Yasemin Dayıoğlu-Yücel - Universitätsverlag Göttingen

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Yasemin Dayıoğlu-Yücel - Universitätsverlag Göttingen
Yasemin Dayıoğlu-Yücel
Von der Gastarbeit zur Identitätsarbeit
erschienen in der Reihe der Universitätsdrucke Göttingen 2005
Yasemin Dayıoğlu-Yücel
Von der Gastarbeit zur
Identitätsarbeit
Integritätsverhandlungen in
türkisch-deutschen Texten von
Şenocak, Özdamar, Ağaoğlu und der
Online-Community vaybee!
Universitätsverlag Göttingen
2005
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
<http://dnb.ddb.de> abrufbar.
Abbildungsnachweis:
Zeichnung „Mercedes“ von Orhan Yücel
Broschüre „Wie geht man als Arbeiter nach Deutschland?“. Herausgegeben von der Türkischen
Anstalt für Arbeit und Arbeitsvermittlung, 1963. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des
DOMiT-Archivs, Köln
Screenshot vom Internetportal vaybee!, http://www.vaybee.de
Umschlaggestaltung: Margo Bargheer
© 2005 Universitätsverlag Göttingen
ISBN 3-938616-18-0
für Barış
Danksagung
An erster Stelle möchte ich meinem Doktorvater Prof. Dr. Horst Turk für die
jahrelange Förderung danken und dafür, dass er sich stets Zeit für meine Anliegen genommen hat und unermüdlich um die Verbesserung meiner wissenschaftlichen Arbeit bemüht war. Prof. Dr. Irmela von der Lühe hat mich sowohl jahrelang betreut und in meiner wissenschaftlichen Arbeit unterstützt als
auch die Aufgabe der Zweitgutachterin übernommen, wofür ich ihr danke.
Am German Department der UC Berkeley habe ich nicht nur meinen germanistischen Horizont erweitern können. Für ihre Unterstützung und Motivation
danke ich Prof. Dr. Anton Kaes, Prof. Dr. Hinrich Seeba und insbesondere
Prof. Dr. Deniz Göktürk, die mir einen neuen Zugang zur Migrationskultur in
Deutschland und Zugang zu ihrem Archiv ermöglicht hat. Von beidem konnte
diese Arbeit maßgeblich profitieren.
Für ihre jeweilige Unterstützung während meiner Promotionsphase – sei es
der wissenschaftliche Austausch, die kritische Revision oder andere wertvolle
Hinweise und Unterstützung – danke ich Prof. Dr. Nilüfer Kuruyazıcı, Prof.
Dr. Nilüfer Tapan, Prof. Dr. Tamcke, Sarah Bailey, Frauke Bergjohann, Orhan
Dayıoğlu, meinen Eltern Ayşe und Lütfi Dayıoğlu, Silke Göttmann, Torsten
Hoffmann, June Hwang, Simone Kiefer, Tilmann Köppe, Silke Lesemann,
vii
Danksagung
Renate Namvar, Seyhan und Kadir Öztürk, Karina Sliwinski, Ricarda Sohr,
Robert Stahr, Melanie Wepner, Birte Werner, Sibel Vurgun und Cornelia Zierau. Mein besonderer Dank gilt Nina Gülcher für die kritische Durchsicht des
Gesamtdokuments.
Die zu Teilen überarbeitete Druckfassung profitiert von den Ergebnissen eines
von Prof. Dr. Horst Turk und Dr. Andrea Albrecht geleiteten
Gemeinschaftsprojektes, das unter dem Titel Integrität als Sonderheft in den
Monatsheften für deutschsprachige Literatur und Kultur erschienen ist.1
Kapitel 6 zum Roman Die zarte Rose meiner Sehnsucht ist in ähnlicher Form in die
Gemeinschaftspublikation eingebracht worden.2 Für die Anregungen zur
Überarbeitung danke ich Dr. Andrea Albrecht.
Den Autoren Zafer Şenocak und Emine Sevgi Özdamar gilt mein Dank für
die Bereitschaft mit mir über ihre Texte – und anderes – zu diskutieren.
Dem Education Abroad Program (EAP) und der Fulbright-Kommission, die
mir den Studienaufenthalt in den USA ermöglicht haben, sei an dieser Stelle
ebenso gedankt wie der Stiftung Bildung und Wissenschaft im Stifterverband
für die Deutsche Wissenschaft für ihre finanzielle Unterstützung im Rahmen
eines Promotionsstipendiums, mit dessen Hilfe die schriftliche Ausarbeitung
dieses Projekts realisiert wurde.
Bei der Drucklegung hat mich Margo Bargheer vom Universitätsverlag
Göttingen unterstützt. Das DOMiT-Archiv hat den Abdruck einer Broschüre
auf dem Titelblatt genehmigt und Orhan Yücel hat die Zeichnung „Mercedes“
entworfen. Ihnen allen herzlichen Dank.
Monatshefte für deutschsprachige Literatur und Kultur. Special Issue: Integrität. Hgg. v. Hans
Adler/Andrea Albrecht/Horst Turk. 97 (2005) 2.
2 Vgl. Yasemin Dayioglu-Yücel: Mercedes, mon amour – Integrität und Konsum in Adalet Ağaoğlus Die
zarte Rose meiner Sehnsucht. In: Monatshefte für deutschsprachige Literatur und Kultur. Special Issue:
Integrität. S. 270-288.
1
viii
Inhaltsverzeichnis
Einleitung ...............................................................................................................................1
1. Multikulturelles Deutschland? – Die Debatten um Integration
11
2. Im Spannungsfeld von Mehrheitsliteratur und Minderheitenliteraturen 21
2.1 Migrationsliteratur im deutschen literarischen Feld ..........................................................21
2.2 „Tausendundeine Geschichten“ – Die Karawanserei im Spiegel der Presse....................28
3. Theoretischer Hintergrund
34
3.1 Identität und Gesellschaft: Mead.....................................................................................42
3.2 Identität und Teilidentitäten: Krappmann .......................................................................47
3.3 Identität und Essenzialisierung: Said ..............................................................................55
3.4 Identität und Hybridität: Bhabha ...................................................................................59
3.5 Narrative Identität: Hall................................................................................................64
3.6 Identitätswahl: Giddens ..................................................................................................66
3.7 Identitätsarbeit................................................................................................................71
3.8 Das Konzept der Integrität..............................................................................................78
4. Gefährliche Verwandtschaft – türkisch-deutsche
Vergangenheitsbewältigung
88
4.1 Der Mauerfall – Die versäumte Geschichte .....................................................................92
4.2 Die Deportationen der Armenier – Schuldigwerden an der Geschichte .............................99
4.3 Auseinandersetzung mit der Übertragbarkeit von Schuld...............................................108
4.4 Vergangenheitsbewältigung als Motiv der deutschen Literatur? ......................................116
4.5 Zusammenfassung.........................................................................................................119
xi
Inhaltsverzeichnis
5. „Im Theater bekam ich Applaus“ – Integritätsverhandlungen in
Özdamars Trilogie
123
5.1 Gewährleistung der Integrität durch Theater ..................................................................125
5.2 Gewährleistung der Integrität durch Sprache ..................................................................133
5.3 Gewährleistung der Integrität durch geschichtliche Ereignisse ..........................................145
5.3.1 Großvater-Geschichte ..........................................................................146
5.3.2 Mehmet Ali Bey-Geschichte................................................................151
5.3.3 Commitment auf der Ebene des Imperialismus...............................159
5.4 Zusammenfassung.........................................................................................................161
6. Mercedes, mon amour – Integrität und Konsum in Adalet Ağaoğlus
Die zarte Rose meiner Sehnsucht
163
6.1 „Bayram mit Wagen“ als Identitätsentwurf...................................................................164
6.2 Die Integritätsverletzung eines Waisenkindes.................................................................167
6.3 Konsumgesellschaftliche Orientierungen ..........................................................................171
6.4 Parvenü und Deutschländer...........................................................................................174
6.5 Moralische Disqualifizierungen .....................................................................................177
6.6 Zusammenfassung.........................................................................................................180
7. Vaybee! – Transnationaler Lokalpatriotismus?
181
7.1 Schöne virtuelle Welt – Virtualität und Identität..........................................................187
7.2 Vaybee! ........................................................................................................................192
7.2.1 Was ist vaybee!? ........................................................................................192
7.2.2 Vaybee! – Identitätsarbeit in einer Online Community ....................195
7.2.3 Auswertung.............................................................................................205
7.3 Zusammenfassung und Ausblick...................................................................................208
8. „Wer vierzig Tage mit Leuten zusammenlebt wird einer von ihnen“ –
ein Ausblick
211
9. Bibliographie
x
219
Einleitung
„Wenn Politiker über Integration reden, dann bauen sie sich erstmal einen
Türken“.3 Das Enfant Terrible der deutschen Migrationskultur hat gesprochen: provokativ – wie man es von ihm gewohnt ist und erwartet. Feridun
Zaimoğlu spielt mit dieser Aussage gleich auf mehrere Aspekte an, die in dieser Arbeit relevant sind und eignet sich somit besonders gut als Einstieg.
Die Möglichkeit, „sich einen Türken zu bauen“ – mit anderen Worten eigene
und fremde Identitäten zu schaffen –, soll in dieser Arbeit unter anderem diskutiert werden. Inwiefern handelt es sich dabei um Selbstbeschreibung, Selbsterzählung und Selbstinszenierung oder um Fremdbeschreibung, Fremderzählung und Fremdinszenierung?4 Dass diese Fragen bedeutsam werden, wenn es
um das Zusammenleben von Mehrheitskulturen und Minderheitskulturen
geht, versteht sich von selbst. Ihre Beantwortung aber gestaltet sich wesentlich
3 Feridun Zaimoglu: Dies ist unser Land. In: Der Spiegel 20.11.2000. S. 72. Die Redewendung „einen
Türken bauen“ wird im Deutschen ähnlich wie „getürkt“ verwendet. Sie könnte entstanden sein,
weil sich herausstellte, dass der angebliche Schachautomat, den der österreichische Erfinder Wolfgang von Kempelen 1769 baute, und der einen Mann in traditioneller türkischer Kleidung darstellte,
von einem Menschen bedient wurde.
Zur Begrifflichkeit vgl. Horst Turk: Philologische Grenzgänge. Zum Cultural Turn in der Literatur. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2003. S. 143ff.
4
1
Einleitung
schwieriger. Zunächst erscheint es paradox, dass gerade in Zeiten der Globalisierung, der internationalen Zusammenschlüsse und der Migrationsströme der
Begriff Identität an Bedeutung gewinnt. Doch bereits auf den zweiten Blick
erscheint es verständlich.
Je verwischter und relativer die Grenzen zwischen den Kulturen sind, umso stärker wird die Sehnsucht nach einer klaren Beziehungsstruktur, nach einer Hausordnung, die die
Räume im eigenen Haus genau benennt und zuweist. Niemand will als schlechter Gastgeber gelten, oder gar in den
Ruf kommen, ungastlich zu sein, aber man möchte schon
wissen, wer bei einem ein und ausgeht.5
So heißt es in Şenocaks Zungenentfernungen. Bei der vorliegenden Arbeit steht
die literaturwissenschaftliche Perspektive auf den Bereich der Migration nach
Deutschland im Vordergrund – es wird also gefragt, wie Migration und damit
verbundene Aspekte verarbeitet werden. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der
Migrationsliteratur, exemplarisch repräsentiert durch das Schaffen Emine Sevgi Özdamars und Zafer Şenocaks. Ergänzt wird die Textauswahl durch die
Bearbeitung der Migrationsproblematik von Seiten einer türkischen Autorin,
die in der Türkei wirkt: Adalet Ağaoğlus Die zarte Rose meiner Sehnsucht. In einem Exkurskapitel wird die Online Community vaybee! auf die für diese Arbeit
relevanten Fragen hin analysiert – wobei auch die Unterschiede realweltlicher
und fiktiver Auseinandersetzung mit diesen thematisiert werden.6 Die Konzentration auf Texte aus dem türkisch-deutschen Bereich erklärt sich zum
einen aus dem hohen Anteil kultureller Produktion der größten Minderheit in
Deutschland, zum anderen aus der Tatsache, dass Türkeistämmige in deutschen Medien und der Politik am meisten Beachtung finden.
Integration erscheint als Zauberwort, um das Zusammenleben von Mehrheit
und Minderheiten zu gestalten. Und unausgesprochen klingt der Begriff ‚Assimilation‘ mit, wenn dieses fällt. Assimilieren bzw. anpassen kann man sich
aber nur an feste Strukturen – schwieriger wird es, wenn solche gar nicht vorhanden sind und alles im Fluss ist. So kann man sich nur an eine Kultur anpassen, die gemäß einem als veraltet geltenden Kulturbegriff definiert wurde.
5
Zafer Şenocak: Zungenentfernungen. Bericht aus der Quarantänestation. München: Babel, 2001. S. 47.
Auch die Online Community soll hier zunächst als Text verstanden werden, nicht nur aufgrund der
überwiegend auf Text basierenden Kommunikationsform, sondern auch im Sinne der ‚Kultur als
Text‘. Auch kulturelle Darstellungsformen wie Rituale und Inszenierungen können demzufolge auf
ihre spezifische Art und Weise der Kulturdarstellung analysiert werden. Vgl. dazu Doris BachmannMedick (Hg.): Kultur als Text. Zur anthropologischen Wende in der Literaturwissenschaft. Frankfurt/Main:
Fischer, 1996. S. 9ff.
6
2
Einleitung
Wenn es um das ‚Aufgeben der eigenen Identität‘ geht, die im Integrationsprozess auf dem Spiel stehe, gilt dasselbe für den Identitätsbegriff, der hier nur
in seiner veralteten Form Anwendung finden kann.7
So wie der Tod der Literatur zum wiederholten Male heraufbeschworen wurde, wurde auch der Begriff der Identität bereits zu Grabe getragen – ist aber
immer wieder auferstanden und nimmt insbesondere in den von Cultural Studies beeinflussten Arbeiten eine prominente Rolle ein. Es scheint nicht mit
ihm zu gehen, also wird er problematisiert, aber es scheint auch nicht ohne ihn
zu gehen, somit wird er beibehalten. Dabei bleibt meiner Meinung nach oft
unbeachtet, dass der Begriff Identität beibehalten werden muss, weil Individuen sich identifizieren wollen, dass er aber abgelehnt wird, wenn bestimmte
Identifikationen oktroyiert werden. Letzteres führt zu einer Integritätsverletzung.
Der Begriff Integrität kann positiv über Merkmale wie Einheitlichkeit, Kohärenz, Autonomie und Souveränität oder ex negativo durch die Verletzung der
Integrität, sei es durch die Oktroyierung von Identitäten oder die Diskriminierung aufgrund bestimmter Identitätsmerkmale, bestimmt werden. Deswegen
erscheint es mir sinnvoll, mit einem begrifflichen Instrumentarium zu operieren, das sowohl den Begriff der Identität beibehält als auch den der Integrität
verwendet. Identität ist immer auch eine (Selbst- und Fremd-)Bestimmungsund Abgrenzungsinstanz. Integrität dagegen ist stärker auf die Anerkennung
bzw. Missachtung der gewählten Selbstzuschreibung im gesellschaftlichen
Prozess bezogen. Insofern kann das Begriffspaar auch für die Analyse kollektiver Phänomene verwendet werden, wie sich im Laufe der Analysen zeigen
wird.8
Dieser Arbeit liegt die These zu Grunde, dass die in den Texten dargestellten
Figuren um die Aufrechterhaltung ihrer Integrität bemüht sind – was zum
einen durch die Organisation von Teilidentitäten zu einem funktionsfähigen
Individuum Ausdruck findet; zum anderen aus dem Bedürfnis gegenseitiger
Anerkennung im gesellschaftlichen Zusammenleben resultiert.
Wenn Individuen oder Gruppen aufgrund bestimmter Identitätsmerkmale
diskriminiert werden, gewinnt das betreffende Teilmerkmal Priorität in der
Selbstorganisation des betroffenen Individuums – Hannah Arendt nach einem
Zum Wandel des Identitätskonzepts in Bezug auf Individuen und Kollektive vgl. Bernhard Giesen:
Nationale und kulturelle Identität. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1991. Besonders S. 1-14.
7
8 Vgl. dazu auch Horst Turk/Andrea Albrecht: Integrität, Europäische Konstellationen im Medium der Literatur. In: Monatshefte für deutschsprachige Literatur und Kultur. Special Issue: Integrität. S. 161-167.
3
Einleitung
„leicht verständlichen Grundsatz“ entsprechend, wonach „man sich immer
nur als das wehren kann, als was man angegriffen ist“.9
Integrität im Sinne von Unbescholtenheit, wie der Begriff alltagssprachlich
Verwendung findet, ist im Rahmen dieser Arbeit insofern relevant, als sich das
‚Schuldigmachen‘ den Verstoß gegen die in einem und von einem Kollektiv
anerkannten Werte, Normen und Regeln bedeutet und somit den Ausschluss
aus dieser Gemeinschaft. Insofern verbindet der Begriff ‚Integrität‘ Phänomene wie Zugehörigkeit, Identität und Integration, die im Rahmen dieser Arbeit
zentrale Kategorien darstellen.
Die ausgewählten Texte werden daraufhin befragt, wie die dargestellten Figuren ihre Integrität herstellen oder bewahren. Dabei wird sich herausstellen, wie
relevant die Zugehörigkeit zu bestimmten Kollektiven ist. Zentrale Frage ist
dann aber, wie die Zugehörigkeit zu mehreren Kollektiven verhandelt wird
und damit zusammenhängend wie Teilidentitäten organisiert werden. Darüber
hinaus wird gefragt, über welche Symbole die Identifizierung mit einem bestimmten Kollektiv artikuliert wird.
Vergleicht man die Ergebnisse der Forschung zur Migrationsliteratur mit den
Migrationstexten, lässt sich ein Missverhältnis erkennen. Während im akademischen Diskurs der Akzent auf Pluralität gelegt, die einheitliche Lebensgeschichte als Konstrukt entlarvt und die Mehrfachzugehörigkeit als Befreiung
zelebriert wird, erscheint der literarische Text näher an der Lebenswirklichkeit
zu sein, wenn sich darin zeigt, dass ein ‚zersplittertes Ich‘ auch Orientierungsprobleme mit sich bringt. In den letzten Jahren wurden zunehmend die Diversität und Hybridität von Kulturen betont und essenzialisierende Zuschreibungen mit Argwohn betrachtet. Diese Entwicklung, die maßgeblich von Theoretikern wie Edward Said und Homi Bhabha beeinflusst wurde, schlägt sich auch
in der Behandlung der deutschsprachigen Literatur von Migranten nieder.
Sprach man zu Beginn der Beschäftigung mit Migrationsliteratur noch von
„Betroffenheitsliteratur“10 und verfestigte Oppositionen – bildhaft durch das
Sitzen „zwischen den Stühlen“ ausgedrückt11 – betrachtete man ein paar Jahre
später gerade diese Zwischenposition als Raum der Freiheit und Diversität.
Auf diesem Stand scheint die literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit
deutschsprachiger Migrationsliteratur erstarrt zu sein. Dabei wird häufig aus
Mit der Identifizierung als Jüdin erkannte Hannah Arendt nach eigenen Aussagen eine „politische
Gegenwart“ an, die eine „Zugehörigkeit diktiert“ hatte. Vgl. Hannah Arendt: Gedanken zu Lessing.
Von der Menschlichkeit in finsteren Zeiten. In: Dies.: Menschen in finsteren Zeiten. Hg. v. Ursula Ludz.
München: Piper, 1989. S. 34.
9
10 Franco Biondi/Rafik Schami: Literatur der Betroffenheit. Bemerkungen zur Gastarbeiterliteratur. In Christian Schaffernicht (Hg.): Zu Hause in der Fremde. Reinbek: Rowohlt, 1984.
11
4
Vgl. Nevfel Cumart: Ein Schmelztiegel im Flammenmeer. Frankfurt/Main: Dagyeli, 1988. S. 61.
Einleitung
den Augen verloren, dass Hybridität nicht nur eine Befreiung von festen Zuschreibungen, sondern auch einen Zuwachs an Wahlmöglichkeiten bedeutet,
mit denen die Romanfiguren umgehen müssen. Dieser Umgang gestaltet sich
nicht immer problemlos.
In den frühen 1980er Jahren prägten Franco Biondi und Rafik Schami, selbst
Migrationsautoren, den Begriff der „Betroffenheitsliteratur“. Problematisch ist
dieser aus heutiger Perspektive, weil er die soziale Stellung der Autoren betont
und sie in Opposition zur ‚Aufnahmegesellschaft‘ positioniert. Auch Horst
Hamms Blickwinkel ist problematisch, wenn auch zeittypisch: Er liest Migrationstexte als „authentische Literatur“,12 als Sozialdokumente, und konzentriert
sich auf solche Texte, die die Problematik des Gastarbeiterdaseins darstellen.
Material findet er dafür in den zahlreichen Anthologien, die in den 1980er
Jahren erschienen.13
Heidi Rösch ist eine der ersten, die darauf hinweisen, dass sich in der Migrationliteratur eine „multiperspektivische Darstellung verschiedener Bevölkerungsgruppen“ niederschlägt, „die ethnizistische Zuschreibungen ad absurdum
führt“.14 Mittlerweile ist diese Position zum Allgemeingut geworden. Im Laufe
der 1990er Jahre gab es einen starken Zuwachs der literaturwissenschaftlichen
Beschäftigung mit der Migrationsliteratur. Es entstanden zahlreiche Untersuchungen zu einzelnen Autoren. Als Fazit der meisten Arbeiten ergibt sich:
Texte der Migrationliteratur entziehen sich essenzialistischen Zuschreibungen
und spiegeln eine hybride Mischkultur; oft zeigt sich dies auch auf sprachlicher
Ebene.15
In Monographien und Beitragssammlungen wird Migrationsliteratur unter
verschiedenen Aspekten untersucht; immer wiederkehrende Themen sind
Horst Hamm: Fremdgegangen – freigeschrieben. Eine Einführung in die deutschsprachige Gastarbeiterliteratur.
Würzburg: Königshausen & Neumann, 1988. S. 49.
12
13 Vgl. Irmgard Ackermann (Hg.): In zwei Sprachen leben. Berichte, Erzählungen, Gedichte von Ausländern.
München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1983 und Irmgard Ackermann (Hg.): Türken deutscher
Sprache: Berichte, Erzählungen, Gedichte. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1984. Der Fokus
liegt bei diesen Anthologien auf Sozialdokumentation, und nicht auf ästhetischer Qualität. Die ästhetische Qualität ist in Hinblick auf die Migrationsliteratur ein wichtiges Thema. Wie jede Minoritätenliteratur stehen Argumenten der Exklusion von Minderheiten durch die Hegemonialkultur Argumente der mangelnden literarischen Qualität gegenüber. Diesem Problembereich widmet sich Immacolata Amodeo. Vgl. Immacolata Amodeo: Die Heimat heißt Babylon. Zur Literatur ausländischer
Autoren in der Bundesrepublik Deutschland. Opladen: Westdeutscher Verlag, 1996.
14 Heidi Rösch: Migrationsliteratur im interkulturellen Kontext. Eine didaktische Studie zur Literatur von Aras
Ören, Aysel Özakin, Franco Biondi und Rafik Schami. Frankfurt/Main: Verlag für Interkulturelle Kommunikation, 1992. S. 211.
15 In diesem Zusammenhang oft genannt wird Emine Sevgi Özdamars Werk. Vgl. u.a. Azade Seyhan: Lost in Translation: Re-Membering the Mother Tongue in Emine Sevgi Özdamar’s Das Leben ist eine Karawanserei. In: The German Quaterly 69 (1996). S. 414-426.
5
Einleitung
Selbst- und Fremdzuschreibung,16 Authentizität,17 Stereotypisierung,18 Hybridität19 und Identitätsfindung.20 Allen Untersuchungen gemeinsam ist die Feststellung, dass Migrationsliteratur eine hybride Kultur widerspiegelt. Die Phase
der Polarität scheint abgelöst worden zu sein von der der Hybridität, die als
Befreiung von stereotypisierenden Zuschreibungen angesehen wird.
Aber eben diese daraus resultierende Freiheit erfordert wiederum eine größere
Orientierungskompetenz.21 Wie Individuen konkret mit der ‚Qual der Wahl‘
von Identifikationsmöglichkeiten umgehen und inwiefern ein Selbstverständnis als ‚hybrid‘ lebbar ist, wurde bisher noch nicht ausdrücklich zum Thema
der Migrationsliteraturforschung. An diesem Punkt setzt meine Arbeit an.
Wichtig ist mir dabei, nicht auf den Stand der oben beschriebenen ‚Oppositionenverfestigung‘ zurückzufallen. Ich gehe von der Annahme aus, dass Kulturen und Individuen per se hybrid sind. Entscheidend scheint mir aber zu hinterfragen, wie die Auswirkungen einer komplexen, hybriden Welt auf das
Selbstverständnis von Figuren literarisch umgesetzt werden bzw. wie sie innerhalb einer transnationalen Online Community verhandelt werden.
Arbeiten, die Migrationliteratur im Kontext um die Debatten um kollektive
Identitäten behandeln, stammen meist aus dem angloamerikanischen Raum
oder sind von der dortigen Forschungslage beeinflusst.22 Mit Ausnahme von
Bettina Baumgärtels Arbeit Das perspektivierte Ich ist mir jedoch keine Arbeit
bekannt, die einen theoretisch fundierten Identitätsbegriff verwendet oder
erarbeitet. Baumgärtel beanstandet gerade den Mangel an Ansätzen, die „Mo16 Vgl. u.a.: Karin Yesilada: Die geschundene Suleika. Das Eigenbild der Türkin in der deutschsprachigen Literatur türkischer Autorinnen. In: Mary Howards (Hg.): Interkulturelle Konfigurationen: zur deutschsparchigen Erzählliteratur von Autoren nichtdeutscher Herkunft München: iudicum, 1997. S. 95-114.
17 Vgl. u.a.: Margrit Frölich: Reinventions of Turkey: Emine Sevgi Özdamar's Life is a Caravanserai. In:
Karen Jankowsky/Caren Lowe (Hgg.): Other Germanies. Questioning Identity in Women's Literature and Art. New York: State University of New York Press, 1997. S. 56-73.
18 Vgl. u.a. Iman Khalil: Orient-Okzident-Stereotype im Werk arabischer Autoren. In: Mary Howards (Hg.):
Interkulturelle Konfigurationen: zur deutschsprachigen Erzählliteratur von Autoren nichtdeutscher
Herkunft München: iudicum, 1997. S. 77-94.
Vgl. u.a. Hiltrud Arens: Kulturelle Hybridität in der deutschsprachigen Minoritätenliteratur der achtziger Jahre.
Tübingen: Stauffenberg, 2000.
19
Vgl. u.a. Anette Wierschke: Schreiben als Selbstbehauptung. Kulturkonflikt und Identität in den Werken von
Aysel Özakin und Emine Sevgi Özdamar. Frankfurt/Main: Verlag für Interkulturelle Kommunikation,
1996.
20
21 Dies weist Gerhard Schulze auch für Personen mit monokulturellem Hintergrund nach. Vgl. Gerhard
Schulze: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart. Frankfurt/Main: Campus, 1992. S. 30.
22 Vgl. z.B. Azade Seyhan, die den Identitätsbegriff im Kontext von Erinnerung betrachtet. Vgl.
Azade Seyhan: Writing outside the Nation. Princeton: Princeton University Press, 2001.
6
Einleitung
delle von Identität [...] von einem theoretisch ausgearbeiteten Standpunkt her
hinterfragen“.23 Sie selbst bezieht sich auf den symbolischen Interaktionismus
nach Mead/Krappmann, der neben anderen Identitätstheorien auch in dieser
Arbeit Erwähnung finden wird.24 Eine Analyse der konkreten Identitätsarbeit,
in der Symbole der Identifikation und der Identifikationsprozess systematisch
analysiert werden, gibt es jedoch noch nicht. Mit meiner Arbeit möchte ich ein
Instrumentarium für solche Untersuchungen liefern – denn die bloße Feststellung, dass Identitäten und Kulturen hybrid sind, so sehr diese auch der Wahrheit entspricht, wird den Texten nicht gerecht.
Mein Erkenntnisinteresse zielt somit u.a. auf die Verhandlung von (möglicherweise auch in Konflikt zueinander stehenden) Teilidentitäten und deren
Integration zu einem Selbstbild. Deswegen empfiehlt es sich meiner Meinung
nach, sowohl den Ansatz des symbolischen Interaktionismus, als auch aktuellere theoretische Positionen um den Begriff der Integrität zu erweitern.
Stuart Hall beispielsweise baut auf den sozialwissenschaftlich beeinflussten
Identitätstheorien auf. Im Gegensatz zu diesen negiert er allerdings die Möglichkeit einer einheitlichen, statischen Identität. Beide Vorstellungen haben
Vor- und Nachteile. Deswegen erscheint die Entwicklung eines Ansatzes, der
die Vorteile hervorhebt und die Nachteile vermeidet, wie Andreas Reckwitz es
fordert, viel versprechend:
Die neueren Identitätsanalysen müssen offenbar nicht nur
dem Risiko des kulturalistischen Essentialismus, sondern
genau umgekehrt auch dem Bild eines hyperflexiblen, seine
Identitäten auswechselnden Subjekts entgehen, das den
Boden der Alltagspraktiken zu verlassen scheint. [...] Von
einem tragfähigen heuristischen Rahmen zur Analyse personaler und kollektiver Identitäten, das heißt, der Untersuchung der Entwicklung, Reproduktion und Veränderung
von Mustern des individuellen und kollektiven Selbstverstehens in der Handlungspraxis, wäre es zu erwarten, dass
er gewissermaßen die Vorzüge von Hermeneutik und Poststrukturalismus kombiniert und deren komplementäre
Nachteile vermeidet, somit die historische und kollektive
23
Bettina Baumgärtel: Identitätsbalance in der Fremde. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2000. S. 57.
24 Die Theorie des symbolischen Interaktionismus verwendet auch Zielke-Nadkarni: Andrea ZielkeNadkarni: Frauenfiguren in den Erzählungen türkischer Autorinnen. Identität und Handlungs(spiel)räume. Pfaffenweiler: Centauris-Verlagsgesellschaft, 1996.
7
Einleitung
Kontinuität der Bedeutungshorizonte sozialer Praktiken
wie auch deren Fragilität, Mehrdeutigkeit und ständige
Neukonstruktion berücksichtigt. 25
Die skizzierte Problemlage lässt sich in jedem Kapitel dieser Arbeit auf andere
Art und Weise veranschaulichen. Doch stets geht es um das Verhältnis von
Kollektiven (Mehrheiten sowie Minderheiten) zueinander und um die Mehrfachzugehörigkeit von Individuen zu Kollektiven und den Umgang mit dieser.
Die Fragmentierung der Gesellschaft und der persönlichen Lebenswelt hat
eine intensive Beschäftigung verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen
nach sich gezogen, vor allem die Psychologie, Soziologie und Kulturwissenschaft haben sich mit dem Phänomen individueller und kollektiver Identitäten
auseinandergesetzt. Deswegen kommen in dieser Arbeit auch verschiedene
Ansätze zum Tragen, die auf unterschiedliche Art und Weise das hier anzuwendende Integritätskonzept zu entwickeln helfen.
Gemeinsam ist allen hier zugrunde gelegten Theorien die Annahme, dass Identität sich im gesellschaftlichen Prozess ausbildet. Während beispielsweise Erikson davon ausgeht, dass dieser Prozess mit der Adoleszenz zum Abschluss
käme, wird er bereits bei Krappmann als ständig zu leistender Prozess angesehen. Insbesondere Said weist auf den Identifizierungsmechanismus durch Abgrenzung hin. Beeinflusst durch dessen Arbeit, strebt Bhabha von dieser Darstellung der Dichotomien weg und betont die undifferenzierbar verwobenen
Gemeinsamkeiten von Kulturen. Saids und Bhabhas Positionen eignen sich
deshalb als Analyseansatz für Phänomene der (kulturellen) Essenzialisierung
bzw. Hybridisierung. Mead und Krappmann geht es mehr um die Einheit eines Individuums. Dagegen richten Hall und Giddens den Fokus auf die fragmentartige, uneinheitliche Identität, die künstlich durch Selbsterzählungen
(‚narratives of the self‘) bzw. Lebenspläne (‚trajectories of the self‘) zusammengehalten wird.
Die intensive Beschäftigung mit der Migrationsliteratur hat mich darauf aufmerksam gemacht, dass Hybridität in Bezug auf diese zwar propagiert wird, die
Texte selbst ihre Figuren aber durchaus mit der Kategorie Identität ‚kämpfen‘
lassen. Deswegen ist es unerlässlich, auf Identität als theoretisches Konzept
einzugehen, bevor in Abgrenzung bzw. Ergänzung zu diesem das Konzept der
Integrität näher erläutert wird.
Aus Gründen der Lesbarkeit ist die Arbeit in einen Theorie- und einen Analyseteil gegliedert, wobei an relevanten Punkten jeweils auf die entsprechenden
25 Vgl. Andreas Reckwitz: Der Identitätsdiskurs. Zum Bedeutungswandel einer sozialwissenschaftlichen Semantik. In: Werner Rammert/Gunther Knauthe/Florian Altenhöner (Hgg.): Kollektive Identitäten und
kulturelle Innovationen. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag, 2001. S. 21-38. S. 35.
8
Einleitung
Theorien verwiesen wird. Diese Trennung soll es dem Leser ermöglichen, sich
detailliert mit den Theorien auseinanderzusetzen, die im Analyseteil Anwendung finden. Gleichzeitig soll dadurch verhindert werden, dass die Analysen
von langen Theorieexkursen unterbrochen werden.
Alle Teilbereiche dieser Arbeit setzen sich – in unterschiedlicher Akzentuierung – mit dem Zusammenhang zwischen Integration, Identität und Integrität
auseinander.
Zunächst soll in Kapitel 1 kurz die öffentliche Diskussion um Zuwanderung
nach Deutschland und Integration aufgegriffen werden, um die soziopolitische Ausgangslage und politische Relevanz dieser vornehmlich literaturwissenschaftlichen Arbeit darzulegen.
Darauf folgt in Kapitel 2 eine Darstellung aus literatursoziologischer Sicht, in
der das Spannungsverhältnis zwischen Minderheiten- und Mehrheitsliteraturen
im Vordergrund steht.
Nach der Darlegung theoretischer Positionen, die Aspekte der Identitätsschaffung und -organisation ebenso umfassen wie Essenzialisierung und Hybridität
sowie Konzepte von Identitätswahl und narrativer Identität, wird in Kapitel 3
das Konzept der Identitätsarbeit eingeführt. Demnach identifizieren sich Individuen über bestimmte Symbole, die im Rahmen dieser Arbeit ‚Zugehörigkeitssymbole‘ genannt werden, mit bestimmten Kollektiven. Anhand dieser
Zugehörigkeitssymbole sind die Analysekapitel strukturiert.
Als Zugehörigkeitssymbole fungieren in der Gefährlichen Verwandtschaft von
Zafer Şenocak (Kapitel 4) die geschichtlichen Ereignisse ‚Mauerfall‘ und ‚Armenierdeportationen‘. Durch diese beiden Ereignisse wird der Protagonist
Sascha Muhteschem dazu angeregt, sich mit Fragen der Übertragbarkeit von
Schuld auf die Folgegenerationen auseinanderzusetzen und negativer Nationalismus erscheint als neues Zugehörigkeitssymbol, das eine wichtige Rolle beim
Umgang mit Identität und Integrität spielt.26
Auch in Emine Sevgi Özdamars Das Leben ist eine Karawanserei (Kapitel 6) steht
ein geschichtliches Ereignis, der türkische Befreiungskampf, im Mittelpunkt
von Integritätsverhandlungen. Diese werden nicht nur narrativ oder diskursiv,
sondern auch auf sprachlicher Ebene ausgetragen. Das organisierende Zugehörigkeitssymbol ist in Özdamars Werk das Theater.
In Die zarte Rose meiner Sehnsucht von Adalet Ağaoğlu (Kapitel 6) identifiziert
sich der Gastarbeiter Bayram Ünal über seinen honiggelben Mercedes und
sucht nach Anerkennung in seinem Heimatland, die ihm als ‚Deutschländer‘
jedoch verwehrt bleibt – was Folgen für seine persönliche Integrität hat.
26 Zum Begriff des negativen Nationalismus vgl. Aleida Assmann/Ute Frevert: Geschichtsvergessenheit –
Geschichtsversessenheit. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt, 1999. S. 66. Vgl. dazu auch S. 95. dieser
Arbeit.
9
Einleitung
In der türkisch-deutschen Online-Community vaybee! (Kapitel 7) geht es um
die Möglichkeiten des Mediums Internet in Bezug auf Identitäts- und Integritätsverhandlungen. Anhand des Forums ‚Integration‘ wird untersucht, welche
Zugehörigkeitssymbole in diesem Rahmen eine Rolle spielen. Dabei geht es
auch um die Frage, ob das Internet zu einem neuen Ort werden kann, über
den Zugehörigkeit definiert wird.
10
1. Multikulturelles Deutschland? – Die Debatten um Integration27
Im April 1997 proklamierte der Spiegel unter dem Titel Gefährlich fremd das
Scheitern der multikulturellen Gesellschaft in Deutschland.28 Die Reaktionen
auf den Artikel waren vielfältig. Andrea Böhm beschrieb z.B. in der tageszeitung,
wie sie am Zeitungskiosk den Spiegeltitel neben einer Ausgabe der Newsweek
erblickte, die der Titel Germany – a nation of immigrants schmückte.29 Während
man in den USA über den Multikulturalismus in Deutschland positiv zu denken schien, wurde er zeitgleich in Deutschland für gescheitert erklärt.
Wenige Jahre später entspann sich die Debatte um Zuwanderung in Deutschland. Johannes Rau mahnte in seiner Berliner Rede im Jahre 2000 zu friedli-
27 Den Zugang zu vielen der hier zitierten Artikel verdanke ich Deniz Göktürk. Gemeinsam mit
Anton Kaes arbeitet sie an der UC Berkeley an einem Projekt zum Themenfeld ‚multikulturelles
Deutschland‘. Vgl. http://german.berkeley.edu/mg/Contact.htm. Zuletzt eingesehen am
<20.07.2005>.
28
Der Spiegel, 14. 04.1997.
Vgl. Andrea Böhm: Die Mühen der Ebene. In: die tageszeitung. 19.04.1997. Vgl. dazu Fatma Sarigöz:
Die multikulturelle Gesellschaft im Spiegel der Medien. In: Christoph Butterwegge/Gudrun Hentges/Fatma
Sarigöz (Hgg.): Medien und multikulturelle Gesellschaft. Opladen: Leske und Budrich, 1999. S. 9-28.
S. 16f. In ihrem Beitrag geht Sarigöz ausführlich auf die Medienreaktionen auf den Spiegeltitel ein.
29
11
1. Multikulturelles Deutschland?
chem Zusammenleben von Mehrheits- und Minderheitenkulturen. „Zuwanderung, Einwanderung, Flüchtlingskontingente, Zuzugsbegrenzung, Integration,
Green-Card, Asyl, Abschiebung, Rückführung“, so Rau, bestimmten seit langem die „politische Diskussion“.30
Viel wird insbesondere über das Schlagwort Integration diskutiert: und dies in
allen politischen Lagern und mit unterschiedlichen Nuancen. Auch Rau betont
in seiner Rede:
Zunächst ist eine schlichte Tatsache anzuerkennen: Dass
Menschen unterschiedlicher Herkunft und Kultur in unserem Land zusammenleben, wird sich nicht mehr ändern.
Integration ist daher die Aufgabe, die wir gemeinsam anpacken müssen, wenn wir das Zusammenleben erfolgreich
und friedlich gestalten wollen.31
Augenfällig wird, dass Deutschlands Status als Einwanderungsland nicht mehr
zur Diskussion steht. Das ist bei den lang anhaltenden Debatten um dieses
Themengebiet durchaus ein Fortschritt – auch wenn die Wende in diesem
Diskurs stagnierenden Geburtenraten zuzuschreiben ist. Wie die Studie der
Zuwanderungskommission beweist, muss Deutschland zur langfristigen Wahrung seiner Integrität, insbesondere in demographischem und ökonomischem
Sinn, Zuwanderer aufnehmen.32 Probleme stellen sich bei der Forderung nach
qualifizierten Zuwanderern. Im Zuge der Green-Card-Debatte stellte sich heraus, dass indische Computerexperten ein Leben in den USA einem Leben in
Deutschland vorziehen.33 Der neu ins Amt getretene Innenminister Otto Schily meinte noch 1998, dass „die Belastungsgrenze der Bundesrepublik“ durch
Zuwanderer überschritten sei.34 Bevölkerungsexperten schätzten die Situation
anders ein.35 Bevölkerungswissenschaftler Rainer Münz, der später vom ‚bekehrten‘ Innenminister als Experte in der Zuwanderungskommission eingesetzt wurde, sieht die Tatsache, dass Deutschland ein Zuwanderungsland ist,
noch nicht im Bewusstsein der Bundesbürger verankert:
30 Vgl. Johannes Rau: „Berliner Rede“ im Haus der Kulturen der Welt. In: Johannes Rau (Hg.): Bundespräsident Johannes Rau. Reden und Interviews. Bd. 1.2 (1. Januar – 30. Juni 2000). Berlin: Presseund Informationsamt der Bundesregierung, 2000. S. 251-270. S. 251.
31
Rau: „Berliner Rede“ im Haus der Kulturen der Welt. S. 253.
32
Vgl. Kommissionsbericht auf http://www.zuwanderung.de. Zuletzt eingesehen am <20.07.2005>.
Vgl. zu dieser Debatte: Manika Mehta: Anti-Indian German Leader Changes Stance on Immigration. In:
India Abroad, 27.10.2000.
33
34
Vgl. Jenseits von Schuld und Sühne In: Der Spiegel, Dossier: 23.11.1998.
Vgl. dazu Alexander Jungkurz: Deutschland – bald nur ein Altersheim? Experten empfehlen im Gegensatz
zu Otto Schily die gezielte, geregelte Zuwanderung. In: Nürnberger Nachrichten, 25.11.1998.
35
12
1. Multikulturelles Deutschland?
Zwölf Prozent der hier lebenden Menschen sind im Ausland zur Welt gekommen. Im klassischen Einwanderungsland USA sind nur neun Prozent der Bevölkerung im Ausland geboren. Aber das Bewusstsein in Deutschland stimmt
mit dieser Realität noch nicht überein. In unserer Gesellschaft dominiert die Vorstellung: Zuwanderung ist die
Ausnahme und Sesshaftigkeit der Normalfall.36
Heiner Geißler hingegen hat bereits 1991 die Frage, ob Deutschland ein Einwanderungsland sei, positiv beantwortet.37 Wichtiger als über diese Tatsache
zu diskutieren, sei es, Regeln für ein Zusammenleben zu formulieren.38
Was solche Regeln angeht, ist eine Positionierung bezüglich der Wahrung von
Integritäten unerlässlich. Umso erstaunlicher ist es, dass der Begriff ‚Integrität‘
in öffentlichen Debatten nie fällt, obwohl Konflikte gerade dann aufkommen,
wenn konfligierende Integritätsstandards von Mehrheitsgesellschaft, Minderheiten und Individuen bestehen. Ein prominentes Beispiel hierfür ist der so
genannte Kopftuchstreit.39
Integration wird zu einem Problem, weil es Interessenskonflikte gibt, die durch
die Zugehörigkeit von Individuen zu verschiedenen Gruppen entstehen. So
kommt es auf individueller wie auch auf kollektiver Ebene zu Integritätskonflikten. Sowohl Individuen als auch Kollektive brauchen die gelungene Integration von Teilidentitäten bzw. von Subgruppen, um ihre Integrität wahren zu
können.
Die Konzepte des Kommunitarismus und des Universalismus bieten gegensätzliche Angebote zur Regelung der vorliegenden Konflikte. Während im
Universalismus die rechtsstaatliche Ordnung ohne Rücksicht auf die kollektiven Lebensweisen von Minderheiten als Basis für das Zusammenleben gilt,
wird im Kommunitarismus die Wahrung von Minderheitenrechten gegenüber
den Rechten einzelner bejaht.40 In beiden Fällen muss der Staats- oder Gesell36
Rainer Münz: ,Wir müssen uns öffnen. In: Die Zeit, 12.07.2001.
37 Heiner Geißler: Deutschland – ein Einwanderungsland? In: Daniel Cohn-Bendit (Hg.): Einwanderbares
Deutschland oder Vertreibung aus dem Wohlstandsparadies. Frankfurt/Main: Horizonte, 1991. S. 9-23.
38 Heiner Geißler: Multikulturelle Gesellschaft: Ja!. In: Michael Klöcker/Udo Tworuschka (Hgg.): Miteinander – was sonst? Multikulturelle Gesellschaft im Brennpunkt Köln: Böhlau, 1990. S. 57-59. S. 57.
39 Dokumentiert und problematisiert ist dieser Fall ausführlich bei Carolin Emcke: Kollektive Identitäten. Sozialphilosophische Grundlagen. Frankfurt/Main, New York: Campus, 2000. S. 280-285. Nachdem
der Fall Fereshda Ludin vom Bundesverfassungsgericht verhandelt wurde, hat er neue Debatten
nach sich gezogen. Vgl. dazu u.a. Martin Klingst: Feige Richter. Karlsruhe hat sich gedrückt – und den Streit
um das Kopftuch in der Schule an die Parlamente zurückgereicht. In: Die Zeit, 25.09.2003.
40
Vgl. dazu allgemein Emcke: Kollektive Identitäten.
13
1. Multikulturelles Deutschland?
schaftskörper handlungsfähig bleiben und in diesem Sinne seine politische
bzw. seine ökonomische Integrität wahren. Dies kann konservative Stimmen
in der Forderung unterstützen, Zuwanderung zu stoppen, denn ein Zerfallen
der Gesellschaft in Subkulturen vermindert den Zusammenhalt. Dieses Argument wird unterstützt durch als unintegrierbar stilisierte Ausländer41 – wenn
allerdings die ökonomische Integrität Deutschlands ohne Zuwanderer nicht
gewährleistet werden kann, wie es die Zuwanderungs-Kommission propagiert,
widerspricht dies den Integritätsstandards konservativer Politiker. Jürgen Habermas gilt als Vertreter des „Verfassungspatriotismus“. Damit ist die Orientierung an Grundsätzen und Werten der Verfassung als Grundwerte eines
Kollektivs gemeint. Jeder, der diese Gesetze akzeptiert und einhält, gehört
somit zu dem Kollektiv. 42
Die Forderung nach Integration setzt voraus, dass es eine kulturelle Einheit
gibt, in die sich Einzelne integrieren können. An diesem Punkt setzen Ideen
von einer „Leitkultur“ an. Den Begriff „Leitkultur“, der „reflexartige Empörung“ verursachte,43 prägte Friedrich Merz:
Einwanderung und Integration können auf Dauer nur Erfolg haben, wenn sie die breite Zustimmung der Bevölkerung finden. Dazu gehört, dass Integrationsfähigkeit auf
beiden Seiten besteht: Das Aufnahmeland muss tolerant
und offen sein, Zuwanderer, die auf Zeit oder auf Dauer
bei uns leben wollen, müssen ihrerseits bereit sein, die Re41 Vgl. hierzu das Eingangszitat zur Einleitung dieser Arbeit: „Wenn Politiker über Integration reden,
dann bauen sie sich erstmal einen Türken“. Zaimoglu: Dies ist unser Land. S. 72. Zur Stilisierung von
Migranten zu ‚ethnischen Minderheiten‘ vgl. auch Frank-Olaf Radtke: The Formation of Ethnic Minorities and the Transformation of Social into Ethnic Conflicts in so-called Multi-Cultural Society: The case of Germany.
In: John Rex and Beatrice Drury (Hgg.): Ethnic Mobilisation in a Multi-Cultural Europe. Avebury:
Aldershot, 1994. S. 30-37.
42 Vgl. Jürgen Habermas: Multiculturalism and the Liberal State. In: Stanford Law Review 47 (1995).
S. 849-855. Vgl. auch Jürgen Habermas: Grenzen des Neohistorismus. In: Ders.: Kleine politische Schriften VII. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1990. S. 149-156. 152. Vgl. dazu auch Aleida Assmann/Ute
Frevert: Geschichtsvergessenheit – Geschichtsversessenheit. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt, 1999. S. 67.
Auch Cem Özdemir, türkischer Abstammung, fordert Integration. Allerdings dürfe nicht erwartet
werden, dass Migranten sich selbst organisieren. Nach niederländischem Vorbild sollten Sprach- und
Integrationskurse angeboten werden. Vgl. Cem Özdemir: Sprache und Integration. In: Die Welt,
3.12.1999.
Vgl.: „Die Formulierung hat reflexartig Empörung ebenso ausgelöst wie breite Zustimmung.
Nachdenklich macht besonders der Hinweis, die Kritik sei deshalb richtig und verständlich, weil es –
möglicherweise wegen einer seit Jahren versäumten Debatte um Wertmaßstäbe und einen allgemeinen gesellschaftlichen Minimalkonsens – gar keine allgemein akzeptierte Definition dessen mehr
gibt, was wir unter unserer Kultur verstehen, ja, eine Begrenzung gebe es nur noch durch die Gesetze, nicht mehr durch einen gemeinsamen, wertorientierten gesellschaftlichen Konsens.“ Vgl.
Friedrich Merz: Einwanderung und Identität. In: Die Welt, 25.10.2000.
43
14
1. Multikulturelles Deutschland?
geln des Zusammenlebens in Deutschland zu respektieren.
Ich habe diese Regeln als die „freiheitliche deutsche Leitkultur“ bezeichnet.44
Moshe Zimmermann nach ist „Leitkultur“ ein neuer Begriff, der gut dazu
geeignet sei, Emotionen aufzuwirbeln. Problematisch sei er, weil viele ihn mit
einem herablassenden Blick auf andere Kulturen verwenden könnten, auch
wenn das nicht die Absicht der Politiker gewesen sei.45 Eine Kompensation für
den durch Emigration entstandenen Verlust deutscher Kultur in den 30er Jahren soll demnach durch aktuelle Immigration stattfinden und nicht durch die
Proklamation einer nationalen deutschen Leitkultur.46 Gerade wegen Deutschlands Geschichte nimmt das Ausland kritischen Anteil an der Leitkulturdebatte. In der Washington Post sprach Peter Finn sinnträchtig von Deutschlands
„haunted past“. Dabei nimmt er auch Bezug auf die Äußerung von Laurenz
Meyer („Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein“), die dieser in Zusammenhang
mit dem Thema Leitkultur artikuliert hatte:
Germany's never-ending struggle with its soul reached a
new plateau this week when a leading opposition figure dared to say: “Ich bin stolz, Deutscher zu sein.” “I'm proud
to be a German.” Unremarkable most anywhere else. But in
history-haunted Germany, even the simplest expression of
patriotism elicits a cold shiver in some quarters.47
In den Arbeitsgrundlagen für die Zuwanderungs-Kommission der CDU Deutschlands
wurde der von Friedrich Merz lancierte Begriff bereits zum Parteiprogramm.
,,Multikulturalismus und Parallelgesellschaften“ seien kein Modell für die Zukunft, heißt es dort.48 Darauf kontert Joachim Sartorius in seinem Artikel
Leidkultur, Light-Kultur und Leitkultur: “[...] als ob wir nicht alle bereits parallele
Identitäten hätten! [...]“49 In der Berliner Rede 2000 von Bundespräsident Rau
44
Vgl. Merz: Einwanderung und Identität.
45 Vgl. Moshe Zimmermann: Das Wortspiel ist aus: Mehr Einwanderung, weniger Leitkultur. In: Süddeutsche Zeitung, 18.11.2000.
46 Vgl.
ebd.
47 Peter Finn: Debate over a 'Defining Culture' Roils Germany. In: Washington Post (Foreign Service),
2.11.2000.
48 Arbeitsgrundlagen für die Zuwanderungs-Kommission der CDU Deutschlands. Abschnitt IV. 06.11.2000.
http://www.cdu.de/doc/pdfc/1100_arbeitsgrundlage.pdf. Zuletzt eingesehen am <20.07.2005>.
49
Joachim Sartorius: Leidkultur, Light-Kultur und Leitkultur. In: Frankfurter Rundschau, 21.11.2000.
15
1. Multikulturelles Deutschland?
war von diesen allerdings nicht zu hören. Eher lässt sich eine Rhetorik festzumachen, die Identitäten polarisiert.
