabeln des Äsop in Fraktur
Fabeln des Äsop
in Fraktur
SCHULE DES LESENS
Der Fuchs und der Holzfäller
Ein Fuchs floh vor den Jägern. Er war lange im Wald herumgelaufen, als er schließlich auf einen
Holzfäller traf. Flehend bat der Fuchs den Mann, dass er ihn doch bei sich verstecke. Der Holzfäller zeigte
ihm seine Hütte, in die der Fuchs gleich hineinlief. Dort verkroch er sich in einer Ecke.
Später kamen Jäger und fragten den Holzfäller nach dem Fuchs. Der sagte zwar, dass er nichts von einem
Fuchs wisse, mit der Hand zeigte er aber zum Versteck in der Hütte. Die Jäger jedoch hatten es nicht bemerkt
und machten sich wieder auf den Weg.
Nun kam der Fuchs aus seinem Versteck und lief wortlos am Holzfäller vorbei. Dieser wollte wissen,
warum sich der Fuchs nicht bei ihm bedankte. Da antwortete der Fuchs: „Ich würde dir schon danken, wenn
du das, was du sagst, auch wirklich meintest.“
Die Fabel ist für diejenigen geschrieben, die immer nur sagen, was recht ist, sich selbst aber nicht daran
halten.
Der Vogelfänger und die Schlange
Ein Vogelfänger nahm seinen Leim und einige Rohre und ging damit ins Freie, um Vögel zu fangen. Im
Wipfel eines Baumes bemerkte er eine Drossel. Also steckte er die Rohre der Länge nach zusammen. Dabei
behielt er den Vogel ständig im Auge. So trat er unvorsichtigerweise auf eine Schlange, die vor ihm im Gras
lag. Darüber wütend geworden, biss ihn die Schlange ins Bein. Sterbend klagte der Vogelfänger: „Ach, da
wollte ich jemand anderen vernichten und gehe nun selber zu Grunde.“
Die Fabel lehrt: Wer einem Mitmenschen etwas Böses tun will, muss oft genau dasselbe von anderer
Seite ertragen.
Der herrenlose Hund
Ein Hund, der zu keinem Herren gehörte, zitterte im Winter erbärmlich vor Kälte. In einer Höhle rollte er
sich zusammen und sprach zu sich selbst: „Im Sommer, wenn es wieder warm ist, will ich mir ein Haus
bauen. Dann muss ich nicht mehr Kälte leiden, wenn der nächste Winter kommt.“
Im folgenden Sommer aber war es angenehm warm, und der Hund hatte bald seine guten Vorsätze
vergessen. Alle Viere von sich gestreckt, lag er da, blinzelte in die Sonne und dachte keine Sekunde daran,
sich jetzt ein Haus zu bauen.
Der nächste Winter war jedoch so kalt, dass der Hund erfrieren musste.
Der Wolf und der Kranich
Ein Wolf hatte ein Schaf erbeutet und verschlang es so gierig, dass ihm ein Knochen im Rachen
steckenblieb.
In seiner Not versprach er demjenigen eine große Belohnung, der ihm den Knochen aus dem Hals zieht.
Ein Kranich kam vorbei und half dem Wolf, indem er seinen langen Hals in den Rachen des Wolfes
steckte. Er zog den Knochen heraus und forderte dann die versprochene Belohnung.
Da höhnte der Wolf: Sei doch froh, dass ich dir nicht den Kopf abgebissen habe. Verschwinde!
Aus dieser Fabel lernt man, dass man zwar helfen soll in der Not, sich aber keine Belohnung erwarten
darf.
Der Adler und die Dohle
Ein Adler kreiste hoch am Himmel, erblickte ein Lamm und stürzte sich darauf. Mit seinen Krallen packte
er das arme Tier. Dann hob er sich, als spürte er das Gewicht des Lammes gar nicht, wieder in den Himmel
empor und schwebte mit seiner Beute durch die Lüfte davon.
Eine Dohle hatte das grausame Schauspiel beobachtet. Beeindruckt von der Kraft des Adlers, wollte sie
es ihm gleichtun. Sie flog zu einem Widder und setzte sich auf seinen Rücken. Ihn davontragen konnte sie
nicht, sosehr sie sich auch bemühte. Im Gegenteil: Die Dohle verfing sich in der dichten Wolle des Widders
und war gefangen.