Nach diesem kurzen Überblick über verschiedene Positionen innerhalb der
Debatten um Zuwanderung soll anhand der Berliner Rede (2000) von Bundespräsident Johannes Rau etwas detaillierter aufgezeigt werden, wie dort das
Zusammenleben von Mehrheiten und Minderheiten imaginiert wird. Johannes
Rau fordert politische Führungskräfte zu „Selbstdisziplin und Fingerspitzengefühl“ auf.50 Integration sei nicht nur für Einwanderer, sondern auch für Deutsche anstrengend. „Welche Anforderungen müssen wir an uns selber stellen?“,
fragt er.51 Wie oben bereits zitiert, sei Integration die Aufgabe, die gemeinsam
angegangen werden müsse.
Allerdings erscheint dies im Gesamtkontext der Rede nicht wie eine wechselseitige Integration im Sinne einer wechselseitigen Anpassung, sondern als Forderung nach einseitiger Anpassung der Einwanderer und nach Geduld seitens
Deutscher, was auf einen gewissen Überlegenheitsduktus schließen lässt:
Integration braucht langen Atem und Geduld. Sie braucht
die Offenheit der angestammten Bevölkerung. Noch mehr
braucht sie aber – und das gilt heute besonders – die Bereitschaft und die Anstrengung der neu Dazukommenden –
die Bereitschaft, nicht nur dazu zu kommen, sondern auch
dazu gehören zu wollen.52
Es ist eine hierarchische, asymmetrische Struktur zu erkennen, in der letztlich
von den Einwanderern Anpassung an das Gastland erwartet wird.53 Aus der
Perspektive eines nationalstaatlichen Denkens ist das nicht verwunderlich,
wenn die Wahrung der politischen Handlungsfähigkeit das Hauptanliegen ist.
Menschenrechtlich kann es so jedoch zu Integritätsverletzungen kommen. Rau
betont in seiner Rede auch die Wichtigkeit der Funktionsfähigkeit der Bundesrepublik und damit ihre Integrität:
50
Rau: „Berliner Rede“ im Haus der Kulturen der Welt. S. 259.
51
Ebd. S. 252.
52
Ebd. S. 256.
Die Ablehnung der doppelten Staatsbürgerschaft, bestätigt die Forderung nach einseitiger Anpassung. Zur Debatte um die doppelte Staatsbürgerschaft vgl. Irina Wiesner, die mit gewagten Thesen
(so z.B. die These, Türken würden von türkischen Medien manipuliert und ihr Wahlrecht in
Deutschland gegen Deutschlands Interessen nutzen) gegen eine doppelte Staatsbürgerschaft argumentiert und Franco Foracis Antwort darauf. Irina Wiesner: Konservativ und manipuliert. In: die tageszeitung, 15.10.1994; Franco Foraci: Dreigliedriges Hetzarsenal. In: die tageszeitung, 29.10.1994. Für eine
theoretische Auseinandersetzung zum Themengebiet Staatsbürgerschaft vgl. Yasemin Nuhoğlu
Soysal: Limits of Citizenship: Migrants and Postnational Membership in Europe. Chicago: University of
Chicago, 1994.
53
16
1. Multikulturelles Deutschland?
Eine Gesellschaft, die in Fragmente zerfällt, kann keine
wirklich demokratische Gesellschaft sein. Demokratie bedeutet ja auch, dass Minderheiten Mehrheitsentscheidungen
akzeptieren, ja innerlich bejahen. Das setzt voraus, dass
Mehrheit und Minderheit, jenseits aller tagespolitischen
Konflikte und Kontroversen, gemeinsame Grundvorstellungen teilen. Dann können sie Wir-Gefühl entwickeln, das
beide bindet und verbindet.54
Auf die Frage: „Was dürfen und müssen wir von denen verlangen, die auf
Dauer in Deutschland leben und arbeiten wollen?“, gibt er unter anderem
folgende Antwort:
Wer zu uns nach Deutschland kommt, der muss die demokratisch festgelegten Regeln akzeptieren. Sie sind Grundlage unseres Zusammenlebens. Diese Regeln sind auf Integration angelegt und nicht auf Ausgrenzung. Sie bieten genügend Raum für kulturelle Vielfalt. Sie sichern die Freiheit
des Glaubens und die Rechte von Minderheiten.
Diese Regeln setzen aber auch Grenzen, die niemand unter
Hinweis auf seine Herkunft oder seine religiöse Überzeugung außer Kraft setzen darf. [Meine Hervorhebung; Y.D.]
Obwohl Rau aussagt, dass eine demokratische Gesellschaft den Gegensatz
zwischen „wir hier“ und „die da“ auf Dauer nicht vertrage,55 dichotomisiert er
in seiner Rede selbst. Wenn Rau von „wir“ spricht,56 meint er damit Deut-
54
Rau: „Berliner Rede“ im Haus der Kulturen der Welt. S. 261.
55
Vgl. ebd. S. 261.
56 Vgl.: „Wir müssen die Wirklichkeit zur Kenntnis nehmen, wenn wir sie erfolgreich gestalten wollen
– ohne Angst und ohne Träumereien. Gelungene Integration ist in unserem eigenen, vitalen Interesse.
Sie mobilisiert Kräfte, die wir für eine gute Zukunft brauchen: Bestimmen wir klar unsere Interessen
und Ziele. Entscheiden wir, wie wir Integration gestalten wollen. Legen wir realistische Ziele fest.“
[Meine Hervorhebung; Y.D.] Ebd. S. 269.
17
1. Multikulturelles Deutschland?
sche.57 Das wird besonders akzentuiert, wenn er „ausländische Mitbürgerinnen
und Mitbürger“ plötzlich persönlich auffordert, sich gesellschaftlich zu engagieren:
Beteiligen Sie sich am gesellschaftlichen Leben – in den
Stadtteilen und den Schulen, in Gewerkschaften oder in
Sportvereinen. [...] Mein dringender Appell ist: Lernen Sie
Deutsch! Wenn wir miteinander leben, müssen wir einander
verstehen. Wer in Deutschland aufwächst oder neu zu uns
kommt, muss Deutsch sprechen und verstehen.58
Laviziano et al sehen in den Forderungen des Einwanderungslandes die Aberkennung jeglicher Handlungs- und Gestaltungsfähigkeit von Zugewanderten.
Es werde vergessen, dass die Neugestaltung des Einwanderungsgesetzes auch
auf die Initiative und das Engagement von Migrantenorganisationen zurückgehe.59
Einerseits weckt Rau Mitgefühl und Verständnis für die Lage von Einwanderern, indem er auf individuelle Schicksale eingeht oder darauf hinweist, dass
auch Deutsche sich in der Vergangenheit in ähnlichen Situationen befunden
haben.60 Andererseits bringt er auch denjenigen Verständnis entgegen, die sich
in bestimmten Situationen von Ausländern bedroht fühlen.61
57 Diese Beobachtung teilen Laviziano et al: „Nach der Lektüre des Titels („Gemeinsam in Deutschland leben“) und in Kenntnis der expliziten Intention der Rede könnte man voraussetzen, dass
dieses ‚wir‘ tatsächlich als gemeinsames gemeint ist, welches ‚Deutsche‘ und ‚Ausländer‘ einschließt,
sich also an die gesamte Bevölkerung in Deutschland richtet. Das ist aber nicht der Fall. ‚Wir‘ (bzw.
davon abgeleitete Pronomina wie ‚uns‘ oder ‚unser‘) ist eines der häufigsten Wörter in Raus Rede. In
der ganz überwiegenden Zahl der Fälle meint dieses ‚wir‘ aber lediglich die ‚Deutschen‘ und setzt sie
damit den ‚Ausländern‘ entgegen.“ A. Laviziano/C. Mein/M. Sökefeld: „To be German or not to be...“
Zur „Berliner Rede“ des Bundespräsidenten Johannes Rau. In: EthnoScripts 1 (2001). S. 39-53. S. 46.
58 Dazu kommentieren Laviziano et al: „Fraglich bleibt auch, wie realistisch eine Integrationsforderung ist, wenn selbst die Kinder und Kindeskinder von Migranten, die hier aufgewachsen sind und
einen deutschen Pass besitzen, weiterhin als „nicht-deutschstämmige Jugendliche“ (X) oder „junge
Ausländer“ (XI) klassifiziert werden. Deutsch zu werden scheint schwieriger, als Raus Aufruf zur
Integration („Lernen Sie deutsch!“ – XIV) erwarten lässt.“ Ebd. S. 50.
59
Ebd. S. 47.
Vgl.: „Am Beginn aller Diskussionen muss klar sein: „Die“ Ausländer gibt es nicht. Es geht immer
um einzelne Menschen: Um Menschen mit ihren individuellen Wurzeln: ob als Arbeitssuchende aus
Anatolien, ob als Spätaussiedler aus einem kleinen Dorf im Herzen von Kasachstan, ob auf der
Flucht vor Verfolgung und Folter im Sudan, ob als Vertriebene aus den zerstörten Städten und
Dörfern des Kosovo.“ Rau: „Berliner Rede“ im Haus der Kulturen der Welt. S. 254. Vgl. auch „Und wie
wurden unsere Landsleute aufgenommen, die in die Fremde gegangen sind? Deutschland war in
seiner Geschichte nicht nur ein Einwanderungsland. Armut und Not, aber auch Abenteuerlust und
Unternehmungsgeist haben in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts viele unserer Vorfahren nach Kanada und Amerika geführt – Jahr für Jahr die Einwohnerzahl einer Großstadt. Auch
60
18
1. Multikulturelles Deutschland?
Auf „ausgrenzende Diskurselemente“ in Raus Rede machen auch Laviziano et
al aufmerksam.62 Sie kritisieren, dass Rau traditionelle Vorstellungen nationaler
Identität als kulturelle Einheit reproduziere und Wahrnehmungs- und Redeweisen bestätige, die man als rassistisch bezeichnen könne.63 Somit bleibt für
Laviziano et al die Frage, „ob das ‚Problem‘ des Zusammenlebens […] im
Sinne einer […] ‚Integration‘ überhaupt gelöst werden kann, solange es unter
der Prämisse der binären Ordnung artikuliert wird […].“ Sie befürchten, dass
der „an der binären Logik ausgerichtete Diskurs“ diejenigen ausschließe, „die
doch vorgeblich ‚integriert‘ werden sollen“.64 Bestätigt wird diese Beobachtung
dadurch, dass innerhalb der Rede von Rau, die auf gegenseitiges Verständnis
plädiert, stark polarisiert wird. So wie Habermas und Derrida die Besinnung
auf eine gemeinsame europäische Identität forderten, um ein politisches Gegengewicht zu den USA auf die Waage zu bringen,65 sieht Rau in der Besinnung auf die „eigene Identität“ eine Chance zur besseren Integration von
„Neuankömmlingen“.
Als Integritätsstandards lassen sich in den Debatten als Mindestanforderung
Sprache und das Beachten der in Deutschland geltenden Gesetze nennen. Aus
konservativen Kreisen kommt der Aspekt der Religion hinzu. In den in
Deutschland geführten öffentlichen Debatten wird eine entschiedene Anpassung der Minderheiten an die Mehrheitsgesellschaft gefordert.
Ob dies langfristig die politische, ökonomische und demographische Integrität
Deutschlands gewährleisten wird, oder ob es ein Zeichen für ein Festhalten am
Deutsche waren einmal Wirtschaftsflüchtlinge. Auch Deutsche sind vor politischer Verfolgung
geflohen. Auch Deutsche haben zum Aufbau anderer Länder beigetragen.“ Ebd. S. 255f.
61 Vgl.: „Im klimatisierten Auto multikulturelle Radioprogramme zu genießen, ist eine Sache. In der
U-Bahn oder im Bus umgeben zu sein von Menschen, deren Sprache man nicht versteht, das ist eine
ganz andere. Ich kann Eltern verstehen, die um die Bildungschancen ihrer Kinder fürchten, wenn
der Ausländeranteil an der Schule sehr hoch ist. Ich kenne das aus eigener Erfahrung. Ich kann auch
verstehen, wenn überdurchschnittlich hohe Kriminalität junger Ausländer und Aussiedler vielen
Menschen Angst macht. Ich kann verstehen, wenn nicht nur Mädchen und junge Frauen Angst vor
Anmache oder Einschüchterung durch Cliquen von ausländischen Jugendlichen haben. Ebd. S. 258.
62
Laviziano/Mein/Sökefeld: „To be German or not to be...“. S. 41.
Vgl.: „Wiederholt bezeichnet er [Rau; Y.D.] „die Ausländer“ mit Hinweis auf ihre ‚kulturelle Differenz‘ als Quelle von „Sorgen“, „Schwierigkeiten“ und „Problemen“. Eine soziale Situation, in der
Menschen „mit sehr unterschiedlichem kulturellen und religiösen Hintergrund“ zusammenleben,
führe (naturgemäß) zu „Angst“ und „Unsicherheit“, die es zu überwinden gelte, um Ausschreitungen gegenüber Ausländern zu verhindern. […] Andere mögliche Ursachen für die so genannte
‚Fremdenfeindlichkeit‘ werden von Rau nicht genannt.“ Ebd. S. 42f.
63
64
Ebd. S. 48.
Vgl. Jacques Derrida/Jürgen Habermas: Unsere Erneuerung nach dem Krieg: Die Wiedergeburt Europas.
In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 31.05.2003.
65
19
1. Multikulturelles Deutschland?
status quo ist, das den Zusammenhalt von Mehrheit und Minderheitengesellschaften erschwert, wird sich zeigen. In den USA sind Nachweise von englischen Sprachkenntnissen für die Einbürgerung ebenso Usus wie chinesische
Straßenzeichen in San Franciscos Chinatown oder spanischsprachige Schilder
in öffentlichen Gebäuden.
Vielleicht kann ein wahrer Zusammenhalt nur erreicht werden, wenn auch die
Vergangenheit der Einwanderer als Teil der eigenen Gesellschaft akzeptiert
wird.66 Das ist ein Gedanke, der in Kapitel 4 in Rahmen der Analyse von Zafer
Şenocaks Gefährlicher Verwandtschaft fortgeführt wird.
66 Vgl.: „Die Identität einer Gesellschaft beruht auf der immer wieder zu inszenierenden, in verschiedenen symbolischen Medien (Bilder, Architektur, Rituale) verkörperten Erinnerung an eine gemeinsame Vergangenheit.“ Dietrich Harth: Die literarische als kulturelle Tätigkeit: Vorschläge zur Orien-tierung.
In: Hartmut Böhme/Klaus R. Scherpe (Hgg.): Literatur und Kulturwissenschaften. Reinbek:
Rowohlt, 1996. S. 320-340. S. 332.
20
2. Im Spannungsfeld von Mehrheitsliteratur
und Minderheitenliteraturen
2.1 Migrationsliteratur im deutschen literarischen Feld
Das ist ohnehin eines der großen Probleme der zweiten
(Schriftsteller-) Generation: Die Vereinnahmung als Ausländer, die Zuordnung zur „Ausländer-Literatur“. Dabei
wollen diese Autoren gerade nicht als Vorzeige-Exoten bei
Multikulti-Wochen herhalten. Einfach scheint das nicht zu
sein, und manchmal tragen die Autoren wohl auch selbst
dazu bei.67
Äußerst treffend formuliert Antje Weber die Situation der „Autoren[...], die
aus fremden Ländern stammen“68 oder „Autoren anderer Muttersprache“,69
um einige der umständlichen Bezeichnungen für Migrationsautoren zu nen-
67
Antje Weber: Der Aufstand der Vorzeige-Exoten. In: Süddeutsche Zeitung, 17.04.1999.
Irmgard Ackermann (Hg.): Fremde AugenBlicke. Multikulturelle Literatur in Deutschland. Bonn: Inter
Nationes, 1996 S. 7.
68
69
Ackermann (Hg.): Fremde AugenBlicke. S. 168.
21
2. Im Spannungsfeld von Mehrheitsliteratur und Minderheitenliteraturen
nen. In Bezug auf das Verhältnis von Mehrheitsliteratur und Minderheitenliteraturen steht allerdings weniger eine Identitätsfrage, auf die sich beispielsweise
anhand der Schwierigkeit diese Literatur zu benennen schließen ließe, sondern
vielmehr eine Integritätsfrage – die Frage nach Anerkennung, Annahme oder
Ausschluss.
Fragen wie „Wir sprechen ihre Sprache und sie hören uns doch nicht zu! Sind
wir zu schlecht für ihre Sprache?“ leiten kulturelle Veranstaltungen und wissenschaftliche Tagungen, die sich mit Migrationsliteratur auseinandersetzen.
Die Beiträge zur Diskussionsrunde im Rahmen der 1. Mainzer Migranten LiteraTour,70 dem das obige Diskussionsthema entstammt, sollen im Folgenden
stellvertretend für das ‚Dauerthema‘ rund um Migrationsliteratur kritisch betrachtet werden, da die Hauptpunkte sich hier besonders gut herauskristallisieren.
Obwohl kritisiert wird, dass Migrationsliteratur aus dem deutschen Literaturbetrieb ausgegrenzt werde, finden sich Migrationsautoren immer wieder zusammen und bestätigen durch die Teilnahme an Veranstaltungen, die Diskussionsthemen wie das oben zitierte formulieren – in denen „wir“ (Migrationsautoren) und „sie“ (deutsches literarisches Feld im allgemeinen) klar voneinander
abgegrenzt werden – die Sonderstellung, gegen die sie sich wehren. Zum einen
wird die kategorisierende Fremdzuschreibung abgelehnt – auch wenn sie sich
mit der Selbstwahrnehmung deckt, wie beispielsweise im Fall von Bahman
Nirumand, der sich durchaus als „ausländische[n]“ Autor versteht.71 Zum anderen kann die Teilnahme an spezifischen Veranstaltungen zur Migrationsliteratur in reiner Notwendigkeit begründet sein, weil sich kein anderes Forum
bietet, um die eigenen Texte einer Öffentlichkeit vorzustellen – was diese Haltung allerdings nicht rechtfertigt.
Was auch immer die Gründe sein mögen, festzuhalten bleibt, dass viele Migrationsautoren in eben dem „Reservat“72 festzusitzen scheinen, das vielen von
ihnen so verhasst ist. Şenocak beispielsweise spricht sich äußerst kritisch dem
oben genannten Titel der Diskussionsrunde gegenüber aus – dennoch diskutiert er in dieser mit.
José F.A. Oliver übernimmt eine Position, die im Laufe dieser Arbeit immer
wieder eine wichtige Rolle spielen wird: Man werde zum Ausländer „gemacht“.
Damit greift er ein gemeinsames Problem von so genannten ‚Minderheitenlite70 Das Thema einer weiteren Diskussionsrunde derselben Veranstaltung lautete „Migrantenliteratur –
Stigma und Etikett für Billigware?“. Vgl. Nasrin Amirsedghi/Thomas Bleicher (Hgg.): Literatur der
Migration Mainz: Donata Kinzelbacher, 1997. S. 139.
71
Vgl. Amirsedghi/Bleicher (Hgg.): Literatur der Migration. S. 130f.
Gegen die Verortung ins Reservat. Migrationsliteratur 2000 – eingewanderte Autoren äußern sich zu Deutschland, ihrer Literatur ihren Perspektiven. In: die tageszeitung, 17.10.1995.
72
22
2. Im Spannungsfeld von Mehrheitsliteratur und Minderheitenliteraturen
raturen‘ auf: „[M]an wird ja auch zu einer Vertreterin der Frauenliteratur gemacht, man wird zu einem Vertreter der Schwulenliteratur gemacht […]“.73
Fraglich bleibt jedoch, ob man diese von außen zugeschriebene Identität annehmen muss, was letztlich bei der Frage nach literarischer Qualität endet:
Wird die literarische Qualität nicht anerkannt, weil Migrationsautoren zu Ausländern „gemacht“ werden oder fehlt die Anerkennung, weil es an literarischer
Qualität mangelt? Sind Özdamar und Terézia Mora Ausnahmeerscheinungen
was die literarische Qualität von Migrationstexten angeht? Oliver hat die Frage
nach seiner Identität im Übrigen wie folgt gelöst: „Ich habe gar nicht die Absicht deutscher Autor zu werden, weil ich keiner bin. Ich bin deutschsprachiger Autor.“74
Adel Karasholi, der lange Zeit in der DDR lebte, sah sich dort nicht mit einer
Kategorisierung konfrontiert: „Man nannte meine Gedichte weder Ausländerliteratur, noch Migranten- oder Gastarbeiterliteratur, sondern schlicht und
einfach Gedichte: […] Erst nach der Einheit bin ich auf einmal wieder nur
noch Ausländer.“75 Aus dieser „Schublade“ könne er nur in den neuen Bundesländern, wo er noch als Lyriker bekannt sei, „ausbrechen“.76 In Bezug auf
seine Rezeption nach der deutschen Wiedervereinigung spricht er ein Phänomen an, das sich im Kapitel zur Gefährlichen Verwandtschaft wieder finden wird:
das veränderte Klima bezüglich Zugehörigkeiten und Identitäten nach der
deutschen Einheit 1990.
Şenocak wendet sich gegen die Zusammenfassung aller Migrationsautoren in
einem ‚wir‘ und betont die individuelle schriftstellerische Leistung eines jeden.
In der Pauschalisierung sieht er den Grund für die fehlende Anerkennung der
Migrationsautoren:
Weil so lange pauschalisiert wurde, werden diese Literatur
und diese Schriftsteller nicht in ihrem Wert anerkannt, und
das wirft sogar einen Schatten auf einen Dichter wie Adel
Karasholi. Solange man nicht merkt, was für eine
meisterhafte Verwendung der Sprache in der literarischen
Sprache eines Dichters Karasholi steckt und solange man
lieber über die Identität von Herrn Karasholi spricht, wird
man diese Literatur nicht wahrnehmen.77
73
Vgl. S. 119.
74
Amirsedghi/Bleicher (Hgg.): Literatur der Migration. S. 120.
75
Ebd. S. 119.
76
Ebd. S. 119.
77
Ebd. S. 122.
23
2. Im Spannungsfeld von Mehrheitsliteratur und Minderheitenliteraturen
Dieses Statement kann genauso als Kritik an der literaturwissenschaftlichen
Beschäftigung mit den Texten von Migrationsautoren gelesen werden, die
häufig den Aspekt der Identität der Autoren in den Vordergrund stellen. Şenocak vermisst die ästhetische Ebene der Debatten.
Später benutzt Şenocak selbst das ‚wir‘ in Bezug auf Migrationsautoren, woran
sich offenbart, wie schwer es ist, aus dem Rahmen der kritisierten binären
Oppositionen auszubrechen:
Im Grunde genommen sollten wir […] über Werke sprechen, über einzelne Werke. Aber wir sind noch nicht einmal an den Punkt gelangt, dass wir über einzelne Autoren
sprechen. Wir sprechen über Autoren noch immer als eine
völlig undefinierbare und aus der Situation heraus konstruierte Gruppe. Daran finde ich uns selber auch nicht unschuldig. Über all die Jahre hinweg […] haben wir es uns
einfach zu leicht gemacht. Wir haben nicht genügend die
Frage gestellt, wie sie wahrgenommen wird und was man
dagegen tun kann. […]78
Mit seiner Position stellt Şenocak ein Musterbeispiel für die widersprüchliche
Haltung der Migrationsautoren dar79 – die Suleman Taufiq auf den Punkt
bringt:
Es gibt ein „Wir“ und Şenocak macht dabei mit. Solange
wir vom „Wir“ profitieren, sagen wir „Wir“. Wenn wir
nicht mehr davon profitieren, sagen wir nicht mehr „Wir“.
Das ist nicht richtig, denn wir haben auch in der Vergangenheit von diesem Bonus profitiert. Wir sind selbst Schuld
an der Misere – daran, dass unsere Literatur bis heute entweder als Folklore dargestellt wird oder, um zu beweisen,
wie schlecht es uns in dieser Gesellschaft geht, für die Argumentation von Sozialarbeitern missbraucht wird.“80
78
Ebd. S. 122.
Dieses Phänomen beschränkt sich nicht auf die deutschsprachige Migrationsliteratur. Auch anhand österreichisch-jüdischer Literatur lässt sich das Spannungsverhältnis zwischen Selbst- und
Fremdkategorisierung aufzeigen. Vgl. dazu ein Interview mit Robert Menasse, Doron Rabinovici
und Robert Schindel. Paul Jandl: Ein Gepeinigtsein von Peinlichkeiten. Jüdisch sein in Österreich – ein Dreiergespräch. In: Neue Zürcher Zeitung, 11.07.1998.
79
80 Ebd. 132f. Zum ‚Ausländerbonus‘ vgl. auch Tayfun Erdem: Schluß mit dem 'Türkenbonus'. In: Pflasterstrand, 23.09.1989.
24
2. Im Spannungsfeld von Mehrheitsliteratur und Minderheitenliteraturen
Auch in der Gefährlichen Verwandtschaft unterlässt Şenocak es nicht, auf die Situation als Migrationsautor hinzuweisen. In einem Abschnitt, der an Zaimoğlus
Kanak Sprak erinnert und gegen Ende der Gefährlichen Verwandtschaft in den
Roman montiert ist, lässt er den Schriftsteller Şenocak zu Wort kommen:81
Ich bin Schriftsteller. Für manchen bin ich ein türkischer
Schriftsteller. Dieser türkische Schriftsteller schreibt seine
Arbeiten auf Deutsch. Mittlerweile hat er auch einen deutschen Pass, trägt aber gleichzeitig immer noch einen unaussprechlichen Namen, der in der Regel wie folgt buchstabiert werden muß: S wie Samuel – E wie Emil – N wie
Nordpol – O wie Otto – C wie Cäsar – A wie Anton – K
wie Kaufmann. So werden aus einem exotisch klingenden
Namen sieben vertraute. (GV 102)
Hier definiert sich der Autor Şenocak in erster Linie als Schriftsteller; Zuordnungen zu nationalen Kollektiven werden von außen getroffen („Für manchen
bin ich ein türkischer Schriftsteller“). Die Sprache, in der er schreibt, ist allerdings Deutsch – was ihn zumindest als deutschsprachigen Autor, wie sich auch
F.A. Oliver kennzeichnet, auszeichnet. Offensichtlich wird aber, dass Şenocak
sich gegen klare Zuschreibungen wehrt. Anhand des Buchstabierens seines
Namens veranschaulicht er, dass dieser „unaussprechlich“, „exotisch“ und
„vertraut“ zugleich ist. Auf literarischer Ebene geht Şenocak mit dem Phänomen Migrationsliteratur, dessen Teil er ist, spielerisch um. Auf Debattenebene
wird seine widersprüchliche Haltung allerdings offensichtlicher.
Das Beispiel Emine Sevgi Özdamars zeigt, dass die aktive Wahrnehmung im
deutschen literarischen Feld nicht ausgeschlossen ist; was nicht automatisch
vor gleichzeitiger Ausgrenzung schützt. Auf diesen Punkt soll im folgenden
Unterkapitel in Bezug auf die Debatten um den Ingeborg-Bachmann-Preis
ausführlicher eingegangen werden. Es würde wohl zu weit gehen, einen Zusammenhang sehen zu wollen, zwischen der Tatsache, dass von Emine Sevgi
Özdamar keine Äußerungen über Ignoranz des deutschen literarischen Feldes
Der Schriftsteller ‚Zafer‘ gehört zu den „junge[n] Türken“, die Sascha porträtiert: „Ich porträtiere
junge Türken in Deutschland, schreibe Texte, in denen sie selbst sprechen.“ (GV 94). Ähnliches hat
Feridun Zaimoğlu in Kanak Sprak getan, als er die geführten Interviews ‚nachdichtete‘. Vgl. Feridun
Zaimoglu: Kanak Sprak. 24 Mißtöne vom Rande der Gesellschaft. Hamburg: Rotbuch, 1995. S. 18. Analogien zwischen Sascha Muhteschems und Zaimoğlus Portäts gibt es auch in deren visueller Darstellung. So erscheint in beiden Fällen oberhalb des Protokolls Vorname und Berufsstand des porträtierten und eine kurze Überschrift. Hinter dieser intertextuellen Anspielung mag sich eine Kritik verbergen, die ebenfalls von Sascha in der Gefährlichen Verwandtschaft geäußert wird. Er kritisiert, dass literarischer Erfolg durch das „zur Schau“ stellen der Herkunft erreicht würde: „Vielleicht bin ich als
Schriftsteller deswegen erfolglos geblieben, weil ich meine Herkunft nicht genügend zur Schau
gestellt habe. Ich hätte ein zweisprachiger Autor sein können, und dadurch interessant. Aber ich bin
nicht zweisprachig.“ (GV 127)
81
25
2. Im Spannungsfeld von Mehrheitsliteratur und Minderheitenliteraturen
oder über die Nationalität ihrer Dichter-Identität bekannt sind, und der Tatsache, dass gerade sie als erste Autorin nicht-deutscher Muttersprache den Ingeborg-Bachmann-Preis zugesprochen bekommt und gemeinsam mit Günter
Grass zur Lesung beim Bundeskanzler eingeladen wird.
Es gibt allerdings einen Preis, der jedem Migrationsautor einmal zu Teil werden zu scheint: der speziell für „deutsch schreibende Autoren, deren Muttersprache nicht die deutsche ist“ ausgeschriebene Adelbert-von-ChamissoPreis.82 Seitdem er 1985 erstmals von der Robert Bosch Stiftung ausgeschrieben wurde, hat fast jeder Autor, der in Chiellinos Lexikon der interkulturellen
Literatur Erwähnung findet,83 den Preis erhalten; auch Emine Sevgi Özdamar,
9 Jahre nach ihrer Ehrung in Klagenfurt.84 Dabei verstärkt die gesonderte
Preisvergabe wieder die ‚Gettoisierung‘ der Migrationsliteratur und auch den
Eindruck, sie könne sich nicht mit deutscher Literatur messen. Der Adelbertvon-Chamisso-Preis wird als Förderpreis der ‚Mehrheit‘, der dominanten Kultur an die ‚Minderheit‘ vergeben.85 Der Wettbewerb impliziert, dass Migrationsautoren der deutschen Sprache noch nicht ausreichend mächtig sind und
gefördert werden müssen. Den Autoren nichtdeutscher Herkunft wird von
vornherein nur die Möglichkeit gegeben, in einem bestimmten Raum, dem
„ethnic pigeon hole“ aktiv zu sein.86 Das impliziert auch, dass die Migrationsliteratur mit einem Rabatt gemessen wird. Reich-Ranicki, der sich diesbezüglich
Vgl. Viele Kulturen – Eine Sprache. Adelbert-von-Chamisso-Preisträgerinnen und –Preisträger 1985-2003.
Stuttgart: Robert Bosch Stiftung, 2003. S. 4.
82
83
Vgl. Carmine Chiellino (Hg.): Interkulturelle Literatur in Deutschland: ein Handbuch. Stuttgart: Metzler, 2000.
Terézia Mora erhielt ebenfalls zuerst den Ingeborg-Bachmann-Preis (1999) und dann den Adelbert-von Chamisso-Förderpreis (2000). Sie ist die zweite Autorin nichtdeutscher Muttersprache, die
den Ingeborg-Bachmann-Preis verliehen bekam.
84
85 Vgl.: „However the Institute [für Deutsch als Fremdsprache; Y.D.] also played a part in the stereotyping of this literature through a range of normative pronouncements. This was still patronage by
the dominant culture.“ Sabine Fischer/Moray McGowan: From Pappkoffer to Pluralism. In: David
Horrocks/Eva Kolinsky (Hgg.): Turkish Culture in German Society Today. Providence: Berghahn,
1996. S. 1-22. S. 4. Sigrid Weigel spricht von einer „kleinen Literatur“ und bezieht sich damit auf
Deleuze und Guattari. Vgl. Sigrid Weigel: Literatur der Fremde. In: Klaus Brieglieb/Sigrid Weigel:
Hansers Sozialgeschichte der Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Bd. 12. München:
Hanser, 1992. S. 182-229. Als Merkmale einer „kleinen Literatur“ definieren diese die Deterritorialisierung der Sprache, die Koppelung des Individuums ans unmittelbar Politische und eine kollektive
Aussagenverkettung. Vgl. Gilles Deleuzes/Félix Guattari: Kafka: Für eine kleine Literatur. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1996. S. 27. Allerdings trifft das erste Merkmal der Deterritorialisierung der
Sprache nur auf Migrationsautoren wie Aras Ören und Güney Dal zu, die zwar in Deutschland, aber
auf Türkisch schreiben.
86 Diesen Ausdruck verwendet Göktürk in Anlehnung an den englischen Sprachraum, wo er für eine
‚ethnische Nische‘ steht. Deniz Göktürk: Muttikülturelle Zungenbrecher. Literatürken aus Deutschlands
Nischen. In: Sirene. Zeitschrift für Literatur 12/13. S. 77-93. S. 86.
26
2. Im Spannungsfeld von Mehrheitsliteratur und Minderheitenliteraturen
bereits gegen den vorsichtigen und dadurch herabwürdigenden Umgang der
westdeutschen Literaturkritik mit DDR-Autoren wandte, bezieht dieses Argument auch auf Özdamar.87 Auch Tayfun Erdem kritisiert eine gewisse „Ausländerfreundlichkeit“ in Bezug auf ausländische Künstler und fordert: „Schluß
mit dem ‚Türkenbonus‘!“88 Ein solcher Umgang sei keine Anerkennung als
Künstler, sondern eine Missachtung, die unter dem Namen „Solidarität“ firmiere.
Özdamars Sieg in Klagenfurt kann insofern eine Wende in der Aufnahme der
Migrationsliteratur bedeuten. Dieser Gedanke findet sich pointiert bei Göktürk. Sie spricht in diesem Zusammenhang von einer symptomatischen Veränderung in der Wahrnehmung der „Ausländerliteratur“.89 Bisher sei die so genannte „Gastarbeiterliteratur […] wohlwollend gehegt [worden] in der Nische
der Sozialfürsorge, doch als Literatur selten ernst genommen [worden].“90 In
der Verleihung des Ingeborg-Bachmann-Preises zeichnet sich nach Göktürk
„möglicherweise ein Aufhorchen ab, das weiterreicht, als das überhebliche
Wohlwollen von Ausländerförderprogrammen, obgleich der Exotismus immer
noch die treibende Kraft für das Interesse an Emine Sevgi Özdamars Text zu
sein scheint.“91
Vgl. Marcel Reich-Ranicki anlässlich einer Besprechung der Brücke vom Goldenen Horn in der Sendung „Literarisches Quartett“, die am 06.06.1998 im ZDF ausgestrahlt wurde. Vgl. auch Marcel
Reich-Ranicki: Ohne Rabatt. Über Literatur aus der DDR. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt, 1991.
87
88
Vgl. Tayfun Erdem: Schluss mit dem Türkenbonus.
89
Göktürk: Muttikültürelle Zungenbrecher. S. 78.
90 Ebd. S. 78. In der „Nichtrezeption“ sieht Johnson eine Parallele zwischen Exilanten- und Migrantenliteratur. Vgl. Sheila Johnson: Literatur von deutschschreibenden Autorinnen islamischer Herkunft. In:
German Studies Review 20 (1997). S. 262-278. S. 264f.
91
Göktürk: Muttikültürelle Zungenbrecher. S. 79.
27
2. Im Spannungsfeld von Mehrheitsliteratur und Minderheitenliteraturen
2.2 „Tausendundeine Geschichten“92 – Die Karawanserei im Spiegel
der Presse
Obwohl Emine Sevgi Özdamar durch den Erhalt des Ingeborg-BachmannPreises in das deutsche literarische Feld aufgenommen wurde, wurde sie
gleichzeitig durch eine orientalisierende Rezeption der Karawanserei ausgegrenzt. Diese Ausgrenzung kann darin begründet sein, dass in gewisser Weise
die Integrität der deutschen Literatur ‚geschützt‘ werden sollte.
An dieser Stelle soll untersucht werden, inwiefern ein Ausschluss aus dem
deutschen literarischen Feld durch Orientalisierung vorliegt. Dabei werden
sowohl das Urteil der Jury des Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbes als auch die
Kritiken in den großen deutschen Zeitungen betrachtet. Obwohl durchaus
auch das ‚Deutsche‘ an Özdamars Roman bemerkt wurde,93 überwiegt eine
Kennzeichnung als ‚orientalisch‘ und ‚märchenhaft‘.
Beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb 1991 trug Özdamar Passagen vor, die
weitestgehend den Anfang des später erschienenen Romans bilden. Mit dem
Ende der Erzählung des Großvaters auf der Reise nach Malatya (vgl. K 48)
beendete sie auch ihre Lesung.94 In der Diskussion der Jury wurde der Text als
„voll von originalen, archaisch-altertümlichen Elementen“95 und als „märchenhaft gefiltert und mit Bildern türkischen Ursprungs vermengt“ bezeichnet.96 Er liefere „in märchenhaft zupackender Weise Bilder aus einer fremden
Welt“.97 Diese steht im Gegensatz zur ‚bekannten‘ also der westlichen Welt. So
sagt beispielsweise Hage: „Und ich finde es gerade bemerkenswert an dieser
Erzählung, wie unsere und die fremde Welt in diesem Erzählteppich verwoben
werden.“98 In dieser Äußerung erscheint die „fremde Welt“ als notwendiger
92 Eva Pfister: Ein Roman wie ein Teppich – gewebt aus unendlich vielen Geschichten. In: Börsenblatt für den
deutschen Buchhhandel, 8.4.1993.
Harro Zimmermann entdeckt in Özdamars Text den „geradezu lapidaren Surrealismus der sinnlichen deutschen Prosa“ und wird damit auf dem Klappentext der Karawanserei zitiert. Vgl. Harro
Zimmermann: Spinnennetz der Tradition. Emine Sevgi Özdamars erster Roman. In: Frankfurter Rundschau,
10.2.1993.
93
Ein Abdruck ihrer Lesung findet sich in Heinz Felsbach/Siegbert Metelko (Hgg.): Klagenfurter
Texte. Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb 1991. München: Piper, 1991. S. 15-28.
94
95
Felsbach/Metelko (Hgg.): Klagenfurter Texte. S. 147.
96
Ebd. S. 147.
Ebd. S. 167. Diesen Ausdruck benutzt nicht nur Hage, sondern auch Karasek, der im übrigen
behauptet, dass sich die „fremde“ Geschichte „aufs Müheloseste“ erschließe.
97
98
Ebd. S.151.
28
2. Im Spannungsfeld von Mehrheitsliteratur und Minderheitenliteraturen
Gegenpol zur eigenen, westlichen Welt. Diese fremde Welt wird charakterisiert
als voll von „Erzähllust“ und „Fabulierlust“,99 voller Märchen und Mythen100
und einem großen „Metaphernschatz“.101 Eine andere Seite stellt Karasek in
den Vordergrund. Er thematisiert die „schreckliche“ türkische Geschichte.102
Neben einem märchenhaften Bild erscheint hier also auch ein despotisches.
Beiden Bildern ist aber gemeinsam, dass sie einer „fremden“ Welt entstammen, die als Gegenbild zu „unserer“ Welt fungiert.
Auch im Spiegel der Presse zum Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb erscheint
die Karawanserei mehr orientalisches Märchen als ein qualitativ hochwertiger
literarischer Text. Von „exotischer Kost“ wird in der Süddeutschen Zeitung geredet.103 Eine „märchenhafte Türkeigeschichte“ heißt es in der Neuen Zürcher
Zeitung.104 Auch von einem „Knüpfwerk märchenhaft mythischer Bilder [...]
wie ein fliegender Teppich aus 1001 Nacht“ ist die Rede.105 Orientalische Zuschreibungen prägen durchgehend die Rezensionen bei Erscheinen des Romans. Weitere Beispiele dafür sind, dass Özdamar „Tausendundeine Geschichten“ vorlese,106 die Sprache „die der archaischen Bilderwelt des Orients“107 sei und die Zugfahrt mit dem Großvater zu „einem Lehrstück orientalischen Geschichtenerzählens“ werde.108 Sartorius von der tageszeitung meint, in
dem Buch gebe es „zehntausendundzehn Episoden, die dieses Buch prall machen wie ein mit Ayran gefülltes Hammelbalg“ und das Wort Bismillahirah-
99
Ebd. S.148.
100
So sagt Cazzola: „Große Märchenstoffe werden da bearbeitet und Mythos.“ Ebd. S. 148.
101
Ebd. S.148.
102
Ebd. S. 148.
Verena Auffermann: Die Schöne und der Unhold: Speisereste und Tiefkühlkost oder der 15. Klagenfurter
Bachmann-Wettbewerb. In: Süddeutsche Zeitung, 2.7.1991.
103
Heini Vogler: ‚Schreiben wollen ist nicht schwer…‘. Der 15. Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt.
In: Neue Zürcher Zeitung, 2.7.1991.
104
105 Ulrich Baron: Teufelskreis der Namenslosigkeit. Der 15. Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt: Ein
Wettlesen der literarischen Newcomer. In: Rheinischer Merkur/Christ und Welt, 5.7.1991.
106
Pfister: Ein Roman wie ein Teppich – gewebt aus unendlich vielen Geschichten.
Meike Fessmann: Als gingen die Wörter von Mund zu Mund. Nach dem Prosaband „Mutterzunge“ erscheint
Emine Sevgi Özdamars erster Roman. In: Süddeutsche Zeitung, Nr. 226 (Beilage).
107
108
Ebd.
29
2. Im Spannungsfeld von Mehrheitsliteratur und Minderheitenliteraturen
manirahim sei „einhundertundeinmal über den ganzen Text verteilt“ .109 Nicht
nur Episoden und ‚Bismillahirahmanirahims‘ werden gezählt, auch Figuren
treten 1001 mal auf.110
Auffällig ist, dass die Rezensenten mit gängigen Klischees arbeiten. Die Bilder,
die herangezogen werden, sind die der Welt von 1001 Nacht. Zahlenspiele mit
dem Titel der berühmten Märchensammlung und Inhalte wie der fliegende
Teppich werden assoziiert. Begriffe wie „westliche und östliche Erzähltradition“ werden verwendet, ohne die Unterschiede genauer zu spezifizieren. Die
Karawanserei wird somit primär als fremdes Gegenbild zum Westen ausgezeichnet. Dieses Fremde wird in ein statisches Bild gepresst. Immer wieder
wird beispielsweise die Archaik des Romans betont.
Volker Hage warnt allerdings davor, „einem umgekehrten Eurozentrismus [zu
verfallen] und alles gut zu finden, was ungewohnt ist.“111 In einem solchen Fall
würde vor allen Dingen der ‚exotische Reiz‘ der Literatur im Vordergrund
stehen, ähnlich wie es bei den Märchen aus 1001 Nacht der Fall war, die in
Deutschland eine Orientalismus-Welle auslösten.112 Diese Aussage impliziert
zusätzlich, dass diese Literatur nicht mit einem „Rabatt“ gemessen werden soll,
der die ästhetische Qualität unberücksichtigt lässt.113
Neben orientalischen Zuschreibungen wird in Rezensionen immer wieder der
Eindruck erweckt, dass der Text von Urs Allemann mit dem Titel Babyficker,
der ebenfalls in der engeren Wahl war, der im Vergleich zur Karawanserei literarisch bessere gewesen sei:
Sie [die Jury; Y.D.] hätte den Skandal wählen und Urs Allemanns virtuose, aber als obszöne Sensation gehandelte
Etüde „Babyficker“ mit dem ersten Preis auszeichnen können. [...] Statt dessen wählte die Jury die Flucht in die Unglaubwürdigkeit und nominierte den hilflosen Text einer
deutsch schreibenden Türkin, der mit folkloristischen Elementen aus der Märchentradition ihrer Heimat spielt, die
von den Juroren gutmütigerweise für Surrealismus gehalten
109 Joachim Sartorius: Mit Bismillâhirahminarihm in seine zitternden Arme. In: die tageszeitung, 30.9.1992.
Wierschke lobt zwar seine Mühe, das nachgezählt zu haben, sie selber hat es aber anscheinend versäumt. Denn dann hätte sie bemerkt, dass Satorius sich darauf beschränkte, Anspielungen auf 1001
Nacht zu machen. Vgl. Wierschke, Anette: Schreiben als Selbstbehauptung: S. 175.
110
Eva Pfister: Ein Land wie eine Tür. In: Der Standard, 25.9.1992.
111
Felsbach/Metelko (Hgg.): Klagenfurter Texte. S.150.
112
Vgl. dazu Robert Irvin: Die Welt von Tausendundeiner Nacht. Frankfurt/Main: Insel, 1997.
113
Vgl. Anm. 87.
30
2. Im Spannungsfeld von Mehrheitsliteratur und Minderheitenliteraturen
wurden. [...] Nur aus Pietät, wie es sich für einen Nachruf
gehört, sei hier der Name der Autorin genannt [...].114
Aufgrund seines provokanten Inhalts löste Allemanns Text allerdings heftige
Diskussionen innerhalb der Jury aus und führte sogar dazu, dass der Juror
Roberto Cazzola entrüstet das Podium verließ.
Wenn es auch Stimmen gibt, die die Bedeutung von Özdamars Text für den
deutschen Sprachraum hervorheben,115 so wird er trotzdem als fremd empfunden. Die „fremde“ Kultur wird zwar vielfach als „Bereicherung“116 angesehen, aber die eigene westliche Kultur wird als ‚rein‘ und dominierend betrachtet, woran sich auch ein Überlegenheitsduktus ablesen lässt:
[...] es hat ja auch in unserer europäischen, in der deutschen
Kultur immer wieder Tendenzen gegeben, die orientalischen Kulturen hereinzulassen. [...] Und es zeigt sich ja
dann, was da für fruchtbare Synthesen entstehen.117
Es liegt also im Ermessen der ‚europäischen Kulturen‘, ihr Gegenbild, die ‚orientalischen Kulturen‘, „hereinzulassen“.118 Die „fruchtbare Synthese“, von der
hier die Rede ist, kann eigentlich nicht aus gleichwertigen Teilen entstehen,
Jens Jessen: Lockruf der Eitelkeit: Klagenfurt wickelt sich ab: Der fünfzehnte Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb.
In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2.7.1991. Ähnlich klingt es in der Stuttgarter Zeitung an: „Özdamars Preis ist verständlich, wenn man weiß, dass Urs Allemanns „Babyficker“ sonst unausweichlich geworden wäre. Dank der deutschen Märcheninterpretation einer multikulturellen Gesellschaft,
die Özdamars Worte zuließen, konnte Allemanns Provokationstext mühsam auf den zweiten Platz
geschoben werden.“ Helmut Böttiger: Nicht mit Babys. Bemerkungen zum Klagenfurter BachmannWettbewerb. In: Stuttgarter Zeitung, 2.7.1991. Vgl. auch: „Gegen die Entscheidung, der türkischen
Autorin und Schauspielerin Özdamar für ihre märchenhaft-folkloristische Erzählung aus der Heimat
den Ingeborg-Bachmann-Preis zu verleihen, spricht vielleicht vor allem, daß diese Entscheidung wie
eine Notlösung erscheinen musste. Der Skandal sollte verhindert werden und war doch längst da.“
Skandalon in Klagenfurt. In: Der Spiegel (28) 1991. S. 172-176. S. 173.
114
115 So Corino: „Ich postuliere indes, dass diese Literatur für den deutschen Sprachraum insgesamt in
den nächsten Jahren, Jahrzehnten immer wichtiger werden wird. Diese Literatur, die sozusagen von
den Rändern herkommt, – und das ist möglicherweise ein problematisches Bild-, kann der manchmal doch etwas dürren deutschen Sprache, neues, frisches Blut zuführen.“ Vgl. Felsbach/Metelko
(Hgg.): Klagenfurter Texte. S. 149.
So z.B. Volker Hage: „Ich stimme für den Prosatext ‘Das Leben ist eine Karawanserei‘ von Emine Sevgi Özdamar, weil er in märchenhaft zupackender Weise Bilder aus einer fremden Welt gibt
und so die neue deutsche Literatur um neue Töne und Sujets bereichert.“ Vgl. ebd. S. 167.
116
117
So urteilt Corino. Vgl. ebd. S. 150.
118 Als Gegensatzpaare vorgestellt werden u.a. „archaisch-altertümliche Elemente“ gegen ein „modernes Bewußtsein“ und europäische Erzähltechnik gegen „märchenhaft gefilterten“ und mit „Bildern türkischen Ursprungs“ vermengten Surrealismus. Vgl. ebd. S. 147.
31
2. Im Spannungsfeld von Mehrheitsliteratur und Minderheitenliteraturen
weil die westliche Kultur als dominant angesehen wird. Sie entscheidet, in welchem Maße welche Kulturen akzeptiert werden. Der vorgetragene Text und
somit auch die Autorin Özdamar werden mit dieser Aussage eindeutig als
fremd, als nichteuropäisch markiert.
Nun ist es aber nicht so, dass die Rezensenten Elemente an den Roman herantragen, die dort nicht vorkommen. Wenn Özdamar das Bild eines Teppichs
verwendet, den der Großvater im Erzählen benutzt, so liegt es nahe, den ganzen Roman mit einem Teppich zu vergleichen, wie das Sigrid Löffler119 und
Eva Pfister120 beispielsweise tun. Allerdings konzentrieren sich die meisten
Kritiker ausschließlich auf eben diese Elemente.
Helmut Böttiger gehört zu den wenigen Kritikern, die nicht bei der Beschreibung orientalischer Bilder bleiben, sondern orientalisierende Momente ansprechen: „Mit der Türkei, mit der Kultur dort hat dieser Text weniger zu tun als
mit einer Projektion deutscher Kulturbeteiligter, wie der Orient bitteschön
vorzustellen sei – märchenhaft.“121 Dieser Beurteilung stimme ich bedingt zu:
In dieser Arbeit wird kritisiert, dass die Rezensenten in den Roman ihr eigenes
Orientbild projizieren. Die Aussage Böttigers impliziert aber auch, dass Özdamar tatsächlich keine authentische Darstellung in Bezug auf die Türkei vornimmt, sondern den Erwartungen des westlichen Publikums entspricht – was
ihr auch von türkischer Seite vorgeworfen wurde.122
„Aber wie dieses Bild von dem webenden, gewebten, sich selber webenden Erzählteppich gleichzeitig auf die Erzählung, auf die erzählte, gewebte, geknüpfte Erzählung umgelegt wird, das geht hier
wunderschön zusammen.“ Vgl. ebd. S. 149.
119
120
Pfister: Ein Roman wie ein Teppich – gewebt aus unendlich vielen Geschichten.
121
Böttiger: Nicht mit Babys.
Zafer Şenocak wirft Özdamar offenkundige Orientalisierung vor. Die Anpassung an deutsche
Leseerwartungen steigere die Verkaufszahlen. Vgl. Zafer Senocak: Atlas des tropischen Deutschland.
Berlin: Babel, 1993. S. 69. Er verfasste auch einen persiflierenden Gedichtessay auf die Karawanserei.
Vgl. Zafer Şenocak: War Hitler Araber? Irreführungen an den Rand Europas. Berlin: Babel, 1994. S. 55-58.
Die Schriftstellerin und Literaturkritrikerin Sennur Sezer kritisiert ebenfalls, dass Özdamar einen
Roman in Hinblick auf hohe Verkaufszahlen geschrieben habe. Sennur Sezer: Emine Sevgi Özdamar‘dan iki ödüllü bir kitap: „Hayat bir kervansaray“. In: Cumhuriyet Kitap, 23.09.1993. Dagegen lobt
der angesehene türkische Schriftsteller Can Yücel die universell „kindliche“ Sprache der Karawanserei.
Yücel betont, dass er mit „kindlich“ nicht „kindisch“ meine. Bei der Bezeichnung als „kindlich“
bezieht er sich auf eine Aussage von William Wordsworth. Demnach sind Kinder die Ahnen der
Menschen. (Vgl.: „Onun için Sevgi’nin yazdığı roman ne Türkçedir, ne Almancadır. ÇOCUKCADIR
[Hervorhebung im Text]. Bu hiçbir zaman çocuksuluk anlamını taşımaz. Asıl mucizeyi yaratan çocukların büyüdüklerinde de ne kadar „çocuk denen büyüğün“ yani William Wordsworth’ün – çocuk insanın
atasıdır – sözünün yaşanması davasıdır…“) Can Yücel: Tanıtma In: Adam Sanat. S. 38-42. S. 42.
122
32
2. Im Spannungsfeld von Mehrheitsliteratur und Minderheitenliteraturen
Diese Ausführungen zeigen, dass die Rezensenten die Karawanserei als einen
‚märchenhaften orientalischen‘ Roman lesen,123 ohne dieses Attribut näher zu
definieren. Auch wenn vereinzelt darauf hingewiesen wird, dass moderne Elemente enthalten sind, überwiegt im Allgemeinen die Charakterisierung als
orientalisch. Dabei wird zumeist die Türkei mit dem Orient gleichgesetzt. Die
Karawanserei als orientalischer Roman erscheint als undifferenziertes Gegenbild
zur westlichen Welt, die mit Bezeichnungen wie ‚unsere Welt‘ von der ‚fremden Welt‘ abgegrenzt wird. Als ein Text ‚unserer Welt‘ und somit der deutschen Literatur, wird die Karawanserei so gut wie nie bezeichnet.
Die große Menge an Aussagen, die die Karawanserei als fremd identifizieren,
bestätigt die These, dass die Karawanserei aus dem deutschen literarischen Feld
ausgegrenzt wird.124 Die fremden Elemente scheinen betont zu werden, um
spezifische Elemente des deutschen literarischen Feldes differenzieren und
somit in dieser Distanz wahren zu können. Insofern liegt es nahe, darin eine
Taktik zu sehen, die die Integrität des deutschen literarischen Feldes als Nationalliteratur schützen soll. Die ‚fremde‘ Kultur wird zwar als mögliche Bereicherung der ‚deutschen‘ Kultur eingestuft, aber diese behält das Attribut
‚deutsch‘ und die ‚fremde‘ Kultur hat sich dieser Kategorie anzupassen. Damit
lässt sich ein ähnlicher Mechanismus feststellen wie er bereits in Bezug auf die
Zuwanderung nach Deutschland aufgezeigt wurde. Sei es die Integrität des
deutschen literarischen Feldes oder die des Staates Deutschland, sie muss gewähleistet bleiben. Fremde Einflüsse werden akzeptiert, so lange sie diese Nationalkategorien nicht aufweichen.
123 Zu diesem Ergebnis kommt auch Kuruyazıcı: : „Fast alle Kritiker haben den Roman als ein neues
Beispiel des orientalischen Märchenerzählens gelesen.“ Vgl. Nilüfer Kuruyazıcı: Emine Sevgi Özdamars
Das Leben ist eine Karawanserei im Prozeß der interkulturellen Kommunikation. In: Mary Howard (Hg.):
Interkulturelle Konfigurationen. Zur deutschsprachigen Erzählliteratur von Autoren nichtdeutscher
Herkunft München: 1997. S. 179-188. S. 185.
Der armenisch-amerikanische Schriftsteller William Sorayan wird laut Shirinian im USamerikanischen literarischen Feld in ähnlicher Position wie Özdamar klassifiziert. Kategorisiert als
,,ethnic American“ wird er unter vorgegebener Eingliederung doch ausgegrenzt. Vgl.: ,,The ethnic
label on Sorayan was a way for the dominant American culture to locate him within its own system,
and thus the semblance of cultural diversity that the ethnic revival in North America in the 1960s
and 1970s appeared to accept was instead a form of containment of cultural difference.“ Lorne
Shirinian: Writing Memory. The Search for Home in Armenian Diaspora Literature as Cultural Practice. Kingston: Blue Heron Press, 2000. Shirinian. S. 6. Shirinian interpretiert Darbinians Aussage, dass Armenier der amerikanischen Literatur vielleicht nicht die „greatest riches“ zukommen lassen werden,
aber doch das Beste, das sie haben, als eine der ersten Aussagen an, die Hybridisierung thematisiert.
Vielmehr verbirgt sich doch aber in dieser Äußerung Darbinians eine demütige Geste dem Einwanderungsland gegenüber. Obwohl von der armenischen Literatur behauptet wird, dass sie vielleicht
nicht viel zu bieten habe, wird doch die Bereitschaft gezeigt, trotz des möglichen Mankos alles in der
Hand liegende zu tun, um dem Gastland zu dienen. Vgl. ebd. S. 27.
124
33
3. Theoretischer Hintergrund
Die Migrationsliteratur in Deutschland ist seit ihrem Bestehen Thema wissenschaftlicher Beschäftigung. Sowohl die Migrationsliteratur, als auch das literaturwissenschaftliche Interesse kann in drei Phasen eingeteilt werden. Dabei
kann die erste Phase als Phase der Essenzialisierung bezeichnet werden. Sie
handelte vorwiegend von den Lebensbedingungen der Gastarbeiter in
Deutschland. Diese wurden meist in einer Opferrolle dargestellt. Sowohl die
Produktion als auch die Rezeption bediente sich stereotypisierender und essenzialisierender Beschreibungsmuster, in der ‚die Gastarbeiter‘ als feste
Gruppe auf nationale bzw. kulturelle Symbole festgelegt wurden. Darauf folgte
eine Phase, in der die literarischen Figuren als gefangen zwischen den Kulturen
aufgefasst wurden, also Teilidentitäten hatten, die sie nicht vereinbaren konnten. Dagegen herrscht nun eine Phase vor, in der die in Migrationstexten dargestellten Kulturen und Identitäten als nicht genau definierbare Mischung
verschiedener soziokultureller Elemente beschrieben werden. In dieser gegenwärtigen Phase wird Hybridität nicht nur diagnostiziert, sondern vielfach auch
zelebriert. Nur selten wird darauf hingewiesen, dass sie auch problematisch
sein kann. Eine der wenigen, die auf diesen Umstand hinweisen, ist Caren
Kaplan:
34
3. Theoretischer Hintergrund
Just as the solid association between national spaces and
identities becomes loosened and, in some cases, dissolves, the attribution of identity for subjects in modernity is uneven, increasingly differentiated, and, quite often, contradictory. To make this assertion, however, is
not to claim a celebratory hybridity in a world culture of
heterogeneity. To put it bluntly, few of us can live without a passport or an identity card of some sort. Each interaction with the institutional and cultural and, especially, governmental operates in tandem with our varied
participation in economies of production and consumption to foster myriad possibilities of identity, not all of
them liberating. These possibilities are not reducible to
“choice” or “freedom” even as they are not always equal
to “coercion” or “imprisonment.” They are articulated
evidence of the limits and possibilities of the age we live
in.125
Kaplan nach sollten also die spezifischen Umstände betrachtet werden anstatt
von einem allgemein vorherrschenden Zustand der Hybridität auszugehen, der
durchweg als positiv aufzufassen ist. So sollten Immigrationserfahrungen nicht
pauschalisiert, sondern spezifisch betrachtet werden.126 Die Erfahrung der
räumlichen Trennung werde zum Verbindungselement mit anderen gemacht
und die tatsächlich bestehenden Differenzen und Eigenarten außer Acht gelassen. Dabei sei Migration weder eine allgemeine, wünschenswerte Erfahrung
noch werde sie einheitlich erfahren.127
Wie im Laufe dieser Arbeit ersichtlich werden soll, wollen die untersuchten
literarischen Figuren sich bezüglich ihrer Zugehörigkeit zu Kollektiven definieren, weil sie so ihre soziale Anerkennung sichern; soziale Missachtung allerdings liegt vor, wenn sie von außen festgelegt werden.
Meine These ist, dass die dargestellten Figuren zwar nicht ihre Identität im
Sinne einer einheitlichen, definiten Entität suchen, jedoch um die Herstellung
und Wahrung ihrer Integrität bemüht sind – was nicht zuletzt ihr Recht darCaren Caplan: Questions of Travel. Postmodern Discourses of Displacement. Durham: Duke University
Press, 1996. S. 9.
125
126 Vgl.: „Euro-American discourses of displacement tend to absorb difference and create ahistorical
amalgams; thus a field of social forces becomes represented as a personal experience, its lived intensity of separation marking a link with others.“ Ebd. S. 2.
127 Vgl.: ,,[...] displacement is not universally available or desirable for many subjects, nor is it evenly
experienced.“ Ebd. S. 1.
35
3. Theoretischer Hintergrund
stellt, selbst zu definieren, wer sie sind; autonom und handlungsfähig zu sein.
Der Begriff der Integrität birgt vielfältige Möglichkeiten, dem Dilemma des
fortwährenden Definierens unterschiedlicher Identitätsbegriffe zu entkommen. Während Identität auf Abgrenzung durch Exklusion oder Inklusion zielt,
ist Integrität eine Integrationsinstanz, die auf die Organisation und den Zusammenhalt von Teilen, die durchaus inkompatibel erscheinen können, ausgerichtet ist und die Handlungsfähigkeit des Individuums bzw. Kollektivs gewährleistet.128 Obwohl neuere Identitätstheorien durchaus mit der Balance der
Teilidentitäten operieren, gehen sie darin meines Erachtens nicht weit genug.
Um meine Position zu konkretisieren, ist es unerlässlich, auf die wichtigsten
Punkte der relevanten Identitätstheorien einzugehen. Bei der Darstellung der
Identitätstheorien steht ein systematisches Interesse im Vordergrund: Es geht
in erster Linie darum, ein brauchbares Instrumentarium zur Analyse literarischer Texte zu erstellen. Dabei liegt mein Fokus auf modernen Theorien, obwohl es bereits im deutschen Idealismus Verweise auf die Wichtigkeit von
Reflexion und Selbstreflexion gibt – etwa bei Hegel, Jean Paul oder Fichte. Die
Funktion und Bedeutung der Fremdeinschätzung durch andere findet jedoch
keine Erwähnung.129 Auch Schiller konstatiert eine Fragmentierung der Gesellschaft und des Einzelnen, die durch einseitige Ausbildung von Fähigkeiten
und Übernahme funktionaler Rollen im bürokratischen Staat entstanden
war.130 Er hatte die Vorstellung, dass zwei Elementartriebe des Menschen in
Einklang gebracht werden müssen. Der sinnliche, der die physischen Bedürfnisse angeht und der Formtrieb, der „Harmonie in die Verschiedenheit“
bringt.131 Über eine „höhere Kunst“ sollte die zerstörte Einheit wieder hergestellt werden. Es gehöre zu den Aufgaben eines jeden Menschen, eine Identität
zu schaffen, in der die Fragmente zu einer Einheit verbunden seien. Die Widerspruchsfreiheit sei der „ästhetische Zustand“ des Menschen:
Jeder individuelle Mensch, kann man sagen, trägt, der Anlage und Bestimmung nach, einen reinen idealischen Menschen in sich, mit dessen unveränderlicher Einheit in allen
128 Vgl. dazu auch Turk/Albrecht: Integrität. Europäische Konstellationen im Medium der Literatur. Bei
Albrecht/Turk liegt der Akzent nicht auf der Organisation von Teilidentitäten, sondern auf Aspekten der wechselseitigen Anerkennung.
129
Vgl. dazu Turk: Philologische Grenzgänge. S. 382-402 und S. 432ff.
Vgl. Arndt Richter. Die Jagd nach Identität. Oldenburg: Bibliotheks- und Informationssystem der
Universität Oldenburg, 1997. S. 34.
130
Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. In: Ders: Schillers Werke, Bd 4. Hg. v. Hans Mayer. Frankfurt/Main: Insel, 1966. S. 226.
131
36
3. Theoretischer Hintergrund
seinen Abwechslungen übereinzustimmen, die große Aufgabe seines Daseins ist.132
Zentrale Positionen des modernen Identitätsdiskurses gibt Andreas Reckwitz
in einem kompakten Überblicksartikel wieder. Seine besondere Leistung liegt
in dem Vergleich zwischen modernen und post- bzw. hochmodernen Positionen. Die Unterteilung in Moderne und Hochmoderne verwendet er in Anlehnung an Giddens.
Während sich in der Moderne vornehmlich die Frage gestellt habe, ob Eigenschaften gleich seien oder bleiben, werde heute gefragt, welche Eigenschaften
überhaupt vorliegen und wer man sei. Selbstreflexivität und Selbstverstehen
stehen also im Vordergrund. Identität bezeichne „die Problematik der Kontingenz des Selbstverstehens in der Hochmoderne“ welches erst in zweiter Linie
ein Problem der Konstanz des Selbstverstehens sei.133
Die Entwicklung reflexiver oder multipler persönlicher
Identitäten und neuer partikularer kollektiver Identitäten
erscheinen als Phänomene der Hochmoderne, wie sie in
der organisierten Moderne gar nicht hätten vorkommen
dürfen.134
Das klassische Identitätskonzept sei universalistisch und kompetenztheoretisch orientiert und wesentlich auf das Problem zwischen Individuum und
sozialen Zwängen sowie auf das Problem der temporalen Konstanz konzentriert. Das hochmoderne Identitätskonzept sei im Gegensatz dazu hermeneutisch und historisch orientiert und auf das Problem des kontingenten Selbstverstehens bezogen.
Reckwitz konstatiert für Erikson und Mead eine gemeinsame Problemstellung,
die sie von Theoretikern der „Hochmoderne“ abgrenzt:
Das Problem der Identität besteht für die Theoretiker aus
der Phase der klassischen, organisierten Moderne darin, ei132 Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. S. 165f. Für eine ausführlichere Darstellung von Schillers Position und einen Vergleich mit Rousseau vgl. Richter. Die Jagd
nach Identität. S. 28-38.
133 Vgl. Reckwitz: Der Identitätsdiskurs. S. 35. Dinzelbacher sieht die Neigung zur Selbstreflexivität
als „typisch europäische Befindlichkeit“ an und sieht sie in der „als Beichtvorbereitung geforderten
Arbeit am – schlechten – Gewissen“ begründet“. Vgl. Peter Dinzelbacher: Das erzwungene Individuum.
Sündenbewusstsein und Pflichtbeichte. In: Richard van Dülmen (Hg.): Entdeckung des Ich: die Geschichte
der Individualisierung vom Mittelalter bis zur Gegenwart Köln: Böhlau, 2001. S. 41-60. S. 58. Vgl.
dazu auch die Ausführungen zum Zusammenhang von Identität und Schuld in Kapitel 4.3.
134
Reckwitz: Der Identitätsdiskurs. S. 25.
37
3. Theoretischer Hintergrund
ne Konstanz des Ich angesichts institutionalisierter sozialer
Erwartungen bzw. eine Balance zwischen Ich und sozialen
Erwartungen zu erreichen. Das klassisch-moderne Problem
der Identität wird in der Frage gesucht, wie sich individuelle
Dispositionen im Kontext sozialer Rollenanforderungen
ausbilden können. Das ‚Risiko‘ besteht dann in einer Unbalanciertheit zwischen individuellem Ich und sozialen Rollen
oder in einer Fragmentierung des Ich angesichts verschiedener sozialer Erwartungen. Dieses Problem wird als ein
überhistorisch-universales vorausgesetzt – und das Modell
seiner Beschreibung ist konsequenterweise eine allgemeine
‚Theorie der Identität‘.135
Hochmoderne Theorieansätze fragen weniger nach der Positionierung eines
von sozialen Zwängen umgebenen Menschen, sondern danach, als wer oder
was die Handelnden sich selbst verstehen sollen, „wenn sie eine als subjektiv
sinnvoll interpretierte Lebensführung vollziehen wollen“.136
Während der Aspekt des Selbstverstehens in den klassisch-modernen Identitätstheorien zugunsten des formalen Konstanzinteresses als unproblematisch
vorausgesetzt worden war, sei er nun in den „Mittelpunkt des Interesses“ gerückt.137
Im Folgenden sollen einschlägige Theorien zu individueller und kollektiver
Identität referiert werden, die zum Abschluss des Theorieteils zur Entwicklung
des Konzepts der Integrität führen sollen (Vgl. Kapitel 3.8). Dieses Konzept,
das sich als Erweiterung des Identitätsdiskurses versteht, kann nicht ohne den
symbolischen Interaktionismus nach George Herbert Mead auskommen (Vgl.
Kapitel 3.1). Wenn es heute eine Selbstverständlichkeit ist, dass Identität sich
im sozialen Kommunikationsprozess ausbildet, ist das George Herbert Mead
zu verdanken. Er war es, der einen Identifikationsbildungsprozess beschrieb,
in dem Individuen durch die Reaktion auf die Haltung anderer Identität ausbilden. Somit sieht Mead Identität nicht als Zustand an, sondern als einen Prozess. Über die Kommunikation von signifikanten Symbolen werde die Haltung
der Gesellschaft, deren Anerkennung für das Individuum zentral ist, vermittelt.
Trotz der Übernahme der wahrgenommenen gesellschaftlichen Haltung bergen Individuen Innovationspotential, das zu gesellschaftlichen Veränderungs135
Ebd. S. 28f.
136
Vgl. ebd. S. 28.
137
Ebd. S.30.
38
3. Theoretischer Hintergrund
prozessen führt. Mead vermerkt die Existenz von mehrschichtigen Persönlichkeiten, geht aber von der einheitlichen Persönlichkeit als Normalfall aus.
Mit einem starken Akzent auf der Aushandlung von Teilidentitäten hat Lothar
Krappmann den Mead’schen symbolischen Interaktionismus weitergeführt
(Vgl. Kapitel 3.2). Nach Krappmann muss ein Individuum einerseits auf Erwartungen anderer eingehen und andererseits die eigene Individualität hervorheben. Für eine gelingende Interaktion, die er als lebensnotwenig erachtet,
müsse die eigene Identität zu jeder Zeit als Ganzes repräsentiert werden – also
trotz der Einbindung in verschiedene soziale Gruppen und verschiedene Lebensstationen. Dabei gehe es nicht darum, künstlich Harmonie herzustellen.
Vielmehr müssten Diskrepanzen ausgehalten werden. Krappmann hält die
transparente Integration von Teillidentitäten für unbedingt notwendig zur
Wahrung der eigenen Identität. Diese besitze man allerdings, wie auch bei
Mead, nur, wenn sie von außen anerkannt werde.
Stuart Hall kritisiert an Mead, dass dieser von einer einheitlichen Identität ausgehe (diese Kritik lässt sich auf Krappmann übertragen), während diese in
Wahrheit dezentriert sei und nur künstlich durch eine Selbsterzählung („narrative of the self“) zusammengehalten werde; eine ‚master identity‘ (wie noch bei
Mead oder Krappmann vorhanden) gebe es nicht mehr (Vgl. Kapitel 3.3).
Während sich die Selbsterzählung bei Hall hauptsächlich auf die vergangenen
Ereignisse bezieht, spielt das Vorausplanen zukünftiger Projekte und Lebensentwürfe für Anthony Giddens eine gleichgewichtige Rolle (Vgl. Kapitel 3.4).
Nach Giddens ist ein Hauptcharakteristikum der „high“ oder „late modernity“,138 diese Begriffe verwendet er in Ablehnung des Begriffes der Postmoderne, die reflexive Konstruktion von Identität. Sein Identitätsbegriff ist an Meads
symbolischen Interaktionismus angelehnt. Auch er betrachtet Identität als
sozial konstruiert und interaktionsabhängig. In der Hochmoderne komme
allerdings die bewusst reflexive Konstruktion der Identität hinzu. Nach Giddens ist Identität selbst gemacht und planbar. Die Verantwortung tragen die
Individuen alleine. Außeneinflüsse müssen zwar bei der Lebensplanung beachtet werden, haben aber weniger Einfluss als in traditionellen Gesellschaften.
Die Identitätsgestaltung wird zur lebensnotwendigen Aufgabe.
Mead, Krappmann, Hall und Giddens geht es primär um die Ausbildung der
individuellen Identität im gesellschaftlichen Prozess. Prozesse kollektiver Identitätsbildung kommen bei den postkolonialen Kritikern Edward Said und Homi Bhabha zum Tragen.
Die Mechanismen der Identitätsbildung durch Abgrenzung von anderen Individuen und Kollektiven zeigt Edward Said anhand seiner Orientalismuskritik
138 Anthony Giddens: Modernity and Self-Identity. Self and Society in the Late Modern Age. Cambridge:
Polity Press, 1991. S. 3.
39
3. Theoretischer Hintergrund
(Vgl. Kapitel 3.5). Mit dem wissenschaftlichen Interesse der westlichen Welt
am Orient ging nach Said ein imperialistisches Interesse einher. Der Orient
wurde zum tragenden Gegenbild der westlichen Welt stilisiert. Indem negative
Attribute auf dieses Gegenbild projiziert wurden, erschien der Westen in einem positiven Bild. Der Westen sprach sich die Autorität zu, für den Orient
zu sprechen, weil dieser es nicht vermöge, sich selbst zu repräsentieren. Der
Orient wurde auf bestimmte, unveränderliche Attribute reduziert und somit
essenzialisiert.
Edward Said kann mit seinem Antiessenzialismus als Wegbereiter für Homi
Bhabhas Hybriditätstheorie angesehen werden. Diesem nach ermöglicht das
Zusammentreffen verschiedener Kulturen das Entstehen von Zwischenräumen, die zu Orten hybrider Kulturen werden können, in denen die bislang
vorherrschenden Dichotomien als undurchdringbar verwobene Gemeinsamkeiten hervortreten (Kapitel 3.6).
Begreift man Saids und Bhabhas Theorien in erster Linie als politisches Statement gegen Dichotomien, dann kann behauptet werden, dass alle Identitätstheorien Mead modifizieren, denn immer geht es um die Ausbildung eines
Selbstes in Wechselwirkung mit der Gesellschaft.139
Auf die Theoretiker Stuart Hall, Anthony Giddens, Edward Said und Homi
Bhabha wird in der Forschung oft als postmoderne Autoren rekurriert. Das
Infragestellen von ‚master identities‘ und ‚master narratives‘ passt ebenso zu
den geläufigen Definitionen der Postmoderne wie Giddens’ Hinweis auf die
Lockerung gesellschaftlicher Zwänge. In dieser Arbeit wird auf eine solche
Klassifizierung verzichtet, da die ‚aktuelleren‘ Theoretiker durchaus auf dem
‚modernen‘ Theoretiker Mead aufbauen und eine klare Grenze zwischen
Moderne und Postmoderne schwer zu ziehen ist.140 So spielt die Anerkennung
139 Auch wenn für Hepp das Konzept der Hybridität zunächst als Abgrenzung zu Mead erscheint, ist
es doch eher als eine Erweiterung zu fassen. Denn auch die aktive Vermischung von Kulturen vollzieht sich im gesellschaftlichen Prozess. Trennungspunkt ist allerdings ganz richtig die Abkehr vom
einheitlichen Individuum. Jedoch halte ich es für bestreitbar, in Bezug auf das Subjekt im symbolischen Interaktionismus von einem „Identitätskern“ und „essentielle[m] Zentrum“ zu sprechen. Ich
würde diese Sichtweise entschärfen, indem ich formuliere, dass der Akzent im Mead’schen Schema
auf der Erhaltung eines einheitlichen Ichs liegt, während er in den Cultural Studies auf die fragmentierte Identität gelegt wird. Wenn Hepp formuliert, dass „jedes Subjekt […] zu verschiedenen Zeiten
und in verschiedenen diskursiven Kontexten unterschiedliche Identitäten“ annimmt, so trifft das
auch auf Interaktionisten wie Mead und Krappmann zu. Dass diese Identitäten „sich nicht um ein
kohärentes – und damit artikulationsunabhängiges – ‚Ich‘ herum vereinheitlichen lassen“, ist der
Aspekt, in dem beispielsweise Hall von Mead abweicht. Vgl.: Andreas Hepp: Cultural Studies und
Medienanalyse. Opladen: Westdeutscher Verlag, 1999. S. 55.
Zum Begriff der Postmoderne vgl.: Stuart Sim: The Routledge Companion to Postmodernism. London:
Routledge, 2002; Peter V. Zima: Moderne – Postmoderne: Gesellschaft, Philosophie, Literatur. Tübingen:
Francke, 2001; Terry Eagleton: The Illusions of Postmodernism. Oxford: Blackwell Publishers, 1996.
140
40
3. Theoretischer Hintergrund
auch in weniger traditionell orientierten Gesellschaften, in denen Individuen
sich eine ‚Peer-group‘ aussuchen können, immer noch eine zentrale Rolle und
eine Missachtung kann für das Individuum schwerwiegende Folgen haben.141
Eine solche Integritätsverletzung kann vorliegen, wenn Individuen bzw.
Kollektive aufgrund bestimmter Identitätsmerkmale diskriminiert werden.
Erschwerend kann hinzukommen, dass die Teilidentität aufgrund derer sie
diskriminiert werden, in ihrer ‚Selbstorganisation‘ keine besondere Rolle spielt.
Ein Instrumentarium, um die Organisation von Teilidentitäten und die
Zugehörigkeitssymbole zu Kollektiven zu untersuchen, bietet das Konzept der
Identitätsarbeit an, das im Anschluss an den Überblick über die
Identitätstheorien referiert werden soll (Vgl. Kapitel 3.7)
141
Charles Taylor: Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1993. S. 13f.
41
3.1 Identität und Gesellschaft: Mead
3.1 Identität und Gesellschaft: Mead
„[Identität] ist bei der Geburt anfänglich nicht vorhanden“,142 heißt es bei
George Herbert Mead am Anfang der Abhandlung über Identität. Mead gehört zu den einflussreichsten Wissenschaftlern des 20. Jahrhunderts. Wenn
heute behauptet wird, dass Identität sich im sozialen Interaktionsprozess ausbilde, dann geschieht dies mit Bezug auf ihn. Bis heute hält die Aktualität seiner Theorie für Disziplinen wie die Philosophie, Soziologie und Psychologie
an. Im Folgenden sollen nur die im Rahmen dieser Arbeit wichtigen Hauptpunkte seiner Theorie referiert werden.
Mead geht davon aus, dass Menschen nur in Interaktion mit ihren Mitmenschen Identität ausbilden, so ist auch die Aussage zur Identitätslosigkeit bei der
Geburt zu verstehen.143 Indem ein Individuum die Haltung anderer gegenüber
sich selbst einnehme und darauf reagiere, entwickle es erst eine Identität. Das
„I“ und das „Me“ würden zu einem „Self“ verschmelzen.144 Während das
„Me“ die antizipierte Fremdwahrnehmung darstellt, ist das „I“ eine Spontaneitätsinstanz. Zentral für Meads Theorie der Antizipation der Fremdwahrnehmung ist ein „generalized other“145, ein „verallgemeinerter Anderer“146. Die
Summe der wahrgenommenen Haltungen einer Gesellschaft zeigt sich in diesem „generalized other“, dessen Wahrnehmung durch das Selbst mit der
Spontaneität des „I“ abgeglichen werde zu einer Identität. Dabei ist der „gene-
142 George Herbert Mead: Geist, Identität und Gesellschaft aus der Sicht des Sozialbehaviorismus. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1973. S. 177. Originalausgabe: Mind, Self and Society. From the Standpoint of a
Social Behaviorist. Chicago. University of Chicago Press, 1934. Dieser Band wurde posthum aus Vorlesungsmitschriften und unveröffentlichten Manuskripten zusammengestellt.
143 Identität entwickle sich zunächst durch spielerische Rollenübernahme, etwa durch das Übernehmen der Rolle der Mutter gegenüber der Stoffpuppe oder der Rolle des Arztes. Später, im Erwachsenenalter, werde diese Rollenübernahme abgelöst von der organisierten Rollenübernahme, etwa in
Spielen und Wettkämpfen. Lothar Krappmann verweist wiederholt auf das von Mead gebrauchte
Beispiel des Baseballspielers, der immer die Erwartungen seiner Mitspieler und Gegner und auch
deren Reaktionen antizipieren und sich so seinen Weg auf dem Spielfeld bahnen müsse. Lothar
Krappmann: Soziologische Dimensionen der Identität. Stuttgart: Klett-Cotta, 2000. S. 60.
144 In der deutschen Übersetzung ist das „I“ durch „Ich“ und „Me“ durch „ICH“ wiedergegeben,
um eine scharfe Trennung zu gewährleisten, übernehme ich die von Mead im Original gebrauchten
englischen Termini.
145 George Herbert Mead: Mind, Self and Society. Chicago: University of Chicago Press, 1965. S. 144.
Das „generalized other“ tritt sozusagen an die Stelle des Selbstbewusstseins; etwa bei Fichte. Vgl.
dazu Turk: Philologische Grenzgänge. S. 384.
146
42
Mead: Geist, Identität und Gesellschaft. S. 239.
3.1 Identität und Gesellschaft: Mead
ralized other“ keine konkrete Person, sondern ein Konstrukt, das symbolisch
die Einstellung vertritt, von der man glaubt, dass die Gemeinschaft sie teile.
Mead umschreibt diesen Prozess wie folgt:
Trifft man auf der Straße einen Menschen, den man nicht
wieder erkennt, so reagiert man auf ihn genauso wie auf jedes andere Mitglied der Gemeinschaft. Er ist der Andere,
der organisierte, verallgemeinerte Andere, wenn man so
will. Man stellt seine Haltung der eigenen Identität gegenüber.147
Gesellschaftliche Zwänge wiegen bei Mead viel stärker als beispielsweise bei
Giddens.148 Welche (Teil-)Gesellschaft zur Identitätskonstitution des Individuums beiträgt, hängt von den individuellen Dispositionen ab. Somit können
die „verallgemeinerten anderen“ auch aus der inneren Phantasiewelt stammen.
Dies trifft auf den Erzähler von Aras Örens Verspäteter Abrechnung zu.149 Sieht
sich dieser doch auf einer Zugfahrt nach Deutschland ständig mit Gestalten
aus seiner Vergangenheit konfrontiert und richtet sein Verhalten danach aus.
Mead betont immer wieder die Wichtigkeit der Gesellschaft für die persönliche
Identitätsentwicklung und setzt die Struktur von Individuum und Gesellschaft
nach dem Mikrokosmos/Makrokosmos-Modell gleich, womit sogleich noch
das Problem der gesellschaftlichen Entwicklung an Kontur gewinnt.150
Von einem Individuum erwartet Mead, dass es im „Dialog“ die Haltung der
Gemeinschaft, in der es sich bewegt – diese Haltung bezeichnet er als „verallgemeinerte Haltung“ – zu übernehmen in der Lage ist. Dieses ermögliche ihm
größere Kontrolle über die Situation und Einflussnahme auf die Gesellschaft:
147
Mead: Geist, Identität und Gesellschaft. S. 239.
148
Vgl. Kapitel 3.6 dieser Arbeit.
Vgl. Aras Ören: Eine verspätete Abrechnung oder Der Aufstieg der Gündoğdus. Frankfurt/Main: Dağyeli,
1988.
149
Vgl.: „Die Einheit und Struktur der kompletten Identität spiegelt die Einheit und Struktur des
gesellschaftlichen Prozesses als Ganzen. Jede der elementaren Identitäten, aus denen er gebildet
wird, spiegelt die Einheit und Struktur eines der verschiedenen Aspekte dieses Prozesses, in den der
Einzelne eingeschaltet ist. Mit anderen Worten, die verschiedenen elementaren Identitäten, die eine
vollständige Identität konstituieren oder zu ihr organisiert werden, sind die verschiedenen Aspekte
der Struktur dieser vollständigen Identität, die den verschiedenen Aspekten des gesellschaftlichen
Prozesses als Ganzen entsprechen. Die Struktur der vollständigen Identität ist somit eine Spiegelung
des vollständigen gesellschaftlichen Prozesses. Die Organisation und Vereinheitlichung einer gesellschaftlichen Gruppe ist mit der Organisation und Vereinheitlichung einer jeden Identität identisch,
die sich aus dem gesellschaftlichen Prozess heraus entwickelt, in den diese Gruppe eingeschaltet ist
oder den sie ablaufen lässt.“ Mead: Geist, Identität und Gesellschaft. S. 186.
150
43
3.1 Identität und Gesellschaft: Mead
Der Dialog setzt voraus, daß der Einzelne nicht nur das
Recht, sondern auch die Pflicht hat, zur Gemeinschaft zu
sprechen, deren Mitglied er ist, um jene Veränderungen
herbeizuführen, die durch das Zusammenspiel der Individuen zustande kommt. Das ist die Art und Weise, in der
sich die Gesellschaft weiterentwickelt, nämlich durch eine
wechselseitige Beeinflussung [...]151
Für den gesellschaftlichen Ablauf der gegenseitigen Einflussnahme spielt Sprache eine elementare Rolle. Nur durch Sprache, durch signifikante Symbole,
werde die gesellschaftliche Situation in das Verhalten des Einzelnen übernommen.152 Mead sieht Identität nur durch Kommunikation gewährleistet.
Problematischer scheint jedoch der Zusammenhang von „Selbstbehauptung“
und dem „Eintreten für die Sache der Gemeinschaft“.153 Letztere ist laut Mead
ein wesentlicher Charakterzug der bewussten Identität.154 Allerdings ist sein
Argument im weiteren Verlauf nicht leicht nachzuvollziehen. Der Einzelne
könne sich im gesellschaftlichen Prozess entweder anpassen oder diese Anpassung ablehnen. Als Gegenbeispiel nennt Mead einen Ameisenhaufen in den
eine fremde Ameise hineinkomme. Sie werde zerrissen ohne die Wahl zu haben, ob sie sich anpasst oder nicht.155
Höchst fraglich ist angesichts der aktuellen Debatte um Zuwanderung, d.h. im
Spannungsfeld mehrerer Sprachen und Kulturen, ob Menschen die Möglichkeit zur bewussten Anpassung oder bewussten Ablehnung tatsächlich gegeben
ist und ob nicht mehr zu verlangen sowie einzuräumen ist. So sehr sich ein
Mensch anderer Hautfarbe im heutigen Deutschland auch anpasst an Sprache
und Gepflogenheiten, wird er doch ‚auffallen‘ und höchst gewagt ist obige
Behauptung Meads, wenn man sie im Kontext fremdenfeindlicher Übergriffe
betrachtet. Vor Gewalt schützt auch die Einnahme einer Ablehnungs- oder
Anpassungshaltung nicht.
151
Ebd. S. 211.
152 Vgl. ebd. S. 230. Auf Meads Überlegungen in Bezug auf die Rolle der Sprache soll an dieser Stelle
nicht weiter eingegangen werden. Nur so viel soll gesagt sein: Genau so wie das Individuum von der
Gesellschaft beeinflusst werde und diese wechselseitig beeinflusse, ermögliche Sprache die Einbindung des Einzelnen in den gesellschaftlichen Prozess und entwickle sich in diesem auch (weiter).
153
Vgl. ebd. S. 236.
154
Ebd. S. 236.
155
Ebd. S. 237.
44
3.1 Identität und Gesellschaft: Mead
Mead fasst Identität bereits als einen Prozess auf und nicht als eine Substanz.156 Obwohl er von der einheitlichen Persönlichkeit als „Normalfall“ ausgeht, gesteht er doch die Existenz einer „mehrschichtigen Persönlichkeit“
zu.157 Erst wenn diese dazu führt, dass die Handlungsfähigkeit eingeschränkt
wird, spricht er von Persönlichkeitsspaltung:
Eine mehrschichtige Persönlichkeit ist bis zu einem gewissen Grade etwas Normales [...]. Gewöhnlich gibt es eine
Organisation der ganzen Identität im Hinblick auf die Gemeinschaft, der wir angehören, und auf die uns umgebende
Situation. Welcher Art diese Gesellschaft ist, ob wir mit gegenwärtigen Menschen leben, mit Menschen unserer eigenen Phantasie, mit Menschen der Vergangenheit, hängt natürlich vom jeweiligen Individuum ab. Normal, jedenfalls
für die Gesellschaft, zu der wir gehören, ist die einheitliche
Identität, doch kann sie auch aufgesplittert werden. Für eine nervenschwache und in sich zwiespältige Person werden
bestimmte Tätigkeiten unmöglich, und diese Tätigkeiten
können sich loslösen und eine andere Identität entwickeln.
[...] unter diesen Voraussetzungen besteht die Tendenz zur
Spaltung der Persönlichkeit.158
Im Abschnitt Die Verwirklichung der Identität in der gesellschaftlichen Situation geht
Mead auf die Rolle der Anerkennung für die Ausbildung einer Identität ein.
Um der gewünschten Identität zu entsprechen, reicht es nicht aus, allein für
sich situativ, symbolisch und reflexiv selbst auf entscheidende Punkte
hinzuarbeiten, die für wichtig erachteten Orientierungen oder Werte müssen
auch von anderen anerkannt sein bzw. von ihnen anerkannt werden: „Da es
sich um eine gesellschaftliche Identität handelt, wird sie in Beziehung zu
anderen verwirklicht. Sie muss von anderen anerkannt werden, um jene Werte
zugeschrieben zu bekommen, die wir ihr gerne zugeschrieben sehen
möchten.“159 Von dieser Anerkennung der Werte hängt der Selbstrespekt ab.
Bei bestehender Anerkennung kann sich ein „Überlegenheitsgefühl“
gegenüber Mitmenschen einstellen, das Mead dem Minderwertigkeitsgefühl bei
fehlender Anerkennung gegenüberstellt.160. Mead geht an dieser Stelle
156
Vgl. ebd. S. 222.
157
Vgl. ebd. S. 185.
158
Ebd. S. 185.
159
Ebd. S. 248.
160
Im Normalfall ist von einem ‚Gleichwertigkeitsgefühl‘ auszugehen.
45
3.1 Identität und Gesellschaft: Mead
allerdings nicht auf die Möglichkeit ein, dass das Individuum sich selbst die
Anerkennung verweigert und sich aufgrund erhöhter Erwartungen in
Minderwertigkeitskomplexe treibt. Die Aufrechterhaltung hinge allerdings
auch von Faktoren wie der Erfüllung von Pflichten und dem Einhalten von
Versprechen ab. Sich selbst als „selbstbewusste[n] Bürger“ zu betrachten,161
trage zum Selbstbewusstsein ebenso bei wie der eigene wirtschaftliche und
gesellschaftliche Status. Wichtig seien jedoch in jedem Fall auch die Aspekte,
die das Individuum von anderen unterscheidet. Das daraus resultierende
„Überlegenheitsgefühl“ – das vielleicht besser als ‚Singularitäts‘-‚ oder
‚Eigentümlichkeitsgefühl‘ zu kennzeichnen wäre – trage maßgeblich zu
Entstehung von Selbstrespekt bei. Es bestehe ständig die Forderung „die
eigene Identität durch irgendeine Art der Überlegenheit über die uns
umgebenden Mitmenschen zu realisieren.“162 Verstärkt werde das „Überlegenheitsgefühl“, wenn es an eine Gruppe gebunden sei, als Beispiel nennt Mead
den Patriotismus, die Zugehörigkeit zu einer Partei oder religiösen Gruppe.
Mead erklärt dieses Verhalten, wie üblich, aus der Evolution nach dem
Freund/Feind-Schema. Selbstbehauptung und -bewahrung ist die maßgebliche
Kategorie, nicht Selbstverwirklichung (des Individuums wie der Gesellschaft
bzw. der Gruppe) bzw. Selbstgestaltung. Wenn sich Gruppen gegen einen
gemeinsamen Feind so organisieren konnten, dass sie „wie ein Mann
handelten“163, stiegen ihre Überlebenschancen beträchtlich.164
Nur durch Anpassung in eine Gruppe wird man also ein gleichberechtigtes
Mitglied, das die gleichen Rechte teilt wie jedes andere Mitglied der Gruppe
auch. Um dies zu erreichen, müsse das Individuum in der Lage sein, die Haltungen der anderen zu antizipieren:
Die jeweiligen Werte von »ICH« und »Ich« hängen weitgehend von der Situation ab. Wenn man sein Eigentum in der
Gemeinschaft bewahren will, ist es von größter Wichtigkeit,
daß man ein Mitglied dieser Gemeinschaft ist, da die Übernahme der Haltung der anderen garantiert, daß die eigenen
Rechte anerkannt werden.165
.
161
Ebd. S. 249.
162
Ebd. S. 250.
163
Ebd. S. 252.
Eine ähnliche Erklärung bietet Dieter E. Zimmer an. Vgl. Dieter E. Zimmer: Die Angst vor dem
Anderen. In: Die Zeit, 9.07.1993.
164
165
46
Mead: Geist, Identität und Gesellschaft. S. 242f.
3.2 Identität und Teilidentitäten: Krappmann
3.2 Identität und Teilidentitäten: Krappmann
Wie soll sich der Einzelne angesichts der in unserer Gesellschaft vielfach miteinander konkurrierenden Normen, Erwartungen und Interpretationen für Personen und Situationen verhalten? Besteht angesichts des Widerstreits zwischen mächtigen Institutionen überhaupt noch eine andere
Möglichkeit als die, auf Konsistenz und Integration im Auftreten weitgehend zu verzichten? Wird sich das Individuum
nicht leichter durch Konflikte hindurchwinden, wenn es
sich in Fragmente zerteilt, um diskrepanten Erwartungen
ungehindert genügen zu können, wenn es folglich in der einen Situation verleugnet, wer es in der anderen ist? Entgeht
es nicht den Schwierigkeiten, wenn es möglichst keine besonderen, dauerhaften Erwartungen und Bedürfnisse zeigt?
Anders gesagt: Ist Individualität nur unter Verhältnissen zu
erwarten, die das Individuum nicht zwischen diskrepanten
Erwartungen zu zerreißen drohen?166
Stärker als bei Mead geht es bei Krappmann um die Aushandlung in Konflikt
stehender Teilidentitäten – das macht den Krappmannschen Ansatz so interessant für die vorliegende Arbeit. Dass das Individuum in Fragmente zerteilt
ist, scheint heute weithin akzeptiert zu sein. Während zunächst gerade die
Einheit und Unteilbarkeit des Individuums, die bereits in seinem Namen verankert ist, sein Wesensmerkmal darstellte, wird nun gerade diese Einheitlichkeit und Unteilbarkeit in Frage gestellt. In dieser Arbeit wird anhand der analysierten Texte gezeigt, dass die Protagonisten nach der Organisation und nicht
nach der Vereinheitlichung der Fragmente streben. Die Diskrepanz zwischen
Einheitlichkeit und Fragmentiertheit und auch zwischen Essenzialisierung und
Hybridität ist das Spannungsfeld, das Krappmann beschreibt und auch das,
was die Entwicklung der Forschung zur Migrationsliteratur charakterisiert. Am
Ende der oben zitierten Passage spricht Krappmann von diskrepanten Erwartungen, die das Individuum zu zerreißen drohen. Genau dieses Szenario wurde
zur Entstehungszeit der Migrationsliteratur literarisch dargestellt bzw. heraufbeschworen. Abgelöst wurde dieses Zerrissensein ‚zwischen den Stühlen‘167
166
Krappmann: Soziologische Dimensionen der Identität. S. 8.
167
Cumart: Ein Schmelztiegel im Flammenmeer. S. 61.
47
3.2 Identität und Teilidentitäten: Krappmann
durch ein Konzept von Hybridität, das aufzeigt, dass die Welt und die Individuen in Fragmente aufgeteilt sind und ein und derselbe Mensch z.B. in einer
Situation religiös handeln kann, während er das in einer anderen möglicherweise nicht tun wird. Scheinbar problemlos vereinbart ein hybrides Individuum
unterschiedliche religiöse Einflüsse, politische Diskrepanzen und gesellschaftliche Anforderungen zu einer Symbiose.
Zur Fragmentiertheit gehört jedoch nach Krappmann, in der einen Situation
zu verleugnen, wer man in der anderen ist.168 Ob dies tatsächlich der Fall ist,
ob man noch von Identität sprechen kann, wenn man vorgibt mehrere Identitäten zu haben, sind zentrale Fragen im Rahmen dieser Arbeit, denen sich
auch Krappmann nähert. Im Folgenden werden die Hauptpunkte seiner Arbeit
kurz skizziert.
Krappmann erweitert den Mead’schen symbolischen Interaktionismus. Ihm
nach hat das Individuum einerseits die Aufgabe, mit anderen zu kommunizieren und auf deren Erwartungen einzugehen, gleichzeitig muss es sich selbst als
erkennbare Person mit individuellen Besonderheiten darstellen. Identität setzt
sich also aus der interpretativen Integration dieser beiden Komponenten zusammen. In Anlehnung an Goffman unterteilt Krappmann Identität in zwei
Ebenen. Die horizontale Ebene der sozialen Identität beinhaltet das Problem
des gleichzeitigen Umgangs mit unterschiedlichen Bezugsgruppen und deren
Erwartungen. Auf vertikaler Ebene, der der persönlichen Identität, müssen
divergente Erfahrungen im Lebenslauf als kontinuierlich interpretiert werden,
um so Einzigartigkeit und Kontinuität zu gewinnen. Dass diese Ebenen ausgewogen sein müssen, hat Krappmann unter dem Begriff „Identitätsbalance“
zusammengefasst.
Zentral ist für Krappmanns Werk die These, dass die soziale Interaktion eine
lebenswichtige Funktion für die Individuen hat. Eine Voraussetzung für erfolgreiche soziale Kommunikation, auf die der Mensch unausweichlich angewiesen sei, sei wiederum das Wahren von Identität. Je besser es einem Individuum gelinge, „die Besonderheit seiner Identität an der interpretativen Integration gerade divergenter Erwartungen und widersprüchliche Handlungsbeteiligungen in den Systemen sozialer Interaktion zu erläutern“, desto mehr Möglichkeiten zur sozialen Interaktion stünden ihm offen.169
Krappmann kritisiert, dass in soziologischen Ansätzen wie z.B. bei Parsons,
die Identität wahrende Ich-Instanz keine Berücksichtigung finde, sondern die
Auswahl von Rollen und deren Einbindung in die „innere Konsistenz des
168
Vgl. Krappmann: Soziologische Dimensionen der Identität. S. 8.
169
Ebd. S. 10.
48
3.2 Identität und Teilidentitäten: Krappmann
gesellschaftlichen Rollen- und Normensystems“ im Vordergrund stünde.170
Ähnlichkeiten zu seiner eigenen Theorie entdeckt Krappmann bei der Psychoanalyse. Auch bei Freud gibt es beispielsweise eine „Konflikte bewältigende
Ich-Instanz“, die zugleich die Ereignisse im Leben biographisch organisiert.171
Krappmann betont stets, dass sich ein Individuum trotz der Einbindung in
viele verschiedene Interaktionszusammenhänge als identisch zu präsentieren
vermag.172 An anderen Forschungsarbeiten bemängelt Krappmann u.a., dass
„Identität, als das Problem, sich mit konfligierenden Identifikationen in Interaktionen zu behaupten“ nicht ins Blickfeld trete.173 Auch werde Identität meist
nicht an „Fähigkeiten kreativer, der Situation angemessener Selbstrepräsentation, die Diskrepanzen und Konflikte nicht verleugnen“, festgemacht.174
Krappmann geht es nicht nur um Anpassungsvorgänge, sondern auch um das
Potential, das aus der Ablehnung bestehender sozialer Bedingungen erwächst,
worin eine Überschneidung mit Mead vorliegt. Drei Aspekte sind für die von
Krappmann vorgeschlagene „Identitätsbalance“ von zentraler Bedeutung:
biographische Organisation, subjektive Interpretation diskrepanter Erwartungen sowie Autonomie gegenüber Zwängen.175
An Mead kritisiert Krappmann, dass immer noch offen sei, wie sich die Spontaneitätsinstanz „I“ gegen das gesellschaftliche Zwänge repräsentierende „Me“
durchsetze. Ebenso wie Parsons unterschätze Mead die interpretatorische
Kraft des Ich und betone die Integration des Individuums durch die Einheit
des sozialen Prozesses. Krappmann grenzt sich von Mead dahingehend ab,
dass er die Übernahme von Erwartungen als nicht ausreichend erachtet, um an
Interaktion teilzunehmen; „Subjektive Interpretation“ sei von gleichwertiger
Bedeutung.176
Die Anerkennung durch andere nimmt so wie bei Mead eine prominente Rolle
bei Krappmann ein:
Verlässlich kann Identität nur gewahrt werden, wenn sie
durch freie Anerkennung der anderen legitimiert wurde,
denn dann sind die Aussichten des Individuums größer,
170
Vgl. ebd. S. 17.
171
Vgl. ebd. S. 17.
172
Vgl. ebd. S. 19.
173
Vgl. ebd. S. 19.
174
Vgl. ebd. S. 19.
175
Vgl. ebd. S. 20.
176
Vgl. ebd. S. 42.
49
3.2 Identität und Teilidentitäten: Krappmann
auch unter veränderten Verhältnissen wieder einen Platz
für seine mit den anderen „ausgehandelte“ Balance zwischen den verschiedenen Anforderungen zu finden.177
Immer wieder betont Krappmann, dass man Identität nur besitze, wenn diese
auch anerkannt werde.178 Für die Anerkennung bzw. Missachtung spielen eindeutige Symbole eine entscheidende Rolle. Sie können zu einer schnellen Identifikation führen. Im Fall einer negativ besetzten Identifikation können sie aber
auch den Weg für eine Interaktion versperren, weil gegen die Gruppe, als deren Teilhaber das Individuum identifiziert worden ist, Vorurteile gehegt werden.179
Krappmann geht es nicht um ein Harmonie stiftendes Integrationsideal, dass
sich in feste Strukturen einpasst, sondern um die Fähigkeit, Diskrepanzen und
divergierende Erwartungen aushalten zu können bzw. nicht zu verdrängen.180
In Hinblick auf die Identität fordert er Transparenz, wenn diese trotz unterschiedlicher Erwartungshaltungen gewahrt bleiben solle. Gerade die Artikulation der Fähigkeit, an verschiedenen Lebensbereichen teilnehmen zu können,
mache dann das Einzigartige der Person aus:
Will der einzelne dennoch Identität gegen den Erwartungsdruck aus den verschiedenen Interaktionssystemen behaupten, so muss er in der Lage sein, deutlich zu machen, daß er
je nach Interaktion verschieden auftreten kann und daß
seine Identität widersprüchliche, logisch oft nicht miteinander zu vereinbarende Elemente enthält. Diese Leistung,
die die Struktur des Systems sozialer Beziehungen dem Individuum aufbürdet, bedeutet gleichzeitig die Chance, mit
Hilfe der Diskrepanz zwischen Anforderungen und Selbstinterpretationen die Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit
seiner Identität zu manifestieren.181
Ein Individuum, das solch eine komplexe Identität habe, müsse eine Sprache
sprechen, die „Inkompatibles“ aufnehmen könne. Krappmann schließt die
Möglichkeit aus, eine gelungene, „gewahrte“ Identität zu haben, wenn ein In177
Ebd. S. 29.
178
Vgl. ebd. S. 35.
179
Vgl. ebd. S. 36.
180
Vgl. ebd. S. 30.
181
Ebd. S. 48.
50
3.2 Identität und Teilidentitäten: Krappmann
dividuum nicht in allen Bereichen zugleich darstellt, welche Facetten es in sich
trägt. Die Forderung, die Krappmann hier stellt, halte ich für schwer zu verwirklichen wie auch unnötig.
Krappmann räumt zwar ein, dass die Fragmentierung erst dann zum Problem
werde, wenn die verschiedenen Interaktionssysteme, in die der Einzelne eingebunden ist, miteinander in Kontakt treten. Er führt dann aber weiter aus,
dass er diesen Zustand für einen Zustand des „Verzicht[s] auf Identität“
hält.182 Obwohl dieser besonders in repressiven Gesellschaften dem Schutz der
eigenen Person diene, nütze doch „weder Persönlichkeitsspaltung noch Unterdrückung vergangener Selbstinterpretation dem Fortgang von Interaktion“.183 Krappmann setzt voraus, dass es für eine gelingende Interaktion notwendig ist, seine Identität zu jeder Zeit „als Ganzes“ zu präsentieren. Indem
die Teilhabe an verschiedenen Lebensbereichen und Lebensphasen artikuliert
werde, werde Konsistenz und Kontinuität hergestellt:
Verlangt ist also interpretatorische Kraft (die nicht mit der
Fähigkeit zur bewussten Verfälschung gleichzusetzen ist).
Aber sogar wenn gewisse Phasen des Lebenslaufes überhaupt nicht zu integrieren sind, wird es die Interaktion vor
unliebsamen Zwischenfällen bewahren und den Horizont der
in ihr zu antizipierenden Erwartungen klarer abgrenzen,
wenn das Individuum diese Bereiche seines Handelns nicht
vor anderen verbirgt und auch für sich nicht verdrängt, sondern sich zurechnet, und sei es als „Jugendsünde“, „menschliches Versagen“ oder einfach als heute unverständliches Ereignis. Welche Strategie das Individuum im Einzelnen wählt,
hängt von der Struktur des jeweiligen Interaktionsprozesses
ab. Sie bestimmt die Form, in der ein vergangenes Ereignis
plausibel gemacht werden kann, weil die Interpretation der
Übersetzung bedarf, um die Anerkennung der Partner zu erlangen.184
182
Ebd. S: 49.
183
Ebd. S. 50.