Das wiederum sah ein Hirte. Schnell sprang er herbei, packte den Vogel und stutzte ihm die Flügel. Dann
brachte er die Dohle seinen Kindern zum Spielen.
„Was für ein Vogel ist das?“, fragten seine beiden Buben, die sich sehr über das Geschenk freuten. „Vor
einer Stunde noch glaubte er, ein Adler zu sein“, antwortete ihr Vater, „jetzt weiß er wieder, dass er nur eine
arme Dohle ist.“
Wer seine Kräfte überschätzt, darf sich nicht wundern, wenn er versagt und noch dazu ausgelacht wird.
Der Ochsentreiber und Herkules
Ein Ochsentreiber hatte seinen Wagen schwer mit Holz beladen und fuhr damit nach Hause. Da blieb der
Wagen im Schlamm stecken.
Der Mann tat nichts, um sich zu befreien. Er blieb ruhig sitzen und bat alle Götter, ihm doch zu helfen.
Besonders aber Herkules, der für seine Körperkraft berühmt war.
Der war sogleich zur Stelle und fuhr den Ochsentreiber scharf an: „Beweg deinen Hintern vom Wagen
und stemm dich kräftig dagegen. Schlag meinetwegen mit der Peitsche die Ochsen, damit sie dich aus dem
Dreck ziehen. Uns Götter aber flehe erst an, wenn du selbst etwas getan hast. Sonst kannst du lange nach
uns rufen.“
Der Esel auf Probe
Ein Mann kaufte sich einen Esel, wollte ihn aber erst nach einer Probezeit endgültig bei sich behalten.
Nachdem alles zur Zufriedenheit verhandelt war, kehrte er mit dem neuen Esel auf seinen Hof zurück. Dort
gab es schon einige Esel, die entweder noch bei der Arbeit waren oder schon gefüttert wurden. Der Bauer
band den neuen Esel los und ließ ihn frei herumlaufen.
Sofort machte dieser auf zur Futterkrippe und stellte sich zum gefräßigsten und faulsten Esel des ganzen
Hofes. Da nahm der Bauer seinen Strick, warf ihn dem Esel um den Hals und zog ihn zurück zu seinem
alten Besitzer.
„Das glaube ich nicht, du kannst den Esel nie und nimmer in so kurzer Zeit erprobt haben“, meinte der
Vorbesitzer.
„Was ich gesehen habe, ist Probe genug. Dein Esel muss ein faules Stück sein, wenn ich mir die Freunde
ansehe, die er sich aussucht.“
Der Fuchs und der Storch
Ein Fuchs lud einmal einen Storch zum Essen ein. Die köstlichsten Speisen stellte er seinem Gast hin,
allerdings nur auf ganz flachen Tellern. So konnte der Storch mit seinem langen Schnabel nichts fressen.
Der Fuchs dagegen schlang das Essen gierig hinunter. Zwischendurch wandte er sich an den Storch und
wünschte ihm einen guten Appetit, er solle es sich recht schmecken lassen.
Der Storch ließ sich seine Wut nicht anmerken, bedankte sich beim Fuchs und lud ihn freundschaftlich für
den nächsten Tag zu sich ein. Der schlaue Fuchs dachte, der Storch würde sich an ihm rächen, und lehnte
zunächst ab. Als der Storch aber weiterhin hartnäckig auf ihn einredete, nahm der Fuchs die Einladung
endlich an.
Am nächsten Tag erwarteten den Fuchs die herrlichsten Speisen. Nur war das Essen diesmal in Gefäßen
mit langen Hälsen abgefüllt. „Fühl dich wie zu Hause“, rief der Storch, „und lass es dir schmecken.“ Dann
schlürfte er mit seinem Schnabel das Essen in sich hinein. Der Fuchs aber leckte umständlich am Geschirr
und ärgerte sich maßlos. Besonders, als ihm der herrliche Duft der Speisen verlockend in die Nase stieg.
Schließlich stand er auf und gab zu, dass ihn der Storch für seine Gemeinheit angemessen bestraft hatte.
Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu.