Ebd. S. 50. Vgl. auch S. 52: „Gerade an den nicht-integrierbaren Fällen wird deutlich, daß das
Individuum, viele vergangene Handlungen zwar in seine Biographie aufnimmt, sich aber nicht voll
mit ihnen identifiziert. Es braucht Spielraum für Umdeutungen. Ein vergangenes Ereignis wird
einmal als Argument dafür benutzt, daß das Individuum tatsächlich nur so handeln kann, wie es jetzt
auftritt; ein anderes Mal aber wird dasselbe Ereignis als unwesentlich abgetan, um die Interaktion mit
dem gegenüber zu sichern. Zwischen diesen Selbstinterpretationen eine Balance zu halten und dem
Interaktionspartner verständlich zu machen, ist das schwierigste Problem des Individuums.“
184
51
3.2 Identität und Teilidentitäten: Krappmann
Vasco Miranda aus Salman Rushdies Des Mauren letzter Seufzer tut alles andere
als Klarheit über seine Vergangenheit zu schaffen. Wegen der fehlenden
Transparenz wird er vom Koch Lambajan auch als „Gauner“ bezeichnet.185
Über Familie und Freunde spricht der Künstler Vasco Miranda nicht und „sogar sein Heimatdorf Loutolim mit den Häusern aus roten Lateritsteinen und
den Fenstern mit Scheiben aus Muschelschalen war etwas, das wir ihm einfach
glauben mussten“,186 erklärt der Erzähler Moor. So schafft sich Vasco Miranda
eine Vergangenheit, die man in Frage stellen kann, weil sie nicht nachweisbar
ist. Trotzdem werden mit der Existenz dieser Vergangenheit Kontinuität und
Konsistenz im Lebenslauf Vasco Mirandas fingiert.
Auch bei Krappmann werden Kontinuität und Konsistenz als anfechtbare
Behauptungen aufgefasst, dennoch seien sie notwendig, um den Interaktionspartner zu überzeugen. Die ‚Selbsterfindung‘ des Vasco Miranda überzeugt in
Rushdies Roman allerdings nur den Mauren und seine Mutter Aurora:
Er [Vasco Miranda] war seine eigene Erfindung, und Aurora hätte merken müssen – genauso wie Abraham, viele Mitglieder ihres Bekanntenkreises und sogar meine Schwestern
es merkten, ich jedoch niemals –, daß diese Erfindung nicht
funktionieren würde, daß sie letztendlich in Scherben gehen
würde.187
Moor sieht in Vasco eine Art Verbündeten, der ihm Trost spendet, weil er sich
auch als ein klein wenig anders darstellt oder ihm eine „Traumhand“ anstelle
der verkrüppelten Hand schenkt.188 Aus dieser Liebe für Vasco heraus erkennt
Moor erst spät „das Kreuzfeuer, das in ihm wütet, den Kampf zwischen seinem quälenden Ehrgeiz und seiner Oberflächlichkeit, zwischen Loyalität und
Karrieredenken, zwischen Fähigkeit und Wunschdenken. Ich begriff nicht,
welchen Preis er auf dem Weg zu unserem Tor bezahlt hatte.“189 Um Zugang
zum Haus und Herzen von Aurora zu erlangen und somit auch zu dem damit
verbundenen Prestige, gibt Vasco seine Vergangenheit auf, ebenso wie er seine
185
Salman Rushdie: Des Mauren letzter Seufzer. München: Knaur, 1998. S. 226.
186
Ebd. S. 223.
187
Ebd. S. 223.
Vgl.: „Ich bin wie du. Das war seine liebevolle, brüderliche Botschaft. Ich habe auch nicht mehr
viel Zeit. Und vielleicht versuchte er einfach, mich von diesem Gefühl, ganz allein im Universum zu
sein, zu erlösen […].“Ebd. S. 220.
188
189
52
Ebd. S. 223.
3.2 Identität und Teilidentitäten: Krappmann
Bilder aus der Zeit vor Aurora vernichtet, „weil er, wie er erklärte, ein neuer
Mensch geworden sei, der jetzt erst sein wahres Leben beginne; der eigentlich
jetzt erst, wie er es ausdrückte, geboren worden sei.“190
Schließlich zerbricht Vasco Miranda aber gerade daran, dass er die Balance
zwischen (vorgespiegelter) Vergangenheit und Gegenwart, zwischen „seinem
quälenden Ehrgeiz und seiner Oberflächlichkeit, zwischen Loyalität und Karrieredenken, zwischen Fähigkeit und Wunschdenken“191 nicht aufrecht erhalten kann.
Der bei Krappmann so zentrale Balanceakt gelingt Vasco nicht. Gemeint ist
damit bei Krappmann stets die Balance zwischen den unterschiedlichen, sich
teilweise widersprechenden Teilbereichen des Lebens und der biographischen
Einordnung dieser sowie der Balance zwischen Selbstinterpretation und den
Erwartungen der Interaktionspartner. Krappmanns Ansatz, in dem der Begriff
Integrität nicht fällt, weist Ähnlichkeit zum „identity view of integrity“ auf.192
Demnach gelangt ein Individuum zu Integrität, wenn es alle Teilidentitäten
integriert und ehrlich in Bezug auf sich und seine Vergangenheit ist. Krappmann sieht in einem Individuum, das um die Wahrung seiner Identität bemüht
ist, einen „ständig jonglierenden und balancierenden Artisten“, einen Schauspieler, einen Händler, der geschickt kalkuliert und dann „alles auf eine Karte
setzt“ und letztlich „fast einen Scharlatan, der sich in seinen vieldeutigen Äußerungen letztlich auch nicht festlegen lässt“.193 Dieser letzte Vergleich scheint
allerdings etwas zu weit gehend, da Krappmann gerade Ehrlichkeit und Transparenz in Bezug auf die Einbindung in unterschiedliche Interaktionssysteme
fordert. Auch wenn die Formulierung durch ein „fast“ entschärft ist, so erscheint sie dennoch innerhalb Krappmanns Position als nicht stimmig.
Im folgenden Zitat konkretisiert Krappmann zusammenfassend, was von einem Individuum, „das sich an Interaktionen erfolgreich beteiligen will“, erwartet wird:
Es soll divergierende Erwartungen in seinem Auftreten berücksichtigen und dennoch Konsistenz und Kontinuität
behaupten. Es soll einem vorläufigen Konsens über Interpretation der Situation zustimmen, aber seine Vorbehalte
190
Ebd. S. 224.
191
Vgl. Rushdie: Des Mauren letzter Seufzer. S. 223.
Vgl. Damian Cox/Marguerite La Caze/Michael Levine: Integrity. In: Edward N. Zalta (Hg.): The
Stanford Encyclopedia of Philosphy. Sommer 2001.
http://plato.stanford.edu/archives/sum2001/entries/integrity/. Zuletzt eingesehen am
<20.07.2005>.
192
193
Vgl. Krappmann: Soziologische Dimensionen der Identität. S. 56.
53
3.2 Identität und Teilidentitäten: Krappmann
gleichzeitig deutlich machen. Es soll sich um gemeinsame
eindeutige Handlungsorientierung durch identifizierbare
Präsentation seiner eigenen Erwartungen bemühen und
zugleich anzeigen, daß vollständige Übereinstimmung gar
nicht denkbar ist. Es soll sich an der jeweiligen Interaktion
beteiligen, aber in seiner Mitwirkung zugleich zum Ausdruck bringen, daß es auch an anderen partizipiert. Es soll
als Interaktionspartner zuverlässig erscheinen und zugleich
sichtbar machen, daß es auch anders handeln kann, anders
gehandelt hat und anders auch wieder handeln wird. Dies
alles soll Platz in der Identität finden, mit der das Individuum an Interaktionen teilnimmt und die es für jede Interaktion neu formuliert.194
„Wozu dieser Aufwand?“, fragt Krappmann ganz richtig, „[w]oher die Kraft,
dies alles durchzuhalten?“195 Krappmann sieht das Individuum dazu gezwungen, die oben beschriebenen Kompetenzen zu entwickeln, weil es nur so erfolgreich an Interaktionsprozessen teilnehmen könne, über die es sich wiederum „die Teilhabe an den Gütern und Werten seiner sozialen Umwelt“ sichere.196 Die Teilhabe an diesen wiederum sei lebenswichtig für Individuen.
194
Ebd. S. 56f.
195
Ebd. S. 57.
196
Vgl. ebd. S. 57.
54
3.3 Identität und Essenzialisierung: Said
3.3 Identität und Essenzialisierung: Said
Die Begriffe ‚Orient‘ und ‚orientalisch‘ lassen sich spätestens seit der von Said
initiierten Debatte um den Orientalismus nicht mehr wertfrei verwenden.197
Die Funktion eines Gegenbildes zum ‚Westen‘, wie es sich auch in der Rezeption zur Karawanserei abzeichnet, erfüllte der Orient nach Edward Said seit der
Antike, aber vor allem in den Zeiten des Kolonialismus.198 Dabei wurde unter
dem Orient insbesondere der islamische Orient verstanden.199 Saids Kritik an
der Repräsentation des Orients seitens westlicher Ethnographen und Schriftsteller soll im Folgenden ausführlicher dargestellt werden. Saids Orientalismuskritik ist im Rahmen dieser Arbeit wichtig, weil sie die Funktionalisierung
von Fremdzuschreibungen, die Gefahr, die von Essenzialisierung ausgeht und
die Rolle von Machtverhältnissen veranschaulicht.
Said setzte mit seiner 1978 erschienen Studie Orientalism eine Diskussion frei,
die, obwohl auch negative Kritiken laut geworden sind, noch bis heute anhält.200 In seiner Untersuchung widmet sich Said hauptsächlich Texten englischer und französischer Autoren aus dem späten 18. bis 20. Jahrhundert. Er
untersucht Reiseberichte sowie ethnographische und literarische Werke und
sieht dabei Parallelen zwischen dem wissenschaftlichen und literarischen Interesse und dem materiellen kolonialistischen Interesse Englands und Frank-
197 Nach MacKenzie handelt es sich bei dem Begriff ‚Orientalismus‘ um „one of the most ideologically charged words in modern scholarship.“ Vgl. John M MacKenzie: Orientalism. History, Theory and
the Arts. New York: Manchester University Press, 1995. S. 4. Ich behalte im Folgenden den Begriff
‚Orient‘ bei, um die Said’sche Kritik zu erklären. Gemeint ist damit stets die westliche Vorstellung,
kein authentisches Gebiet bzw. keine authentische Kultur.
198 Vgl.: „Consider how the Orient, and in particular the Near Orient, became known in the West as
its great complementary opposite since antiquity.“ Edward Said: Orientalism. New York: Vintage
Books, 1979. S. 58.
199
Vgl. Said: Orientalism. S. 74.
200 Vgl.: „Indeed, few books have at the same time stimulated so much controversy or influenced so
many studies,“ MacKenzie: Orientalism. S. 4. Er nennt Beispiele von der Medien- bis zur Frauenforschung. Als Kritikpunkte zählt er folgende auf: „There have been at least four areas of challenge to
Said: his binary approach to the ‘Other’ or ‘Alterity’ as colonial discourse jargon has it; his notion of
unchallenged western dominance and his handling of the character of imperial hegemony; his vacillations between truth and ideology and his lack of theoretical consistency […] and his identification of
a monolithic and predominantly male-originated discourse, which equally subjects the East to ‘Occidentalism’.“ Ebd. S. 11.
55
3.3 Identität und Essenzialisierung: Said
reichs am Orient.201 Somit konnte der Orientalismus, eigentlich eine wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Orient, zu einer „imperial institution“ werden.202 Insbesondere durch das Aufzeigen der engen Verflechtung von „kultureller und literarischer Definitionsgewalt“, hat er der PostkolonialismusDebatte den Weg gebahnt.203
Als „intellectual authority“,204 sozusagen als geistigen Kolonialismus, bezeichnet Said das wissenschaftliche und literarische Interesse am Orient. Europäer
nahmen demnach für sich das Recht und die Autorität in Anspruch, den Orient zu repräsentieren. Diese Repräsentationen möchte Said aber nicht mit
einer authentischen Beschreibung gleich gesetzt wissen: „My analysis of the
Orientalist text […] places emphasis on the evidence, which is by no means
invisible, for such representations as representations, not as „natural“ depictions of the Orient.“205 Diese Repräsentationen sind also vielmehr Fremdzuschreibungen. Der Westen gibt sich selbst die Autorität, für den Orient zu
Vgl.: „I doubt that it is controversial, for example, to say that an Englishman in India or Egypt in
the later nineteenth century took an interest in those countries that was never far from their status in
his mind as British colonies. To say this may seem quite different from saying that all academic
knowledge abaut India and Egypt is somehow tinged and impressed with, violated by, the gross
political fact – and yet that is what I am saying [Hervorhebung im Text] in this study of Orientalism.“
Said: Orientalism. S. 11. Siehe auch: „[…] Orientalism reinforced, and was reinforced by, the certain
knowledge that Europe or the West literally commanded the vastly greater part of the earth’s surface. The period of immense advance in the institution and content of Orientalism coincides exactly
with the period of unparalleled European Expansion […].“ Ebd. S. 41.
201
202 Vgl.: „[...] Orientalism had accomplished its self-metamorphosis from a scholarly discourse to an
imperial institution.“ Ebd. S. 95.
203 Vgl. Bachmann-Medick (Hg.): Kultur als Text. S. 37f. Unter Postkolonialismus wird in dieser
Arbeit die Selbstrepräsentation derer verstanden, die zuvor von den Kolonialmächten repräsentiert
wurden. Said wird als Wegbereiter der Postkolonialismus-Debatte bezeichnet, als „self-representing
consciousness of what had formerly been surpressed and distorted in learned texts of a discourse specifically designed to be read not by Orientials but by other Westerners.“ Vgl. Said: Orientalism. S. 335.
Eine umfassendere Definition der „postkolonialen Konstellation“ gibt Lützeler: „[…] erstens die
Auseinandersetzung mit der Erblast des ehemaligen Kolonialregimes, zweitens die Konfrontation mit
neuen parakolonialen Abhängigkeiten von industrialisierten Ländern und drittens die Thematisierung
von Konflikten und Problemen, die mit den eigenen kulturellen Traditionen und eigenen Modernisierungsbestrebungen zu tun haben.“ Vgl. Paul Michael Lützeler: Europäische Identität und Multikultur:
Fallstudien zur deutschsprachigen Literatur seit der Romantik. Tübingen: Stauffenberg, 1997. S. 141.
204
Said: Orientalism. S. 19.
205
Ebd. S. 21.
56
3.3 Identität und Essenzialisierung: Said
sprechen und sein reales Abbild zu liefern.206 Orientalismus wird zu einem
„western style for dominating, restructuring, and having authority over the
Orient.“207
Der Wunsch, den Orient zu repräsentieren, entsteht aus dem Gedanken, dass
der Orient sich nicht selbst repräsentieren könne.208 „Oriental silence“209 ist
nur ein Motiv des Orientbildes, das sowohl aus verallgemeinerten Einzelbeobachtungen210 wie auch aus imaginierten Traumwelten besteht.211 Die
Motive werden als typisch für den Orient angesehen und essenzialisiert, der
Orient wird auf diese reduziert.212
Für Deutschland schließt Said materielles Interesse am Orient aus,213 spricht es
aber nicht vom Vorwurf der „intellectual authority“ 214 frei.
[…] the German Orient was almost exclusively a scholarly.
Or at least a classical Orient; it was made the subject of lyrics, fantasies, and even novels, but it was never actual, the
way Egypt and Syria were actual for Chateaubriand […].215
Dargestellt wird der Orient als tragendes Gegenbild zu Europa, als „one of its
[Europe’s; Y.D.] deepest and most recurring images of the Other“.216 Wenn
206 Vgl.: „Philosophically […] the kind of language, thought, and vision that I have been calling
Orientalism very generally is a form of radical realism; anyone employing Orientalism, which is the
habit for dealing with questions, objects, qualities, and regions deemed Oriental, will designate,
name, point to, fix what he is talking or thinking about with a word or phrase, which then is considered to have acquired, or more simply to be, reality.“ Ebd. S. 72.
207 Vgl. ebd. S. 3. Als ein Beispiel kann die Rede von Lord Balfour betrachtet werden.
Vgl. ebd. S. 34f.
208
Vgl. ebd. S. 21.
209
Vgl. ebd. S. 94.
210 Vgl.: „As a system of thought about the Orient, it always rose from the specifically human detail
to the general transhuman one; observation about a tenth-century Arab poet multiplied itself into a
policy towards (and about) the Oriental mentality in Egypt, Iraq or Arabia. Similarly a verse from the
Koran would be considered the best evidence of an ineradicable Muslim sensuality.“ Ebd. S. 96.
211
Vgl. ebd. S. 184.
212
Vgl. ebd. S. 97.
213 Vgl.: „[…] at no time in German scholarship during the first two-thirds of the nineteenth century
could a close partnership have developed between Orientalists and a protracted sustained national
[Hervorhebung im Text] interest in the Orient.“ Ebd. S. 19.
214
Vgl. ebd. S. 19.
215
Said: Ebd. S. 19.
216
Ebd. S. 1.
57
3.3 Identität und Essenzialisierung: Said
Europa beispielsweise als „powerful and articulate“ beschrieben wird, so werden dem Orient genau diese Eigenschaften abgesprochen, er erscheint als „defeated and distant“217. Den Oppositionen von „different“ und „normal“218
entsprechen die von „strange“ (the Orient, the East, „them“) und „Europe“
(the West, „us“).219 Besonders durch die Benutzung der Personalpronomen
‚us‘ versus ‚them‘ wird die Entgegensetzung sprachlich akzentuiert. Dem klar
definierten, artikulierten Westen steht ein mysteriöser und exotischer Orient
gegenüber.220 Über diesen wird im Rahmen eines bestimmten Diskurses
kommuniziert, worunter Said die Verwendung spezifischen Vokabulars meint,
mit dem über den Orient gesprochen oder geschrieben wird:221
Underlying all the different units of Orientalist discourse –
by which I mean simply the vocabulary employed whenever
the Orient is spoken or written about – is a set of representative figures or tropes. These figures are to the actual Orient […] as stylized costumes are to a character in a play.222
Said geht auf diese Sprachbilder nicht detailliert ein, sondern gibt dem generellen Orientbild, das diese beschreiben, mehr Raum. Allgemein bezeichnet er die
Beschreibung des Orients als ungenau223 und auf zeitlose Gültigkeit rekurrierend.224
Mit dieser Beschreibung wird ein einheitliches und homogenes Orientbild
gezeichnet. Gegen solche Essenzialisierungen jeder Art richtet sich Saids Orientalismus-Kritik. In dem 1994 neu erschienen Nachwort zu Orientalism betont
er, dass Kulturen „hybrid and heterogenous“ seien. Diese Erkenntnis bezeichnet er als „one of the great advances in modern cultural theory“.225
217 Ebd. S. 57. Wenn andererseits der Orientale als „irrational, depraved (fallen), childlike“ beschrieben wird, erscheint der Europäer als „rational, virtuous, mature“. Vgl. Said: Orientalism. S. 40.
218
Vgl. ebd. S. 40.
219
Vgl. ebd. S. 42.
220
Vgl. Said: Orientalism. S. 51.
221
Vgl. ebd. S. 71:
Vgl. ebd. S. 94: Auf die Machtstrukturen, die bei der Art und Weise über den Orientalismus zu
sprechen eine Rolle spielen, geht Said in Anlehnung an Foucault erst später ein.
222
223
Vgl. ebd. S. 71.
224
Vgl. ebd. S. 72.
225
Ebd. S. 347.
58
3.4 Identität und Hybridität: Bhabha
3.4 Identität und Hybridität: Bhabha
Einer der Wegbereiter der „modern cultural theory“, die Said in seinem
Nachwort anspricht, ist Homi K. Bhabha, der sich selbst als einen „anglisierten postkolonialen Migranten [...] bezeichnet, der zufällig ein Literaturwissenschaftler mit leicht französischem Einfluß ist.“226 Seinem Konzept der Hybridität verdanken viele fruchtbare Analysen im Bereich transnationaler Literaturen ihre theoretische Grundlage. Durch das Zusammentreffen verschiedener
Kulturen entstehen nach Bhabha Zwischenräume, von denen aus „Strategien –
individueller oder gemeinschaftlicher – Selbstheit ausgearbeitet werden können.“227 Diese Zwischenräume können als Ort einer neuen Kultur angesehen
werden, die Elemente beider Ursprungskulturen in sich trägt. Bhabha veranschaulicht seine Idee durch das Bild eines Treppenhauses. Als Zwischenraum
zwischen Ober- und Untergeschoß bietet es die Möglichkeit zur Entwicklung
einer hybriden Kultur:228
Das Treppenhaus als Schwellenraum zwischen den Identitätsbestimmungen wird zum Prozeß symbolischer Interaktion, zum Verbindungsgefüge, das den Unterschied zwischen Oben und Unten, Schwarz und Weiß konstruiert.
Das Hin und Her des Treppenhauses, die Bewegung und
der Übergang in der Zeit, die es gestattet, verhindern, daß
sich Identitäten an seinem oberen oder unteren Ende zu
ursprünglichen Polaritäten festsetzen. Dieser zwischenräumliche Übergang zwischen festen Identifikationen eröffnet die Möglichkeiten einer kulturellen Hybridität, in der
es einen Platz für Differenz ohne eine übernommene oder
verordnete Hierarchie gibt […].229
Diesen Zwischenraum bezeichnet Bhabha auch als „Third Space“.230 Durch
das Zusammentreffen von Kulturen und der „Artikulation von kulturellen
226 Homi K. Bhabha: Die Frage der Identität. In: Benjamin Marius/Elisabeth Bronfen/Therese Steffen
(Hgg.): Hybride Kulturen. Beiträge zur anglo-amerikanischen Multikulturalismusdebatte Tübingen:
Stauffenberg, 1997. S. 97-122. S. 97.
227 Homi K. Bhabha: Verortungen der Kultur. In: Marius/Bronfen/Steffen (Hgg.): Hybride Kulturen.
S. 123-148. S. 124.
228
Vgl. ebd. S. 126f.
229
Ebd. S. 127.
230
Homi Bhabha: The Location of Culture. London: Routledge, 1994. S. 36.
59
3.4 Identität und Hybridität: Bhabha
Differenzen“231 kann also eine dritte Kultur entstehen, die Elemente beider
Kulturen in sich zu einer neuen Kultur verschmilzt. Auch diese dritte Kultur
ist keine homogene – charakteristisch ist ihre Hybridität.
So erscheint es nahezu unmöglich, Spezifika einer bestimmten Kultur herauszuarbeiten, wenn man Kulturen grundsätzlich als hybrid betrachtet. Denn in
jeder Verallgemeinerung liegt wieder die Gefahr der Essenzialisierung. Allenfalls ließen sich machtvoll durchgesetzte Dominanzen samt Essenzialisierug
feststellen.
Während Said zu klaren Polarisierungen neigt, sieht Bhabha die Grenzen zwischen Kolonisator und Kolonisiertem als sehr viel komplexer an. Ihre Positionen sind für Bhabha insbesondere durch die Mimikry nicht klar voneinander
trennbar. Indem Kolonisierte die Kolonisatoren nachahmen vermischen sich
die Grenzen stärker. Koloniale Machtentfaltung kulminiere demnach eher in
Hybridität als in kolonialer Autorität: „Colonial power results in the production of hybridity rather than the noisy command of colonialist authority or the
silent repression of native traditions.“232 Insbesondere Künstler könnten dazu
beitragen, vorhandene Dichotomien abzubauen. Der Raum, in dem dies geschieht, ist der so genannte ‚Dritte Raum‘. In diesem herrsche eine wechselseitige Durchdringung von scheinbar dichotomischen Beziehungen (wie Kolonisator und Kolonisiertem, Zentrum und Peripherie etc.).233
Bhabhas Optimismus, was den Dritten Raum anbetrifft, wird im folgenden
Zitat, in dem er die Produktivität der Hybridität gegenüber Konzepten wie
dem Multikulturalismus hervorhebt, evident:
It is significant that the productive capacities of this Third
Space have a colonial and postcolonial provenance. For a
willingness to descend into that alien territory [...] may reveal that the theoretical recognition of the split-space of
enunciation may open the way to conceptualizing an international culture, based not on the exoticism of multiculturalism or the diversity of cultures, but on the inscription and
articulation of culture’s hybridity.234 [Hervorhebung im Text]
231
Bhabha: Verortungen der Kultur. S. 124.
232
Bhabha: The Location of Culture. S. 112.
Mary Louise Pratt spricht von „contact zones“ und geht auf die ungleichmäßige Machtverteilung
ein, die bei Bhabha relativ unberücksichtigt bleibt. Vgl. Mary Louise Pratt: Imperial Eyes. London:
Routledge, 1992.
233
234
60
Bhabha: The Location of Culture. S. 38.
3.4 Identität und Hybridität: Bhabha
Bhabha grenzt sich vom Konzept des Multikulturalismus ab. In diesem erscheinen Kulturen zwar als gleichgestellt, aber zugleich als getrennte Entitäten.
In Bhabhas Konzept der Hybridität ist aber gerade die unentwirrbare Vermischung zentral.
Eine Erweiterung des multikulturellen Anliegens sieht er im Entstehen einer
Gemeinschaft, die als Projekt angesehen wird. Dass dieses Projekt zunächst
nur eine Vision und Konstruktion sein kann – im Übrigen eine oft an sein
Hybriditätskonzept herangetragene Kritik – räumt Bhabha ein. Trotz dieser
Einschränkung ermögliche es aber „einen über sich selbst hinaus“ zu führen
und „mit einer Haltung, die auf Revision und Rekonstruktion abziele, zu den
politischen Bedingungen der Gegenwart“ zurückzukehren.235 Er betont also
das gesellschaftskritische Potential dieses Konzepts.
Kulturelle Hybriditäten, so Bhabha, kommen in „Augenblicken historischen
Wandels“ auf. Minderheiten seien stets darum bemüht, diese kulturellen
Hybriditäten zu autorisieren. Zur Rolle von Minderheitenliteraturen führt
Bhabha aus, dass sie dazu einladen, „über ungleiche, asymmetrische Welten
nachzudenken, die anderswo existieren“.236 Die Weltliteratur könne „das Studium der Art und Weise sein, in der Kulturen sich durch ihre Projektion von
„Andersheit“ (an)erkennen.“ Weltliteratur transportiere nicht mehr nationale
Besonderheiten und Traditionen, sondern „transnationale Geschichten“ –
verfasst von ehemals Marginalisierten: Migranten, Kolonisierten oder politischen Flüchtlingen.237 Während das Übermitteln nationaler Werte und Traditionen die Integrität nationaler Kultur stärkte, stehen im Fokus der neuen Weltliteratur die „verrückten sozialen und kulturellen De-plazierungen“.238
Homi Bhabha hat nicht nur viel Aufmerksamkeit und Lob geerntet, sondern
auch viel Kritik auf sich gezogen. Der Optimismus mit dem er den ‚Dritten
Raum‘ beschreibt, lässt sich anhand meiner Analysen von Migrationstexten
nicht durchgehend bestätigen. Wie anfangs dargestellt, setzt meine Kritik am
gegenwärtigen Forschungsstand zur Migrationsliteratur genau an dieser teilweise unreflektierten Übernahme theoretischer Konzepte wie der Hybridität
und der Vernachlässigung anderer Zwischentöne an.
Auch Bachmann-Medick sieht die Gefahren eines euphorischen Feierns von
Hybridät. Sie fordert, dass das Konzept des ‚Dritten Raums‘ nicht „in der
Weltfremdheit eines glatten Interkulturalitäts-Designs“ erstarren solle:
235
Bhabha: Verortungen der Kultur. S. 126.
236
Ebd. S. 129.
237
Ebd. S. 139.
238
Ebd. S. 139.
61
3.4 Identität und Hybridität: Bhabha
[Man] sollte sich von der überschwänglichen Behauptung
lösen, der „dritte Raum“ zwischen den Kulturen wäre der
reinste Hort von grenzenloser Produktivität und Erfindungsreichtum. Diese Behauptung findet man in ökonomischen Verschmelzungsphantasien, aber auch in den kulturwissenschaftlichen Konzepten von „Hybridität“ mit ihrer
Übertreibung von Handlungsspielräumen. Die alltäglichen
Leidenserfahrungen der zwischen den Kulturen lebenden
Menschen stehen einer euphorischen Sicht von Hybridität
und deren Kreativitätspotentialen entgegen.239
Auf einen weiteren wichtigen Punkt weist Andreas Hepp hin, der sich anhand
der Verortung von Migrationsliteratur exemplifizieren lässt: Individuen wie
auch Kollektive (beispielsweise das Kollektiv der deutsch-türkischen Migrationsautoren240) wehren sich gegen eine fremdbestimmte Identitätszuschreibung; sie selbst möchten jedoch das Recht haben, sich zu identifizieren.241
Einen weiteren, oft formulierten Kritikpunkt an Bhabhas Konzept bringt Robert Young vor:
Hybridity may be used in different ways, given different inflections and apparently discrete references, but it always
reiterates and reinforces the dynamics of the same conflictual economy whose tensions and divisions it re-enacts in its
own antithetical structure.242
Worauf sich Youngs Kritik bezieht, lässt sich beispielsweise demonstrieren,
wenn Bhbabha behauptet, die Randgruppen, die „entorteten und diasporischen Völker“, die den Müll durchsuchen, den „postimperialen Westen“ stän-
239
Doris Bachmann-Medick: Andersheit in der Selbsterfahrung. In: Frankfurter Rundschau, 17.08.1999. S. 18.
240
Vgl. dazu Kapitel 2.1 dieser Arbeit.
241 Zu diesem „Spannungsverhältnis zwischen ‚innen‘ (dem Selbstverständnis der kulturellen Identität) und ‚außen‘ (der Fremdzuschreibung)“ vgl. Hepp: Cultural Studies und Medienanalyse. S. 57. Hepp
hebt weiterhin hervor, dass hybride Identitäten nicht als ein „semiotisches Spiel“ verstanden werden
sollten. „Vielmehr wird Hybridität häufig von den Betroffenen als problematisch empfunden, indem
gerade Hybridität die diskursive Kraft des [sic!] artikulatorischer Positionierungsprozesse greifbar
macht.“ Ebd. S. 56f.
242 Robert Young: Colonial Desire. Hybridity in Theory, Culture and Race. London: Routledge, 1995. S. 27.
Darüber hinaus kritisiert Robert Young mit Bezug auf die biologistische Herleitung des Hybriditätskonzepts folgendes: „[…] Hybridity as a cultural discription will always carry with it an implicit
politics of heterosexuality, which may be a further reason for contesting its contemporary preeminence.“ Ebd. S. 25.
62
3.4 Identität und Hybridität: Bhabha
dig an „die Heterogenität seines nationalen Raums“ erinnerten.243 Bhabha
argumentiert, dass die Existenz von Randgruppen im „postimperialen Westen“
beweise, dass es sich um eine hybride Kultur handele. Allerdings bleiben die
Randgruppen und die Wohlhabenden, deren Müll durchsucht wird, getrennt.
Zwar klingt seine Utopie für den Dritten Raum und die Möglichkeiten, die er
ihm beimisst, viel versprechend. Ein Beispiel für die gelungene Umsetzung
sind die im Müll der Reichen wühlenden Randgruppen allerdings nicht. Allenfalls bestätigen sie eine multikulturelle Kultur, in der verschiedene Entitäten
nebeneinander leben – aber gerade gegen diese wendet sich Bhabha in seinem
Konzept.
243
Vgl. Bhabha: Die Frage der Identität. S. 119.
63
3.5 Narrative Identität: Hall
3.5 Narrative Identität: Hall
Aus soziologischer Perspektive – die die Bedeutung der Umwelt für die Entwicklung einer subjektiven Identität betont (vgl. die Synthese von „I“ und
„Me“ zum „Self“ bei Mead) – wird noch von einer singulären Identität ausgegangen, die sich immer in einem einzigen ‚Ich‘ manifestiert. Zwar wird dieses
in Interaktion mit der Umwelt kontinuierlich verändert, zu jedem Zeitpunkt
gibt es aber immer nur eine einzige Identität.244 Dagegen fasst Stuart Hall das
Subjekt als Träger von verschiedenen Identitäten auf.
The fully unified, completed, secure and coherent identity is
a fantasy. Instead, as the systems of meaning and cultural
representation multiply, we are confronted by a bewildering, fleeting multiplicity of possible identities, any one of
which we could identify with – at least temporarily.245
Diese vielen möglichen Identitäten („possible identities“) werden laut Stuart
Hall, einem der Begründer der britischen Cultural Studies, nur über konstruierte Geschichten, über eine „narrative of the self“, zusammengehalten.246
Hall vertritt die Auffassung, dass moderne Identitäten „de-centred“, „dislocated“ und fragmentiert sind, wobei mit de-centring und dislocation von Individuen der Verlust eines stabilen Selbstbildes gemeint ist.247 Im späten 20. Jahrhundert, so Hall, hätten Individuen sowohl ihren festen Platz als soziale Subjekte als auch die Stabilität in sich selbst verloren:
A distinctive type of structural change is transforming
modern societies in the late twentieth century. This is fragmenting the cultural landscapes of class, gender, sexuality,
ethnicity, race and nationality which gave us firm locations
as social individuals. These transformations are also shifting
our personal identities, undermining our sense of ourselves
as integrated subjects.248
244
Vgl. dazu Krappmanns Forderung nach Transparenz und Authentizität; S. 50 dieser Arbeit.
Stuart Hall: The Question of Cultural Identity. Paul du Gay/Stuart Hall (Hgg.): Modernity and its
Futures Cambridge: Polity Press, 1996. S. 274-316. S. 277.
245
246
Vgl. ebd. S. 277.
247
Vgl. ebd. S. 275.
248 Ebd. S. 275. Als fünf wichtige Ereignisse, die dazu geführt haben, dass die Vorstellung einer
einheitlichen und kohärenten Identität überholt ist, nennt Hall den Marxismus, die Entdeckung von
64
3.5 Narrative Identität: Hall
Genau diese Auffassung vom nicht mehr existenten integrierten Subjekt soll in
dieser Arbeit kritisch hinterfragt werden. Denn, wie gezeigt werden soll, sind
die Figuren in Migrationstexten gerade um ihre Integrität, also auch um die
Integriertheit ihrer Teilidentitäten bemüht – was keineswegs im Widerspruch
zur immer wieder postulierten Fragmentierung steht, mit der sich Individuen
heute konfrontiert sehen. Ich stimme mit Hall darin überein, dass wir „‘post’
any fixed or essentialist conception of identity“ sind, werde aber anhand der
untersuchten literarischen Texte zeigen, dass diese Erkenntnis noch nicht Teil
des alltäglichen Lebens und Bewusstseins ist. Dies räumt Hall in gewisser Weise selbst ein, wenn er davon spricht, dass diese Einheit künstlich wieder hergestellt werden müsse, indem Geschichten über sich selbst erzählt werden. Diese
Ansicht rückt ihn in die Nähe von Paul Ricoeur,249 Kenneth Gergen250 und
Anthony Giddens, auf den im nächsten Teilkapitel näher eingegangen werden
soll.
Bei Hall findet sich ein ansprechendes Beispiel für das Zusammenspiel von
konfligierenden Identitäten. Darin bezieht er sich auf den von Präsident
George Bush Senior eingesetzten, schwarzen und konservativen Richter Clarence Thomas. Dieser wurde 1991 von Bush für den US Supreme Court nominiert. Damit erhoffte Bush sich die Stimmen schwarzer Wähler (die in der
Regel liberal wählen), ohne seine konservativen Wähler abzuschrecken. Thomas aber wurde bald darauf beschuldigt, eine schwarze Frau sexuell belästigt
zu haben. Auf Seiten der Wähler und Wählerinnen gerieten nun viele Teilidentitäten in Konflikt. Während einige Wähler aufgrund ihrer schwarzen Teilidentitäten oder ihrer konservativen Überzeugung zu Thomas hielten, wendeten
sich andere von ihm ab, weil sie überzeugte Frauenrechtler waren. Je nachdem,
welche Teilidentität überwog, wurde anders entschieden.251 Dieses Beispiel
interpretiert Hall dahingehend, dass es keine singuläre Identität gegeben habe,
die vorhandene unterschiedliche Identitäten zu einer Hauptidentität habe zusammenschließen können – was seine ablehnende Position gegenüber ‚master
identities‘ nochmals pointiert.
Freuds ‚Unbewusstem‘, die Saussure’sche Arbitrarität, Foucaults Diskursanalyse und den Feminismus. Vgl. ebd. S. 285-291.
249
Vgl. u.a. Paul Ricoeur. Narrative identity. In: Philosophy Today, 35 (1991). S. 73-81.
Vgl. Gergen, Kenneth J.: Erzählung, moralische Identität und historisches Bewußtsein. Eine sozialkonstruktionistische Darstellung. In: Jürgen Straub (Hg.): Erzählung, Identität und historisches Bewußtsein: die
psychologische Konstruktion von Zeit und Geschichte. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1998. 170-202.
Vgl. auch Kapitel 4 dieser Arbeit.
250
251 Vgl. Hall: The Question of Cultural Identity. S. 279f. Zur Organisation von Teilidentitäten vgl. Kapitel
3.7 dieser Arbeit.
65
3.6 Identitätswahl: Giddens
3.6 Identitätswahl: Giddens
,,We are, not what we are, but what we make of ourselves“,252 heißt es programmatisch bei Anthony Giddens. Dieser vertritt die Meinung, dass Individuen immer die Möglichkeit haben, ihre sozialen Umstände zu ändern, selbst
wenn diese aufgrund spezieller sozialer Kontexte eingeschränkt sind:253
The self is not a passive entity, determined by external influences; in forging their self-identities, no matter how local
their specific contexts of action, individuals contribute to
and directly promote social influences that are global in
their consequences and implications.254
Dass Giddens sich von radikalen postmodernen Positionen abgrenzt, zeigt
sich bereits in der von ihm gewählten Begrifflichkeit für den gemeinten Zeitraum. Giddens spricht nicht von der Postmoderne, sondern von der Hochoder Spätmoderne.255 Zwar stimmt Giddens mit postmodernen Theoretikern
darin überein, dass im späten 20. Jahrhundert erhebliche Veränderungen stattgefunden hätten, die eine Neustrukturierung von sozialer Erfahrung, Identität
und Wissen eingeleitet haben. Auch für seine Theorie ist es wesentlich, dass
die Fragmentierung der Lebensbereiche und das Entstehen verschiedener Lebensangebote zu einer Vielzahl an Wahlmöglichkeiten geführt hat. Einen vollkommenen Bruch mit der Moderne sieht er hierin aber nicht.256 Was die Moderne von anderen Epochen klar abgrenze, sei der Aspekt der Dynamisierung.
Sozialer Wandel vollziehe sich schneller als je zuvor und verändere bestehende
soziale Praktiken und Verhaltensregeln tief gehend.257
Darüber hinaus habe Reflexivität eine zentralere Bedeutung als in der Moderne
bekommen:
252
Giddens: Modernity and Self-Identity. S. 75.
253
Zur Frage, welche Möglichkeiten sich Unterprivilegierten bieten, vgl. ebd. S. 86.
254
Ebd. S. 2.
255
Ebd. S. 3.
Vgl.: ,,It has become commonplace to claim that modernity fragments, dissociates. Some have
even presumed that such fragmentation marks the emergence of a novel phase of social development beyond modernity – a postmodern era. Yet the unifying features of modern institutions are
just as central to modernity – especially in the phase of high modernity – as the disaggregating ones.“
Ebd. S. 27.
256
257
66
Vgl. ebd. S. 16.
3.6 Identitätswahl: Giddens
In the settings of what I call ‘high’ or ‘late’ modernity – our
present-day-world – the self, like the broader institutional
contexts in which it exists, has to be reflexively made. Yet
this task has to be accomplished amid a puzzling diversity
of options and possibilities.258
Mehr noch als das bloße reflektieren über sich selbst werde auf einer Metaebene über diese Reflexionen reflektiert.259 Man müsse sich also fragen, wer
man sein wolle:
[…] everyone is in some sense aware of the reflexive contribution of modern social activity and the implications it
has for her or his life. Self-identity for us forms a trajectory
across the different institutional settings of modernity over
the durée of what used to be called ‘life circle’, a term which
applies much more accurately to non-modern contexts than
to modern ones. Each of us not only ‘has’, but lives a biography reflexively organized in terms of flows of social and
psychological information about possible ways of life.
Modernity is a post-traditional order, in which the question,
‘How shall I live?’ has to be answered in day-to-day decisions about how to behave, what to wear and what to eat –
and many other things – as well as interpreted within the
temporal unfolding of self-identity.260
Teil dieser reflexiven Welt sei es, dass persönliche Beziehungen wie Freundschaft und Ehe auf der reinen Erfüllung individueller Wünsche basierten. Unter so genannten „pure relationships“ versteht Giddens eine freundschaftliche
oder erotische Beziehung, die rein auf der Befriedigung individueller Bedürfnisse beruhe und nicht durch monetäre oder soziale Zwänge beeinflusst sei.261
Sobald die Beziehung in dieser Hinsicht nachlasse, könne die Verbindung aufgelöst werden. Während persönliche Beziehungen früher stark auf sozialen
258
Ebd. S. 3.
Die Reflexivität der Moderne operiere auch auf einer Ebene des methodologischen Zweifels.
Selbst Experten widersprechen sich gegenseitig und liefern eine große Zahl an Lösungsmöglichkeiten, zwischen denen dann wiederum gewählt werden muss. Vgl. ebd. S. 84.
259
260
Ebd. S. 14.
Vgl.: „One might become friendly with a colleague, and the proximity at work or shared interest
generated by work might help instigate the friendship – but it is a friendship only in so far as the
connection with the other person is valued for its own sake.“ Ebd. S. 90.
261
67
3.6 Identitätswahl: Giddens
oder ökonomischen Verpflichtungen und Zwängen beruhten, übernehme jetzt
allein das reflexive Ich die Auswahl von Beziehungspartnern.
Obwohl die Idee, dass jedes Individuum einzigartig ist und spezielle Potentiale
hat, die ausgeschöpft werden können, oft erst als Phänomen der Moderne
betrachtet wird, sieht Giddens in der Preisung der Individualität kein rein modernes Phänomen:
[…] I do not think it is the existence of the ‚individual’ that
is at stake, as a distinctive feature of modernity, and even
less so the self. ‚Individuality’ has surely been valued –
within varying limits – in all cultures and so, in one sense or
the other, has been the cultivation of individual potentialities.262
Zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen zur Relevanz der Selbstreflexivität
nimmt Giddens Selbsthilfebücher, weil er sie als paradigmatisch für das existierende Bild von Identität ansieht.263 Insbesondere fokussiert er sich auf SelfTherapy von Janette Rainwater.264 Rainwater nach sei das Selbst bzw. Ich
(„self“) ein reflexives Projekt („reflexive project“), für das das Individuum
Verantwortung trage.265 Weiterhin forme das Selbst bzw. Ich eine ‚Flugbahn‘
von der Vergangenheit zur antizipierten Zukunft (daher der Titel des Kapitels
„The trajectory of the self“). Auf dieser ‚Flugbahn‘ kommt der Möglichkeit zu
wählen, eine entscheidende Rolle zu.
On the level of the self, a fundamental component of dayto-day activity is simply that of choice. Obviously, no traditions are effectively choices among an indefinite range of
possible behaviour patterns. Yet, by definition, tradition or
established habit orders life within relatively set channels.
Modernity confronts the individual with a complex diversity off choices and, because it is non-foundational, at the
same time offers little help as to which options should be
selected.266
262
Ebd. S. 75.
Vgl.: „Therapy is not simply a means of coping with novel anxieties, but an expression of the
reflexivity of the self […]“ Ebd. S. 34.
263
264
Janette Rainwater: Self-Therapy. London: Crucible, 1989.
265
Ebd. S. 75.
266
Ebd. S. 80.
68
3.6 Identitätswahl: Giddens
Die einzige Wahl, die modernen Individuen verwehrt bliebe, sei die, nicht zu
wählen: „[...] in conditions of high modernity, we all not only follow lifestyles,
but in an important sense are forced to do so – we have no choice but to
choose.“267 Man müsse also stets eine Wahl treffen, wobei die getroffenen
Entscheidungen gleichzeitig Entscheidungen darüber seien, wer man sein wolle: „All such choices […] are decisions not only about how to act but who to
be. The more post-traditional the settings in which an individual moves, the
more lifestyle concerns the very core of self-identity, its making and remaking.“268 Zu diesen Entscheidungen gehöre auch die Wahl eines bestimmten
Lebensstils,269 der einem Wunsch nach Sicherheit („ontological security“) entspringen kann: ,,A lifestyle involves a cluster of habits and orientations, and
hence has a certain unity – important to a continuing sense of ontological security – that connects options in a more or less ordered pattern.“270 Giddens
spricht von einem schützenden Kokon („protective cocoon“), der den
Wunsch nach Sicherheit und Unversehrtheit – die körperliche und psychologische Integrität271 – symbolisiert. Dieser Kokon ist auch für Giddens ein Idealkonstrukt, das keineswegs die Wirklichkeit widerspiegelt.272 Weiterhin kann ein
Lebensstil eine Art ‚Form‘ für die eigene Lebensgeschichte bilden, weil sie
bestimmte Handlungsweisen vorgibt:
A lifestyle can be defined as a more or less integrated set of
practices which individuals embrace, not only because such
practices fulfil utilitarian need, but because they give material form to a particular narrative self-identity.273
Zur reflexiv ausgearbeiteten persönlichen ‚Flugbahn‘ gehört ein strategischer
Lebensplan für zukünftige Projekte. Diese, wie auch in der Vergangenheit
liegende Ereignisse und Daten, können in einem persönlichen Kalender, einem Lebensplan-Kalender („life-plan calender“), organisiert werden. Für die
reflexive Konstruktion von persönlicher Identität sei die Vorausplanung der
267
Ebd. S. 81.
268
Ebd. S. 81.
269 Vgl.: ,,The reflexive project of the self, which consists in the sustaining of coherent, yet continuously revised, biographical narratives, takes place in the context of multiple choice as filtered through
abstract systems, In modern social life, the notion of lifestyle takes on a particular significance.“ Ebd.
S. 5.
270
Ebd. S. 82.
271
Vgl. dazu Kapitel 3.8 dieser Arbeit.
272
Vgl. Giddens: Modernity and Self-Identity. S. 40.
273
Ebd. S. 81.
69
3.6 Identitätswahl: Giddens
Zukunft genauso wichtig wie die Nacherzählung der Vergangenheit. Dies erweitert Halls Konzept der Selbsterzählung, die sich auf zurückliegende Ereignisse im Leben bezieht.
Giddens schließt sich Ulrich Beck an, der den Begriff der „Risikogesellschaft“
geprägt hat.274 Keine unserer Aktivitäten hätten einen vorbestimmten Kurs,
alle seien von kontingenten Geschehnissen leit- und veränderbar.275 In der
Risikogesellschaft zu leben, bedeute gegenüber den vielen verschiedenen –
positiven wie negativen – Möglichkeiten, eine taxierende Haltung („calculative
attitude“) zu entwickeln.276 Zwischen verschiedenen Möglichkeiten zu entscheiden, sei immer auch eine Wahl zwischen möglichen Welten („possible
worlds“).277 Traditionelle Gesellschaften seien gekennzeichnet durch eine Orientierung an der Vergangenheit, Moderne dagegen durch eine Orientierung an
der Gegenwart und Zukunft.278 Die Identität eines Individuums hänge weniger
vom Verhalten und den Reaktionen der ‚anderen‘ ab, sondern entschieden von
der Fähigkeit, eine Lebensgeschichte zu entwickeln: „the capacity to keep a
particular narrative going“.279 In dieser Lebensgeschichte müssen kontinuierlich vergangene und antizipierte Ereignisse integriert werden. Giddens spricht
in Bezug auf die Integration von Geschehnissen von „chronic ‘work’“.280 Auf
diese ‚Arbeit‘ an der Identität soll im nächsten Teilkapitel näher eingegangen
werden.
274
Vgl. Ulrich Beck: Risikogesellschaft. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1990.
275
Vgl. Giddens: Modernity and Self-Identity. S. 28.
276
Vgl. ebd. S. 28.
277
Ebd. S. 29.
278
Vgl. ebd. S. 29.
279
Ebd. S. 54.
Er vermutet, dass diese ‚chronische Arbeit‘ möglicherweise in Träumen geleistet wird: „There is
surely an unconscious aspect to this chronic ‘work’, perhaps organised in a basic way through
dreams.“ Ebd. S. 54.
280
70
3.7 Identitätsarbeit
3.7 Identitätsarbeit
Unter Identitätsarbeit fasse ich in Anlehnung an David Snow Prozesse auf,
durch die individuelle wie auch kollektive Identitäten kreiert, artikuliert, erhalten und verändert werden. Snow geht es bei seinem Konzept des „identity
work“ vordergründig um Engagement in Gruppen („social movements“).281 In
dieser Arbeit wird es erweitert um die Zugehörigkeit zu soziokulturellen und
ethnischen bzw. nationalen Gruppen, da es ein ideales Analyseinstrumentarium
für den Umgang mit komplexen Identitäten liefert.
Im Zentrum der Identitätsarbeit steht die Generierung, Invokation und Aufrechterhaltung von symbolischen Ressourcen, die ein Kollektiv von innen
zusammenhalten und nach außen abgrenzen, indem sie Gemeinsamkeiten
innerhalb der Gruppe bzw. Unterschiede zu anderen Kollektiven aufzeigen.
Zu diesen symbolischen Ressourcen gehören u.a. bestimmte Erzähl-, Kleidungs- und Musikstile. Als konkrete Beispiele nennt Snow verschiedene Formen von „identity talk“ wie Kriegsgeschichten, die sowohl innerhalb der
Gruppe als auch gegenüber potentiellen Gruppenmitgliedern und den Medien
erzählt werden; bestimmte Lieder und Musikrichtungen, die zur Teilnahme
einladen und politisch sowie emotional wirken; Schlagwörter und Slogans, die
eine ähnliche Wirkung haben und Gesten und Zeichen – wie beispielsweise
eine erhobene Faust. Das Zusammenspiel all dieser Elemente, das Snow als
„semiotic bricolage“ bezeichnet, gibt der Gruppe eine symbolische Substanz.282
Snow kommt auf einen oft übersehenen Aspekt zu sprechen: auf die Schnittstelle zwischen persönlicher und kollektiver Identität. Problematisch ist dieser
Übergang insbesondere, weil es Individuen mit multiplen Gruppenzugehörigkeiten gibt. Eine zentrale Frage ist, wie die Teilhabe eines Individuums zu
mehreren Kollektiven, die zumal in Konflikt zueinander stehen können, auf
David A. Snow/Doug McAdam: Idenity Work Processes in the Context of Social Movements: Clarifying the
Idenity/Movement Nexus. In: Sheldon Stryker/Timothy Owens/Robert White (Hgg.): Self, Identity and
Social Movements. Minneapolis: University of Minneapolis Press, 2000. S. 41-67. S. 41.
281
Vgl. David Snow: Collective Identity and Expressive Forms. In: Neil Smelser/Paul B. Baltes (Hgg.):
International Encyclopedia of the Social and Behavioral Sciences. Bd. 4. Amsterdam: Elsevier, 2001.
S. 2212-2219. S. 2216. Vgl. auch: „Available cultural resources – consumer goods, leisure activities,
popular culture in the form of music and dress – are appropriated and reassembled through a process of ‘bricolage’ […] into meaningful patterns – styles – which can be understood in terms of the
meanings, responses and strategies through which youth copes with its contradictory situation.“ Don
Slater: Consumer Culture and Modernity. Cambridge: Polity Press, 1997. S. 165.
282
71
3.7 Identitätsarbeit
individueller Ebene vereinbart wird. Hierzu können zwei Strategien eingeschlagen werden: die Identitätskonvergenz oder die Identitätskonstruktion.
Im Falle von Identitätskonvergenz wird davon ausgegangen, dass eine weitgehende Kongruenz zwischen persönlicher und kollektiver Identität vorhanden
ist; dass die Werte des Kollektivs beispielsweise nicht in Widerspruch zu den
persönlichen Überzeugungen stehen. Diesem Aspekt kommt im Konzept der
Integrität besondere Relevanz zu. Die Übereinstimmung von persönlicher und
kollektiver Identität wird durch verschiedene rationale Wahlprozesse („rational
choice processes“) erleichtert. Nach dem „tipping“ oder „threshold“-Modell
beispielsweise kommen Individuen zu der Überzeugung, dass sie mehr Vorteile haben, wenn sie den Werten und Normen eines bestimmten Kollektivs gemäß handeln, als wenn sie dies unterlassen.283 Weiterhin können bestimmte
Kollektive eine Art Forum sein, um den eigenen Überzeugungen Ausdruck zu
verleihen und Bestätigung für diese zu finden.
Wenn eine Übereinstimmung zwischen persönlicher und kollektiver Identität
nicht vorhanden ist, müssen Individuen Identitätsarbeit betreiben, um diese
herzustellen. In diesem Fall spricht Snow von Identitätskonstruktion und unterscheidet vier Hauptvarianten: „identity amplification“, „identity consolidation“, „identity extension“ und „identity transformation“.284
„Identity amplification“ kann mit Identitätsverstärkung übersetzt werden und
bezeichnet die Hervorhebung einer Teilidentität. Als Beispiel gibt Snow die
Frauenbewegung an. Erst nachdem die Teilidentität ‚Frau‘ die Priorität in der
persönlichen Identität gewinnt, steht diese (persönliche Identität) in Kongruenz zu der Teilnahme an der Frauenbewegung:
Identity amplification affects a change in an individual’s
identity salience hierarchy, such that an existing but lowerorder identity becomes sufficiently salient to ensure engagement in collective action, as in the many cases in which
the identity of women was elevated and expanded in conjunction with the Women’s movement.285
Unter „identity consolidation“ (Identitätszusammenschluss) versteht Snow die
Aneignung einer Teilidentität, die eine Mischung aus zwei bereits existierenden, aber unkompatibel erscheinenden Identitäten ist und an Bhabhas Hybriditätskonzept erinnert:
283
So erklärt Snow z.B. den Sprachenwechsel bei russischen Immigranten. Vgl. ebd. S. 2216f.
284
Ebd. S. 2216.
285
Ebd.
72
3.7 Identitätsarbeit
The process of identity consolidation refers to the adoption
of an identity that combines two prior identities that appear
to be incompatible because they are typically associated
with strikingly different subcultures or traditions, be they
political or religious.286
Bei der so genannten „identity extension“ (Identitätsausweitung) wird eine
Teilidentität so wichtig genommen, dass sie auf alle Lebensbereiche übertragen
wird. Als Beispiel führt Snow an, dass ‚ein guter Christ‘ dies nicht nur am
Sonntag sei, sondern auch in der Familie und am Arbeitsplatz.287
Als letzte Variante nennt Snow „identity transformation“ (Identitätstransformation). Diese kennzeichnet eine tiefgehende Veränderung im Selbstverständnis von Individuen und kann beispielsweise im Falle einer religiösen Konversion der Fall sein. Individuen nehmen eine biographische Rekonstruktion vor,
die beschrieben wird als:
double-edged process involving the dismantling of the past,
on the one hand, and its reconstitution, on the other. Some
aspects of the past are jettisoned, others are redefined, and
some are put together in ways that would have previously
been inconceivable. One’s biography is, in short, reconstructed in accordance with [a] new or ascendant universe
of discourse and its attendant and vocabulary of motives.288
Diese Beschreibung der biographischen Rekonstruktion weist Parallelen auf zu
den von Krappmann, Hall und Giddens genannten Selbsterzählungen.
Die verschiedenen Varianten der Identitätskonstruktion vollziehen sich durch
so genannte „framing processes“ und/oder direktes Engagement in einer
Gruppe.289 Mit „framing processes“ sind gegenüber anderen (Anhängern der
Gruppe, Gegnern oder neutralen Zuhörern) getätigte Äußerungen gemeint, die
die Zugehörigkeit zu der entsprechenden kollektiven Identität bejahen, ableh-
286 Snow/McAdam: Idenity Work Processes in the Context of Social Movements. S. 50. Den Ausdruck „identity consolidation“ übernehmen Snow/McAdam von David Gordon, der ihn in den 1970er Jahren
auf die „Jesus people“ anwendete. Die Verfasser selbst liefern das Beispiel religiöser Psychotherapie.
287 Weiterhin nennt er die „Nichiren, Shoshu Buddhist“-Bewegung in den USA. Die Mitglieder
dieser Gruppe wurden dazu aufgefordert die Interessen der Bewegung stets im Bewusstsein zu
haben und in allen Lebensbereichen danach zu handeln. Vgl. ebd. S. 51.
288
Snow/Machalek zitiert ebd. S. 52.
289
Snow: Collective Identity and Expressive Forms. S. 2217.
73
3.7 Identitätsarbeit
nen oder modifizieren. Das einmalige Engagement in Kollektiven kann die
entsprechende Teilidentität erstarken lassen und ein dauerhaftes Engagement
nach sich ziehen.
Snow kritisiert, dass in der Forschung meist nur die Entstehung kollektiver
Identitäten Beachtung fände: Variationen in der Form dieses Phänomens kämen kaum zur Sprache. Er selbst betont, dass es Formen und Dimensionen
von kollektiven Identitäten gebe:
The concept is most often invoked as if it is an invariant
uniform collective phenomenon. This is not the case, however as collective identities can be multi-dimensional and be
multi-layered within a specific locus, and they may also vary
by type.290
Je nachdem, wie stark ein Kollektiv auf kognitiver, emotionaler und moralischer Ebene die Grenzen zwischen der eigenen Gruppe und anderen Gruppen
zu profilieren vermag, desto mehr kann sie sich gegenüber anderen behaupten.291
Mit dem Begriff Identitätsarbeit operiert auch die Forschungsgruppe um Heiner Keupp. Das Erkenntnisinteresse ist ähnlich wie das Krappmanns gelagert:
Wie organisieren Subjekte ihre Kohärenzerfahrung angesichts der Vielfalt lebensweltlicher Selbsterfahrungen und der
Abnahme gesellschaftlich verfasster Kohärenzmodelle?292
Florian Straus und Renate Höfer liefern einen Katalog von wichtigen Elementen der Identitätsarbeit – allerdings beschreiben sie die Identitätsarbeit auf eine
andere Art und Weise als Snow. Die Verfasser beanstanden den Mangel an
empirisch überprüfbarer Theorie.293 Deswegen baut ihr Konzept der alltäglichen Identitätsarbeit auf einer empirischen Untersuchung auf. Ähnlich wie bei
der interaktionistisch ausgerichteten Identitätsforschung wird der Selbstwahrnehmung eine prominente Rolle zugeschrieben. Diese „situative Selbstthema-
290
Ebd.
291
Ebd. S. 2217f.
292 Florian Straus/Renate Höfer: Entwicklungslinien alltäglicher Identitätsarbeit. In: Renate Höfer/Heiner
Keupp (Hgg.): Identitätsarbeit heute. Klassische und aktuelle Perspektiven der Identitätsforschung.
Suhrkamp: Frankfurt am Main, 1997. S. 270-307. S. 270.
Das sehen sie im Konzept der Identität selbst begründet: „Dafür verantwortlich ist scheinbar das
Konstrukt Identität selbst, umfasst es doch gerade auch jene Teile menschlicher Selbstwahrnehmung, die weder den Subjekten noch den Forschern und Forscherinnen über Fragebogen oder/und
Interview einfach zugänglich sind.“ Ebd. S. 270.
293
74
3.7 Identitätsarbeit
tisierung […]“ gehöre zu den Basisakten der Arbeit an der Identität.294 In Anlehnung an Ottomeyer unterscheiden Straus/Höfer zwischen vier Modi der
Selbstwahrnehmung, die sich gegenseitig beeinflussen: die Selbstwahrnehmung
des Subjekts auf kognitiver und emotionaler Ebene, die Wahrnehmung der
Einschätzung der eigenen Person durch andere und die Wahrnehmung des
Produkts des Handlungsakts.295 Die Mead’sche Unterteilung in „Me“ und „I“
wird hier also noch weiter untergliedert.296
Die subjektiven Selbstthematisierungen werden zu Teilidentitäten gebündelt.
Die Form, in der sich diese Bündelung vollzieht, wird „Identitätsperspektive“
genannt.297 Dabei stehen Perspektiven und Teilidentitäten in einem Verhältnis
von Form und Inhalt zueinander. Mithilfe dieser Perspektive reflektieren sich
Individuen generalisierend.298 Die Entwicklung der jeweiligen Perspektive ist
bedingt durch den „historisch bedingten Differenzierungsgrad der Lebenswelt(en)“,299 durch die jeweilige Lebensphase und Biographie, durch die soziale
und gesellschaftliche Umgebung und die Optionsräume, die diese eröffnet und
nicht zuletzt durch subjektive Entscheidungen; also sozusagen durch den Habitus. Mit der letztgenannten Ebene der subjektiven Entscheidung kommt hier
eine ähnliche Instanz wie das Mead’sche „I“ ins Spiel, allerdings bleibt unklar,
ob und wie sich diese subjektive Entscheidung aus den vorher genannten Bedingungen entwickelt oder ob sie völlig von diesen losgelöst ist. Somit bleibt
fraglich, wie ihre Entstehungsbedingungen aussehen. Ganz richtig weisen
Straus/Höfer darauf hin, dass diese Optionsräume wesentlich von sozialen,
personalen und kulturellen Ressourcen (bzw. Kapitalien im Sinne von Bourdieu) abhängen.300
294
Vgl. ebd. S. 273.
295
Vgl. ebd.
Es wird zudem explizit um einen zeitlichen Horizont erweitert. Frühere Selbstthematisierungen
werden mit aktuellen abgeglichen. Vgl. ebd. S. 275.
296
297
Ebd.
298
Vgl. ebd. S. 278.
299
Ebd.
300 „Für eine sozialhistorische Identitätsanalyse besonders relevant ist die Frage, welche Perspektiven
den Subjekten gesellschaftlich vordringlich angeboten werden und welche Freiheitsgrade Subjekte
haben, mit diesen Perspektiven umzugehen. Beispielsweise erlaubt eine historische Phase, in der
Traditionen und ihre sozialen Träger nicht mehr jene Integrationsmacht wie früher haben, mehr
eigenständige Entscheidungen. So können heute angebotene Perspektiven weit eher ausgeschlagen
oder/und verändert werden. Andererseits erfordert der Individualisierungsprozess vom Subjekt
umgekehrt auch permanente Entscheidungsprozesse hinsichtlich der Fragen, welche Perspektiven
man übernimmt und wie man sie für sich ausgestaltet. In diesem Zusammenhang ist natürlich auch
die Erosion der Integrationsmacht sozialer Großgruppen relevant. Kleinere soziale Netzwerke über-
75
3.7 Identitätsarbeit
Individuen müssen sich bestimmten Handlungsaufgaben stellen, die insbesondere geschlechtsspezifisch differieren. In Anlehnung an Burke gehen die Verfasser davon aus, dass „Personen ein Set von angewandten Bedeutungen entwickeln, die definieren, wer man glaubt zu sein […]. Wir gehen davon aus, daß
Teilidentitäten wesentlich durch ein solches Set, das als Standard beziehungsweise Bezugsrahmen für das Selbst dient, geprägt werden.“301
Sehr wichtig erscheint Straus/Höfers Betonung der Zukunftsorientierung. Die
zukunftsbezogene Reflexion findet gegenüber der Veränderung der Lebensgeschichte (vgl. Krappmann oder Hall) nur selten Beachtung (z.B. bei Giddens).
Nach Straus/Höfer entwirft das Individuum „optionale Selbste“302. Darunter
sind erwünschte oder unerwünschte Selbstrepräsentationen zu verstehen. Diese können zum einen als Motivatoren oder aber zur „Affirmation und Verteidigung des gegenwärtigen Selbsts“ dienen.303 Reift ein solcher Identitätsentwurf zu einem konkreten Vorhaben, wird er zu einem Lebensprojekt und somit zu einem Bestandteil der Lebensbiographie. Es kann also Rekurs auf die
Erreichung oder Nicht-Erreichung dieser Projekte genommen werden.304 Die
Motivationskraft eines Lebensprojekts und die Folgen von dessen NichtErreichung werden in Kapitel 6 besonders relevant werden.
Straus/Höfer fassen Kohärenz und Kontinuität zwar als nötige Bestandteile
eines Selbstkonzepts auf, allerdings meinen sie, dass ein „Verständnis von
Kohärenz und Kontinuität im Sinne der mathematischen Formel >A=A< eine
nicht sinnvolle Verkürzung“ darstelle.305 Sie schlagen dagegen vor, von mehreren Bezugspunkten auszugehen. Demnach besteht das Identitätsmanagement
nehmen – so unsere These – zunehmend Funktionen, insbesondere bei der Gewichtung und konkreten Ausformung identitätsrelevanter Perspektiven.“ Ebd. S. 279.
301
Ebd. S. 281.
302
Ebd. S. 282.
303
Ebd. S. 283.
Straus und Höfer referieren auch einen Katalog von Identitätsprojekten, der von Siegert/Chapman vorgelegt wurde. Demnach können Lebensprojekte fünf Ziele haben: die Aufrechterhaltung des gegenwärtigen Status, die Realisierung von Lebensplänen, die selbstbezogene Aktualisierung des eigenen Potentials, die reflexive Konstruktion des eigenen Selbstverständnisses und die
Identifikation mit zukünftigen Generationen. Vgl. ebd. S. 283f. Vgl. Michael T. Siegert/Michael
Chapman: Identitätstransformationen im Erwachsenenalter. In: Hans-Peter. Frey/Karl Haußer (Hgg.):
Identität. Entwicklungen psychologischer und soziologischer Forschung. Stuttgart: Enke, 1987. S.
139-150. S. 146.
304
305
76
Straus/Höfer: Entwicklungslinien alltäglicher Identitätsarbeit. S. 285.
3.7 Identitätsarbeit
eines Subjekts aus einer Kombination „retro- und prospektiver Anteile“306.
Organisiert würde das Leben in einer Mischung aus Kontinuität und Kohärenz
und Entwicklung und Flexibilität.
Im Identitätsmodell von Keupp et al ist die aktive Steuerungsleistung der Individuen von zentraler Bedeutung. Während die Identitätsprojekte die Struktur
bieten, entsprechen ihnen auf prozessualer Seite Identitätsstrategien bzw. das
Identitätsmanagement des Subjekts. Je nach Identitätsstatus können verschiedene Idenitätsstrategien angewandt werden.307
Mit dem Begriff „Metaidentität“ unternehmen Straus/Höfer den Versuch, eine
Ebene zu benennen, auf der die Teilidentitäten gebündelt werden.308 „Die
Reflexion auf einer Metaebene“ könne bei Orientierungskrisen zwischen divergierenden Teilidentitäten vermitteln. Hier schließen sich die Überlegungen
von Straus/Höfer an Snow an, der sein Augenmerk von vornherein auf die
Aushandlung verschiedener Teilidentitäten legt. Teilidentitäten, die den Individuen in Bezug auf Anerkennung, Selbstachtung, Autonomie und Originalität
mehr Sicherheit geben, seien dadurch besser organisiert und dominieren auf
der Metaebene gegenüber anderen Teilidentitäten. Eine andere Erklärung für
die Dominanz einer Teilidentität kann in ihrer spezifischen Relevanz in einem
bestimmten Lebensabschnitt liegen. Deswegen arbeiten Individuen auch nicht
gleichzeitig an allen Teilidentitäten.309
Die Bündelung von Teilidentitäten ist ein Aspekt, der auch im Integritätskonzept eine zentrale Rolle spielen wird.
306
Ebd. S. 285.
Als Identitätszustände bzw. -status werden „Moratorium“, „Foreclosure“, und „Diffusion“ unterschieden. Vgl. ebd. S. 290ff.
307
308
Vgl. ebd. S. 296ff.
309
Vgl. ebd. S. 299.
77
3.8 Das Konzept der Integrität
3.8 Das Konzept der Integrität
Nachdem die wichtigsten Aspekte einschlägiger Identitätstheorien dargelegt
wurden, soll im Folgenden mit deren Hilfe das dieser Arbeit zugrunde liegende
Integritätskonzept eingeführt werden. Anfangs soll ein Überblick über die
Verwendung des Begriffes Integrität anhand lexikalischer Bestimmungen und
seiner Verwendung in Bereichen vom Recht bis zur Psychologie gegeben werden. Zunächst werden also bestehende Konzepte von Integrität referiert. Axel
Honneths Überlegungen dienen dabei als Verbindungselemente von mehreren
Bereichen, insbesondere der psychologischen und sozialpolitischen Ebene.
Die Vorteile von bestehenden Identitätstheorien zu nutzen und ihre Nachteile
zu vermeiden fordert Reckwitz:
Die neueren Identitätsanalysen müssen offenbar nicht nur
dem Risiko des kulturalistischen Essentialismus, sondern
genau umgekehrt auch dem Bild eines hyperflexiblen, seine
Identitäten auswechselnden Subjekts entgehen, das den
Boden der Alltagspraktiken zu verlassen scheint.310
Diese Forderung kann erfüllt werden, so meine These, wenn die einschlägigen
Identitätstheorien um das Konzept der Integrität erweitert werden.
In einer in den USA durchgeführten Umfrage wurde nach dem Allgemeinverständnis von Integrität gefragt. Das Spektrum der Antworten umfasste u.a. ein
Verständnis von Integrität als den respektvollen Umgang mit Mitmenschen
und sich selbst, den eigenen Werten im Leben bewusst zu sein, sich treu zu
bleiben und ehrlich zu sein. Außerdem wurde angegeben, dass ein Ausschluss
aus dem „mainstream“ einen direkten, negativen Einfluss auf die Integrität
habe und Integrität mit dem Wort ‚integriert‘ zusammenhänge und ‚ganz‘ bedeute.311
Im Ergebnis der Umfrage lassen sich viele Aspekte, unter denen Integrität in
dieser Arbeit behandelt wird, wiederfinden. Dabei ist allerdings zu beachten,
dass sich bei einer Umfrage in Deutschland möglicherweise nicht die gleiche
310
Reckwitz: Der Identitätsdiskurs. S. 35. Vgl. auch S. 7 dieser Arbeit.
Vgl. Anita Spencer: A Crisis of Spirit. Our Desperate Search for Integrity. New York: Insight Books,
1996. S. 84f. Anita Spencer geht es im Verlauf ihrer Abhandlung hauptsächlich um den moralischen
Aspekt von Integrität.
311
78
3.8 Das Konzept der Integrität
Bandbreite an Aspekten herauskristallisiert hätte, da integer in Deutschland
allgemeinsprachlich im Sinne von „charakterlich unverdorben“ gebraucht
wird.312
In dieser Arbeit werden aber auch die anderen Aspekte, die dem Begriff inne
wohnen, beachtet. So stehen als zentrale Kategorie die wechselseitige Anerkennung von Individuen und Kollektiven sowie die Integration von Teilidentitäten im Vordergrund. Wie bereits darauf hingewiesen wurde, liegt dem hier
vorgestellten Konzept der Integrität die Annahme zugrunde, dass eine Form
von Integritätsverletzung vorliegt, wenn Individuen aufgrund der Essenzialisierung auf eine Teilidentität diskriminiert werden. Damit werden sie nicht nur
ungerecht behandelt, sondern es wird auch ihre selbst gewählte Organisation
von Teilidentitäten gestört – denn man beginnt sich mit dem zu identifizieren,
zu dem man gemacht wurde.
Lexikalische Bestimmungen
In Meyers Konversationslexikon von 1896 wird Integrität als „Zustand der
»Ganzheit und Vollständigkeit«“ definiert.313 Sowohl der Begriff ‚Integrität‘ als
auch der der ‚Integration‘ entstammen demselben lateinischen Wortstamm.314
Während Integrität den Zustand selbst darstellt, ist Integration die Handlung,
die zu diesem Zustand führt. Eine Definition, die im Sinne von Lebensfähigkeit verstanden werden kann, findet sich bereits im Zedler von 1735. Dort wird
„integer“ hauptsächlich gleichbedeutend mit „gesund“ verwendet:
Gesund, Sanus, Integer, Valens, Französisch Sain. Wird
eigentlich gesaget von dem Zustand eines Cörpers, der ein
Leben hat, und sich in dem, nach der Natur ihm gehörigen,
guten Zustand befindet, daß er seine natürliche
Verrichtungen ungehindert ausüben kann. Also wird es
312
Brockhaus-Enzyklopädie. Bd. 9. Wiesbaden: Brockhaus, 1970.
Dies entspricht der mathematischen Verwendung des Begriffs. In der Mathematik ist eine ganze
Zahl im Gegensatz zu einer fraktierten integer: „INTEGER, in arithmetic, a whole number, in
contradistinction to a fraction.“ Encyclopedia; or, a Dictionary of Arts, Sciences, and Miscellaneous Literature.
Philadelphia: Dobson, 1798. S. 273.
313
Vgl.: “Integer, gra, grum: unberührt, unangetastet: 1. (physisch) a) unverwundet, unverletzt; b)
frisch; unvermischt, rein [vinum]; c) unbefleckt, unbescholten, jungfräulich; d) ungeschwächt, frisch,
gesund; e) ungeschmälert, noch ganz, vollständig; 2. (geistig) a) vorurteilslos; b) unwissend, unerfahren; 3 (moralisch) a) unverdorben, unbescholten; b) unbestechlich, redlich; c) unwandelbar [fides];
4./(von äußeren Umständen) a) frisch, neu;/b) noch unerledigt, unentschieden[causa]; subst. –um, i
n 1. unverletzter Rechtszustand, früherer Zustand; freie Hand; 2. de, ex, ab –o von neuem.“ Langenscheidt-Wörterbuch: Lateinisch-Deutsch, Deutsch-Lateinisch. Bearbeitet v. Erich Pertsch. Berlin: Langenscheidt, 1973. S. 216. Vgl. auch: „Integrität (lat.), Unversehrtheit, Ganzheit, bes. im Sinne von Makellosigkeit, Unbescholtenheit.“ Wilhelm Hehlmann: Wörterbuch der Psychologie. Stuttgart: Kröner,
1974. S. 235.
314
79
3.8 Das Konzept der Integrität
vom Menschen, Thieren und Blumen gebraucht. Oder es
bedeutet alles, was so beschaffen ist, daß es zu der
Gesundheit, dieselbe zu erhalten oder zu befördern helffen
kann. Also werden Speise und Tranck, Lufft und Gewitter
etc. gesund oder ungesund genennet. In uneigentlichem
Verstand wird es genommen von denen Kräfften und
Würckungen der Seele, wenn man einen gesunden
Verstand, Urtheil und dererselben, wenn man eine Lehre,
einen Schluß u.s.w. gesund nennet.315
Rund ein Jahrhundert später findet sich im Brockhaus von 1970 folgende Definition:
integer [lat.], unverletzt, charakterlich unverdorben, unversehrt. Integrität, körperliche oder moralische Unverletztheit, Vollständigkeit; rechtlich die Unversehrtheit des
Staatsgebietes.316
Es hat eine Bedeutungsverschiebung stattgefunden, die sich bei näherer Betrachtung als Perspektivenwechsel erweist. Der positive Zustand, der ein Jahrhundert zuvor mit „Ganzheit“ definiert wurde, wird jetzt durch „Unverdorbenheit“, „Unversehrtheit“ ausgedrückt. Als zusätzliche Komponente kommt
in der Definition von 1970 die Moral und Politik hinzu. Diese moralische Perspektive findet sich neben der der Einheit auch in einer Definition aus dem
Comprehensive Dictionary of Psychological and Psychoanalytical Terms:
Integrity: n.1. the quality of being whole or undivided,
hence, 2. moral consistency; honesty and truthfulness. Integrative attitude: the tendency to strive to perceive a field as
having wholeness or unity.317
Im Oxford Dictionary of Philosophy wird Integrität allgemein als Synonym für
„Harmonie des Selbst“ verwendet:
Integrity is most simply a synonym for honesty. But integrity is frequently connected with the more complicated notion of a wholeness or harmony of the self, associated with
315 Johann Heinrich Zedler (Hg.): Zedler. Grosses vollständiges Universal-Lexicon Aller Wissenschaften und
Künste. Bd. 14. Halle, 1735. S. 1306.
316
Brockhaus-Enzyklopädie. Bd. 9. Wiesbaden: Brockhaus, 1970.
Horace B. English/Ava C. English: A Comprehensive Dictionary of Psychological and Psychoanalytical
Terms. New York: Longmans, 1958. S. 266.
317
80
3.8 Das Konzept der Integrität
a proper conception of oneself as someone whose life
would lose its unity, or be violated by doing various
things.318
Integrität in verschiedenen Bereichen
Im Sinne von Autonomie und Souveränität wird Integrität in Bezug auf
Staatsgrenzen definiert. In einer ähnlichen Bedeutung hat der Begriff der kulturellen Integrität Eingang in die Ethnologie gefunden. Marianne Nürnberger
meint in ihrer Untersuchung über Tanz und Ritual dabei die „Unverletzbarkeit
eines Volkes, seine nach außen und nach innen hin intakte ethische Makellosigkeit.“319 Unter dem Aspekt der moralischen Unverletztheit, metaphorisch
durch das Bild der ‚weißen Weste‘ ausgedrückt, hat diese Verwendung Eingang
in den alltäglichen Sprachgebrauch gefunden. Sogar in Bezug auf Amputierte
wird von einem ‚Integritätsgefühl‘ gesprochen, wenn sie beispielsweise noch
Schmerzen in ihrem amputierten Körperteil verspüren.
Unter der lateinischen Umschreibung „in integrum restitutio“ oder „integri
restitutio“, seltener auch „restitutio in integrum“ genannt, wird juristisch die
Wiedereinsetzung eines Verurteilten in den vorherigen Stand, d.h. den Stand
vor der Urteilsverkündung, verstanden. Es soll „der nach der Rechtssatzung
bereits eingetretene Zustand beseitigt und der frühere wieder hergestellt werden“.320 Diese Restitution kam im römischen Strafrecht unter anderem dann
zum Tragen, wenn ein Verurteilter zur Tat durch Nötigung gezwungen wurde,
wenn er nicht voll zurechnungsfähig war (z.B. aufgrund jugendlichen Alters),
wenn die Richter bestochen oder anderweitig beeinflusst worden waren, ein
Irrtum vorlag oder wenn die Gegenpartei „einen reduzierten Rechtsstatus besaß“.321
Der Begriff der „restitutio in integrum“ spielt auch religionsgeschichtlich
eine Rolle, und zwar in Bezug auf Israel:
318
Simon Blackburn: The Oxford Dictionary of Philosophy. Oxford: Oxford University Press, 1996. S. 195.
319 Marianne Nürnberger: Tanz/Ritual – Integrität und das Fremde, 2001.
http://homepage.univie.ac.at/marianne.nuernberger/Tanz-1.htm#Habilitationsschrift. Zuletzt
eingesehen am <20.07.2005>.
320 Vgl. Wilhelm Kroll/Kurt Witte (Hgg.): Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft. Bd. IA, I. Stuttgart: Alfred Duckenmüller Verlag, 1914. S. 676f.
321 Vgl. dazu Hubert Cancik (Hg.): Der Neue Pauly, Bd. 10. Stuttgart: Metzler, 2001. S. 933f. Ähnliche
Gründe für eine Urteilsaufhebung finden sich nach aktueller Gesetzgebung auch heute. Vgl. Strafprozessordnung zu Berufungs- und Revisionsgründen. STPO § 312ff., § 333ff.
81
3.8 Das Konzept der Integrität
Dieses Ziel, eine restitutio in integrum […] wird gewiss erst
durch eine völlige Umgestaltung des zu einem Rest geläuterten Israel erreicht werden. Zugleich aber die Bedeutung
Israels sichern, wie es die großen Verheißungen ankündigen
[…].322
Wenn Israel die „verloren gegangene Einheit wiederherstellen wird“,323 wird es
sich restituieren. Hier wird Integrität auch im politischen Sinne thematisiert.324
Darüber hinaus wird auch bezüglich der Eingliederung heidnischen Brauchtums in die katholische Kirche von einer „restitutio ad integrum“ gesprochen:
Die katholische Kirche weiß einerseits um die Notwendigkeit der konkreten Symbolisierung des AbstraktMetaphysischen, andererseits kennt sie die Gefahr des
Missbrauchs. Sie ist bestrebt, dem zu wehren und das
Wertvolle aus vor- und außerchristlichem religiösen
Brauchtum durch Akkomodation (restitutio ad integrum)
einzugliedern.325
So seien vor- und außerchristliche Religiosa in den „statuts liturgicus“ erhoben
worden. Zu diesen Elementen gehören Blumen, heidnische Kerzen, Öl und
Weihrauch, das aus heidnischen und israelitischen Ritualen stammt.326
Soziologisch ist mit Integrität von Kollektiven die erfolgreiche Integration
von Subgruppen in eine Gesellschaft gemeint. Überhaupt wird mehr vom
Begriff Integration gesprochen, als von Integrität. Allerdings wird Integration
von gesellschaftlichen Subgruppen gefordert, um die Handlungsfähigkeit einer
Gesellschaft aufrecht zu erhalten und nach außen hin als eine Einheit aufzutreten. Somit definiert sich Integrität aus soziologischer Perspektive im Sinne von
322
Kurt Galling (Hg.): Die Religion in Geschichte und Gegenwart, Bd. 2. Tübingen: Mohr, 1958. S. 1475.
323
Ebd. S. 1474.
Vgl.: „So ist es begreiflich, dass die Deutung der geschichtlichen Ereignisse durch die großen
Vertreter der »klassischen« Prophetie […] die staatliche Existenz Israels voraussetzte, ja erst in dem
Augenblick ein schärferes Profil erhielt, als nach einer längeren Stagnation das Vordringen altorientalischer Großmächte die Existenz Israels bedrohte und so sein Selbstverständnis unsicher zu werden
begann, so dass abstelle einer aus dem Glauben erwachsenen Deutung der geschichtlichen Begebenheiten der Weg des politischen Paktierens mit den miteinander rivalisierenden Großmächten empfehlenswerter erscheinen musste.“ Ebd. S. 1474.
324
325
Kurt Galling (Hg.): Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Bd. 4. Tübingen: Mohr, 1960. S. 1452.
326
Vgl. ebd. S. 1454.
82
3.8 Das Konzept der Integrität
Handlungsfähigkeit und nach außen demonstrierter Einheitlichkeit. Diese
muss nicht einhergehen mit einer Forderung nach strikter uniformer Einheit
innerhalb der Gesellschaft.327
Integrität im psychologischen Sinn meint zum einen die Integration von
Teilidentitäten zu einem Ganzen.328 Dabei handelt es sich um die Integration
von der Teilhabe an verschiedenen Gruppen, bis zu der Integration von sich
möglicherweise widersprechenden Wünschen.329 Hinzu kommt der Aspekt des
‚sich selbst treu Seins‘ oder des Lebens gemäß Prinzipien und Commitments.330 Dabei stehen einerseits allgemeingültige Moralvorstellungen im Vordergrund, andererseits das Einhalten von selbst gewählten Prinzipien, die moralischen Vorstellungen widersprechen können. So heißt es bei Williams: „[...]
Vielmehr ist es so, dass jemand, der Integrität an den Tag legt, aus den Dispositionen und Motiven handelt, die in tiefgreifender Weise die seinigen sind.“331
Dabei ist der moralische Wert der Handlung nicht entscheidend. Ganz im
Gegensatz zum alltäglichen Gebrauch des Begriffes Integrität wird er hier
nicht moralisch verwendet.332
Von Integrität im ästhetischen Sinne ist die Rede, wenn es um die organische
Stimmigkeit oder Ganzheit eines Kunstwerkes geht. Neben der Norm der
Stimmigkeit oder Ganzheit gibt es noch andere ästhetische Normen, die sich je
nach Epoche unterscheiden; so z.B. in der Kantischen Ästhetik die ‚reflexive
Stichhaltigkeit‘ oder der ‚progressiven Innovation‘ in der Romantik.
Die ‚Reinheit‘ und das Funktionieren (intactness) eines Objektes, die künstlerische Einheit und das ‚in sich geschlossen Sein‘ können durch unkoordinierte
327 Für einen Überblick vgl. Jürgen Friedrichs/Wolfgang Jagodzinski: Soziale Integration. Opladen:
Westdeutscher Verlag, 1999.
328 Vgl.: „On the self-integration view of integrity, integrity is a matter of persons integrating various
parts of their personality into a harmonious, intact whole. Understood in this way, the integrity of
persons is analogous to the integrity of things: integrity is primarily a matter of keeping the self intact
and uncorrupted.“ Cox/Caze/Levine: Integrity.
329
Ebd.
Wer nach seinen Grundüberzeugungen handelt, ist integer. Dabei müssen die Grundüberzeugungen nicht moralischer Natur sein. Ebd.
330
331
Bernard Williams: Moralischer Zufall. Königstein/Ts.: Hain, 1984. S. 59.
In der Stanford Encyclopedia of Philosophy wird eine solche Definition unter dem Namen
,,identity view of integrity“ vorgeschlagen: ,,On the identity view of integrity, to act with integrity is
just to act in a way, that accurately reflects your sense of who you are; to act from motives, interests
and commitments that are most deeply your own.“ Cox/Caze/Levine: Integrity. S. 4.
332
83
3.8 Das Konzept der Integrität
oder unmotivierte Ideen und Kunstgriffe gestört werden.333 Dann kann vom
Fehlen einer ästhetischen Integrität die Rede sein. Die Reinheit und Funktionalität kann aber auch, weniger ‚geschlossen‘, eine Sache der Reflexion und der
Interpretation (etwa fiktionaler Interpretation geltender Werte) sein. Dies ist
kompatibel mit Kriterien des postmodernen Romans, für die gerade solche
unkoordinierten Eingriffe das postmoderne Leben spiegeln.334 Von ästhetischer Integrität im oben beschriebenen Sinne zu sprechen, ist also auch problematisch, denn ein der postmodernen Zeit gerecht werdender Roman beispielsweise mag gerade seine Integrität wahren, indem er im klassischen Sinne
nicht integer ist. Die Kriterien für die ästhetische Integrität, wenn man sie als
in sich geschlossene Gesamtheit eines Kunstwerkes bestimmt, können sich
also je nach Epoche verändern.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Integrität auf physischer Ebene die
Funktionsfähigkeit, auf moralischer und juristischer Ebene Unbescholtenheit
auf politischer Ebene die Selbstbestimmtheit von Individuen und Kollektiven
meint.
Der Habermas-Schüler Axel Honneth gehört zu den wenigen, für die der
Integritätsbegriff eine zentrale Rolle in seinen Überlegungen spielt. Deswegen
und weil er die soziologischen, psychologischen und juristischen Dimensionen
des Integritätsbegriffs vereint, eignet sich sein Ansatz besonders zur Analyse
für die Fragestellung dieser Arbeit. Honneth baut seine Überlegungen zu Integrität und Integritätsverletzungen auf Hegel und Mead auf. Er beschreibt
Integritätsverletzungen als Form der „verweigerten Anerkennung“335. Und
unterscheidet drei Arten der Missachtung, die zur Zerstörung von Selbstvertrauen, Selbstachtung und Selbstschätzung führen können. Als „elementarste
Art einer persönlichen Erniedrigung“336 bezeichnet Honneth die Verletzung
der leiblichen Integrität, also „[...] jene Formen der praktischen Mißhandlung,
in denen einem Menschen alle Möglichkeiten der freien Verfügung über seinen
Körper gewaltsam entzogen werden [...]“.337 Weiterhin nennt er die „persönliche Missachtung“. Diese Art der Integritätsverletzung trete ein, wenn be333
Vgl. ebd.
Vgl. dazu Barry Lewis: Postmodernism and Literature (or: Word Salad Days, 1960-90). In: Stuart Sim:
The Routledge Companion to Postmodernism. London: Routledge, 2002. S. 121-133. S. 123ff.
334
335
Axel Honneth: Integrität und Missachtung. In: Merkur 501 (1990). S. 1043-1054. S. 1044.
Honneth: Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte. Frankfurt/Main:
Suhrkamp, 1994. S. 214.
336
337
84
Honneth: Integrität und Missachtung. S. 1045f.
3.8 Das Konzept der Integrität
stimmten Individuen der Anspruch auf allgemeingültige Rechte verwehrt bleibe und sie infolgedessen nicht als „vollwertiges Mitglied eines Gemeinwesen“
anerkannt würden.338 Eine dritte Form der Integritätsverletzung ist laut Honneth die Herabwürdigung individueller oder kollektiver Lebensweisen, die
eintritt, wenn die „soziale Zustimmung“ zu einer gewählten Lebensform, wie
Giddens sie beschreibt, verweigert wird. Mit dem Grad an sozialer Wertschätzung der gewählten Lebensweise steige das Maß an „Ehre“, „Würde“ oder
„Status“ einer Person; bei Missachtung der Lebensform liege eine Beleidigung
oder Entwürdigung zugrunde.339
Die Differenzierung der drei Missachtungsformen gebe „einen Schlüssel an die
Hand, um zwischen ebenso vielen Beziehungen der wechselseitigen Anerkennung zu unterscheiden“. Liebe, Recht und Anerkennung legen laut Honneth
„die moralische Infrastruktur einer sozialen Lebenswelt fest, in der die Individuen ihre Integrität als menschliche Personen zugleich erwerben als auch erhalten können.“340 Die Missachtung kann zu einer ‚Motivationsquelle‘ für politischen Widerstand werden. Der verwehrte Zugang zu ökonomischen
und/oder psycho-sozialen Ressourcen kann zur Ausbildung einer Gegenbewegung führen, in der die hegemoniale Gruppe zum Feindbild wird. Manuel
Castells spricht in diesem Fall von einer „resistance identity“.341
Honneths Ansatz kann – wenn bei ihm auch der Fokus auf personaler Integrität liegt – sowohl auf Individuen wie auf Kollektive übertragen werden.342
Denn, wenn Individuen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu Kollektiven diskriminiert werden, wird zwar die personale Integrität jedes einzelnen verletzt, zu
Grunde liegt aber eine intendierte kollektive Integritätsverletzung. In diesem
Zusammenang ist es zu sehen, wenn in dieser Arbeit kollektive Integritätsver-
338
Vgl. Honneth: Kampf um Anerkennung. S. 215.
339 Honneth weist darauf hin, dass die Folgen von Integritätsverletzungen oft mit Metaphern beschrieben werden, die „Verfallszustände des menschlichen Körpers“ bezeichnen, so wie „psychischer Tod“, „sozialer Tod“ oder „Kränkung“. Vgl. Honneth: Kampf um Anerkennung. S. 218. Vgl dazu
auch: „[…] durch die Erfahrung von sozialer Erniedrigung und Demütigung sind menschliche
Wesen in ihrer Identität ebenso gefährdet wie in ihrem physischen Leben durch das Erleiden von
Krankheiten.“ Honneth: Integrität und Missachtung. S. 1048.
340
Ebd. S. 1049.
Vgl. dazu Manuel Castells: The Power of identity. The information age: economy, society and culture,
Bd. 2. Cambridge: Blackwell, 1997. S. 8.
341
342 Mit dem Aspekt der kollektiven Integrität hat sich Honneth vor allem in der Kontroverse mit
Nancy Fraser beschäftigt. Nancy Fraser/Axel Honneth: Umverteilung oder Anerkennung? Eine
politische Kontroverse. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2003. Vgl. dazu Wolfgang Ranke: Integrität und
Anpassung bei Axel Honneth. In: Monatshefte für deutschsprachige Literatur und Kultur. Special Issue:
Integrität. S. 168-183.
85
3.8 Das Konzept der Integrität
letzungen thematisiert werden. Wenn es nicht um eine auf rein persönlichen
Gründen basierende Integritätsverletzung geht, ist immer auch die historischpolitische Ebene des Integritätsbegriffs impliziert.
Bei Honneth heißt es, dass es bestimmte Weisen der Missachtung gibt, die
„die praktische Selbstbeziehung einer Person dadurch erschüttern können,
dass sie ihr die Anerkennung bestimmter Identitätsansprüche entziehen“.343 In
der vorliegenden Arbeit wird der Fokus nicht auf den Entzug von Identitätsansprüchen, sondern gerade auf die fremdbestimmte Identitätszuschreibung
gelegt, die eine bestimmte Teilidentität in den Vordergrund hebt und das Individuum auf diese reduziert und aufgrund dessen diskrminert wird.
Konzeptualisierungen von Identität – so sehr sie auch die Vorstellung von
einheitlichen Identitätskernen verurteilen und auf die Fluidität und den Prozesscharakter der Identität hinweisen – zielen noch immer auf Inklusion und
Exklusion durch Abgrenzung, selbst wenn diese sich nur auf einen bestimmten Zeitpunkt beziehen. Integrität hingegen bezweckt nicht Abgrenzung, sondern Zusammenhalt. Es geht vordergründig um die Anerkennung von Differenzen, wobei die Betonung auf der Anerkennung liegt und nicht auf der Benennung der Differenzen. So kann es bei der Missachtung eines Individuums
oder Kollektivs aufgrund eines bestimmten Identitätsmerkmals zu einer Integritätsverletzung kommen; nicht jedoch zu einer Identitätsverletzung. Ohne
Identität kann es keine Integrität geben, aber Identität kann nicht integer sein.
Die persönliche Integrität wird zum einen durch den Zusammenhalt der verschiedenen Teilidentitäten gewahrt, zum anderen durch die Anerkennung der
eigenen Person durch andere. Wird ein Individuum jedoch auf ein Identitätsmerkmal reduziert und aufgrund dessen ausgegrenzt und missachtet, wird die
Organisation der Teilidentitäten aufgebrochen und somit auch die persönliche
Integrität einer Person verletzt. Wie Hannah Arendt treffend formuliert hat, ist
es nur möglich, sich als das zu wehren, „als was man angegriffen [wurde]“.344
Das durch andere hervorgehobene Identitätsmerkmal, das in der eigenen
Selbstorganisation von Teilidentitäten eine untergeordnete Rolle spielen mag,
wird dadurch auch in der Selbstorganisation hervorgehoben.
Die von Mead und Krappmann betonte Identitätsausbildung im gesellschaftlichen Prozess und die Rolle der gesellschaftlichen Anerkennung für die erfolgreiche Identitätsausbildung lässt sich auf das Konzept der Integrität übertragen
– Honneth baut es selbst, wie bereits erwähnt, auf Mead auf. Die Verwendung
343
Honneth: Kampf um Anerkennung. S. 213.
Vgl. Arendt: Gedanken zu Lessing. S. 34. Vgl. auch S. 3f. dieser Arbeit. Feridun Zaimoğlu übernimmt beispielsweise in Kanak Sprak die Fremdzuschreibung und macht sie sich zu eigen, indem er
von der zweiten und dritten Generation der türkischen Migranten als Kanaken spricht (damit auch
von sich selbst). Vgl. Feridun Zaimoglu: Kanak Sprak.
344
86
3.8 Das Konzept der Integrität
des Integritätsbegriffs aus psychologischer Sicht, derzufolge Teilidentitäten,
selbst wenn sie in Konflikt stehen, einen Zusammenhalt benötigen, bestätigt
Krappmanns Theorie. Allerdings muss dieser Zusammenhalt nicht auf der
Herstellung eines mit sich zu jeder Zeit identischen Subjekts beruhen. Auch
mag es schwierig sein, das eigene Ich als Fragment zu begreifen, das nur als
Konstrukt zusammengehalten wird, wie es Hall formuliert. Die Gefahren einer
Essenzialisierung, die von Said aufgezeigt wurden, werden unter dem Gesichtspunkt der Integrität umso gewichtiger. So zutreffend die Beschreibung
einer hybriden und fragmentierten Welt ist, die Wahlmöglichkeiten in Bezug
auf den persönlichen Lebensweg eröffnet (Giddens), so wichtig ist es auch,
nicht bei deren Feststellung zu verharren, sondern Formen des Umgangs mit
diesen Umständen aufzuzeigen.
Nicht zuletzt weil das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit ein zentrales Grundrecht ist, sollte die Identitätsdebatte um das Konzept der Integrität
erweitert werden. Eine selbstbestimmte Identifizierung mit Kollektiven scheint
für Individuen ebenso notwendig zu sein wie die Ablehnung einer fremdbestimmten Identitätszuschreibung. Letzteres kann zu einer Integritätsverletzung
führen. Integrität ist kein statisches Konzept – aufgebaut und aufrechterhalten
wird Integrität durch den Prozess der ständigen Identitätsarbeit, in der die
Zugehörigkeit zu verschiedenen Kollektiven verhandelt wird.
87
4. Gefährliche Verwandtschaft –
türkisch-deutsche Vergangenheitsbewältigung
Als ich in Berlin ankam, war alles vorbei, von der Stimmung der Wende nichts mehr übrig. Man sprach darüber
wie über ein historisches Ereignis, das bereits in ferner
Vergangenheit lag. […]. Ich hatte also das historische Ereignis verpasst. Gehörte ich noch hierher? (GV 120f.)
Erstaunlicherweise stellt sich der Ich-Erzähler in Zafer Şenocaks Gefährlicher
Verwandtschaft, Sascha Muhteschem – in Deutschland aufgewachsener Sohn
einer deutsch-jüdischen Mutter und eines türkischen Vaters –, die Frage nach
seiner Zugehörigkeit erst nach dem Mauerfall. Bemerkenswert ist, dass er nicht
danach fragt, wer er ist, sondern ob er noch dazu gehört. Sascha unterstellt
nicht, dass ihn das Verpassen des historischen Ereignisses verändert habe.
Stattdessen fragt er sich, ob das ‚Nicht-Teilhaben‘ an diesem – er lebte zur
‚Wendezeit‘ in den USA – ihn von der Gruppe derjenigen, die es erlebt haben,
ausschließt.345
Über Saschas Zeit in den USA kann man in Şenocaks Prärie nachlesen. Zusammen mit Der Mann
im Unterhemd, Gefährliche Verwandtschaft und Der Erottomane bildet sie eine Tetralogie. Vgl.: Zafer Şenocak: Der Mann im Unterhemd. Berlin: Babel, 1995; Ders.: Die Prärie. Hamburg: Rotbuch, 1997; Ders.:
345
88
4. Gefährliche Verwandtschaft – türkisch-deutsche Vergangenheitsbewältigung
Wenn eine Figur eine derart komplizierte Herkunft hat wie Sascha, erwartet
man eine Konzentration auf Fragen der Identität. Tatsächlich ist Identität in
der Gefährlichen Verwandtschaft ein sehr präsentes Thema. Wie jedoch gezeigt
werden soll, geht es Sascha Muhteschem in erster Linie um die Gewährleistung
seiner Integrität. Der Zusammenhang zwischen Zugehörigkeit, Integration
und Integrität wird das zentrale Thema in diesem Kapitel sein.
Die Frage nach Integrität durchzieht den Roman Gefährliche Verwandtschaft
schon aufgrund von Saschas vielen Teilidentitäten, die er organisieren muss.
Seine Familie mütterlicherseits floh während der Nazi-Diktatur in die Türkei,
wo sich seine Eltern kennen lernten. Aufgewachsen ist er in Deutschland, im
während der Abwesenheit der jüdischen Familie zum Hitlerjugendtreff umgewandelten Haus – mit Minen im Garten und Hitler-Fotos auf dem Dachboden.346 Obwohl er sich im folgenden Zitat ausdrücklich gegen die Teilhabe an
einer Schicksalsgemeinschaft wendet, erscheint es ihm unausweichlich, sich
mit der Mitschuld seines Großvaters bei den Armenierdeportationen während
des Ersten Weltkrieges auseinanderzusetzen:
Eigentlich fühle ich mich wohler, wenn ich nicht Teil einer
Schicksalsgemeinschaft
bin.
Ich
komme
mir
verantwortungsloser vor. Wer erwartet schon etwas von
einer Person wie mir? Wer kann mir vertrauen? Ich muss
mich für nichts entschuldigen, ich kam später dazu. Ich bin
nichts Ganzes. Mir fehlt eine Hälfte, um für ganz
genommen zu werden. Ich ersetze die andere Hälfte mit
einer prothesenartigen Identität, etwas Geborgtem, das ich
je nach Zeit und Ort wechseln kann. (GV 121)
Gefährliche Verwandtschaft. München: Babel, 1998; Ders.: Der Erottomane. Ein Findelbuch. München:
Babel, 1999.
346 Auch wenn sie nicht ganz so komplex ist wie die Identität seines Protagonisten, lebt auch der
Schriftsteller Zafer Şenocak mit mindestens zwei Kulturen. 1961 in Ankara geboren, kam er 1970
mit seiner Familie nach Deutschland. Seine literarische Karriere begann er mit Gedichten, später
profilierte er sich als Essayist. Heute gehört er zu den international bekanntesten türkisch-deutschen
Autoren. Besonders im angloamerikanischen Raum wird er als hoffnungsvoller Autor der türkischdeutschen Literatur gehandelt, was sich u.a. in Gastdozenturen am MIT und an der University of
California, Berkeley bemerkbar macht. Vgl.: „Zafer Şenocak is one of Germany’s most prolific
Turkish German writers […].“ Katharina Hall: 'Bekanntlich sind Dreiecksbeziehungen am kompliziertesten':
Turkish, Jewish and German Identity in Zafer Senocak's Gefährliche Verwandtschaft. In: German Life and
Letters 56 (2003) 1. S. 72-88. S. 72; Nach Leslie A. Adelson ist Şenocak „[arguably] the most versatile
writer in the field“. Leslie Adelson: The Turkish Turn in Contemporary German Literature and Memory
Work. In: The Germanic Review 77 (2002) 4. S. 326-338. S. 330. Für eine erste Monographie zum
Werk Şenocaks vgl. Tom Cheesman/Karin Yeşilada (Hgg.). Zafer Şenocak. Cardiff: University of
Wales Press, 2003.
89
4. Gefährliche Verwandtschaft – türkisch-deutsche Vergangenheitsbewältigung
Identität ist eine Voraussetzung für die Ausbildung von Integrität. Insbesondere unter den Bedingungen, in die Sascha zurückkehrt. Im wiedervereinigten
Deutschland, so Sascha, habe Identität als Kategorie der Zugehörigkeit zu
einem Kollektiv und Abgrenzung von anderen Kollektiven enorme Wichtigkeit erhalten.
Dabei erscheint das geteilte Deutschland als eine offene Gesellschaft, die keine
Diskriminierungen aufgrund ethnischer, kultureller oder konfessioneller Zugehörigkeit kannte. Im wiedervereinigten Deutschland hingegen, so wird es in
der Gefährlichen Verwandtschaft dargestellt, spielt die Zugehörigkeit zu eben diesen Kollektiven und auch die Abgrenzung von ihnen eine große Rolle.
Wenn Sascha von sich sagt: „Ich bin nichts Ganzes“, kann das auch so viel
heißen wie ‚Ich bin nicht integer‘. In der obigen Textpassage führt Şenocak
nicht ohne Ironie vor, in welchem Wechselspiel persönliche Identität und Integrität ausgebildet werden. Die körperliche Integrität, die hier metaphorisch
für die psychologische steht, wird durch ein „Ganzes“ ausgedrückt. Dass man
auch „für ganz genommen werden muss“, dass es nicht ausreicht, sich selbst
als Ganzes zu empfinden, offenbart die Rolle der Anerkennung von außen für
die Ausbildung von Identität und Integrität. Seine körperliche und psychische
Ganzheit, seine Integrität, schafft sich Sascha durch die Hinzunahme von „etwas Geborgtem, das ich je nach Zeit und Ort wechseln kann“. Wenn man
Integrität hat, wird man „für ganz genommen“, man repräsentiert also ein
Ganzes. Fehlende Teile müssen ersetzt werden, man kann nicht einfach ohne
sie leben. In Saschas Fall wird die fehlende Hälfte mit einer ,,prothesenartigen
Identität“ ersetzt. Identität ist also ein Teil der Integrität. Integrität und Identität sind nicht durch einander ersetzbar. Integrität setzt Identität voraus.
Folgt man dem obigen Zitat kann Sascha seine Identitäten frei wählen347 – an
anderer Stelle heißt es dann wiederum, dass die Akzeptanz dieser Identitäten
von außen gewährleistet sein muss, um sein zu können „wer oder was man ist“
(GV 39)348. In diesem Sinne ist die obige Stelle auch gut geeignet, um die
Schwierigkeit darzustellen, die Gefährliche Verwandtschaft ‚ernst zu nehmen‘,
denn offensichtlich spielt der Text mit verschiedenen theoretischen Positionen
wie der These der freien Wählbarkeit von Identitäten und der Auseinandersetzung mit der Übertragbarkeit von Schuld – ohne eine klare Stellung innerhalb
dieser Debatten zu beziehen. Gerade der spielerische Umgang mit inhaltlichen
Elementen, zudem sehr brisanten, führt zu Aussagen des Textes auf der MetaEbene über die Darstellbarkeit von Geschichte, über den Umgang mit Genoziden, über die Unmöglichkeit der Übertragbarkeit von Schuld und des gleichzeitigen Schuldigfühlens.
347
Vgl. dazu Kapitel 3.6 dieser Arbeit.
348
Vgl. dazu Kapitel 3.1 dieser Arbeit.