Der Hund und das Schaf
Es gab einmal eine Zeit, da die Tiere mit den Menschen noch sprechen konnten. Damals sagte das Schaf
zu seinem Herrn: „Ich finde es ungerecht, dass du von uns Wolle und Käse bekommst, noch dazu die jungen
Lämmer als Leckerbissen. Wir jedoch erhalten nichts von dir und müssen unser Futter selber suchen. Deinen
Hund aber versorgst du gut. Sogar mit dem, was du selbst isst, obwohl du nichts von ihm bekommst.“
Diese Worte hörte auch der Hund, worauf er sprach: „Bei Gott, dass ich dich und deinesgleichen bewache,
zählt nicht? Ohne mich würdest du von Dieben gestohlen, von Wölfen zerfleischt werden. Du hättet keine
Ruhe mehr draußen auf der Wiese, wenn du sorglos herumläufst und die Gräser rupfst.“
Das sah auch das Schaf ein, und es verstand, warum der Hund besser behandelt wurde als es selbst.
Rabe und Fuchs
Ein Rabe flog mit einem gestohlenen Stück Käse auf einen Baum. Dort wollte er seine Beute ungestört
genießen. Nun müssen aber Raben dauernd krächzen, sogar wenn sie fressen.
Deshalb blieb der Rabe nicht unbemerkt. Ein Fuchs kam vorbei und redete den Vogel mit schmeichelnden
Worten an: "Was bist du, bester Rabe, für ein schöner Vogel! Wenn du nur halb so gut singen kannst, wie
deine Federn glänzen, dann sollst du der König aller Vögel zu sein.“
Das machte einen enormen Eindruck auf den Raben, sodass er gleich den Schnabel aufriss, um dem Fuchs
ein Lied zu singen. Der Käse aber fiel dabei auf die Erde. Schnell war der Fuchs zur Stelle und fraß ihn auf.
Schmatzend lachte er über den dummen Raben.
Der Löwe und das Mäuschen
Ein Mäuschen lief über einen schlafenden Löwen. Da erwachte der Löwe und fing das Mäuschen mit
seinen großen Tatzen.
„Es tut mir leid, wenn ich dich geweckt habe, jammerte das Mäuschen, „entschuldige die Störung und lass
mich bitte am Leben. Dafür werde ich dir mein Leben lang dankbar sein.“
„Wie soll das denn gehen“, wunderte sich der Löwe, „was kann eine kleine Maus wie du für mich jemals
tun?“ Aber der Löwe war gut aufgelegt, und deshalb ließ er das Mäuschen laufen.
Es dauerte nicht lange, da saß das Mäuschen in seinem Loch und hörte einen Löwen brüllen. Neugierig
geworden, wagte es sich aus der Erde und folgte dem Gebrüll.
Der Löwe, der das Mäuschen vor kurzem verschont hatte, hing gefangen in einem Netz und konnte sich
nicht mehr befreien. Da nagte das Mäuschen so lange an den Knoten, bis der Löwe das Netz mit seinen
Tatzen zerriss. So zeigte die kleine Maus dem König der Tiere ihre Dankbarkeit.
Hilf jedem, auch dem Geringsten, du könntest selbst einmal Hilfe brauchen.
Der Hund und das Fleisch
Ein großer Hund, der einem wehrlosen Hündchen ein Stück Fleisch weggenommen hatte, lief mit seiner
Beute über eine Brücke. Zufällig sah er ins stille Wasser hinab. Erschrocken blieb er stehen. Dort unten
war ein Hund, der gierig einen Brocken Fleisch zwischen den Zähnen hielt.
„Heute ist mein Glückstag“, grinste der Hund auf der Brücke, „der hat ja ein noch größeres Stück Fleisch
als ich.“
Sofort setzte er zum Sprung an und fiel über den Hund im Wasser her. Nach allen Seiten spritzte es auf,
doch der gierige Köter biss ins Leere. Dann blickte er sich um: von einem zweiten Hund keine Spur, er war
verschwunden.
Jetzt erst dachte er an das Fleisch, das er selbst erbeutet hatte. Auch das war weg. Noch lange tauchte er im
Wasser, allerdings vergeblich. In seiner Gier hatte er verloren, was ihm schon sicher war.
Diese Fabel soll denen eine Lehre sein, die immer mehr haben wollen.