90
4. Gefährliche Verwandtschaft – türkisch-deutsche Vergangenheitsbewältigung
Anspielungen auf die Schlagworte des Gedächtnisdiskurses wie ‚Schlussstrich‘,
‚Kollektivschuld‘, ‚Schuldkomplex‘, ‚Normalisierung‘ und ‚negative Symbiose‘
sind in den Text verwoben, ohne dass sie explizit genannt werden. Aufgrund
der Problematik, die sich mit dem Begriff der ‚Kollektivschuld‘ verbindet, wird
im Folgenden die Umschreibung ‚Übertragbarkeit von Schuld‘ gewählt.349
Wenn es um die „kollektive Haftung für die Verbrechen, die im Namen des
Staates begangen wurden“ geht, wird in Anlehnung an Karl Jaspers Schuldkategorien von „politischer Schuld“ die Rede sein.350 Reparationszahlungen in
Folge von politischer Schuld sind nach Jaspers von der ganzen Nation zu tragen. Neben der kriminellen Schuld, mit der der Verstoß gegen Gesetze gemeint ist und der moralischen Schuld, die mit dem eigenen Gewissen ausgehandelt werden muss, ist mit der metaphysischen Schuld die Beziehung zu
Gott betroffen.351
Zunächst sollen im Folgenden die Konsequenzen des ‚verpassten‘ Mauerfalls
für Sascha Muhteşems Integrität dargestellt werden. Im Anschluss daran wird
die Bedeutung der Armenierdeportationen im Jahre 1915 und die Übertragbarkeit von Schuld als Zugehörigkeitssymbol zum deutschen Kollektiv thematisiert. Zum Abschluss wird die Gefährliche Verwandtschaft in Bezug zur so genannten ‚Väterliteratur‘ gesetzt, denn als solche erscheint sie, wenn davon ausgegegangen wird, dass auch die Vergangenheit von Migranten mit ihnen in die
deutsche Gesellschaft migriert ist.
349
Vgl. dazu Assmann/Frevert: Geschichtsvergessenheit – Geschichtsversessenheit. S. 84ff.
350
Vgl. ebd. S. 84f.
Vgl. Karl Jaspers: Die Schuldfrage. Ein Beitrag zur deutschen Frage. Zürich: Artemis, 1947. S. 10f. Vgl.
dazu auch Assmann/Frevert: Geschichtsvergessenheit – Geschichtsversessenheit. S. 84f.
351
91
4.1 Der Mauerfall – Die versäumte Geschichte
4.1 Der Mauerfall – Die versäumte Geschichte
Sascha kommt in vielerlei Hinsicht „später dazu“ und hat Nachteile dadurch.
Im Fall der Mauer versäumt er ein gemeinschaftsstiftendes Ereignis und fühlt
sich nicht mehr zugehörig zu ‚den Deutschen‘. Im Fall der Armenierdeportationen kommt er zwei Generationen zu spät – beschließt aber dennoch, sich mit
dieser Thematik auseinanderzusetzen. Die Integration von Individuen in bestehende soziale Systeme verläuft über die Einhaltung bestimmter gesetzlicher
und moralischer Werte.352 Die Auseinandersetzung mit der Übertragbarkeit
von Schuld auf die Folgegenerationen ist – folgt man der Gefährlichen Verwandtschaft – in Deutschland zu solch einem Wert, sozusagen zu einem Integritätsstandard, avanciert.
Wie Zafer Şenocak selbst hat auch Sascha Muhteschem einige Jahre in den
USA verbracht. Nach seiner Rückkehr nach Berlin hat sich die Stadt für ihn
von einer Stadt der Fremden zu einer fremden Stadt entwickelt. Welche Folgen der Mauerfall für Saschas Leben hat, soll im Folgenden gezeigt werden:
Menschen stellen sich immer gegen einen Zeitenwechsel.
Sie haben das Gefühl, als würde ihnen der Boden unter den
Füßen entgleiten. Bei einem Zeitenwechsel wird man entweder neu geboren oder hat das Gefühl, dass die eigene
Zeit abgelaufen ist. Ein tiefer Riss geht durch die Gesellschaft. (GV 70)
Einen oben beschriebenen Zeitenwechsel stellt für Sascha ohne Zweifel der
Fall der Berliner Mauer dar:
Als ich aus Amerika nach Berlin zurückkam, staunte ich
über die Stimmung in Berlin. Die Mauer war weg, und
schon im nächsten Augenblick war ein neues, vereintes
Deutschland entstanden, kein loser Bund von Ländern,
sondern ein richtiger deutscher Nationalstaat. (GV 33)
Sascha selbst hat dieses Ereignis versäumt und fühlt sich durch diesen Akt des
Versäumens als nicht zugehörig. Sascha fühlt sich nicht mehr als gleichwertiger
Integration kann mit einem Schwerpunkt auf der Ebene des Rechts, der Religion oder auch der
Wirtschaft oder Politik erfolgen. Für einen Überblick über Hauptaspekte und Problemfelder sozialer
Integration vgl. Jürgen Friedrichs/Wolfgang Jagodzinski: Soziale Integration.
352
92
4.1 Der Mauerfall – die versäumte Geschichte
Teil der deutschen Gesellschaft, die nach seinem Empfinden durch den Mauerfall zusammengeschweißt worden ist.353
Es muss etwas Außergewöhnliches geschehen, damit Menschen zusammenrücken. Wenn etwas Außergewöhnliches
geschehen ist, sei es eine Katastrophe oder ein historisches
Ereignis, haben viele plötzlich das Gefühl, auf dieses Ereignis hin gelebt zu haben. Sie interpretieren dieses Ereignis
als schicksalhaft. Das ist etwas ganz anderes als das Schicksal anderer nachzulesen. Man ist unmittelbarer Teil eines
Projekts, man ist Teilhaber. Man kann nicht unbeteiligt
sein. Und was passiert, wenn man ein solches Ereignis verpasst hat? Man ist ein Fremder. Erst jetzt versteht man, was
es heißt, ein Fremder zu sein. (GV 120)
Die Teilhabe an historischen Ereignissen vermittelt Individuen das Gefühl,
Teil einer Gruppe zu sein – ist also gemeinschaftsstiftend. Auf solche Ereignisse kann Bezug genommen werden, um beispielsweise den Bürgern eines
Staates ein Nationalgefühl zu vermitteln. Dann werden sie zur Erinnerungsfiguren. So bezeichnet Jan Assmann u.a. historische Ereignisse in Anlehnung an
Halbwachs, der von Erinnerungsbildern spricht. Erinnerungsfiguren sind kulturelle Symbole, die Individuen daran erinnern, dass sie zu einem bestimmten
Kollektiv gehören. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie durch ihre konkrete
Form leicht memorierbar sind und zudem eine bestimmte – gemeinschaftsstiftende – Bedeutung tragen.354
Das Erleben der Wiedervereinigung ist solch ein gemeinschaftsstiftendes Moment. Der Fall der Mauer festigt aber nicht nur Identitäten, sondern irritiert
diese auch:
Es war als hätte der Fall der Mauer, der Zusammenbruch
der alten Ordnung, nicht nur eine befreiende Funktion gehabt. Ohne Mauer fühlte man sich nicht mehr geborgen.
Identität ist zum Ersatzbegriff für Geborgenheit geworden.
(GV 47)
353 Wichtig ist im Kontext des Romans, dass Sascha sich nicht nur außerhalb Berlins aufhielt, sondern im Ausland. Obwohl die Wiedervereinigung in ganz Deutschland als Ereignis die gleiche Funktion gehabt haben mag, wird sie dennoch in Berlin stärker zu spüren gewesen sein bzw. immer noch
zu spüren sein.
Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. München: Beck, 1997. S. 37ff. Pierre Nora bezog sich bei
seiner Studie auf für die französische Gesellschaft wichtige Erinnerungsorte. Vgl. Pierre Nora (Hg.):
Les lieux de mémoire. Paris: Gallimard, 1992. Zu den französischen Lieux de mémoire hat Etienne François das deutsche Pendant herausgegeben. Vgl. Etienne François/Hagen Schulze (Hg.): Deutsche
Erinnerungsorte. München: Beck, 2001.
354
93
4.1 Der Mauerfall – Die versäumte Geschichte
Sascha teilt ein Identitätsverständnis, das zum „Ersatzbegriff für Geborgenheit“ minimiert wird, nicht. Dennoch muss er sich damit auseinandersetzen,
weil er in der Gesellschaft, zu deren Integritätsstandard diese Geborgenheit
bietende Identität geworden ist, als „vollwertiges Mitglied“ akzeptiert werden
will.355 Andernfalls käme es zu einer Integritätsverletzung Saschas.
Obwohl die Mauer eigentliche Komplexität im Sinne von kultureller Vielfalt
und Austausch zwischen ‚Ost‘ und ‚West‘ unterminierte und die Öffnung dieser Grenze eben diese Vielfalt im Sinne einer multikulturellen, multikonfessionellen und multipolitischen Gesellschaft begünstigt hätte, geschieht – folgt
man der Gefährlichen Verwandtschaft und auch den Debatten um verstärkten
Nationalismus nach 1989/90 – das genaue Gegenteil.356
Durch das Wegfallen der offiziell anerkannten Grenze fehlen nun die Strukturen, fehlt der Rahmen für die eigene Identität. Der Wegfall einer Grenze löst
also die Suche nach einer neuen aus, wobei der Wegfall einer physischen
Grenze das Aufkommen psychischer Grenzen zu begünstigen scheint. Geborgenheit scheint nach dem ironisch wahrgenommenen Diskurs nur innerhalb
von Mauern empfunden werden zu können, bzw. in einem relativ kleinen überschaubaren Raum. Und so wäre dann auch der gängige Identitätsbegriff zu
verstehen: als Instanz, die durch Abgrenzung im Sinne der Fremd- und
Selbstwahrnehmung Klarheit schafft. Menschen mit komplexen Identitäten,
die sich in mehreren konvergierenden Räumen nicht nur befinden, sondern
auch geborgen fühlen, fallen aus diesem Schema heraus.357 Um zu wissen, wo
das Eigene aufhört und das Fremde beginnt, um die Grenze der eigenen Identität zu erfahren, brauche der Mensch andere Menschen. „Man fixiert sich, den
anderen, seine Herkunft, um Nähen und Distanzen zu bestimmen.“ (GV 47)
Seitdem die Berliner Mauer diese Aufgabe nicht mehr erfüllt, fällt sie auf einzelne Gesellschaftsmitglieder zurück.358
355
Vgl. Honneth: Kampf um Anerkennung. S. 215. Vgl. auch S. 85. dieser Arbeit.
Zum verstärkten Nationalismus nach 1989/90 vgl u.a.: Jürgen Habermas: Die Stunde der nationalen
Empfindung. Republikanische Gesinnung oder Nationalbewußtsein? In: Jürgen Habermas: Die nachholende
Revolution. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1990. S. 157-166. Vgl. auch May Ayim: Das Jahr 1990:
Heimat und Einheit aus afro-deutscher Perspektive. In: May Ayim: Grenzenlos und unverschämt. Berlin:
Orlanda Frauenverlag, 1997.
356
Vorgreifend sei an dieser Stelle gesagt, dass dies Saschas Wahrnehmung wiedergibt. Die Ansicht,
dass eine solche Darstellung Oppositionen verfestige, teile ich im Gegensatz zu Monika Shafi nicht.
Diese ignoriert die ironische Auslegung des Romans. Vgl.: Monika Shafi: Joint Ventures: Identity Politics
and Travel in novels by Emine Sevgi Özdamar and Zafer Şenocak. In: Comparative Literature Studies 40
(2003) 2. S. 193-214. S. 211.
357
358 Vgl.: „Überall konnte man auf unsichtbare Mauern stoßen, die nach dem Fall der Mauer errichtet
worden waren. Die Welt war komplizierter geworden, die Wege labyrinthartiger. Früher hätte man
94
4.1 Der Mauerfall – die versäumte Geschichte
Bis zu seiner Rückkehr nach Berlin lebte Sascha relativ problemlos mit seiner
komplexen Identität. Aber fortan scheinen die Berliner ein Problem damit zu
haben, dass er keine Identität mehr hat. (Vgl. GV 47) Nach der Wende scheint
die nationale Zugehörigkeit größere Wichtigkeit zu erhalten. Diese Tendenz
spiegelt sich in der Debattenlage und in der wissenschaftlichen Beschäftigung
wieder. Dass gerade nach der Wiedervereinigung Deutschlands Debatten um
den „Schlussstrich“ entstanden, verstärkt den Eindruck, als habe Deutschland
seine während des Nationalsozialismus auf sich geladene Schuld mit der Wiedervereinigung abgetragen, also seine „Normalität“ wieder erlangt bzw. sei in
den Stand vor 1933 zurück versetzt worden (restitutio in integrum).359 Harald
Schmid spricht von Nation als Referenzrahmen360 und Aleida Assmann nach
stellt sich nach der Wende „auf ganz neue Weise die Frage nach der Nation“.361 Sie fragt, auf welche Art der nationalen Identität „die Deutschen Anspruch erheben könnten“,362 und nennt drei Modelle für die nationale Identität. Den positiven und den negativen Nationalismus sowie den Verfassungspatriotismus. Der positive Nationalismus setzt auf die Kontinuität positiv besetzter deutscher Geschichte, in der der Nationalsozialismus als Ausnahmeerscheinung verbucht und durch Vergleiche mit anderen Genoziden zu relativieren versucht wird. Im negativen Nationalismus liegt eine „Sakralisierung des
sich sorglos dem Spieltrieb hingegeben, sich auf Irrwegen wohlgefühlt, die Mauer schützte einen vor
dem Abgrund. Heute achtete jeder auf seinen Schritt, schon die nächste Begegnung könnte einen
aus dem Tritt bringen. Mein Weg würde mich also unweigerlich in die Vergangenheit führen. Ihre
Vergegenwärtigung schien unvermeidbar.“ (GV 47)
359 Eine solche Tendenz kann auch Habermas feststellen. Die „Epochenwende von 1989/90“ habe
eine „vorübergehende Anomalie beendet, die scheinbare Zäsur von 1945 eingeebnet und den Zivilisationsbruch wohltuend relativiert“. Vgl. Jürgen Habermas: 1989 im Schatten von 1945. Zur Normalität
einer künftigen Republik. In: Jürgen Habermas (Hg.): Die Normalität der Berliner Republik Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1995. S. 167-188. S. 173. Zum Begriff der „Normalisierung“ Vgl.: Harald
Schmid: Vagabundierende Normalisierung. Gedanken zur politischen Historisierung des Nationalsozialismus. In
Johannes Heil/Rainer Erb (Hgg.): Geschichtswissenschaft und Öffentlichkeit. Der Streit um Daniel
J. Goldhagen Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuch Verlag, 1998. S. 328-343.
360 Vgl. Harald Schmid: Vagabundierende Normalisierung. S. 333; Zur „Normalisierung“ des Nationalismus vgl.: Peter Glotz: Die Bewaffnung mit Identität. Eine ethnologische Analyse des deutschen NormalisierungsNationalismus am Beispiel Hans-Jürgen Sybergs. In: Peter Glotz (Hg.): Die falsche Normalisierung. Die
unmerkliche Verwandlung der Deutschen 1989 bis 1994 Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1994. S. 44.
361 Vgl.: „Mit der Wiedervereinigung wurde in Deutschland die Nachkriegszeit und damit die historische Phase der Abstinenz von nationaler Identität abgeschlossen. Nach der Wende stellte sich in
ganz neuer Weise die Frage nach der Nation. […] Zur Konstituierung einer nationalen Identität
gehört die Verankerung in einer positiv gedeuteten Vergangenheit und die Ressource eines kulturellen Erbes, das die Integrität der Gruppe verbürgt.“ Assmann/Frevert: Geschichtsvergessenheit –
Geschichtsversessenheit. S. 65.
362
Ebd. S. 65.
95
4.1 Der Mauerfall – Die versäumte Geschichte
Holocaust“ vor, die den Holocaust als „negative Sinnstiftung“ ansieht.363 Als
drittes Modell gilt der Verfassungspatriotismus. Für die „nachklassische“, multikulturell durchmischte deutsche Gesellschaft bietet sich als einzig mögliches
Zugehörigkeitskriterium die Achtung der demokratischen Verfassung. Die
Berufung auf ein geteiltes Schicksal könne nicht mehr als Zugehörigkeitsmerkmal gelten.364
Folgt man der Gefährlichen Verwandtschaft, griff das Modell des
Verfassungspatriotismus eher in der geteilten Bundesrepublik. Sascha konnte
‚ohne Identität‘ (vgl. GV 47) also ohne klare Zugehörigkeit zu einer nationalen
oder ethnischen Gruppe leben. Zuvor identifizierte sich Sascha weder mit der
jüdischen, noch mit der deutschen oder türkischen Abstammung, obgleich die
Eltern Wert darauf legten, dass er in Deutschland als Deutscher aufwuchs.365
Mit seinen blonden Haaren und blauen Augen fällt er durch sein Äußeres
nicht als ‚fremd‘ auf: „neither his appearance nor his accent marks him out as
‘other’“.366 Saschas Nachname Muhteschem,367 der ihn fremd kennzeichnet,
spielt als Zugehörigkeits- bzw. Ausgrenzungssymbol erst nach der
Maueröffnung eine Rolle.368 Auch der Schriftsteller Şenocak, der in der
Gefährlichen Verwandtschaft in Johnson’scher Manier zu Wort kommt, muss
seinen Namen buchstabieren.369
363
Vgl. ebd. S. 66.
364
Vgl. dazu Ebd. S. 67.
365 Ähnlich wie Lisbeth Cresspahl in Johnsons Jahrestagen möchte Saschas Mutter ihr Kind in
Deutschland zur Welt bringen und reist in dessen Geburtsjahr aus der Türkei zurück nach Deutschland: „Meine Mutter wollte mich in Deutschland zur Welt bringen. Sie gab viel darauf, aus mir einen
Deutschen zu machen.“ (GV 58) Katharina Hall weist darüber hinaus auf Saschas wohlhabende
türkische Familie hin, die ihn aus der Gruppe der Gastarbeiter ausschließt: „Sascha comes from a
Jewish German family in which the Holocaust is not discussed and from a wealthy, middle-class
Turkish background. As a result he finds it difficult to relate to the majority of Jewish Germans, who
define themselves in relation to the traumatic history of the Holocaust, and the majority of Turkish
Germans, with predominantly working class ‘Gastarbeiter’ roots.“ Hall: Turkish, Jewish and German
Identity in Zafer Şenocak's Gefährliche Verwandtschaft. S. 73.
366
Hall: Turkish, Jewish and German Identity in Zafer Şenocak's Gefährliche Verwandtschaft. S. 73.
Saschas Nachname ist im Roman bereits so geschrieben wie er sich ausspricht. Das türkische ‚ş‘
in ‚muhteşem‘ (zu Deutsch: großartig) wird durch das deutsche ‚sch‘ ersetzt.
367
Vgl.: „‚Sind Sie Ausländer?‘ wurde ich gefragt, wenn ich meinen Nachnamen buchstabierte. Früher buchstabierte ich ihn ohne diese Frage.“ (GV 128)
368
369 Zu den Bezugnahmen der Gefährlichen Verwandtschaft hinsichtlich der Migrationsliteratur im deutschen literarischen Feld, vgl. Kapitel 2.1. Allerdings laboriert Sascha Muhteschem anders als Johnson
an der traditionellen Nationalsprachlichkeit literarischer Zugehörigkeiten und ist damit dem Typus
nach eher Migrant als Exilant.
96
4.1 Der Mauerfall – die versäumte Geschichte
Obwohl es sich zunächst paradox anhören mag, betont Sascha Muhteschem
die türkischen Seiten seines Selbst, um seine Integrität in Deutschland aufrecht
zu erhalten. Der Grund hierfür liegt in der Frage nach einer Schuld und der
Möglichkeit diese zu erben. Sascha bezeichnet die deutsche Gesellschaft als
,,Schicksalsgemeinschaft“ (GV 121). Ein Teil von ihr zu sein, bedeutet dasselbe Schicksal zu teilen.370 Aufgrund seiner Herkunft kann Sascha wenn auch
nicht dasselbe, dann doch das gleiche Schicksal (der Schuldigen) haben bzw.
teilen. Deswegen konzentriert er sich auf die Möglichkeit der Teilhabe an einer
anderen ‚historischen Schuld‘.
Bereits bevor Sascha sich der Biografie seines türkischen Großvaters zuwendet, beschäftigt er sich mehr mit der deutschen Täter- als mit der jüdischen
Opfergeschichte. Letzterer steht er eher kritisch gegenüber. Katharina Hall
nach glauben viele Leser der Gefährlichen Verwandtschaft, dass Şenocak Juden
und deren Beziehung zum Holocaust missverstehe.371 Eine solche Leseweise
drängt sich auf, wenn man die Ironie des Romans aus den Augen lässt. Halls
Erklärung für Şenocaks Vorgehensweise ist sein Anliegen, nur eine persönliche
Biografie darstellen zu wollen, ohne zu verallgemeinern.
Den Grund für Saschas kritische Haltung gegenüber der Trauerarbeit sieht
Hall im fehlenden Zugang zu seiner jüdischen Familie:
[…] Sascha lacks access to an important part of his family
history, which means that part of his own identity remains
unexplored and unknown. As the memory of his lost relatives does not figure in his present, he is also left unable to
relate to them as individuals. This in turn makes him largely
unsympathetic to survivors who tried to raise awareness of
the Holocaust in Germany after the war […].372
Die ersten Nazi-Dokumente, die Sascha im Haus der Eltern fand, vernichteten
die Eltern.373 Nun hat er die Vergangenheit wieder hergestellt, indem er neu
erworbene Dokumente aus der Nazi-Zeit dort aufbewahrt. Das unerklärte
370 Der Begriff Schicksalsgemeinschaft stammt aus der Rassentheorie und wurde sowohl mit positiver als auch mit negativer Konnotation verwendet. Für Şenocak stellt er somit einen weiteren Begriff
dar, den er provozierend einspielen kann. Vgl. dazu Manfred Schneider: Schicksalsgemeinschaft. Wie
die deutschen Konservativen Weltoffenheit demonstrieren. Frankfurter Rundschau Online.
http://www.fr-aktuell.de/uebersicht/alle_dossiers/politik_inland/welche
_auslaender_wollen_die_deutschen/deutschland_einwanderungsland/?cnt=474746&. Zuletzt eingesehen am <20.07.2005>.
371
Vgl. Hall: Turkish, Jewish and German Identity in Zafer Şenocak's Gefährliche Verwandtschaft. S. 78.
372
Vgl. ebd. S. 77.
373
Das Haus der Eltern wurde während der Nazi-Zeit für Treffen der Hitlerjugend benutzt. (GV 9)
97
4.1 Der Mauerfall – Die versäumte Geschichte
Verbrennen seines ersten Fundes durch die Eltern scheint ihn nicht mehr losgelassen zu haben bis er diesen ersetzen konnte.374 Dieses Haus, das einen Ort
darstellt, „der [Saschas] Vergangenheit aufbewahrt und für mich [Sascha; Y.D.]
erreichbar bleibt“, repräsentiert seine Vergangenheit als „post-war German“.375
Während Katharina Hall Saschas Faszination für den Nationalsozialismus
plausibel erklärt, wird die Exploration der Großvaterfigur und seine Verstrickung bei den Armenierdemonstrationen referiert, ohne – anders als in dieser
Arbeit – einen Grund hierfür zu nennen.376 Für Sascha bedeutet die ‚Wende‘
nicht nur ein historisches Ereignis, sie regt ihn auch zur Auseinandersetzung
mit einer in seinem Leben bisher unerforschten Vergangenheit an.
Jetzt wo die Mauer gefallen ist und man mich nach meiner
Zugehörigkeit fragt, kommt alles wieder hoch. Man vergisst
nie, man verdrängt. Es bedarf nur eines einzigen Anlasses
wie das Buchstabieren eines fremd klingenden Namens, um
das Verdrängte wieder zu erinnern. (GV 129)
Was Sascha zu erinnern beschließt, ist die Rolle seines türkischen Großvaters
bei der Deportation der Armenier während des ersten Weltkrieges.377
„Ich spielte gerne im Speicher unter dem Dachboden, weil der Garten zu gefährlich war. Man
vermutete dort vergrabene Minen. Eines Tages fand ich in einer verstaubten Kiste, die unter einem
Haufen Handwerkszeug versteckt lag, eine Reihe von Photos. Sie zeigten alle einen Mann mit einem
komischen Schnurrbart. Als ich die Photos meinen Eltern zeigte, wurden sie unverzüglich im Kamin
verbrannt.“ (GV 9).
374
Saschas Leidenschaft für Nazi-Dokumente sieht Hall in der schweigenden Haltung seiner Mutter
begründet.: „This ‘Sammelleidenschaft’ (GV 63) may be motivated by the desire to gather documentary proof of the implementation of the Holocaust or ‘zu begreifen, was geschehen war’, something
his mother could or would not do (GV 60).“ Hall: Turkish, Jewish and German Identity in Zafer Şenocak's
Gefährliche Verwandtschaft. S. 77. Das Schweigen der Opfer wie auch der Täter ist typisch. Darauf
weist auch Dan Diner hin. Vgl.: Dan Diner: Negative Symbiose. Deutsche Juden nach Auschwitz. In: Dan
Diner (Hg.): Hat der Nationalsozialismus Geschichte? Zu Historisierung und Historikerstreit. Frankfurt/Main: Fischer, 1988. S. 185-197. S. 195. Zum Schweigen der Täter vgl. Assmann/Frevert: Geschichtsvergessenheit – Geschichtsversessenheit. S. 77ff.
375
K. Hall konstatiert lediglich, die Exploration dieses geschichtlichen Ereignisses werde durch die
größere generationale und geografische Distanz erleichtert. Vgl. Hall: Turkish, Jewish and German
Identity in Zafer Şenocak's Gefährliche Verwandtschaft. S. 78.
376
Vgl.: „Geschichte hat immer eine verbrauchte und eine unverbrauchte Seite. An der verbrauchten
Seite sind die Historiker am Werk. Sie versuchen zu rekonstruieren. An der unverbrauchten Seite
wollte ich tätig sein. Ich verknüpfte die Fäden in meinem Kopf zu einem Roman, dessen zentrale
Figur mein Großvater sein sollte. Meine Aufgabe war es zu konstruieren, was nicht zu rekonstruieren war.“ (GV 51)
377
98
4.2 Die Deportation der Armenier – Schuldigwerden an der Geschichte
4.2 Die Deportationen der Armenier –
Schuldigwerden an der Geschichte
Während Sascha sich mit der Figur seines Großvaters und dessen Schuld auseinandersetzt, arbeitet seine Frau Marie an einem Dokumentarfilm über Talat
Pascha.378 Sascha sieht seine Arbeit als Schriftsteller im direkten Gegensatz zu
Maries Tätigkeit. Immer wieder betont er, dass er nicht rekonstruieren, sondern erfinden wolle. Talat Pascha nimmt im Roman die Rolle der historischen
Figur ein, über die es nachlesbare Fakten gibt. Der Großvater dagegen ist
wichtig für die persönliche Geschichte Sascha Muhteschems. Und diesem geht
es nicht um die Rekonstruktion der Fakten, sondern um Dichtung und Erfindung.379
Die Erinnerung an den Großvater löst bei Sascha Irritationsmomente aus. Die
Verwandtschaft zu einem Menschen, der Deportationslisten erstellt hat, empfindet er als Belastung. Als Schriftsteller beschließt er, mit der Vergangenheit
auf kreative Weise umzugehen, sie neu zu erfinden:
Ich hatte Informationen über ihn, die ich zu vergessen versuchte. Sollte ich seine Tagebücher vernichten, um mich
gänzlich frei zu machen? Waren sie nicht Teil meines Gedächtnisses, obwohl ich sie nicht lesen konnte? Ich konnte
diese Fragen nicht beantworten, solange ich die Figur meines Großvaters nicht erfunden hatte. (GV 38)
In Saschas Abwehr gegen Gattungen wie Tagebücher und Dokumentarfilme
und seine Präferenz für Fiktion lässt sich eine allgemeine Kritik an der Möglichkeit, objektiv zu sein, bzw. die Vergangenheit objektiv darzustellen, erkennen. Erinnern allein scheint kein adäquater Weg zu sein, um die Vergangenheit
zu rekonstruieren –selbst wenn Erfindung auch in Erinnerungsprozesse hineinspielt.380.
378 Dieser war ein führendes Mitglied der Osmanischen Regierung von 1913 bis 1918. Als Innenminister während des Ersten Weltkrieges war er verantwortlich für die Deportation der Armenier.
Einige Historiker sprechen ihm die Schuld für die verheerenden Folgen der Operation zu. Talat
Pascha wurde 1921 von einem Armenier in Berlin umgebracht.
379 Ein Vergleich zwischen Talat Pascha und der Großvaterfigur scheint eine viel versprechende
Untersuchung in Bezug auf persönliche und kollektive Geschichte und den Umgang mit kollektiver
Geschichte zu sein. Dieser kann im Rahmen dieser Arbeit allerdings nicht geleistet werden.
380 Vgl. dazu Salman Rushdie: „It may be that writers in my position, exiles or emigrants or expatriates, are haunted by some sense of loss, some urge to reclaim, to look back, even at the risk of being
mutated into pillars of salt. But if we do look back, we must do so in the knowledge – which gives
99
4.2 Die Deportation der Armenier – Schuldigwerden an der Geschichte
Sascha will sich vielmehr im Sinne Gergens „richtig erinnern“, was demnach
bedeutet, eine Geschichte zu bilden, „die reich ausgestattet [ist] mit all den
Kennzeichen einer wohlgeformten Erzählung“381 – und genau das versucht
Sascha zu tun. Anstatt das Tagebuch des Großvaters verstehen zu wollen,382
beschließt er, dessen Leben neu zu erfinden und in einem Roman nieder zu
schreiben. Einer seiner Hauptbeweggründe hierfür, so meine These, ist die
Gewährleistung seiner Integrität.
Nach Gergen muss der Protagonist einer wohlgeformten Geschichte eine kohärente Identität haben. Er kann nicht Schurke und Held zugleich sein.383 Aber genau als solcher erscheint der Großvater. 1896 geboren, war er während
des Ersten Weltkrieges und in den Jahren vor der Republikgründung ein Agent
auf türkisch-nationaler Seite. Der Leser erfährt, dass der Großvater mit 25
Jahren als Erster eine Deportationsliste mit armenischen Namen aufgestellt
habe. Im Alter von 35, also 1931, ist er ein bekannter Politiker und wird Bürgermeister („Ein Mann, den seine Schuld mächtig gemacht hat.“ (GV 40)).
1936 reist er als Mitglied der türkischen Delegation zu den Olympischen Spielen nach Berlin, wo er Selbstmord begeht, so die Eckdaten, die man aus dem
Roman ziehen kann.
„Führt ein Mann, der unter falscher Identität lebt, ein Tagebuch?“ (GV 30),
fragt sich Sascha und stellt damit eine vielschichtige Frage. Bezweifelt wird hier
nicht nur die ‚Echtheit‘ der falschen Identität, sondern auch die Authentizität
des Tagebuchs. Scheinbar kann ein Tagebuch nur ‚ehrlich‘ geschrieben werden. Im Tagebuch wird dieser Aussage nach nicht gelogen. Dabei ist gerade
ein Tagebuch ein Medium, um Geschichten über sich selbst zu erzählen. Verschiedene Strategien greifen bei dieser Form der Selbsterzählung: bestimmte
Dinge können beschönigt, weggelassen, vielleicht sogar erfunden werden, um
ein besseres Selbstbild zu kreieren.384 Eine Tagebuchnotiz des Großvaters die
rise to profound uncertainties – that our physical alienation from India almost inevitably means that
we will not be capable of reclaiming precisely the thing that was lost; that we will, in short, create
fictions, not actual cities or villages, but invisible ones, imaginary homelands, Indias of the mind.
Imaginary Homelands.“ Salman Rushdie: Imaginary Homelands. Essays and Criticism 1981-1991. New
York: Penguin, 1991. S. 10.
381
Gergen: Erzählung, moralische Identität und historisches Bewusstsein. S. 191.
Dieses ist in mehrfacher Hinsicht verschlüsselt. Teile sind in kyrillischer Schrift geschrieben und
entpuppen sich als Romananfänge (z.B. von Anna Karenina).
382
383
Vgl. Gergen: Erzählung, moralische Identität und historisches Bewusstsein. S. 175.
Bei diesen Verfahren der narrativen Glättung im weitesten Sinne handelt es sich auch um Elemente, die in der Autobiographieforschung Berücksichtigung finden. Vgl. dazu: Michael Holdenried:
Autobiographie. Stuttgart: Reclam, 2000. S. 42ff.
384
100
4.2 Die Deportation der Armenier – Schuldigwerden an der Geschichte
Schuld und Sünde mit kulturellen Mustern erklären will, erscheint, wie gezeigt
werden soll, als ein Versuch, sich von Schuld freizusprechen.
Dennoch kann die obige Frage positiv beantwortet werden. Ein Mann, der
unter falscher Identität lebt, kann ein Tagebuch führen, wenn er davon ausgeht, dass es geheim bleibt oder wenn er es verschlüsselt (wie dies auch der
Großvater tut) – oder wenn er die falsche Identität in seiner Lebensgeschichte
integrieren will, was nach Krappmann ein Muss, nach Hall eine Konstruktion
ist.385
Was auch immer im Tagebuch steht – vollständig erfährt der Leser es nie – der
Großvater ist augenscheinlich in drei Gemeinschaften zugleich integriert, obwohl er bei zweien nur vorgibt, zu ihnen zu gehören:
Großvater mit neunzehn. Er hält sich in seinem Geburtsort
Kars auf. Er ist ein Agent hinter der Front. Er spricht perfekt Armenisch und Russisch und ist hellhäutig. „Du bist
wie drei Mann.“, bemerkt der Kommandant und lässt ihn
kundschaften. (GV 39)
Der Großvater macht seinen Job gut, denn er fällt nirgendwo durch NichtZugehörigkeit auf.386 Der Großvater scheint als Spion Glück zu haben, er wird
von allen Seiten akzeptiert und gehört dazu. Eine freie Wahl von (in diesem
Fall fingierten) Identitäten gelingt ihm.387 Damit macht er eine andere Erfahrung als Sascha selbst, der sich nach der Maueröffnung als nicht mehr zugehörig empfindet. Sascha kann mit der Wahl ‚keiner‘ Identität (vgl. GV 47) nicht
in Deutschland bestehen. Die Determiniertheit der Zugehörigkeit durch
Fremdzuschreibungen wird ihm zum Verhängnis. Aber auch der Großvater
soll aus Saschas Sicht nicht völlig frei von äußeren Zwängen zu sein, sondern
angewiesen auf die Anerkennung der (in seiner Funktion als Agent) frei gewählten Identität:
Großvater wollte kein Osmane mehr sein. Doch was war er
dann? Ein Mann mit Melone und Schirm und einer Feder,
mit der er schrieb. Wäre er gern ein Engländer gewesen oder ein Deutscher? Wer oder was man ist, kann man sich
nicht aussuchen, das entscheiden die anderen, die einen
385
Vgl. dazu Kapitel 3.2 und 3.3.
386 „Niemand hielt ihn für einen durchtriebenen, machtbesessenen Opportunisten oder einen Helden der Nation, denn er war von allem etwas und beherrschte es meisterhaft, die eine Eigenschaft
hinter der anderen zu verbergen.“ (GV 27)
387
Zur freien Wahl von Identität vgl. Kapitel 3.6.
101
4.2 Die Deportation der Armenier – Schuldigwerden an der Geschichte
nicht zu sich zählen. Diese Erfahrungen macht jeder, der
einmal in seinem Leben die Seite wechseln will. (GV 39)
Der Großvater hat sich zwar ‚ausgesucht‘, wer er jeweils sein wollte, indem er
die Zugehörigkeit zu Armeniern oder Russen vorgab. Wäre er von diesen jedoch diskriminiert worden, hätte er nicht an seinen vermeintlichen Identitäten
festhalten können. Der Ausschluss aus einem Kollektiv kann somit ähnliche
Integritätsverletzungen nach sich ziehen wie die Oktroyierung von Identitäten.
Erst als Sascha Muhteschem sich nur auf das Schreiben konzentriert, „fühlt er
[sich] in der Lage, die Geschichte so zu erzählen, wie sie sich ereignet hat“,
also ohne Irritationsmomente zu beschönigen, scheint es, da folgt der Nachtrag: „Sie könnte ungefähr so enden:[...]“ (GV 134) Wie sich die Geschichte
tatsächlich ereignet hat, legt also der Schriftsteller und Enkel Sascha Muhteschem fest. Diese Passage erinnert an eine der Narration vorgeschaltete Instanz, die versichert, dass sich die vorgetragene Geschichte tatsächlich auf eine
bestimmte Weise ereignet hat – mit dem feinen Unterschied, dass der Erzähler
diese Aussage gleich selbst destruiert, indem er die fiktiven Momente durch die
Nutzung des Konditionals hervorhebt. So wird betont, dass es sich nicht um
die Geschichte, wie sie sich tatsächlich ereignet hat, handelt, falls es eine solche
überhaupt gibt. Damit wird hier Katharina Hall widersprochen, die davon
ausgeht, dass die Geschichte Saschas die absolute Wahrheit enthalte.388 Vielmehr lässt sich zeigen, dass Sascha sich der Fiktivität der vermeintlichen
Wahrheit bewusst ist.
Nach Saschas Version, die dem Prozess der narrativen Glättung unterworfen
wurde, hat der Großvater damals den Namen einer Frau von der Liste gestrichen und ihr geschworen, er werde sich umbringen, wenn sie nicht zusammen
bleiben könnten. Zwanzig Jahre nach diesem Schwur erreicht ihn ein Brief von
dieser Frau, der ihn an sein Versprechen erinnert. Erst jetzt gerät der Mann,
den seine Schuld mächtig gemacht hat, „ins Schwitzen“, „die Vergangenheit
kommt ihn holen“ (GV 136).
In einer fragmentierten Welt scheint es enorm wichtig zu sein, eine für sich
kohärente Geschichte aus diesen Fragmenten zu formen – das betrifft auch die
persönliche Lebensgeschichte. Die Integrität einer Person bezieht sich also
nicht nur auf die ‚Rechtschaffenheit‘ einer Person, sondern auch auf die Kohärenz und Repräsentanz einer Lebensgeschichte.
Obwohl eine Faszination von der Vergangenheit bereits vorliegt, bevor er das
Erbe des Großvaters antritt (wie bereits erwähnt, sammelt Sascha Dokumente
aus der Nazizeit), beginnt sich sein Leben nach Erhalt einer Schatulle mit den
Vgl. „The ending […] does contain the essential truth of his grandfather’s death.“ Hall: Turkish,
Jewish and German Identity in Zafer Şenocak's Gefährliche Verwandtschaft. S. 86.
388
102
4.2 Die Deportation der Armenier – Schuldigwerden an der Geschichte
Tagebüchern des Großvaters zu ändern. Mit dem Erbe der Tagebücher wird
Sascha symbolisch die Vergangenheit und auch die Schuld des Großvaters
übertragen bzw. ‚vererbt‘.389 Sascha tritt das Erbe also auch insofern an, als er
für den Großvater dessen Vergangenheit aufarbeitet. Durch die Beschäftigung
mit der Vergangenheit will er aber auch persönliche Irritationsmomente ausschalten.
Infolge der Auseinandersetzung mit der Übertragbarkeit von Schuld integriert
Sascha seine deutschen, jüdischen und türkischen Teilidentitäten, indem er sie
unterschiedlich gewichtet. Sascha spricht kein Türkisch und hat zur jüdischen
Kultur kaum Zugang, dennoch sind diese Kulturen ein Teil seiner Identität,
die ihm von seinen Eltern vererbt worden sind. Sein Großvater hingegen gab
nur vor, mehrere Identitäten zu haben. Er spricht mehrere Sprachen perfekt
und eignet sich u.a. deswegen zum Spion. Während die Frage der Integrität
sich für Sascha auf psychologischer Ebene stellt, im Sinne der Integration von
Teilidentitäten, stellt sie sich für den Großvater vornehmlich auf der Ebene
des Handelns nach politischen oder allgemeingültigen moralischen Prinzipien.
Als Spion kämpft er auf türkischer Seite, gibt sich aber auch als Russe oder
Armenier aus. Dies sind allerdings keine moralisch fixierten Teilidentitäten von
ihm, sondern pragmatisch vorgespielte Identitäten und zudem solche, die die
Existenz der anderen jeweils ausschließen. Anders als Sascha ist der Großvater
nicht tatsächliches Produkt eines ‚Trialogs dreier Ethnien‘, sondern jemand,
der verschiedene Identitäten nur einnimmt, um die türkische Seite während
des Ersten Weltkrieges zu unterstützen; die Seite, mit der er sich allein voll und
ganz identifiziert.
Der Großvater stellt politische Integritätsstandards über moralische Integritätsstandards – insofern als sein Verhalten sich daran orientiert, der türkischen
Seite zu dienen, kann man sein Verhalten als in diesem Sinne integer bezeichnen; integer nach Maßgabe einer partikular anerkannten Maxime.390 Gemessen
an allgemeingültigen Maßstäben ist es allerdings fraglich, ob ein Spion bzw.
Doppelspion überhaupt eine moralisch integere Persönlichkeit sein kann.
389 Zur Reichweite der Metapher vgl. Horst Turk: Gewärtigen oder Erinnern?: Zum Experiment der Jahrestage. In: Johnson-Jahrbuch 2 (1995). S. 134-154. S. 149ff. Horst Turk nimmt u.a. Bezug auf das
Haus, das Lisbeth Cresspahl erbt. Parallelen lassen sich neben den Tagebüchern des Großvaters
auch zum Haus von Saschas Großeltern ziehen, das ihm ebenfalls vererbt wurde.
Vgl zu diesen Punkten Cox/Caze/Levine: Integrity und Keupp: Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne. Hamburg: Rowohlt, 2002. S. 226. Der Großvater verhält sich in
gewisser Weise utilitaristisch. Kritiker des Utilitarismus bemängeln bekanntlich, dass er akzeptierten
moralischen Auffassungen widerspreche und Ungerechtigkeit dulde, wenn möglichst vielen Menschen ein Vorteil aus einer an sich ungerechten Handlung erwachse. Vgl. dazu Bernard Williams:
Utilitarismus und moralische Selbstgefälligkeit. In Bernard Williams: Moralischer ZufallKönigstein/Ts.:
Hain, 1984. S. 50-64.
390
103
4.2 Die Deportation der Armenier – Schuldigwerden an der Geschichte
Das ‚Erbe‘ des Großvaters nimmt für Sascha, der sich im wiedervereinigten
Deutschland als nicht mehr zugehörig empfindet, eine besondere Funktion ein
– was im Folgenden expliziert werden soll.
Ein Gehirn könne man sich nicht teilen, hat James Young treffend festgestellt.391 Und dennoch bildet sich Erinnerung kollektiv aus. Halbwachs formulierte die gesellschaftliche Prägung von Erinnerung 1925.392 So ist es nicht
verwunderlich, dass auch bestimmte kollektive Zugehörigkeitssymbole erinnert
werden und somit ein Bewusstsein für eine gemeinsame Vergangenheit vermittelt wird. Das heißt allerdings lediglich, dass man sich der Bedeutung von gemeinschaftsstiftenden Ereignissen bewusst ist, nicht dass man tatsächlich eine
gemeinsame Vergangenheit erinnert.393 Was passiert aber, wenn man sich über
bestimmte Zugehörigkeitssymbole mit einer Gesellschaft identifiziert, diese im
Fall von geschichtlichen Ereignissen aber nicht zu einer Vergangenheit gehören, an der die eigenen Vorfahren aktiv teilhatten, wie das etwa für Migrantenkinder in Deutschland in Bezug auf den Holocaust zutrifft.394 In gewisser Weise setzt sich die Gefährliche Verwandtschaft auch mit diesem Phänomen auseinander, obwohl Sascha über seine jüdisch-deutsche Mutter einen engen Bezug
zum Holocaust hat.395 Eines der Hauptargumente, die in diesem Kapitel verfolgt werden, lautet, dass Sascha sich über die Teilhabe an der Auseinandersetzung mit der Übertragbarkeit von Schuld in der deutschen Gesellschaft integriert fühlt. Eine ähnliche Strategie konnte Viola Georgi in ihrer empirischen
Studie bei Migrantenkindern feststellen:
Die Erinnerungsarbeit gewinnt […] nicht selten verpflichtenden Charakter. Es geht darum, sich durch ein bereitwilliges Antreten des ‚negativen historischen Erbes‘ der Deut391 Vgl.: “Individuals cannot share another’s memory any more than they can share another’s cortex.“ James Young: The Texture of Memory: Holocaust Memorials and Meaning. New Haven: Yale University Press, 1993. S. XI.
392
Vgl. Maurice Halbwachs: Les cadres sociaux de la mémoire. Paris: Alcan, 1925.
Zum problematischen Umgang mit dem Modewort ‚Erinnerung‘ vgl. Kerwin Lee Klein. Dieser
kritisiert, dass es nicht bei der Feststellung geblieben sei, dass Erinnerung im gesellschaftlichen
Prozess ausgebildet werde. ‚Erinnerung‘ sei zu einem Sammelbecken für vielfältige Phänomene (wie
zum Beispiel zu einem Gegenstück zu traditionellen, machtbesetzten Darstellungen von Geschichte)
geworden. U.a. werde psychologisches Vokabular auf Kollektive angewendet. Vgl. Kerwin Lee
Klein: On the Emergence of Memory Discourse. In: Representations 69 (2000). S. 127-150. S. 135.
393
Vgl. dazu: „Die Identität einer Gesellschaft beruht auf der immer wieder zu inszenierenden, in
verschiedenen symbolischen Medien (Bilder, Architektur, Rituale) verkörperten Erinnerung an eine
gemeinsame Vergangenheit.“ Harth: Die literarische als kulturelle Tätigkeit. Vgl. auch S. 20 dieser Arbeit.
394
Leslie Adelson sieht sogar eine Art Tendenz in der Migrationsliteratur, die sich spezifisch durch
die Auseinandersetzung mit und Teilhabe an deutscher Geschichte ausmacht. Leslie Adelson: The
Turkish Turn in Contemporary German Literature and Memory Work. S. 328ff.
395
104
4.2 Die Deportation der Armenier – Schuldigwerden an der Geschichte
schen als ‚vollwertiger‘ Deutscher zu legitimieren und zu
qualifizieren.396
In einer sozialwissenschaftlichen Studie hat Georgi Migrantenkinder in
Deutschland aus unterschiedlichen Herkunftsländern zu ihrem Umgang mit
dem Holocaust befragt. Dabei konnte sie verschiedene Typen des Umgangs
unterscheiden. Eine Gruppe bilden diejenigen, die sich mit den Opfern identifizieren und in deren Erfahrungen Parallelen zu eigenen Ausgrenzungserfahrungen sehen, während andere sich stärker auf das kollektive Gedächtnis der
eigenen ethnischen Gruppe beziehen. Eine weitere Gruppe identifiziert sich
mit den Tätern und Mitläufern des NS-Verbrechens:
Paradoxerweise führt also ausgerechnet die Identifikation
mit dem bösesten Teil der deutschen Vergangenheit zum
empathisch erlebten Gefühl, „rein Deutscher“, also voll integriert zu sein.397
Sascha Muhteschems Strategie kann als eine Mischform des zweit- und des
dritt- genannten Typus angesehen werden.398 Das Berlin, in das er nach der
Wiedervereinigung zurückkehrt, weckt in ihm den Wunsch nach Auseinandersetzung mit der Vergangenheit:
Ich sehnte mich danach, tiefere Schichten meiner Selbst zu
finden. Diese Tiefe war nur durch Entdeckung meiner
Herkunft zu erreichen. Ich wollte nicht mehr wurzellos
sein, unverantwortlich für alles, was länger als zwanzig Jahre her war. Plötzlich erschien mir mein Großvater als das
Geheimnis, das zwischen mir und meiner Herkunft stand.
Ich musste sein Geheimnis lüften, um zu mir selbst zu
kommen. (GV 118)
Sascha kann in seiner ‚Parteilosigkeit‘ nicht mehr bestehen. Während der
Großvater sich der Seite Atatürks angeschlossen und die anderen Gruppen, in
denen er sich ungezwungen bewegte, ausspioniert hat, hat sich Sascha sein
396 Viola Georgi: Entliehene Erinnerung: Geschichtsbilder junger Migranten in Deutschland. Hamburg: Hamburger Edition, 2003. S. 320.
Vgl. Harald Welzer: Deutsches Eintrittsbillet. Was die Kinder von Einwanderern über den Holocaust denken.
In: Süddeutsche Zeitung, 22.10.2003.
397
398 Für einen vierten Typus, von Georgi als hoffnungsvollster ausgewiesen, stehen nicht ethnische
Zugehörigkeit, sondern universale Menschenrechte im Vordergrund. Vgl. dazu auch Viola Georgi im
Interview mit Stefan Reinecke: Stefan Reinecke: „Deutschland braucht neue Erzählungen des Holocausts“,
sagt Viola B. Georgi. In: die tageszeitung, 13.02.2004.
105
4.2 Die Deportation der Armenier – Schuldigwerden an der Geschichte
bisheriges Leben lang geweigert, Position zu beziehen – bis zur Rückkehr ins
wiedervereinigte Deutschland. Hatte er noch zu Beginn abgestritten, dass die
Vergangenheit etwas mit seiner Person zu tun habe,399 bleibt ihm jetzt nichts
anderes als der Wunsch, seine Vergangenheit zu entdecken. Obwohl er sich
auf die jüdischen Teile seiner Identität konzentrieren, also die Rolle der Opfer
übernehmen könnte, entschließt er sich für die in diesem Kontext schuldige,
türkische Seite. Er betont eine Teilidentität stärker als andere, was David Snow
als „identity amplification“ bezeichnet.400 Er tut das, so meine These, um sich
in Berlin bzw. Deutschland reintegrieren zu können. Gleichzeitig führt das zu
einer Charakterisierung von Türken, die sich in deutscher und auch deutschtürkischer Literatur selten findet, nämlich der als Täter.401 Ganz richtig weist
Hall darauf hin, dass die fast vollständig fehlende Darstellung von Juden und
Türken in Opferrollen bestimmten sozialen und kulturellen Erfahrungen ‚trotze‘.402 Besonders in den frühen Phasen der Migrationsliteratur, darauf wurde
bereits hingewiesen, wurden Türken in Deutschland häufig zu Opfern stilisiert,
denen die Migration nach Deutschland auf die eine oder andere Weise wesentliche Probleme bereitet oder ihr Leben negativ beeinflusst hat.
Obwohl Sascha noch lange nicht geboren war, als die Armenierdeportationen
stattfanden, gerät er über die mögliche Teilhabe und Mitschuld seines Großvaters an diesem Ereignis zu einem Nachdenken über die Übertragbarkeit von
Schuld und die Bedeutung der kollektiven Vergangenheit für seine persönliche
Integrität. Sascha inkorporiert verschiedene Vergangenheiten und bezeichnet
sich selbst als ,,Enkel von Opfern und Tätern“. (GV 40) Um sich als Deutscher fühlen zu können, geht Sascha einen Umweg über die Armenierdeportationen im Jahr 1915. Damit ‚sucht‘ er sich sozusagen einen Schuldkomplex.
Die Deportationen der Armenier im Jahre 1915 sind bis heute ein strittiges
Thema. Anders als der Holocaust werden sie nicht von allen Nationen als Genozid anerkannt – schon gar nicht von türkischer Seite. Besonders in den USA
gibt es eine starke armenische Lobby, die auch über das Internet ihre Interes-
Vgl. auch: „Eigentlich fühle ich mich wohler, wenn ich nicht Teil einer Schicksalsgemeinschaft
bin. Ich komme mir verantwortungsloser vor.“ (GV 121)
399
400
Vgl. dazu Kapitel 3.7.
401
Vgl. dazu auch Hall: Turkish, Jewish and German Identity in Zafer Şenocak's Gefährliche Verwandtschaft. S. 72.
Ebd. S. 73. Weiterhin teile ich ihre Kritik an Leslie Adelsons Behauptung, die Gefährliche Verwandtschaft sei ein Roman in dem „victimized Turks“ in Kontakt mit „victimized Jews“ kommen.
Vgl. Adelson: Touching Tales of Turks, Germans, and Jews: Cultural Alterity, Historical Narrative, and Literary
Riddles for the 1990s. In: New German Critique 80 (2000). S. 93-124.S. 102.
402
106
4.2 Die Deportation der Armenier – Schuldigwerden an der Geschichte
sen vertritt.403 Literarisch sind die Deportationen in mehreren Werken behandelt worden. Franz Werfels Die vierzig Tage des Musa Dagh ist in Bezug auf die
vorliegende Arbeit die interessanteste Auseinandersetzung mit dem Thema.404
In den dreißiger Jahren erschien das umfassende Werk Werfels und wurde
(und wird) als Analogie zum nahenden Schicksal der Juden in Europa gelesen.
Lässt sich über einen Roman sprechen, der die Zwangsdeportation der Armenier während des Ersten Weltkrieges zum Thema hat, ohne dabei Stellung zu
beziehen? In der Gefährlichen Verwandtschaft wird nicht explizit Stellung bezogen. Dem Text geht es vielmehr um die Thematisierung und Hinterfragung
von Phänomenen wie der Vererbbarkeit von Schuld auf die Folgegenerationen. Den Hintergrund bilden sowohl der Holocaust als auch die Zwangsdeportation der Armenier im Jahre 1915
Schon in der Wortwahl distanziere ich mich in dieser Arbeit von Schuldzuschreibungen. Nicht weil ich eine bestimmte Seite einnehmen möchte, sondern weil die armenische Zwangsumsiedlung noch heute ein höchst brisantes
Thema ist, zu dem es von türkischer und armenischer Seit eine Vielzahl von
Material gibt, das jeweils ganz unterschiedliche Dinge aufdeckt.405 Meine Aufgabe in dieser Arbeit ist nicht die einer Historikerin, mir geht es um den literarischen Umgang und die literarische Umsetzung von bestimmten Phänomenen, zu denen nicht nur, aber auch, geschichtliche gehören.
Eine ähnliche Position nimmt im Übrigen auch Sascha Muhteschem als
Schriftsteller ein, wenn er es ablehnt, die Tagebücher seines Großvaters zu
entziffern und stattdessen seine Geschichte erfinden will.406
403 Vgl. dazu http://www.armeniandiaspora.com, http://www.armeniadiaspora.com und
http://www.mousaler.com. Zuletzt eingesehen am <20.07.2005>. Auf Integritätsverhandlungen
über das Medium Internet soll im letzten Kapitel detailliert eingegangen werden.
404 Ein weiterer Autor, der sich mit der Thematik der Armenierdeportationen auseinandersetzt, ist
Edgar Hilsenrath. Vgl. Edgar Hilsenrath: Das Märchen vom letzten Gedanken. München: Piper, 1989.
405 Auch internationale Beziehungen sind von den armenisch-türkischen Problemen betroffen. Als in
Potsdam das Geburtshaus des deutschen Pfarrers Lepsius, der sich für die Belange der Armenier
eingesetzt hatte – dokumentiert in Franz Werfels Die vierzig Tage des Musa Dagh – als Gedenkstätte
saniert werden sollte, gab es von türkischer Seite starken Protest.
406 Zürcher konstatiert drei Kontroversen in Bezug auf die Deportationen. Dabei gehe es um die
Frage nach der militärischen Notwendigkeit der Aktion, nach der Anzahl der Toten und der Frage
nach der Absicht und somit nicht zuletzt darum, ob ein Genozid verübt worden ist. Die Frage nach
militärischer Notwendigkeit stellt sich wie von selbst. Von armenischer Seite wird kritisiert, dass die
Deportationen sich nicht auf das Kriegsgebiet beschränkten, sondern dass es auch Verfolgungen
von Armeniern im westlichen Anatolien und Istanbul gab. Von türkischer Seite wird die Notwendigkeit der Massenumsiedlung gesehen, weil nicht abzuschätzen gewesen sei, welche Armenier loyal
bleiben und welche sich gegen die ‚eigene‘ Armee wenden würden. Den Grund für die Schwankungen in Bezug auf die Anzahl der Toten sieht Zürcher in Unsicherheiten, was die Gesamtzahl von
Armeniern im Osmanischen Reich betrifft. Er selbst schätzt sie auf 10% der anatolischen Bevölkerung, ungefähr 1,5 Millionen. Es gibt aber auch armenische Stimmen, die von 2 Millionen Toten
107
4.3 Auseinandersetzung mit der Übertragbarkeit von Schuld
4.3 Auseinandersetzung mit der Übertragbarkeit von Schuld
Sascha entzieht sich der Verantwortung für zuvor Gesagtes oder Getanes,
indem er seine Identitäten ,,je nach Zeit und Ort“ (GV 121) ändert.
Das Fehlen einer dauerhaften Identität kommt, so Morris, einem Freispruch
von Schuld gleich.407 Selbst wenn Sascha in dem Moment, in dem er etwas sagt
oder tut, von seinen Interaktionspartnern ernst genommen wurde, ist eine
Identifizierung oder Solidarität mit einem Kollektiv schwer möglich, da beim
ständigen Wechsel der Identitäten, und damit auch Zugehörigkeiten, Konflikte
vorprogrammiert sind. Gerade die Widersprüche, die paradoxen Aussagen
Saschas, machen die Gefährliche Verwandtschaft zu dem, was sie ist: einer
ironischen Abrechnung mit dem deutschen ‚Schuldbewusstsein‘. Zugleich wird
mit Sascha ein Paradebeispiel einer postmodernen Figur konstruiert und
zugleich dekonstruiert, wenn diese auf die Suche nach ihrer Vergangenheit
geschickt wird, „um tiefere Schichten [s]einer selbst zu finden“ (vgl. GV 118).
In Analogie zu Krappmann und Morris argumentiert Schwan, dass personale
Identität nur solange vorhanden sei, wie Selbstwidersprüchlichkeiten
vermieden bzw. korrigiert würden.408 Schuld entstehe aus der „NichtKoinzidenz“ des Menschen mit sich selbst. Das Gewissen setze sich die
Aufgabe, die „durch normative Verfehlungen gestörte SelbstÜbereinstimmung wiederherzustellen“.409
sprechen. Zürcher meint, dass weder diese Zahl, noch die von türkischer Seite angegebene Zahl von
200 000 realistisch erscheint und schätzt das Ausmaß auf 600 000 bis 800 000. Vgl. Erik J. Zürcher:
Turkey. A Modern History. New York: Tauris, 1994. S. 120. Matuz spricht ganz klar von Völkermord.
Josef Matuz: Das Osmanische Reich. Darmstadt: Primus-Verlag, 1985. S. 269. Weiterhin heißt es: „ob
die Zahl der umgekommenen Armenier bis über eine halbe Million betrug, wie in Europa meist
angenommen wird, ob ‚nur‘ 200 000 bis 300 000, wie von protürkischer, oder gar zwei Millionen,
wie von armenischer Seite angegeben wird, ändert am Faktum des Genozids dem Wesen nach
nichts.“ Ders. S. 265. Für detailliertere Analysen vgl. Vahakn N. Dadrian: The History of the Armenian
Genocide: Ethnic Conflict from the Balkans to Anatolia to the Caucasus. Providence: Berghahn Books, 1997;
Martin Tamcke: Armin T. Wegner und die Armenier: Anspruch und Wirklichkeit eines Augenzeugen. Göttingen: Cuvillier, 1993.
Vgl. Herbert Morris: Nonmoral Guilt. In: Ferdinand Schoeman (Hg.): Responsibility, Character,
and the Emotions. New Essays in Moral Psychology Cambridge: Cambridge University Press, 1987.
S. 220-240. S. 220.
407
408 Gesine Schwan: Politik und Schuld. Die zerstörerische Macht des Schweigens. Frankfurt/Main: Fischer,
2001. S. 44. Dass nicht eingestandene Schuld zur Zerrüttung der Identität führe, erinnert an Krappmanns Forderung nach Transparenz in Bezug auf die eigene Vergangenheit und die Einbindung in
verschiedenste soziale Gruppen. Vgl. S. 50 dieser Arbeit.
409 Schwan: Politik und Schuld. S. 42. Vgl. auch: „Für die mittelalterlichen Anfänge dieses Prozesses
[des Bewusstwerdens der eigenen Person; Y.D.] war eine der wichtigsten Komponenten der Komplex Gewissensbildung, Beichte und Geständnis.“ Dinzelbacher: Das erzwungene Individuum. Sündenbewusstsein und Pflichtbeichte. S. 41
108
4.3 Auseinandersetzung mit der Übertragbarkeit von Schuld
Die Übernahme der Verantwortung „für sich und seine Taten“ verschaffe
einem Menschen Würde, also Integrität. Schuld könne sich aber auch in einer
„falschen Einheitlichkeit“ bzw. „unehrlichen Identität“, die sich als „falsche
Homogenität“ äußere, zeigen.410 Dies ist der Fall, wenn Schuld aus der persönlichen Identität ausgeblendet wird.411
Den ironischen Umgang der Gefährlichen Verwandtschaft mit dem ‚deutschen
Schuldbewusstsein‘ repräsentiert eine Textstelle, die ans Ende einer längeren
Passage über den Trauerdiskurs gestellt ist:
Wenn die Trauer nicht von Einzelnen ausgedrückt, sondern
von einer Gruppe nachgestellt wird, hat sich die Betroffenheit über die Trauer durchgesetzt. Es ist die Geburt der
Farce aus der Tragödie. (GV 61f.)
Auch Şenocaks Erzähltext erscheint in seiner paradoxen Schlüssigkeit als Farce, die auf der Tragödie von Völkermorden beruht. Obwohl Sascha die Trauermentalität in Deutschland kritisch sieht, begibt er sich selbst auf die Suche
nach einer solchen Vergangenheit, will Verantwortung übernehmen und relativiert damit überhaupt den Schuld-Verantwortungs-Diskurs.412
„Wir trauern nicht nach unseren Empfindungen, sondern nach dem Kalender.
Wir müssen Trauer nachstellen.“ (GV 61) Nachgestellte Trauer aber sei keine.413 Vielmehr müsse man von „Betroffenheit“ (GV 62) sprechen. Teil davon
seien auch diejenigen, die „aus ihrer jüdischen Identität einen Beruf [machen ]“:
Sie redeten. Das Gewissen der Deutschen musste immer
ansprechbar bleiben und belastet werden. Sie reisten von
Gedenkort zu Gedenkort, hielten Reden, sammelten Men410
Ebd. S. 45.
411 Nach Schwan liegt Schuld dann vor, wenn diese nicht in die persönliche Identität mit einbezogen
wird, wenn also keine Übernahme von Verantwortung und Auseinandersetzung mit dieser geschieht.
Vgl. ebd. S. 46. Diesen Gedanken kann man so weit treiben, dass „das individuelle Schuldgefühl zum
letztentscheidenden Kriterium von Schuld erklärt werden könnte“. Vgl. ebd. S. 54. Wie Schwan
bereits gezeigt hat, kann Schuld nur zugesprochen werden, wenn die Person sich bewusst schuldig
gemacht hat. Es ist also streitbar, ob eine Person, die an klinischer multiple personality disorder
leidet, für eine Tat zurechnungsfähig gehalten werden kann, die eine Teilpersönlichkeit begangen hat.
412 Vgl.: „Ich wollte nicht mehr wurzellos sein, unverantwortlich für alles, was länger als zwanzig
Jahre her war.“ (GV 118)
413 In diesem Sinne wird in Christoph Ransmayrs Morbus Kitahara Erinnerung inszeniert, indem u.a.
den Tätern aufgezwungen wird, die Leiden der Opfer nachzustellen. Vgl. Christoph Ransmayr:
Morbus Kitahara. Frankfurt/Main: Fischer, 1995. Für einen kritischen Überblick über den Umgang
mit der Erinnerung an den Holocaust vgl. Thomas Lackmann: Die globalisierte Erinnerung. In: Der
Tagesspiegel, 27.01.2003.
109
4.3 Auseinandersetzung mit der Übertragbarkeit von Schuld
schen um sich. Erinnerung war die Lingua franca, die sie alle verband. (GV 60)
Wie steht es aber mit Sascha selbst? Leistet er Trauerarbeit, wenn er sich mit
der Rolle seines Großvaters im Ersten Weltkrieg auseinandersetzt? Obwohl
Sascha proklamiert, dass er nicht an die Übertragbarkeit von Schuld glaube,
scheint er den Großvater von Schuld befreien zu wollen (vgl. GV 40).414 Welchen Grund sollte er dafür haben, wenn sich diese nicht auf Sascha überträgt
und der Großvater schon lange tot ist? Ein ähnliches Erkenntnisinteresse hat
Morris:
I have [...] been concerned with the now familiar, though
not less perplexing because of that, phenomena of “survivor” and associated kinds of guilt. Here, as in the former
case, individuals with no culpable involvement report feeling guilty. Still more strangely, they may claim they are
guilty. I wondered what sense could be made of this and
whether they might be correct. Finally, individuals report
feeling guilty in circumstances where not they but others
have acted wrongly and where they have no culpable relationship to the wrongdoing; they too, despite apparent moral
innocence, seem prepared to say not just that they feel guilty, but that they are guilty.415
Man könne, so Morris, Schuld empfinden aufgrund von Taten, die Angehörige
eines Kollektivs begangen haben, mit dem man sich identifiziert.416 Im Prozess
der Identifikation begibt man sich mental an die Stelle desjenigen, mit dem
man sich identifiziert. Versäumt es dieser nun, sich schuldig zu fühlen für eine
Tat, für die er sich unserer Meinung nach schuldig fühlen sollte, fühlen wir uns
an seiner statt schuldig. Das kann zu pathologischen Extremfällen führen, in
denen man von der eigenen Schuld überzeugt ist, obwohl man diese nur identifikatorisch auf sich nimmt.417 Genauso wie ein Individuum sich im NachhiVgl.: „Ich glaube nicht, daß Schuld übertragbar ist. Auch nicht von den Tätern auf die Opfer.
Schuld versinkt in der Erde, auf der die Tat verübt worden ist. Sie lagert dort unter den Füßen des
Täters. Ich werde die Erde unter den Füßen meines Großvaters aufreißen, ihn freischaufeln von
seiner Schuld. Ich muss diesen Flecken Erde finden, der in keinem Atlas verzeichnet ist.“ (GV 40)
414
415
Vgl. Morris: Nonmoral Guilt. S. 221.
416
Vgl. ebd. S. 238.
In Doron Rabinovicis Suche nach M. übernimmt einer der Protagonisten unter dem Namen Mullemann, Sohn österreichischer Juden, die Verantwortung für Straftaten, die von anderen begangen
werden. Er kann Tathergänge detailgetreu beschreiben und Täter aufspüren und wird so zum wich417
110
4.3 Auseinandersetzung mit der Übertragbarkeit von Schuld
nein mit seinem Ich, das eine Schuldtat begangen hat, identifizieren müsse,
könne es diese „identifikatorische Kohärenz“ auch zu anderen Individuen
aufbauen, mit denen es sich aufgrund bestimmter Verbindungen identifiziert.418
Als „Enkel von Opfern und Tätern“ hat Sascha verwandtschaftliche und emotionale Verbindungen zu zwei Parteien, die sich in den meisten Fällen gegenseitig ausschließen – es sei denn, man ist Opfer und Täter zugleich wie in Dürrenmatts Der Richter und sein Henker. Sascha bescheinigt Deutschen und Türken
ein unterschiedliches Verständnis von Schuld. Schuld sei in Deutschland in
erster Linie moralisch zu nehmen, nach dem Holocaust sei sie geradezu
gleichbedeutend mit Völkermord. Schuldigkeit oder Schulden im pekuniären
Sinn seien aber kategorisch davon zu unterscheiden. Im Fall von Reparationszahlungen und anderen Arten pekuniärer ‚Wiedergutmachungen‘ wird moralische Schuld sozusagen in materielle Schuld ‚umgeformt‘: „Wenn man in
Deutschland von Schuld spricht, denkt man nicht an ein überzogenes Bankkonto. Schuld ist gleichbedeutend mit Völkermord.“ (GV 40) Dagegen heißt
es in einem Auszug aus dem Tagebuch des Großvaters:
In unserer Kultur existiert kein Begriff von Schuld. Wir
kennen nur die Sünde. Sie umreißt unsere Verantwortung
einem göttlichen Wesen gegenüber. Aber wir haben keine
Verantwortung vor uns selbst. Schuld ist eine persönliche
Frage. Man ist mit seiner Schuld immer allein. Wir sind es
nicht gewohnt, allein zu sein. (GV 119)
In diesem Eintrag vom 21. 2. 1921 bezieht sich „unsere Kultur“ auf die türkische Kultur und – führt man den Gedanken weiter – auf den Islam als Religion. „Schuld“ – im Horizont der Kollektivschuld – bezieht sich auf die deutsche Kultur und – führt man auch diesen Gedanken weiter – auf das Christentum als Religion. Sünde ist religiös konnotiert und wurzelt im Glauben an
Gottes Gericht, während im Schuldbegriff diese religiöse Ebene säkularisiert
wurde. „Wir sind es nicht gewohnt, allein zu sein“, schreibt der Großvater. Er
kennzeichnet somit die Angehörigen seiner Kultur als Menschen, die nach wie
vor in Gemeinschaft leben. Sie empfinden, wenn man so will, keine gemeintigen Helfer der Polizei. Seine Motivation scheint darin zu liegen, dass von offizieller österreichischer
Seite kein Schuldbekenntnis für die Nazi-Verbrechen vorliegt. Vgl. Doron Rabinovici: Suche nach M.
Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1997.
418 Vgl.: „Individuals may assume a responsibility to be what they see themselves as being. Because
they have defined themselves in a manner that reveals identification with others, the actions of those
others are granted a power over them, determining their feelings and their obligations, Individuals
may in these circumstances believe themselves guilty.“ Morris: Nonmoral Guilt. S. 240.
111
4.3 Auseinandersetzung mit der Übertragbarkeit von Schuld
same Schuld – im Gegensatz zu Deutschen, für die der Holocaust, folgt man
Aleida Assmanns Modell des negativen Nationalismus, geradezu zu einem
gemeinschaftsstiftenden Merkmal geworden ist419 – wohl aber eine gemeinsame Sündhaftigkeit.
Der Tagebucheintrag ist offensichtlich im Blick auf das Skandalon einer kollektiven Verschuldung fingiert. Es sei vermeidbar, wenn man „unsere Verantwortung einem göttlichen Wesen gegenüber“ nicht durch eine „Verantwortung vor uns selbst“ ersetzt, sondern die letztere in der ersteren inbegriffen
denkt. Wenn der Großvater in seinem Tagebucheintrag weiter geht und den
„Begriff von Schuld“ für „unsere Kultur“ schlechterdings bestreitet, dann
erhält der Eintrag einen Anstrich von Verdrängung. Denn tatsächlich lässt sich
weder für den Islam, noch für das Judentum eine solche Basisopposition zwischen „Schuld“ und „Sünde“ behaupten.420 „Schuld“ und „Sünde“ sind viel419 Vgl. Assmann/Frevert: Geschichtsvergessenheit – Geschichtsversessenheit. S. 66f. Besonders provokativ
formuliert Maxim Biller diese Auffassung. Der „Gott Holocaust“ habe „diesem seit Jahrhunderten
geographisch, geistig und mental uneinigen, unfertigen Volk“ einen „nationalen Topos“ verschafft:
„den Schlüsselbegriff, der alle, egal ob Linke oder Rechte, Bayern oder Friesen, Aufklärer oder
Romantiker, mit einer solchen Wucht und Gewalt zusammenband wie kein Goethestück, kein
Hambacher Fest, keine Bismarckverordnung vorher. Und darum lieben die Deutschen den Holocaust so […]“ Vgl. Maxim Biller: Heiliger Holocaust. In: Die Zeit Magazin 8.11.1996. S.6. Zur Funktion des Nationalsozialismus für die nationale Identität Deutschlands vgl. auch: Michael Zimmermann: Negativer Fixpunkt und Suche nach positiver Identität. Der Nationalsozialismus im kollektiven Gedächtnis
der alten Bundesrepublik. In: Hanno Loewy (Hg.): Holocaust: Die Grenzen des Verstehens. Eine Debatte über die Besetzung der Geschichte Reinbek: Rowohlt, 1992. S. 128-143. Dan Diner sieht
Auschwitz gerade als „absolute Schranke“ für eine „nationale Identität der Deutschen nach Auschwitz“ an, die nur überkommen werden könne, wenn Auschwitz „nicht nur in seiner Bedeutung als
Judenmord, sondern auch als Zivilisationsbruch beiseite geschoben oder durch Historisierung abgetan“ werde. Vgl. Dan Diner: Negative Symbiose. Deutsche und Juden nach Auschwitz. In: Dan Diner (Hg.):
Hat der Nationalsozialismus Geschichte? Zu Historisierung und Historikerstreit Frankfurt/Main:
Fischer Taschenbuch Verlag, 1988. Habermas nimmt nicht Bezug auf die nationale Identität
Deutschlands, sondern auf die „liberale politische Kultur“, die sich erst nach Auschwitz habe ausbilden können, was eine „schwer zu fassende Wahrheit sei.“ Dass sich diese „durch Auschwitz“ ausgebildet habe, sei verständlich, wenn man sich die Bedeutung von Menschenrechten und Demokratie
„im Kern“ verdeutliche: „nämlich die einfache Erwartung, niemanden aus der politischen Gemeinschaft auszuschließen und die Integrität eines jeden in seiner Andersheit gleichermaßen zu achten.“
Vgl. Habermas: 1989 im Schatten von 1945. S. 170. Nach Moshe Zuckermann rechtfertigte der Holocaust als „Legitimationsinstanz“ die Gründung des Staates Israel. Darin sieht er eine Verdrängungsstrategie des Holocaust. Vgl. dazu Moshe Zuckermann: Fluch des Vergessens. Zur Instrumentalisierung des
Holocaust in Israel. In: Moshe Zuckermann (Hg.): Zweierlei Holocaust. Der Holocaust in den politischen Kulturen Israels und Deutschlands Göttingen: Wallstein, 1999. S. 18-37. S. 22.
Weltreligionen, die eine personale Gottesvorstellung haben, bezeichnen neben dem Abfallen vom
Glauben die Lüge und die Verletzung der „physischen und psychischen Integrität der Mitmenschen“
als Schuld: „Du sollst nicht töten, du sollst nicht ehebrechen, du sollst nicht stehlen, du sollst nicht
als falscher Zeuge gegen deinen Nächsten auftreten – in diesen vier Geboten des Dekalogs kristallisieren sich die wesentlichen Verletzungen der Umgangsnormen, die Jahrhunderte als Kernbestand
der Sittlichkeit, d.h. der objektiv geltenden Moral überdauert haben. Sie differenzieren sich entweder
in Einzelhandlungen, oder sie werden zu abstrakten Regeln zusammengefasst: der Gerechtigkeit, der
420
112
4.3 Auseinandersetzung mit der Übertragbarkeit von Schuld
mehr schwer zu trennen, zumal sie unter dem Dach der Religion auch die rituellen Vergehen mit umfassen.421 Der Tagebucheintrag soll aus dem Jahr 1921
stammen. Bezogen auf die Armenierdeportation, käme er einer Zurückweisung der politischen und moralischen Schuld gleich. Nur als Sünde, nicht als
Schuld könnte sie geahndet werden. Zugleich impliziert die Gegenüberstellung
aber auch einen Unterschied im Selbstverständnis der Gemeinschaft: als Gemeinschaft von Sündern in der „Verantwortung einem göttlichen Wesen gegenüber“ und als ‚Schuld‘- bzw. „Schicksalsgemeinschaft“ in der „Verantwortung“ eines jeden vor sich „selbst“.
Die Verwendung der Tagebuchstelle im Roman trägt der üblichen Restriktion
Rechnung, die mit dem Schuldigwerden einhergeht, jedoch nicht mit dem
Sündigsein, und sie zielt damit auf das Paradoxon einer die Gemeinschaft fundierenden Kollektivschuld. Auch nach dem biblischen Verständnis ist „Sünde
die Verletzung einer personalen und kommunitären Beziehung“ sowohl Gott
als auch den Menschen gegenüber.422 Man kann sich nicht gegen Gott wenden, ohne sich auch gegen die Gemeinschaft und die Mitmenschen zu wenden, und jede Wendung gegen die Gemeinschaft und die Mitmenschen ist
auch eine Wendung gegen Gott.
Sünde bedeutet damit auch die Aufhebung der Einheit einer Gemeinschaft
(zwischen Gott und Mensch oder zwischen Gemeinschaft und Mensch). Sünde und Schuld zerstören also sowohl die spirituelle Gemeinschaft mit Gott, als
auch die gesellschaftliche sowie die psychologische Einheit eines Individuums
– in diesem Sinne also auch die individuelle Integrität. Macht man sich im
Rahmen dieses integralen Sündenverständnisses schuldig, dann schließt man
sich aus der Gemeinschaft aus, die bestimmte gemeinsame Werte akzeptiert,
gegen die man verstößt bzw. verstoßen hat.423 Sascha jedoch integriert sich
gerade durch die Auseinandersetzung mit Schuld in die deutsche Gesellschaft,
Gegenseitigkeit, der »goldenen Regel« oder der Solidarität.“ Schwan: Politik und Schuld. S. 55. Als
weitere Schuldart nennt Schwan die Hybris, womit in der griechischen Tradition die grenzenlose
Selbstüberschätzung gemeint ist, die verheerende Folgen für die Menschheit haben kann. Schwan
stellt Analogien zu den „exorbitanten Verbrechen des 20. Jahrhunderts“ auf. Die großen Weltreligionen unterscheiden sich in ihren Grundregeln nicht. Sünde und Schuld sind insbesondere im Islam
und im Judentum schwer voneinander zu trennen. Je säkularer eine Gesellschaft ist, desto mehr
kann Schuld als ein Vergehen angesehen werden, das durch staatliche Institutionen geahndet wird,
während Sünde in den religiösen und damit privaten Raum gehört – was nicht ausschließt, dass viele
Gesetze auf ursprünglich religiösen Vorschriften basieren.
421 Schuld und Sünde unterscheidet Schwan gewissermaßen nach der Zurechnungsfähigkeit. Wenn
derjenige, der ein Vergehen begeht, sich dessen bewusst ist, spricht man von Schuld. Während man
sündigen könne, ohne sich dessen bewusst zu sein. Vgl. Schwan: Politik und Schuld. S. 25. Man
könnte indessen auch nach religiöser und moralischer Zurechenbarkeit unterscheiden.
422
Vgl. Schwan: Politik und Schuld. S. 41.
423
Vgl. Morris: Nonmoral Guilt. S. 225.
113
4.3 Auseinandersetzung mit der Übertragbarkeit von Schuld
weil diese sich für ihn als das gemeinschaftsstiftende Element per se für die deutsche Gesellschaft darstellt.
Es verwundert nicht dass Şenocak seinen Roman ironisch verstanden wissen will.
„Ironie sei der einzige Weg, sich darüber [deutsch-türkische Geschichte; Y.D.]
noch zu unterhalten.“424 Doch gilt dies auch für den Begriff der Scham. Saschas
Mutter – als Jüdin und als Opfer – empfindet nicht Schuld, sondern Scham.425 Sie
versucht, ihren Sohn von den Geschehnissen des Holocaust fernzuhalten, was
allerdings dessen Interesse nur noch verstärkt und eine Art Sammeltrieb nationalsozialistischer Dokumente in ihm auslöst:
Vielleicht schämte sie [Saschas Mutter; Y.D.] sich für diese
Taten, die in ihrem Land passiert waren, auch wenn ihre
Familie zu den Opfern zählte und nicht zu den Tätern. Ich
beobachte dieses Verhalten des Öfteren bei Opfern des
Hitlerregimes. Ihr Hass auf das Regime hat sie niemals dazu
verleitet, Deutschland zu hassen oder die Deutschen als
Volk zu verdammen. Man verhält sich so, wie wenn einer
aus der eigenen Familie etwas angestellt hat. Man ist bestürzt und beschämt, möchte die Angelegenheit möglichst
schnell verwinden (GV 60).
Hervorzuheben aber ist, dass bei der ‚Scham‘ die Zugehörigkeit zum Täterkollektiv wie die Zugehörigkeit des einzelnen Täters zum Kollektiv gegeben ist
bzw. aktiviert wird, wofür aber bei Sascha, anders als bei seiner Mutter, die
generationsmäßigen Voraussetzungen fehlen.
In seiner Gesamtheit hält die Gefährliche Verwandtschaft der deutschen Gesellschaft einen Spiegel bezüglich des Umgangs mit dem Holocaust vor. Nur eins
ist und bleibt eindeutig: um dazuzugehören, darf man sich nicht aus diesem
Umgang ausschließen. Trotz seiner Kritik am deutschen Schuldbewusstsein
setzt sich Sascha mit seiner Mitschuld an den Armenierdeportationen auseinWeber: Der Aufstand der Vorzeige-Exoten. Weiterhin heißt es ganz richtig: „Dafür, daß sein Held die
Frage nach der Identität „altmodisch“ abtut, beschäftigt sich das Buch aber erstaunlich viel mit
diesem Thema.“
424
Es wird also auf die Unterscheidung zwischen Scham- und Schuldgesellschaft verwiesen, die
zunächst Ruth Benedict in ihrer Untersuchung über die japanische Kultur traf. Vgl. dazu Ruth
Benedict: The Crysanthemum and the Sword. Patterns of Japanese Culture. London: Routledge & Paul, 1967.
Während die Mitglieder einer Schamgesellschaft durch die Gesellschaft kontrolliert würden, sei es in
einer Schuldgesellschaft das persönliche Gewissen, das diese Funktion als selbstverantwortliche
Instanz inne habe. In der Gefährlichen Verwandtschaft liefert die Scham der Mutter in erster Linie ein
weiteres Schlagwort zum Gebiet der Vergangenheitsbewältigung. Eine weiterführende Interpretation
in Richtung Schuld- und Schamgesellschaft (auch vor dem Hintergrund des im Tagebuchzitat suggerierten sich unterscheidenden deutschen und türkischen Schuldverständnisses) ist deswegen wenig
ertragreich.
425
114
4.3 Auseinandersetzung mit der Übertragbarkeit von Schuld
ander. Allerdings wird in der ironisierenden Erzählweise, die sich in durch den
fragmentierten Roman verteilten paradoxen Aussagen wiederfindet, herausgestellt, dass Sascha dies zunächst nicht aus ‚gewachsener‘ Überzeugung tut,
sondern um sich in Deutschland zugehörig fühlen zu können, denn „[j]ede
Nicht-Zugehörigkeit hat ihren Preis.“ (GV 121) Obwohl sich Sascha wohler
fühlt, wenn er nicht „Teil einer Schicksalsgemeinschaft“ ist (GV 121), sucht er
nach einem Ereignis, das es auch ihm ermöglicht, sich mit der Übertragbarkeit
von Schuld auf die Folgegenerationen auseinanderzusetzen. Aufgrund seiner
jüdischen Herkunft kann Sascha über die Geschehnisse zur Nazizeit höchstens
Wut oder Scham empfinden. Die Armenierdeportationen im Ersten Weltkrieg
allerdings haben aufgrund seiner türkischen Teilidentität Teilhabe-Potential.
Mein Weg würde mich also unweigerlich in die Vergangenheit führen. Ihre Vergegenwärtigung schien mir unvermeidbar. Plötzlich war ich kein Fremder mehr in Berlin. Ich
war hier nicht nur zu Hause. Ich gehörte dazu. (GV 47)
Seine Bemühungen tragen Früchte. Jetzt ist er nicht mehr fremd in Berlin,
sondern „gehört dazu“. Durch die erfolgreiche Integration in die deutsche
Gesellschaft und auch die erfolgreiche Organisation seiner Teilidentitäten ist
seine Integrität wiederhergestellt.
115
4.4 Vergangenheitsbewältigung als Motiv der deutschen Literatur
4.4 Vergangenheitsbewältigung als Motiv der deutschen Literatur?
In Deutschland – Heimat für Türken fragt der Essayist Şenocak, ob Immigration
nach Deutschland nicht auch die Immigration in die deutsche Vergangenheit
bedeute.426 In seinem Roman Gefährliche Verwandtschaft hat er eine solche Immigration thematisiert und dabei ist eine Zurechnung der Gefährlichen Verwandtschaft zum Genre der so genannten Väterliteratur427 angesichts des Rekurses
auf den Großvater nicht verwunderlich. Die Gefährliche Verwandtschaft ist aber
auch ‚Wendeliteratur‘.428 Die deutsche Wiedervereinigung ist ein zentrales Ereignis in der Geschichte der Bundesrepublik, das auch zu Saschas persönlichem Wendepunkt wird.429 (GV 118)
Claudia Mauelshagen grenzt die Autoren der Väterliteratur mit wenigen Ausnahmen auf die Jahrgänge zwischen 1930 und 1950 ein.430 Şenocak, der 1961
geboren wurde, befindet sich demnach eindeutig außerhalb dieses Rahmens –
zumal sich der Protagonist der Gefährlichen Verwandtschaft nicht mit dem Nationalsozialismus, sondern mit den Armenierdeportationen befasst, die rund 20
Jahre vor dem Beginn des Nationalsozialismus stattfanden.
Die besondere Leistung der Väterliteratur weist Mauelshagen wie folgt aus:
[S]ie [die Väterliteratur; Y.D.] arbeitet dem Vergessen entgegen, das dem politischen System ebenso wie der subjektiven Psyche eingeschrieben ist. Sie hebt den Nationalsozialismus mitten hinein in das konkrete Leben konkreter einzelner – etwas, wogegen sich die Verdrängungsanstrengung
der Deutschen mit am stärksten richtete – und spiegelt das
Vgl. Zafer Şenocak: Deutschland – Heimat für Türken. In: Zafer Şenocak: Atlas des tropischen
Deutschland. Berlin: Babel, 1993. S. 9-19. S. 16.
426
Vgl. Hall: Turkish, Jewish and German Identity in Zafer Şenocak's Gefährliche Verwandtschaft. S. 79. Neuerdings ist auch die Rede von „Großväterliteratur“. Dazu zählt Hall neben der Gefährlichen Verwandtschaft Werke wie Gert Hofmanns Der Kinoerzähler und Rachel Seifferts The Dark Room. Vgl. ebd. S. 80.
Vgl. dazu Gert Hofmann: Der Kinoerzähler. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1993. Rachel
Seiffert: The Dark Room. London: Vintage, 2002.
427
In diesem Sinne möchte auch Leslie A. Adelson die Gefährliche Verwandtschaft verstanden wissen.
Ihr zentrales Argument ist, dass in deutsch-türkischen Texten deutsche Geschichte aus neuen Perspektiven dargestellt werde, dies aber noch nicht genug Anerkennung fände. Vgl. Adelson: The
Turkish Turn in Contemporary German Literature and Memory Work. S. 327.
428
429 Vgl. Sascha selbst spricht explizit von einem persönlichen „Wendepunkt“ (GV 118) in Bezug auf
das kommende Jahr.
430 Vgl. Claudia Mauelshagen: Der Schatten des Vaters. Deutschsprachige Väterliteratur der siebziger und
achtziger Jahre. Frankfurt/Main: Peter Lang, 1995. S. 33.
116
4.4 Vergangenheitsbewältigung als Motiv der deutschen Literatur
Fortbestehen faschistoider Mentalität weit über 1945 hinaus. Das ist es im Wesentlichen, was sie leistet, und dies
kann nicht durch wissenschaftliche Theoriebildung ersetzt
werden.431
Die Gefährliche Verwandtschaft hebt weniger den Nationalsozialismus als vielmehr die Armenierdeportationen in das „konkrete Leben konkreter einzelner“.
Dennoch sind Parallelen zu erkennen, denn bei den Armenierdeportationen
handelt es sich um ein unbequemes Stück türkischer Geschichte, das noch
immer stark tabuisiert ist.
Zu den von Mauelshagen für die Väterliteratur zusammengetragenen typischen
Erzähltechniken gehört die Einflechtung von Dokumenten, die die Erinnerungen der Söhne und Töchter „ergänzen“ sollen.432 Der Tagebucheintrag des
Großvaters in der Gefährlichen Verwandtschaft lässt sich als solch ein eingeflochtenes Dokument lesen. Weiterhin lässt sich in der Gefährlichen Verwandtschaft
eine Vergangenheits- und eine Gegenwartsebene festmachen – laut Mauelshagen ein weiteres typisches Merkmal für das Genre der Vätertexte.433
Es ist in der Väterliteratur geradezu unüblich, die Gegenwartsebene auszuklammern. Meist werden die Erinnerungen [...] immer wieder durchbrochen von Erfahrungen,
Handlungen, Assoziationen, Gedanken und Reflexionen
des Ich bzw. der ‚Reflektorfigur‘ […] der ersten Handlungsebene. Beide Ebenen durchdringen sich auf diese
Weise und werden als sich gegenseitig bedingende auch in
der Form fassbar.434
Die Gefährliche Verwandtschaft macht nicht nur darauf aufmerksam, dass es eine
deutsch-türkisch-jüdische „geteilte Geschichte“435 gibt oder stellt nur Fragen
431 Mauelshagen: Der Schatten des Vaters. S. 54. Zur Väterliteratur vgl. auch Hinrich C. Seeba: Erfundene Vergangenheit. Zur Fiktionalität historischer Identitätsbildung in den Väter-Geschichten der Gegenwart. In:
Germanic Review 66 (1991) 4. S. 176-182.
432 Vgl. ebd. S. 108. Bezüglich der Erinnerung benutzt Hall den Begriff „memory“ zu oberflächlich.
Sascha habe keinen Zugang zu der Erinnerung seines Vaters. Richtiger müsste es heißen, dass er
keinen Zugang zu dessen Vergangenheit hat. Vgl. K. Hall: Turkish, Jewish and German Identity in Zafer
Şenocak's Gefährliche Verwandtschaft. S. 84. Somit schließt sie, dass Saschas Vergangenheitsbewältigung
ein Prozess sei, der durch individuelle Erinnerung und Imagination passiere. Dabei fasst sie den
Begriff „remembering“ zu weit. Sascha kann sich faktisch nicht an den Großvater erinnern, da er ihn
nie kennen gelernt hat. Er könnte sich nur an Erzählungen über den Großvater erinnern.
433
Vgl. Mauelshagen: Der Schatten des Vaters. S. 115.
434
Ebd. S. 116.
435
Zum Begriff der ‚geteilten Geschichte‘ vgl. Turk in Rekurs auf Bhatti: Philologische Grenzgänge. S. 234.
117
4.4 Vergangenheitsbewältigung als Motiv der deutschen Literatur
bezüglich der Immigration in die deutsche Vergangenheit. Als weiterer Aspekt
kommt hinzu, dass durch die Migration nach Deutschland auch die Vergangenheit der Migranten zu einem Teil der deutschen Vergangenheit wird:436
That the German-speaking voices of the author and narrator in Gefährliche Verwandtschaft have a Turkish as well as
a German history results in an interweaving of these histories in the German language. In the process, any simplistic
notion of German versus Turkish identity is destabilised;
the careful demarcation lines between the German and the
Turkish ‘other’ are blurred:437
Dennoch sollte man im Fall der Gefährlichen Verwandtschaft eher von Großväterliteratur sprechen, wie das Katharina Hall tut, denn im Fokus steht hier nicht
die Auseinandersetzung mit den Eltern, sondern die mit dem Großvater;438
vermuten lässt sich – mehr als eine gewollte Einreihung in das Genre der Väter- oder auch Großväterliteratur – eine ironische Auseinandersetzung mit
diesem Genre, die aus dem in der Gefährlichen Verwandtschaft ironisierten ‚deutschen Schuldbewusstsein‘ herrührt.
436 Vgl.: ,,I would […] suggest that Şenocak’s essays write a new subject of German remembrance
into being. This is less about the dangers of forgetting the past than it is about new conditions for
re-membering twentieth-century Germany in a present that Turks and Germans in the Federal
Republic already share.“ Adelson: The Turkish Turn in Contemporary German Literature and Memory Work.
S. 330.
437 Hall: Turkish, Jewish and German Identity in Zafer Şenocak's Gefährliche Verwandtschaft. S. 81. Vgl. auch: ,,If
Berlin as a site of German memory becomes an integral part of a split Turkish memory in the ‘tongue’
stories, can one also say that the split Turkish memory that Özdamar articulates becomes an integral
part of a German memory, one that is fractured and remembered in more than simply dichotomous
ways?“ Adelson: The Turkish Turn in Contemporary German Literature and Memory Work. S. 328.
438
Vgl. Hall: Turkish, Jewish and German Identity in Zafer Şenocak's Gefährliche Verwandtschaft. S. 80.
118
4.5 Zusammenfassung
4.5 Zusammenfassung
Gemeinhin wird die Gefährliche Verwandtschaft als Text gelesen, der die Hybridität von Identitäten darstellt:
[…] neither individuals nor groups are immutably fixed in
their identity as victims or perpetrators in every historical
or political situation […] identity is fluid and shifting.439
Obwohl es zweifellos richtig ist, dass die Gefährliche Verwandtschaft eine hybride deutsche Gesellschaft spiegelt, die auch die türkische und jüdische
Vergangenheit und Gegenwart in sich aufnimmt, hat die Figur Sascha das
Bedürfnis, sich zu fixieren.440 Dieses Verlangen wird oft überlesen. Würde
man den Roman im Sinne Roland Dollingers als Sinnbild für eine „hybride
Identität als persönliche Bereicherung“ lesen,441 schiene mir das zu eindimensional. Denn in der Gefährlichen Verwandtschaft geht es gerade nicht um das reine
‚Preisen‘ von Heterogenität und Fragmentiertheit (wenn auch um das Aufzeigen dieser), sondern gerade um den Umgang (sowohl den eigenen als auch den
anderer) mit multiplen Gruppenzugehörigkeiten. Gerade der Wunsch nach
Identifizierung, der in einer immer globaler werdenden Welt zu wachsen
scheint, wird aus meiner Sicht in der Gefährlichen Verwandtschaft thematisiert.
Keineswegs aber ist die Figur des Sascha Muhteschem ein Beispiel für eine
hybride Identität als positive Bereicherung:
Je verwischter und relativer die Grenzen zwischen den Kulturen sind, umso stärker wird die Sehnsucht nach einer klaren Beziehungsstruktur, nach einer Hausordnung, die die
Räume im eigenen Haus genau benennt und zuweist. Niemand will als schlechter Gastgeber gelten, oder gar in den
Ruf kommen, ungastlich zu sein, aber man möchte schon
wissen, wer bei einem ein und ausgeht.442
439
Ebd. S. 82.
Monika Shafi gehört zu den wenigen, die diese Meinung teilen: „His [Şenocaks] protagonist […]
remains entrenched in the German-Turkish divide he so ardently wishes to overcome, because his
search for origin leads to an unproductive, nostalgically inspired flight from the present.“ Shafi: Joint
Ventures: S. 195.
440
Roland Dollinger: Hybride Identitäten: Zafer Şenocaks Roman Gefährliche Verwandtschaft. In: Seminar 38
(2002) 1. S. 59-73. S. 62.
441
442
Şenocak: Zungenentfernungen. S. 47. Vgl. auch S. 1 dieser Arbeit.
119
4.5 Zusammenfassung
Şenocak kritisiert hier, dass „aus persönlichen Biographien Gruppenidentitäten
konstruiert [werden], die keineswegs mit der Wirklichkeit, mit unserer komplexen Wirklichkeit korrespondieren, bestenfalls holzschnittartige Vereinfachungen dieser Wirklichkeit sind“.443 Die Besonderheit jeder Individualbiografie
müsste beachtet werden. Şenocak konstatiert, dass man Sascha schwer „einstufen, einkasteln oder eingrenzen“ kann444. Zu dieser Selbstaussage Şenocaks
ergänzt Katharina Hall:
[H]is [Zafer Şenocak’s; Y.D.] aim is not to make Sascha representative of majority Turkish or Jewish German experience, but to point to other lived experiences precisely in order to question the idea of an identity that is representative.445
Hall räumt zwar ein, dass Şenocak wichtige Aussagen über türkische und
jüdisch-deutsche Identität treffe, vor allem aber konstruiere die Gefährliche Verwandtschaft eine „individual perspective, refracted through the narrator’s personal memory and experience, and articulated in the specific context of one
family’s history.“446
Diese Beobachtung wird von vielen geteilt, die die Übertragung einzelner Charakterzüge auf eine ganze Gruppe und, im weitesten Sinne deren Essenzialisierung, kritisch betrachten.447 So banal die Aussage zu sein scheint, so notwendig
ist sie, um solch eine Leseweise zu unterbinden. Tatsächlich erlaubt die Gefährliche Verwandtschaft eine essenzialisierende Lesehaltung nicht.
Wie fragmentiert Sascha Muhteschem auch immer ist und welche Rollen er
innerhalb der verschiedenen Gruppen, in denen er sich bewegt, auch einnimmt, es geht ihm um die Gewährleistung seiner Integrität. In Saschas Fall
bedeutet dies die Betonung der türkischen Täterseite und ein Zurücktreten der
jüdischen Opferseite. Persönliche Integrität bedarf – so wie auch die Integrität
von Nationalstaaten – der Anerkennung von außen, von generalisierten Ande443
Ebd. S. 47.
Ebenfalls in diesem Sinne liest Katharina Gerstenberger, die einen Vergleich mit Monika Marons
Pawels Briefe liefert, die Gefährliche Verwandtschaft. Vgl. Katharina Gerstenberger: Difficult Stories: Generation, Genealogy, Gender in Zafer Şenocak's Gefährliche Verwandtschaft and Monika Maron's Pawels' Briefe. In:
Stuart Taberner (Hg.): Recasting Identity in Contemporary Germany Columbia: Camden House,
2002. S. 235-249.
499
445
Hall: Turkish, Jewish and German Identity in Zafer Şenocak's Gefährliche Verwandtschaft. S. 74.
446
Ebd. S. 75.
447
Vgl. Caplan: Questions of Travel. S. 2. Vgl. S. 34f. dieser Arbeit.
120
4.5 Zusammenfassung
ren, um mit G.H. Mead zu sprechen. Diese Anerkennung wird aufgrund bestimmter Integritätsstandards gewährt oder verweigert. Sascha geht den Weg
der Anpassung und nicht den der „resistance identity“ (Castells).448 Er wehrt
sich nicht gegen die Herabwürdigung seiner Lebensweise (ohne Identität).
Dabei spielt die Gefährliche Verwandtschaft mit der Wählbarkeit von Identität
(Giddens).449 Sascha ist die Anerkennung seitens der Gesellschaft wichtig
(Honneth),450 wobei es ihm letztlich um seine Integrität geht und nicht nur um
seine Identität.
Zusammenfassend lassen sich in der Gefährlichen Verwandtschaft verschiedene
Bereiche erkennen, in denen Integrität relevant wird. Ausschlaggebend für die
Handlung ist zweifellos der Zusammenhang von Zugehörigkeit bzw. Integration und Integrität wie er in der Figur des Sascha Muhteschem exemplifiziert
wird. Dieser sieht seine persönliche Integrität gefährdet, weil er sich nach dem
Mauerfall, den er wegen eines Auslandsaufenthaltes nicht miterlebt hat, aus der
deutschen Gesellschaft ausgeschlossen fühlt. Über die Teilhabe am ‚Schuldkomplex‘ versucht er wieder ein akzeptierter Teil der deutschen Gesellschaft
zu werden und setzt sich deswegen mit den Armenierdeportationen während
des Ersten Weltkrieges und der Rolle seines Großvaters auseinander. Aspekte
der (ethnischen) kulturellen bzw. nationalen Integrität werden ebenfalls berührt. Die Thematik der Armenierdeportationen ist nicht zuletzt deswegen so
brisant, weil die körperliche Integrität und die Souveränität der Armenier als
Volk verletzt wurden.451 Integrität im moralischen Sinne kann man den Figuren im Roman nicht vorbehaltlos zusprechen. Weder die historische Figur des
Talat Pascha, der für die Armenierdeportationen verantwortlich war, noch der
Großvater, dem aus den Informationsbruchstücken, die über ihn existieren,
eine ähnliche Rolle zukommt, handeln gemäß zuletzt moralischer Integritätsstandards. Sie werten ihre politischen Hauptziele höher als moralische Integritätsstandards – was massive Integritätsverletzungen auf Seiten der Armenier
zur Folge hat.
Der Fall der Mauer hat die nationale Integrität Deutschlands wiederhergestellt.
In Bezug auf die Wiedervereinigung kann von einer restitutio in integrum,
einer Wiedereinstellung in den vorherigen Stand, gesprochen werden.452 Die
Teilung Deutschlands infolge des Zweiten Weltkrieges wurde sozusagen ungeschehen gemacht. Nicht zuletzt weil die Teilung auch eine Erinnerung an die
448
Vgl. dazu S. 85 dieser Arbeit.
449
Vgl. dazu Kapitel 3.6 dieser Arbeit.
450
Vgl. dazu Kapitel 3.8 dieser Arbeit.
451
Vgl. Honneth: Kampf um Anerkennung.
452
Vgl. dazu S. 81 dieser Arbeit.
121
4.5 Zusammenfassung
Kriegsschuld der Deutschen war, gab es Gegner der Wiedervereinigung. Die
Angst vor einem fremdenfeindlichen Großdeutschland sowie erste Anzeichen
von neuem Nationalgefühl und Ausgrenzung Fremder wird bei Şenocak thematisiert. Sascha Muhteschem wird nicht nur ausgegrenzt, weil er das Ereignis
des Mauerfalls versäumt hat, sondern auch, weil er einen fremd klingenden
Namen hat.
Auf die Konzeption des Romans bezogen, ist eine ästhetische Integrität nur
nach den Kriterien des postmodernen Romans vorhanden. Von einem Roman
zu sprechen, fällt bereits schwer. Şenocak löst sich kaum von seinem Essaystil.453 Anstatt epischer Ausmalung des Plots wird der Leser mit Bruchstücken
von Informationen, die sich teilweise auch widersprechen, und fragmentartigen Abschnitten konfrontiert. Ganz aus der Reihe fallen die Passagen, die wie
eine Reminiszenz an Zaimoğlus Kanak Sprak bzw. Kanaka Sprak454 erscheinen
und in denen sich Şenocak namentlich zu Wort meldet und über seine Erfahrungen als Schriftsteller in Deutschland sinniert. Die Konzeption des Romans
entspricht dem kritischen Umgang mit Geschichte und Wirklichkeit, der sich
in widersprüchlichen Aussagen auch in Bezug auf die Person des IchErzählers Sascha manifestiert. Einen kohärenten, zusammenhängenden, in
sich schlüssigen Roman, einen ästhetisch integren Roman á la Lukacs also,
kann der Schriftsteller Sascha Muhteschem auch dann nicht schreiben, wenn
er das Leben seines Großvaters erfindet.
Vgl. dazu „Ob nun sein neuestes Buch, ‚Gefährliche Verwandtschaft‘ tatsächlich ein Roman ist,
darüber liesse sich streiten, aber wozu? Was es so rar, um nicht zu sagen kostbar macht, ist nicht
Genre oder Form, sondern die Art, in der es Fragen aufwirft.“ Barbara Frischmuth: Der Blick des
Randgängers. In: Neue Zürcher Zeitung, 7.04.1999. Vgl. auch die Rezension von Nicholas Martin:
„Das Buch befasst sich nicht ausschließlich mit der Beziehung zwischen Deutschen und Türken,
sondern zeichnet ein reales Bild Deutschlands neun Jahre nach der Wiedervereinigung. Dieser Anspruch lässt das Buch streckenweise zum politischen Essay werden, gegen den der Romanteil des
Buches eindeutig abfällt.“ Nicholas Martin: Gefährliche Verwandtschaft. Ein Roman über die Beziehung von
Deutschen und Türken. In: Frankfurter Rundschau, 25.11.1998. Vgl. weiterhin die Kritik von Monika
Shafi, die bemängelt, dass die thematischen Ideen nicht in eine narrative Form transformiert werden
würden Vgl. Shafi: Joint Ventures. S. 210. Der Schriftsteller und Ich-Erzähler Sascha Muhteschem
scheint sich dessen bewusst zu sein. Vgl.: „Ich habe Geschichten, aber keine Details. Ohne Details
sind Geschichten sprachlos.“ (GV 93)
453
Nachdem Zaimoğlu kritisiert wurde, dass in Kanak Sprak nur Männer zu Wort kamen, veröffentlichte er Koppstoff. Feridun Zaimoglu: Koppstoff. Kanaka Sprak vom Rande der Gesellschaft. Hamburg:
Rotbuch, 1998.
454
122
5. „Im Theater bekam ich Applaus“ –
Integritätsverhandlungen in Özdamars Trilogie
Wir alle spielen Theater lautet der Kurztitel von Erving Goffmans The Presentation
of Self in Everyday Life im Deutschen.455 Während der englische Titel informativer ist und Hauptpunkte der von Goffman postulierten Aspekte anspricht –
nämlich die tägliche Selbstrepräsentation vor Interaktionspartnern – lässt der
deutsche Titel mehr Raum zu Interpretationen: so könnte u.a. gemeint sein,
dass jeder Mensch bestimmte Identitäten zu bestimmten Zeiten vorspielt, wie
beispielsweise Sascha oder die Figur des Großvaters in der Gefährlichen Verwandtschaft. Dann wären ‚wir Theaterspieler‘ und als solche weder identisch mit
uns selbst, noch wären wir integer im allgemeinsprachlichen Sinn von ehrlich.
‚Theater spielen‘ impliziert eine spielerische Loslösung von der Wirklichkeit.
Bei Goffman geht es allerdings weniger um den Aspekt des ‚etwas Vorma-
Vgl. Erving Goffman: Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag. München: Piper,
1969; Ders.: The Presentation of Self in Everyday Life. Edinburgh: University of Edinburgh Press, 1956.
455
123
5. Integritätsverhandlungen in Özdamars Trilogie
chens‘, sondern um eine partielle Übertragung der Theatermetaphorik auf
alltägliche Interaktionsprozesse. Wichtig ist dabei, dass die Selbstinszenierung
der Zuschauer bedarf, um zu gelingen.456
Emine Sevgi Özdamars Leben und Werk ist eng mit dem ‚Theaterspiel‘ verwoben – was es teilweise schwierig macht, zwischen der Autorfigur und der
Erzählerin ihrer Texte zu unterscheiden. Geht man vom Gesamtwerk Özdamars aus, so lässt sich die These aufstellen, dass die Protagonistin der Karawanserei (und der Trilogie insgesamt457) sich zwischen ihren Teilidentitäten nicht
für eine kulturelle oder nationale Seite entscheidet, sondern für das Theater.458
Um der Theater-Leidenschaft willen zieht es sie nach Deutschland. Ein Drang,
sich in Bezug auf die Zugehörigkeit zu einem ethnischen oder nationalen Kollektiv zu identifizieren, lässt sich Özdamars poetischen Texten nicht ablesen.
Verschiedene Teilidentitäten vereint die Protagonistin spielerisch, was seinen
Ausdruck in der von der Theaterarbeit geprägten szenischen Erzählweise findet. Die Erzählerin der Karawanserei und der Folgewerke verbindet ihre unterschiedlichen Teilidentitäten zu einer positiven Synthese. Sie wahrt dadurch ihre
Integrität, ohne sich auf klare Zuordnungen zu kulturellen, ethnischen oder
nationalen Kollektiven einzulassen.459 Diese Syntheseleistung äußert sich in
einem hybriden Sprachgebrauch. Neben dem Aspekt der Sprache soll im Folgenden allerdings auch auf Integritätsverletzungen persönlicher und kollektiver
Art eingegangen werden.
Dass die Protagonistin stark von ihrer Theaterarbeit beeinflusst ist, offenbart
sich auch in ihrem Erzählstil. Geschichtliche Ereignisse werden nicht nur erzählerisch in den Text eingewoben (‚emplotment‘), sondern auch wie auf einer
456 Goffmans Gesichtspunkt findet sich unter anderem in Meads Theorie (die Selbstinszenierung
findet vor einem „generalized other“ statt) oder in der von Giddens proklamierten persönlichen
‚Flugbahn‘ wieder. Vgl. dazu Kapitel 3.1 und 3.6 dieser Arbeit. Als Performanzen können auch
rituelle Handlungen anhand der inhärenten Symbolik analysiert werden. Zur „performativen Wende“
in der Ethnologie vgl. Bachmann-Medick: Kultur als Text. S. 27.
457 Der Lebensweg der Heldin der Karawanserei wird in einer Trilogie erzählt. Zu dieser gehören Das
Leben ist eine Karawanserei (im Folgenden abgekürzt als Karawanserei, bzw. als K bei Zitatangaben), Die
Brücke vom Goldenen Horn (Im Folgenden abgekürzt als Brücke bzw. B) und Seltsame Sterne starren zur
Erde (Im Folgenden abgekürzt durch Sterne bzw. S); Vgl.: Emine Sevgi Özdamar: Das Leben ist eine
Karawanserei hat zwei Türen aus einer kam ich rein aus der anderen ging ich raus. Köln: Kiepenheuer &
Witsch, 1994. Vgl. Dies.: Die Brücke vom Goldenen Horn. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1998. Dies.:
Seltsame Sterne starren zur Erde. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2003.
Stephanie Bird nach nehme Özdamar keine Stellung zu nationalen Kollektiven, weil sie ganz
allgemein die Abhängigkeit der Identität von nationalen Zugehörigkeiten hinterfrage. Dass es für die
Hauptfigur der Özdamar’schen Werke ein anderes Organisationselement, das Theater, gibt, lässt sie
dabei außer Acht. Vgl. Stephanie Bird: National Identity. Bachmann, Duden, Özdamar. Cambridge: Cambridge University Press, 2003. S. 164.
458
Das äußert sich beispielsweise darin, dass sie als junge Arbeiterin auf die Frage nach ihrer Herkunft antwortet: „From the north pole, we are eskimos, our sledges are outside.“ (B 41)
459
124
5.1 Gewährleistung der Integrität durch Theater
Bühne mithilfe von Requisiten inszeniert (‚enactment‘). Dabei implizieren ihre
Texte immer mehr oder weniger subtile politische Stellungnahmen, die diskursiven Charakter haben (‚commitment‘).460 In der Brücke vom goldenen Horn ist es
ein distanzierter Blick auf die 68er-Bewegung, der die Protagonistin auf deutscher und türkischer Seite angehört. In Seltsame Sterne starren zur Erde ist es die
links-alternative Szene, deren Lebensstil mit einem Augenzwinkern beschrieben wird, im Gegensatz zur Theaterwelt, deren Beschreibung stets ein bewundernder Ton anhaftet. In der Karawanserei sind es die geschichtlichen Ereignisse
um den türkischen Befreiungskampf und nach der Republikgründung, die die
Protagonistin aus Erzählungen ihres Großvaters und eines Onkels erfährt.
Dabei erzählen diese beiden nicht nur, sie inszenieren das Erzählte auch. Insbesondere Mehmet Ali Bey veranstaltet zur Darlegung seiner Gedanken eine
regelrechte Performance. Die Verfahren des ‚emplotment‘, ‚enactment‘ und
‚commitment‘ sollen in diesem Kapitel als Strukturelemente dienen, wenn es
um die Gewährleistung der Integrität durch Geschichte in der Karawanserei
geht.
Bevor jedoch auf das ‚emplotment‘ und ‚enactment‘ geschichtlicher Ereignisse
in der Karawanserei (auch Integritätsverletzungen werden in diesen thematisiert)
eingegangen wird – die Ebene des ‚commitment‘ wird in einem eigenen Abschnitt zu den Aussagen des Textes über deutsches imperialistisches Interesse
am Orient in den Blick genommen – soll zunächst die Rolle der Theaterarbeit
für die Integrität der Protagonistin in Bezug auf die gesamte Trilogie dargestellt werden. In Abschnitt 5.2 soll der Zusammenhang von Sprache und Integrität beleuchtet werden.
5.1 Gewährleistung der Integrität durch Theater
Ich werde nie aufgeben. Ich werde wie Molière spielen, inszenieren, schreiben. (S 131)
Ihre erste Begegnung mit der Produktionsseite des Theaters hat die Protagonistin der Karawanserei, als in ihrer Schule ein Theaterstück inszeniert und ihr
eine Rolle in Molières Der eingebildete Kranke angeboten wird. Kurz nach dieser
ersten Theatererfahrung zählt sie sich zum Kollektiv der Schauspieler: „Wir
Schauspieler gingen in einen Laden, er [ein Mitspieler; Y.D.] bestellte uns allen
Toast, deswegen liebte ich Molière.“ [Meine Hervorhebung; Y.D.] (K 269)
460 Die Begriffe ‚emplotment‘, ‚enactment‘ und ‚commitment‘ übernehme ich zur Beschreibung des
Özdamar’schen Erzählverfahrens von Horst Turk. Vgl. Turk: Philologische Grenzgänge. S. 140-157.
125
5.1 Gewährleistung der Integrität durch Theater
Die Schauspielerei bringt ihr nicht nur kostenlosen Toast, sondern auch die
Gunst der reichen Mädchen in ihrer Schule ein (sie wird in deren „Mädchengruppe“ (K 269) aufgenommen) – bald hat sie ihre erste Anstellung am Staatstheater von Bursa und kann ihre Eltern finanziell unterstützen. Die Theaterwelt fasziniert sie. Die Gerüche der staubigen Stühle und der Äther, mit dem
eine ohnmächtige Schauspielerin wieder zu Bewusstsein geholt wird, sind für
sie typische Zeichen der Theaterwelt und sie beschließt zum Kreis der „richtige[n] Schauspieler“ (K 273) aufzusteigen:
Ich liebte diesen Geruch, man sagte, es sei Äther. Ich liebte
es, und als ich in der Nacht wieder über die heilige Brücke
nach Hause lief, schwor ich mir, dass ich später in meinem
Leben Schauspielerin werde. (K 273)
Von diesem Tag an schließt die Protagonistin auch Molière in ihre Totengebete mit ein.461 Dieser erste Identitätsentwurf reift zu einem Lebensprojekt, das
in Form einer Lebensbiographie der Protagonistin der Trilogie erzählt wird.462
Dass es der Wunsch ist, Schauspielerin zu werden, der sie zu dem Entschluss
bringt, als Arbeiterin nach Deutschland zu gehen, erfährt man erst im zweiten
Teil der Trilogie. Die Karawanserei endet, als sich die Protagonistin im Zug nach
Deutschland befindet. Im Folgeband, der Brücke vom Goldenen Horn, setzt die
Handlung in Berlin an, aber bereits auf der zweiten Seite erfährt der Leser in
einer Rückblende mehr über die Motivation der Protagonistin nach Deutschland zu reisen und vom Widerstand ihrer Eltern.
Als die Protagonistin wegen ihrer Arbeit am Jugendtheater nicht mehr die
erforderlichen schulischen Leistungen erbringt, bekommt sie nur noch „Applaus am Theater“ (B 12), aber nicht zu Hause von ihrer Mutter:
»Kann jetzt Shakespeare oder Molière dir helfen? Theater
hat dein Leben verbrannt.«
»Theater ist mein Leben, wie kann mein Leben sich selbst
verbrennen? Jerry Lewis hat auch kein Abitur gemacht,
aber du liebst ihn, Mutter. Auch Harold Pinter hat für das
Theater die Schule verlassen.«
»Die heißen aber Jerry Lewis und Harold Pinter.«
»Ich werde in die Schauspielschule gehen.« (B 13)
Von ihrer Großmutter hat die Protagonistin die Angewohnheit übernommen, vor dem zu Bett
gehen für die Toten zu beten. Da sie dabei wirklich alle Toten, die ihr einfallen, einschließt, haben
die Aufzählungen, die sich teilweise über zwei Druckseiten erstrecken einen komischen Effekt.
(Vgl. K 320-322)
461
462
Zur Begrifflichkeit vgl. Kapitel 3.7 dieser Arbeit.
126
5.1 Gewährleistung der Integrität durch Theater
Als ihre Mutter sie anfleht, Abitur zu machen und ihr nahe legt, Anwältin zu
werden („Anwälte sind wie Schauspieler, aber sie verhungern nicht, was meinst
du?“ (B 13)), antwortet die Protagonistin mit türkischem Shakespeare: „Adi
olmayan cinsten bir ruhum.“ (Ich bin ein Geist nicht von gemeinem Stande.)463 (B 13) Auf die Frage des Vaters, warum die Tochter die Eltern „zu harten Reden“ zwinge, weiß auch Shakespeare Antwort:
»Ich werd‘ erstaunt euch Antwort geben.
Die schöne Helene verriet mir ihren Plan,
Aus diesem Wald zu flüchten.« (B 14)
Als die Protagonistin in den Zeitungen liest, dass Deutschland weitere türkische Arbeitnehmer sucht, fasst sie den Entschluss nach Deutschland zu gehen:
„Ich dachte, ich werde nach Deutschland gehen, ein Jahr arbeiten, dann werde
ich die Schauspielschule besuchen.“ (B 14)
Der Wunsch, Schauspielerin zu werden, ist so stark, dass sie mit 18 Jahren
ohne Schulabschluss nach Deutschland geht, um Geld zu verdienen, sich ihrer
Familie gegenüber vollkommen autonom verhält und für ihre weitere Autonomie die finanzielle Unabhängigkeit (ökonomische Integrität) anstrebt. Im
Theater bekommt sie Applaus. Das ist die Anerkennung, die ihr am Wichtigsten ist. Ihre persönliche Integrität zieht sie somit hauptsächlich aus der Theaterarbeit. Die Anerkennung für ihre Leistungen am Theater, die ihre Eltern ihr
verwehren bzw. den Schulleistungen gegenüber weniger wert schätzen, erhält
sie von der großen internationalen ‚Theaterfamilie‘. Andere Teilidentitäten
werden dem Bereich Theater untergeordnet. Mit Snow könnte die Strategie
der Protagonistin als „identity extension“ bezeichnet werden.464 Die Migrationserfahrung wird nicht als problematisch dargestellt, weil die Theaterarbeit
(als das Hauptlebensziel) die Mehrfachzugehörigkeiten zu kulturellen und nationalen Kollektiven in dem Sinn organisiert, dass diese im Lebensentwurf der
Protagonistin kaum Relevanz haben.
Zufällig ist auch der Heimleiter in dem „Wonaym“ (B 16), in dem die Protagonistin in Berlin wohnt, ein Schauspieler:
Er ging tagsüber zu einem deutschen Theater, um sich
Proben anzugucken, das Theater hieß »Berliner Ensemble«.
Wenn er mit seiner Frau redete, sagte er »Brecht. . .Weill. . .
Helene Weigel. . . Die Helene hat mir heute gesagt. . Ich
habe Helene gesagt . . . «. Wenn ich in der Nacht im Bett
463
Dabei handelt es sich um ein Zitat aus Shakespeares Sommernachtstraum.
464
Vgl. Kapitel 3.7 dieser Arbeit.
127
5.1 Gewährleistung der Integrität durch Theater
lag und an meine Mutter dachte, dachte ich auch an die Helene, ich übte ihren Namen: Helene Weigel.“ (B 35)
Wenn in der Brücke auch Stationen der Schauspielausbildung wiedergegeben
werden, so ist das eigentliche ‚Theaterbuch‘ Seltsame Sterne starren zur Erde. Hier
wird das Theater zum zentralen Handlungsort. Der Roman spielt 1976/77 zu
Özdamars Zeit an der Ostberliner Volksbühne. Der Text ist durchzogen mit
Notizen und Zeichnungen, die Özdamar zu dieser Zeit angefertigt hat – was
die Ebenen der Autor- und Erzählfigur verwischt – und teilweise in Tagebuchform geschrieben. Diese Form wählt die Erzählerin nachdem sie Benno Besson persönlich kennen lernt und damit ein Traum in Erfüllung geht.465
Der Roman schließt an die Brücke an und beschreibt Özdamars zweiten Lebensabschnitt in Deutschland. Das Theater und Theaterleute bewundert die
Protagonistin. Mit ihnen identifiziert sie sich und nimmt dabei auch Identifikationssymbole in Kauf, die ihr körperliches Wohlbefinden stören:466
Auf dem Eis lag eine DDR-Zigarettenschachtel der Marke
CABINET. Diese Marke rauchte auch ich, ich kriegte immer Kopfweh davon, aber ich rauchte sie weiter, weil viele
Schauspieler an der Volksbühne diese Marke rauchten. So
hatten wir die gleichen Kopfschmerzen. (S 20)
Als die Protagonistin sich erneut auf den Weg nach Deutschland macht,467 um
bei Benno Besson zu hospitieren, liest sie auf der Fahrt in einem Buch über
den Regisseur. Immer, wenn sie beginnt, an ihren Ex-Mann zu denken, vertieft
Vgl.: „Auf dem Korridor sah ich Benno Besson. Er gab mir die Hand, in der anderen hielt er eine
Schachtel Gauloises. Als er ging, sah ich ihm nach, als ob ich in einem Traum wäre, der Traum, den
ich in der Türkei gehabt hatte.
Diesen Traum wollte ich aufschreiben und begann in den Nächten, ein Tagebuch zu führen.“ (S 84)
465
Die Bedeutung, die Zigarettenmarken als Identifikationssymbol zukommt, wird an mehreren
Stellen angeführt. So wird die Protagonistin in ihre Westberliner Wohngemeinschaft aufgrund ihrer
präferierten Zigarettenmarke aufgenommen. Vgl.: „Von mir aus kannst du sofort hier wohnen, aber
nicht, weil du abgewaschen hast, sondern weil du Gauloise ohne Filter rauchst.“ (S 53) Nachdem sie
Besson nach Paris gefolgt ist, schaut sie beim Abendessen „dauernd auf die blaue Schachtel Gauloise“ (S 245), als ob diese Zigarettenmarke das schicksalhafte Element darstellt, das Besson und sie
verbindet. Schon bei einer ihrer ersten Begegnungen mit Besson hatte sie festgestellt: „Besson rauchte Gauloise ohne Filter, wie ich.“ (S 40) Für theoretische Implikationen der Objektidentifikation
vergleiche auch Kapitel 6.
466
Nach dem Sprachaufenthalt fährt die Protagonistin erneut nach Berlin, arbeitet zunächst bei
Siemens, schlägt sich dann mit Gelegenheitsjobs durch und besucht eine Schauspielschule, bis sie
wegen einer (wie sie später erfährt vom Vater vorgetäuschten) Krankheit ihrer Mutter zurück in die
Türkei fährt, und die Schauspielschule dort besucht. In beiden Ländern lebt sie mit Aktivisten der
68er-Bewegung zusammen.
467
128
5.1 Gewährleistung der Integrität durch Theater
sie sich schnell in das Buch (S 31). Den DDR-Grenzbeamten im Zug erklärt
sie: „Ich liebe Brecht.“ (S 31) Und in Westberlin angekommen, überquert sie
sofort die Grenze nach Ostberlin, um zur Volksbühne zu gehen. An der
Grenze nennt sie ihren Einreisegrund: „Ich gehe zu Besson.“ (S 33) Mit einem
Empfehlungsschreiben stellt sie sich Benno Besson vor und erhält eine Zusage
über eine Hospitanz in einem Heiner-Müller-Stück.
Als ich zum Grenzübergang Friedrichstraße zurückging,
wurde mir leichter und leichter, meine Arme waren Flügel
geworden, ich war ein Vogel, der über Ostberlin fliegen
würde, der sich alle Straßen, über die Brecht und Besson je
gelaufen sind, anschauen und vor Freude lachen wird. Kikeriki, kikeriki. (S 34)
In Verbindung mit dem Theater hält dieses Glücksgefühl an und wird durch
besondere Ereignisse noch gesteigert. Zu diesen gehören die anerkennenden
Äußerungen ihrer Kollegen, ihre Rolle in den Bauern von Heiner Müller und
zuletzt das Angebot einer Assistentenstelle bei Benno Besson. Als sie Bessons
erste Assistentin wird, schreibt sie: „Mein Traum ist jetzt Wahrheit geworden.“
(S 180). Als ihre Mitbewohnerin Gabi Gysi und deren Vater über die Politik
der DDR diskutieren und Gabi eine kritische Haltung einnimmt, wirft die Protagonistin ihr entgegen: „Aber ich bin hier am Theater glücklich geworden.“ (S
182) Zwar hat die politische Lage in der Türkei sie aus dem Land getrieben,
doch politische Probleme der DDR fallen ihr nicht ins Auge. Im Vordergrund
steht ihre Zufriedenheit mit der Theaterarbeit. Diese findet auch Ausdruck,
wenn der Schauspieler Ekkehard Schall, Brechts Schwiegersohn, sie im Publikum anspricht und sie daraufhin „vor guter Laune“ fast „platzt“ (S 115).468
Die Anerkennung ihrer Kollegen ist ihr sehr wichtig. An dieser wächst sie:
„Jeden Tag Probe, der Respekt meiner Kollegen hat mich verändert, ich werde
mutiger, meine Kollegen begrüßen mich mit: »Guten Tag, Schönheit des Südens«“469 (S 104) Auch, dass sie Besson assistiert und sich von ihm gebraucht
468 Vgl. auch: „Besson wird Die heilige Johanna der Schlachthöfe inszenieren. Ich werde wieder
seine Assistentin. Vor Freude habe ich die Alte von nebenan auf meinen Rücken geladen und bin
mit ihr in der Wohnung herumgegangen.“ (S 232)
469 Oft wird die Anerkennung der Schönheit der Protagonistin thematisiert. Vgl. auch: „Ich gefalle
Heiner Müller. Wie Besson flirtet er mit mir, ganz offen, er bleibt stehen, sieht mich an. Seine kleinen grauen Augen, seine klugen, wie verrückt klugen und beobachtenden Augen.“ (S 118). Die
Implikationen, die das in Bezug auf die Protagonistin in ihrer Rolle als Frau, insbesondere als ‚exotische‘ Frau hat, sind durchaus kritisch zu betrachten. Für die Protagonistin allerdings scheint jede Art
der Anerkennung, die von der ‚Theaterfamilie‘ ausgeht, positiv konnotiert zu sein.
129
5.1 Gewährleistung der Integrität durch Theater
fühlt, verstärkt dieses Gefühl der vollkommenen Anerkennung und Akzeptanz
im Theatermilieu.470
Das Theater ist für die Protagonistin zentrale Anlaufstelle, ihr Zuhause, wenn
man so will. Wenn sie aufgrund ihrer Wohnsituation nicht weiß, wo sie die
Nacht verbringen soll, geht sie zum Theater und schläft dort sogar einige
Nächte in einem Liegestuhl in der Theatersauna.
Der Faszination für das Theater liegt eine Faszination für Brecht zugrunde.
Deswegen wiegen die lobenden Worte von Matthias Langhoff besonders
stark:
»Brecht hätte gerne eine Mitarbeiterin wie dich gehabt. Ich
werde mit der Verwaltung reden, du musst offiziell einen
Vertrag als Mitarbeiterin bekommen.« Mein Herz klopfte.
Ich ging hoch zum Gymnastikraum und trainierte eine
Stunde. (S 151)
In ihren Gedanken spricht die Protagonistin mit Brecht direkt und vertraut
ihm an: „Brecht, als du starbst, war ich 10 Jahre alt. Ich habe von dir geträumt,
vor ein paar Wochen.“ (S 115) In diesem Traum wird sie zunächst von türkischen Faschisten bedroht, befindet sich dann aber in einem langen Raum, in
dem Brecht in einem Bett liegt. Zu Helene Weigel, die auf einem Stuhl am Bett
sitzt, sagt sie: „Ich möchte mit Brecht reden.“ (S 115) Als diese antwortet,
Brecht sei tot, kann sie Helene Weigel davon überzeugen, dass Brecht nur
schläft. Daraufhin rüttelt Weigel ihn wach. Brecht beschützt sie also vor den
Faschisten und lebt in der Theaterarbeit weiter fort. Er ist für die Protagonistin lebenswichtig. Deswegen ist es für sie elementar, dass sie die Theaterarbeit
fortsetzen kann:
Ich habe Angst, in die Türkei zurückgehen zu müssen.
Wenn ich nicht am Theater arbeiten kann, ist es aus mit
mir. Wenn ich in Istanbul am Theater arbeiten könnte,
würde ich zurückgehen. (S 124)
In Deutschland zu leben, wird zu einem „Beruf“ für die Protagonistin: „Bald
wird Hamlet vorbei sein. Was mache ich dann? […] In Deutschland zu leben,
ist ein Beruf.“ (S 213) Trotz der Einsamkeit, die sie manchmal empfindet und
in der sie sich immer wieder vergegenwärtigen muss, warum sie in Ostberlin ist
(vgl. S 186), ist ihr Beruf, das Theater, ihr wichtiger als ein Mann in ihrem Leben:
470
Vgl.: „Ich helfe Benno Besson. Mir geht es gut. Mir geht es sehr gut. Er braucht mich.“ (S 195)
130
5.1 Gewährleistung der Integrität durch Theater
Die Arbeit ist immer da, bei einem Mann kannst du in der
Nacht vorbeigehen und wieder weggehen. Ich bin stark wie
Eisen. Ich werde mir heute abend Bessons Der gute
Mensch von Sezuan zum zwölften Mal anschauen. Ich muß
alle Bilder auswendig lernen. (S 121)471
Im Umgang mit Männern verschreibt sie sich selbst „Gefühlstraining“ und
nimmt sich, wie so oft, Brecht zum Vorbild:
Brecht hatte auch viele Geliebte, aber die Arbeit hat er nie
aufgegeben. Wer weiß, wie viel Gefühlstraining er gemacht
hat. Vielleicht war alles Material für seine Stücke und Bücher. Er hat einfach die Verhaltensweisen der Geliebten
und seine eigenen Widersprüche beobachtet. Er hat sich
nicht hergegeben. (S 131f.)
Obwohl sie sich nicht Männern, sondern „dem Theater schön […] zeigen“ will
(S 125), spielen Liebe und Sexualität eine große Rolle im Werk Özdamars –
teilweise auch in Verbindung mit ihrer Theaterarbeit. So beschließt sie ihre
Jungfräulichkeit, ihren „Diamanten“ (B 54), zu verlieren, nicht weil sie verliebt
oder neugierig ist, sondern weil sie gelernt hat, dass sie sich von diesem befreien müsse, um eine gute Schauspielerin werden zu können. Scheinbar nur um
diesen „Diamanten“ zu verlieren, geht sie, nach ihren ersten Erfahrungen als
Arbeiterin, erneut nach Deutschland; diesmal belegt sie einen Sprachkurs am
Goethe-Institut:
Ich wollte Deutsch lernen und mich dann in Deutschland
von meinem Diamanten befreien, um eine gute Schauspielerin zu werden. Hier müßte ich jeden Abend nach Hause
und in die Augen meiner Eltern schauen. In Deutschland
nicht. (B 108)
Der Verlust des „Diamanten“ wird zum Integritätsstandard, der den endgültigen Eintritt in die Theaterwelt bedeutet. Gleichzeitig kann es zu einem Bruch
mit den Eltern kommen, denn in deren, an traditionellen Rollenbildern orientierter, Weltsicht gilt gerade die Jungfräulichkeit ihrer unverheirateten Tochter
als Integritätsstandard. Indem die Protagonistin es vermeidet, ihren Eltern „in
die Augen“ zu sehen, verschweigt sie ihnen Aspekte ihres Lebensentwurfs und
fügt sich somit nicht der von Krappmann geforderten Transparenz in Bezug
471 Vgl. auch: „Alle Männer am Theater sind verheiratet, schade. Ich möchte aber am Theater mit
niemandem ein Verhältnis anfangen, es würde meiner Arbeit schaden. Ich sage mir »Vorsicht!«.“ (S 90)
131
5.1 Gewährleistung der Integrität durch Theater
auf die eigene Identität.472 Negative Auswirkungen hat das jedoch entgegen
Krappmanns Behauptung weder auf ihre Identität, noch auf ihre Integrität. Eine
Schwangerschaft passt ihrer Auffassung nach ebenfalls nicht in das Bild einer
Schauspielerin: „eine Schauspielerin durfte niemals schwanger sein.“ (B 169)
Im November 1977 bietet Besson ihr eine Zusammenarbeit in Paris an. Er
wird den Kaukasischen Kreidekreis inszenieren, bei dem er selbst Brecht assistiert
hatte.473 Die Protagonistin verdient sich mit Gelegenheitsjobs das Geld für die
Reise nach Frankreich. Vor ihrer Abreise besucht sie ihren Freund Steve in
Kopenhagen.
28. Dezember 1977 [...]
Er [Steve. Y.D.] träumt davon, mich zu heiraten und mit
mir ein Jahr lang durch Amerika zu reisen.
29. Dezember 1977
Ich werde Besson treu bleiben. (S 244f.)
Als ob sie mit Besson eine intime sexuelle Beziehung verbinden würde, spricht
sie in Bezug auf ihn von Treue. Wieder entscheidet sie sich für das Theater
und gegen einen Mann. Insofern dient das Theater im Leben der Protagonistin
in gewisser Weise als Organisationsfaktor unterschiedlicher Teilidentitäten,
von denen sich eine auch in dem Wunsch nach Zweisamkeit ausdrücken kann.
Auch wenn das Leben der Protagonistin bunt und erlebnisreich verläuft, orientiert sich der Handlungsverlauf an der Theaterleidenschaft. In Özdamars Trilogie, insbesondere in der Karawanserei spiegelt sich zwar eine äußerst heterogene Welt, was die einschlägige Fachliteratur in ihrem Urteil über die Vielstimmigkeit474 und Hybridität der im Roman dargestellten Welt und der Protagonistin bestätigt.475 Ohne Orientierungskompetenz lässt sich dieses Leben
dennoch nicht bewältigen. Die Identifizierung mit dem Theater ist eine von
vielen anderen Möglichkeiten, die der Protagonistin zur Wahl standen. Eine
Entscheidung im Sinne einer Zugehörigkeit zu einem Kollektiv, dem Theater-
472
Vgl. S. 50 dieser Arbeit.
Vgl.: „Ich war bei diesem Stück Assistent von Brecht in Berlin. Du musst mich von den Bildern,
die ich von Brechts Inszenierung habe, entführen. Du musst hier mein Schatten werden und verhindern, dass ich zu den alten Bildern zurückkehre.“ (S 247)
473
474 Vgl.: „With ist multitude of interwoven characters and stories from different cultural spheres, the
novel reflects the complexity of Turkish society and suggests the notion of culture and ist history as
an uneven, incomplete production of meanings.“ Margrit Frölich: Reinventions of Turkey. S . 61.
Vgl. dazu Kader Konuk: Das Leben ist eine Karawanserei. Heim-at bei Emine Sevgi Özdamar. In: Gisela
Ecker (Hg.): Kein Land in Sicht: Heimat – weiblich?. München: Fink, 1997. S. 143-158. S. 157.
475
132
5.2 Gewährleistung der Integrität durch Sprache
kollektiv, ist jedoch gefallen. Insofern reicht das bloße Feststellen von Hybridität nicht vollständig aus, um Özdamars Schaffen zu beschreiben. Die Protagonistin ist, ebenso wie die Figuren in den anderen in dieser Arbeit untersuchten
Texten, um die Herstellung bzw. Gewinnung ihrer Integrität bemüht. Wie
diese auch durch Sprache gewährleistet wird, ist Thema des nächsten Abschnitts.
5.2 Gewährleistung der Integrität durch Sprache
In Özdamars Werken spielt Sprache eine wichtige Rolle. Das oft beachtete
hybride Sprachgemisch, das sowohl viel Lob als auch vereinzelt Kritik geerntet
hat,476 ist charakteristisch für die Werke Özdamars, nimmt allerdings in Die
Brücke vom Goldenen Horn und in Seltsame Sterne starren zur Erde weniger Raum
ein. Die Karawanserei ist in deutscher Sprache verfasst, aber so stark von Elementen der türkischen Sprache durchdrungen, dass ein Sprachengemisch entstanden ist, in dem sich keine klaren Grenzen ziehen lassen. Göktürk spricht
von einem „oszillierende[n] Spiel zwischen den Sprachen“ und von einer eigenwillige[n] Verdeutschung türkischer Redewendungen“.477 Dabei steht vor
allem die türkische Alltagssprache mit ihren Redewendungen, Sprichwörtern,
Floskeln und Bildern im Mittelpunkt, aber auch deren Spannung zum Hochtürkischen. In der hybriden Sprache der Erzählerin manifestiert sich nicht nur
eine Synthese ihrer türkischen und deutschen Teilidentitäten, sondern auch
eine Synthese ihrer türkischen Teilidentitäten und – wenn man der Sprachenmischung genauer auf den Grund geht – geradezu eine literarisch-fiktionale
Restitution des Mediums, das die persönliche Integrität wie die Integrität des
Kollektivs nicht allein, wohl aber zu einem hohen Anteil zu gewährleisten hat,
Juan Goytisolo würdigt insbesondere ihre Hybridität. Vgl.: „Written in her adoptive language –
though shot through with Turkish phrases, proverbs, greetings and exclamations – her novel gallops
astride both cultures. Unlike other writers who have settled in Europe, she doesn’t package Turkey
in German for Germans from a facile and picturesque „orientalist“ perspective; via her own hybrid
and complex language, she relates the vicissitudes of modern Turkey […]“. Juan Goytisolo: In:
Times Literary Supplement (,,International Books of the Year"). 2.12.1994. Für Marcel ReichRanicki hingegen handelt es sich bei Özdamars Sprache lediglich um Übersetzungen, durch die für
den deutschen Leser ein „exotischer Reiz“ entstehe. In der Besprechung des Romans Die Brücke vom
Goldenen Horn im Literarischen Quartett zieht er einen Vergleich zwischen Arthur Koestler und Özdamar: „Arthur Koestler hat in seiner Autobiographie mal geschrieben als er nach Deutschland kam
[…] waren die Verlagslektoren hingerissen: ‚Was für fabelhafte Bilder!‘ Der sagt: ‚Das waren wörtliche Übersetzungen aus dem Ungarischen. Was ich da übersetzt habe in ungarischen Bildern schien
den Deutschen fabelhaft.‘ Es hat einen exotischen Reiz, diese Sprache.“ Das Literarische Quartett
wurde am 06.06.1998 im ZDF ausgestrahlt.
476
477
Deniz Göktürk: Muttikülturelle Zungenbrecher. S. 79.
133
5.2 Gewährleistung der Integrität durch Sprache
ohne selbst in dem dafür erforderlichen Ausmaß integer zu sein. Die Erzählerin gewährleistet ihre persönliche Integrität und bis zu einem gewissen Grad
auch die Integrität des Kollektivs durch eine Synthese der Sprachen, deren
Effektivität auf der Ebene des ‚plots’ an der Handlungsfähigkeit der Protagonistin abzulesen ist. Im Folgenden soll detaillierter darauf eingegangen werden,
in welcher Beziehung Sprache und Integrität zueinander stehen.478
Da ist zum einen die Diskrepanz zwischen der Schrift und der Sprache mit
einem deutlichen Akzent auf der Körperlichkeit der Sprache sowie zum anderen die ausufernde Bildhaftigkeit: Dies gilt nicht nur für das Verhältnis zum
Deutschen, sondern auch für das Verhältnis zum Türkischen. So etwa im Blick
auf die ‚Buchstabenbilder‘ der Großmutter (vgl. K 17) oder auch, wenn in
Bezug auf sie wie in Bezug auf die Protagonistin durchaus ambivalent von
einer „Zungenhure“ (K 257) oder. „Mundhure“479 (K 117) die Rede ist. Es
geht, rigoros gedacht, um ‚Lügen‘, genauer hingesehen jedoch um favorisierte
Potenz der Sprache, die ‚Wahrheit‘ realitäts- und situationsnah in Bildern und
erfundenen Geschichten auszudrücken, die im deutschen Original nicht zuletzt den Eindruck des Orientalischen zu verantworten haben. Neben Sprachneuschöpfungen („Läusehafen“ (K 15), „Polizistnachbar (219)) und Metaphern („Öleimerkrieg“ (K 39)) sowie Onomatopoesien („tıp tıp tıp“ (K 76))
sind Übersetzungen türkischer idiomatischer Ausdrücke charakteristisch für
den Sprachgebrauch in der Karawanserei. Feridun Zaimoğlu bezeichnet diese
Art der Übersetzung als „Folklore-Falle“. Damit die Sprache der Protokolle
seiner mit jungen Migranten geführten Interviews nicht als „blumige Orientalensprache“ missverstanden werde, habe er auf wörtliche Übersetzungen verzichtet.480 Özdamar hingegen übersetzt den Kosenamen, mit dem sie ihr Vater
anspricht, wörtlich ins Deutsche: „[…] bete für mich, meine Olivenaugige“ (K
77). Ebenso wird der Name ‚Seher‘ nicht als solcher, sondern in seiner sinngemäßen bildhaften Prägung mit „die sehr frühe Morgenzeit“ (K 219) wiedergegeben. Özdamar spielt aber auch mit Möglichkeiten der deutschen Sprache,
ohne dass sich diese aus dem Türkischen herleiten lassen, so z.B. wenn Öl
478 Für allgemeine Aspekte des Sprachgebrauchs in der Karwanserei und im Erzählband Mutterzunge
siehe u.a.: Kader Konuk: Identitäten im Prozeß. Literatur von Autorinnen aus und in der Türkei in deutscher,
englischer und türkischer Sprache. Essen: Verlag Die blaue Eule, 2001 und Azade Seyhan: Lost in Translation.
Der Ausdruck „Mundhure“ hat keine feste Bedeutungszuschreibung. Obwohl der Ausdruck und
auch die genannte Erklärung: „[…] die mit der Zunge Hure ist“ (K 117) eine sexuelle Konnotation
haben, ist in diesem Kontext vordergründig gemeint, dass die Protagonistin eine rege Phantasie hat
und sich allerlei Lügen ausdenken kann. „Es gibt sieben Arten der Hurerei in dieser Welt“, erklärt
die Mutter. Man ist nicht zwingend eine ‚Hure‘ im herkömmlichen Sinn, wenn man eine von diesen
sieben Arten ausführt.
479
480
Vgl. Zaimoglu: Kanak Sprak. S. 14.
134
5.2 Gewährleistung der Integrität durch Sprache
„redet“ (K 55) Deswegen wäre es ungerechtfertigt, die Sprache Özdamars auf
bloße Übersetzung zu reduzieren. Man würde dadurch die literarische Qualität
verfehlen, die in einer gesteigerten Durchlässigkeit von Sprachen und Lebensformen füreinander besteht. Die Autorin übersetzt nicht nur, sie spielt gezielt
mit den Potenzen der Sprachen und hier insbesondere auch der türkischen
Sprache. Ebenso wie es Bilder gibt, die zunächst durch Übersetzungen entstehen, gibt es auch Bilder im Text, die für das Türkische ebenfalls als ‚kühne‘
Metaphern zu würdigen sind (z.B. wenn ein Mikrophon „Backpfeifen“ austeilt
(vgl. K 104)), die aber in einem Horizont gewissermaßen tragender idiomatischer Wendungen stehen.
Wie ist in diesem Zusammenhang zu verstehen, dass die Sprache in der Karawanserei durchaus als Gewährleistungsinstanz für die persönliche und die kollektive Integrität fungiert? Wie ist sie beschaffen, wie erbringt sie diese Leistung und wie ist demgemäß die Integrität beschaffen? Zunächst einmal ist
festzuhalten, dass die Sprache überhaupt diese Leistung erbringt, was an den
Stellen deutlich wird, in denen geschwiegen wird. Schweigen ist mehrfach die
Reaktion auf eine Integritätsverletzung durch Familienmitglieder, die durch
eine Versöhnung wieder aufgehoben werden kann. Wenn innerhalb der Familie nicht gesprochen wird, dann handelt es sich um eine Krise. Gesprochen
wird also, um die Integrität zu wahren, nach Scheherezades Beispiel – um ein
Bild zu beanspruchen, das in Bezug auf Özdamar bereits überstrapaziert wurde.481 Bei einem fremden oder selbstverschuldeten Eingriff in die körperliche
Integrität kann die Integritätsverletzung nur durch Sprache wieder aufgehoben
bzw. die Aufhebung besiegelt werden. Nachdem der Vater die Protagonistin
geschlagen, also ihre körperliche Integrität verletzt hat, verliert sie beispielsweise ihre Stimme (vgl. K 84). Erst im Moment der ‚Versöhnung‘, in gewisser
Weise also der ‚restitutio in integrum‘482 gewinnt sie ihre Stimme zurück (vgl.
K 86). Ähnlich verhält es sich, als die Mutter einen Selbstmordversuch unternimmt und damit ihre eigene körperliche Integrität verletzt: „Großmutter,
Mutter, Vater waren in dem Zimmer, in dem das moderne Sofa und die Sessel
standen. Mutter stand in der Mitte des Zimmers und sagte nichts.“ (K 234)
Sobald die Mutter sich mit dem Vater und Initiator des Selbstmordversuches
ausgesöhnt hat, findet sie ihre bildhafte Sprache wieder: „Euer Vater ist wie
ein Kind, wenn man sein Innen nach außen drehen könnte, würde man da ein
fließendes klares Wasser sehen.“ (K 236) Solche Sprichwörter machen einen
großen Teil des Sprachgebrauchs aus, besonders in den Diskussionen zwiVgl. z.B. Angela Bachmann: Scheherezades Schwester. Emine Sevgi Özdamar faszinierte ihre Zuhörer. In:
Augsburger Allgemeine Zeitung, 2.2.1992.
481
482
Vgl. dazu S. 81 dieser Arbeit.
135
5.2 Gewährleistung der Integrität durch Sprache
schen Großmutter und Vater, bei denen es darum geht, die eigene Autorität,
weniger im Rekurs auf explizite Argumente als im Rekurs auf den Erfahrungsschatz eingelebter Lebensformen, durchzusetzen. Wilfried Buch beschreibt die
Wirkung eines Sprichwortes, dem er eine „sprachmagische Energie“ zuschreibt, wie folgt:
Durch seine »schlagende Kürze« gewinnt das Sprichwort an
Autorität, es wirkt im Gespräch apodiktisch, wie eine Tatsache, die selbstverständlich ist oder unmittelbar einleuchtet, also keines Beweises bedarf – und jede weitere Diskussion überflüssig zu machen scheint. [...] Die beste Gegenwehr [gegen ein Sprichwort; Y.D.] wäre ein konträres und
mindestens ebenso „gutes“ Sprichwort.483
Als die Geschäfte des Vaters wegen anhaltender Regenfälle schlecht gehen,
will er sich von „großen Männern“ (K 77) Geld leihen.
„Meine Großmutter sagte: »Mustafa, große Männer geben
auch große Backpfeifen.«
Mustafa sagte: »Bei denen gibt es Geld wie Sand am Meer.«
Ayşe sagte: »Im Topf von Fremden kann man nicht kochen.«
Mustafa sagte: »Bevor das Feuer das Dach erreicht, muß
ich Hilfe holen.«
Ayşe sagte: »Mit dem Seil der Reichen kann man nicht den
Brunnen runterklettern.«
Mustafa sagte: »Wer ins Meer fällt und nicht schwimmen
kann, muß die Schlange umarmen.«
Großmutter sagte: »Das Geld der Reichen macht die Zunge
der Armen müde.« (K 77f.)484
Da Sprichwörter den Wissens- und Erfahrungsschatz eines Kollektivs fortschreiben, haben sie eine über die bloße Prägnanz hinausgehende Autorität.
Sie konfrontieren das Gegenüber mit einer „wenig interpretationsbedürftigen
Wilfried Buch zitiert in Metin Yurtbaşı: Türkisches Sprichwörterlexikon. Ankara, 1993. S. III. Ein
ähnliches Phänomen beschreibt Mammeri in einem Gespräch mit Pierre Bourdieu über die mündliche Dichtung der Kabylei: „Es fand ein Austausch von Sprichwörtern, von Parabeln statt, die sich
die Imusnawen [Weise, Dichter] gegenseitig wie Bälle zuwarfen, wobei ein jeder versuchte sich
auszuzeichnen.“ Vgl. Pierre Bourdieu: Dialog über die mündliche Dichtung der Kabylei. Ein Gespräch mit
Mouloud Mammeri. In: Luis Pinto (Hg.): Streifzüge durch das literarische Feld Konstanz: UVK Universitätsverlag, 1997. S. 344.
483
484
Ein ähnliches Duell liefern sich Großmutter und Vater auch an anderer Stelle (vgl. K 106).
136
5.2 Gewährleistung der Integrität durch Sprache
Manifestation der für diese Kultur relevanten kulturellen [...] Bedeutungen“.485
Insofern enthalten Sprichwörter implizit die Integritätsstandards einer Gemeinschaft. Diesen nicht zu folgen, muss jedoch nicht zum Ausschluss aus der
Gemeinschaft oder zum Verlust der Integrität führen. So kann der Vater trotz
des ‚Sprichwörterduells‘ das Geld borgen.
Autorität beansprucht auf andere Weise aber auch das Hochtürkisch. Als die
Erzählerin aus den Ferien im Heimatdorf der Mutter zurückkehrt, hat sie sich
den anatolischen Dialekt angewöhnt, der, wie die Orientierung an Sprichwörtern, eng mit der Lebensform verknüpft ist. Diese Verknüpfung wird von der
Erzählerin geradezu körperlich erfahren. Zum Abschied küsst sie ihrem Onkel
die Hand „mit meinem Mund, in dem ich unter meiner Zunge den Dialekt dieser Stadt festgeklebt hatte, den fremden Lebensgang dieser Menschen“ (K 52).
Als sie zurück in Istanbul ist, will sie ihre Mutter umarmen, aber sie kann es
nicht: „Zwischen uns stand eine Mauer aus dem fremden Dialekt, den ich aus
dieser anatolischen Stadt unter meiner Zunge mitgebracht hatte.“ Die Sprache
tritt hier in Konkurrenz zur körperlichen Berührung. Sie wird, im Fall ihres
dialektalen Gebrauchs, mit dem „Lebensgang der Menschen“ gleichgesetzt, ist
gewissermaßen Schutz und Ausdruck der spezifischen Lebensweise.486 Die
Mutter hat Angst, dass dies zur Ausgrenzung ihrer Tochter in Istanbul führt
und es zu einer Integritätsverletzung nicht der besagten Rede- und Lebensweise, wohl aber aufgrund der besagten Rede- und Lebensweise kommt. Im Medium der Sprache wird ein Konflikt zwischen ländlicher und städtischer Lebensweise, Provinz und Metropole, ausgetragen. Hochtürkisch gilt in Istanbul
als Integritätsstandard, der die ‚Istanbuler‘ von den ‚eingewanderten‘ Anatoliern unterscheidet. Dies hat auch Implikationen für die schulische Sozialisation, womit eine bestimmte Integritätsvorstellung – Integrität in der Bedeutung
von Reinheit, Sauberkeit und Unvermischtheit – ins Spiel kommt, zugleich
aber – aus dem Standpunkt des Hochtürkischen betrachtet – durch die Wahl
einer alltagssprachigen, konkretistischen, bildhaften oder idiomatischen Wendung im Vorbringen der Begründung auch wieder konterkariert wird. Die
Mutter besteht darauf, dass ihre Tochter wieder „istanbultürkisch, sauberes
Türkisch“ spricht: „Wenn du so anatolisch sprichst, werden alle zu dir Bauer
sagen, verstehst du? [...] In der Schule werden sie dir das Leben wie einen engen Schuh anziehen.“487 (K 53) Die Erzählerin fährt fort: das Wort „liebe Mut-
485 Vgl. Michael Fleischer: Die Semiotik des Spruches. Kulturelle Dimensionen moderner Sprüche. Bochum:
Brockmeyer, 1991. S. 9.
486
Honneth: Kampf um Anerkennung. S. 217. Vgl. dazu S. 85 dieser Arbeit.
Bei Aksoy findet sich die Redewendung „iki ayağını bir pabuca sokmak“ (Beide Füße in einen
Schuh zwängen). Wahrscheinlich spielt Özdamar auf diesen Ausdruck an, der im Sinne von ‚einem
487
137
5.2 Gewährleistung der Integrität durch Sprache
ter“ auf Hochtürkisch (anneciğim) und im Dialekt (anacuğum) „fochten in der
Mitte des Zimmers, wo die Spinnen in großer Ruhe an den Wänden ihre Häuser längerzogen.“ (K 53) Die Worte werden selbst zu Akteuren und sie leiden
schließlich auch wie Akteure, wobei die stilistische Transformation ins Materielle, Körperliche, ihr Pendant in der ergriffenen Erziehungsmaßnahme hat.
Die Mutter greift zu dem Mittel, für jedes Wort im „anatolischem Dialekt“
(K 54), Geld zu fordern. Dann heißt es:„So schnitten mir Istanbuler Messer
mein Anacuğum rasch zu Anneciğim.“ (K 54) Wenn hier dem sozialen Kapital
mit dem Entzug des ökonomischen Kapitals nachgeholfen wird, dann liegt,
wie in den voraus gegangenen Partien, ein Widerspruch zwischen dem Ziel
oder Zweck der Maßnahme und ihrer Umsetzung vor. Man gewinnt den Eindruck, dass der Text in letzter Instanz die Partei der konkreten Einbettung in
die alltäglichen, körperlichen und materiellen Lebensweisen ergreift und geradezu auch das Medium der Integritätsgewährleistung, die Sprache, unter diese
Maßgabe stellt.
Je nachdem, in welchem Raum sich die Protagonistin bewegt, ändern sich
nicht nur die Dialekte, sondern auch die Soziolekte und damit die sprachlichen
Integritätsstandards. So wird die Protagonistin beispielsweise in der Schule in
Istanbul aufgrund ihrer Herkunft aus dem anatolischen Malatya diskriminiert
(vgl. K 37), während sie bei einem Umzug in die Kleinstadt Yenişehir als
„Mädchen von Istanbul“ gilt (vgl. K 68). Dabei ist unter der Integrität nicht
länger die ‚Reinheit‘ der Sprache zu verstehen, sondern die in dem jeweiligen
Raum geforderte bzw. bewilligte und erbrachte Sprachverwendung. Der Akzent liegt auf der differenziellen Vielfalt der Lebensbedingungen und Lebensweisen wie ihres Integritätsschutzes – man könnte auch sagen: ihres Anspruchs auf Unverletzlichkeit – von Seiten der Sprache. Dies und die körperliche Wahrnehmung der Sprache selbst ist zu bedenken, wenn man sich über
das Widerspiel von Hochtürkisch und Provinztürkisch, Alltagssprache und
gehobener Sprache hinaus den Beständen überkommener und neu eröffneter
Hybridität zuwendet. Auf Ebene der Ritualität können Gebete, religiöse Formeln und Reminiszenzen ihre Funktion erfüllen, auch wenn sie nicht verstanden werden, vor allem, wenn sie in einer fremden, nicht nur abgehobenen
sakralen Sprache abgefasst sind. Sie stellen dann eine mehr dem Buchstaben
als dem Sinn verpflichtete Legitimationsinstanz im Leben der Gemeinschaft
und der Sprache dar und können im Sinn der „supplementary question“488 aus
das Leben schwer machen‘ verwendet wird. Vgl. Ömer Asim Aksoy: Deyimler Sözlüğü. Atasözleri ve
Deyimler Sözlüğü. Istanbul: Inkilap, 1997. S. 874.
Bhabha: The Location of Culture. S. 155. Kader Konuk sieht in dieser Form der Nachahmung eine
Mimikry im Sinne Bhabhas. Vgl. Konuk: Identitäten im Prozeß. S. 97ff. Zur „supplementary question“
speziell vgl. Kora Baumbach: Verdrängte Kolonialgeschichte: Zu Uwe Timms Roman Morenga. In: Monatshefte für deutschsprachige Literatur und Kultur. Special Issue: Integrität. S. 213-231.
488
138
5.2 Gewährleistung der Integrität durch Sprache
dem Fundus einer verdrängten Vergangenheit aufgefasst werden. In diesem
Sinn aktiviert Juan Goytisolo die arabischen Sprachbestände im Spanischen als
Zeugen einer verdrängten Geschichte.489 In diesem Sinn spricht sich die Protagonistin und Erzählerin für die arabischen Sprachbestände im Türkischen
aus, obwohl eine Abwendung von der arabischen Schrift einer Vereinigung
von Signifikant und Signifikat einer restitutio in intergrum der Sprache eher
Rechnung getragen hat, denn die arabische Schrift war ohnehin oft dafür kritisiert worden, die türkische Sprache nicht angemessen wiedergeben zu können.490 Die Erzählerin verhält sich durchaus ambivalent zum Rezitieren des
Arabischen im Koranunterricht: „Ich wußte nicht, was diese Wörter sagten,
vielleicht Großmutter Ayşe auch nicht.“ (K 55) Das ergibt sich aus der Diskrepanz zwischen der Sprache, in der gebetet und die Religion ausgeführt wird,
und der Landessprache der Türkei. Viele Kinder werden wie die Erzählerin
und ihr Bruder neben der Schule zum Koranunterricht geschickt. Dort lernen
sie zwar die arabische Schrift zu lesen, aber nicht die arabische Sprache zu
verstehen. Sie sind also nicht dazu fähig, die Gebete selbst zu übersetzen, sondern müssen auf die vorgegeben Übersetzungen vertrauen.
Ebenso wie Sprichwörter haben diese sakralen Reminiszensen, die im Türkischen teilweise religiöse Konnotation haben, teilweise aber auch rein floskelhaft gebraucht werden, eine gewisse Autorität. Sie vermögen es beispielsweise,
die Protagonistin in Paris nicht nur vor den Annäherungsversuchen eines
Pförtners, sondern auch vor einem algerischen Studenten, der „Liebe machen“
(K 58) will, zu retten. Indem sie eine Floskel an die andere reiht, verwickelt sie
den Studenten in ein rituelles Sprachspiel auf teilweise religiöser Ebene und
veranlasst ihn somit, eine religiös und rituell geregelte Kommunikationsstufe
mit höherer Verbindlichkeit zu beschreiten:
Ich sagte wieder: »Bismillâhirrahmanirrahim.« Er sagte
auch: »Bismillâhirahmanirrahim, Moslem, yes, you too
Moslem? Yes, you too Moslem, elhamdülilah, Allah allahü-
Andrea Albrecht: Im Zeichen der Dissidenz. Juan Goytisolos Rückforderung des Conde don Julián. In:
Monatshefte für deutschsprachige Literatur und Kultur. Special Issue: Integrität. S. 184-212. Vgl.
auch Horst Turk: Übersetzung ohne Kommentar. Kulturelle Schlüsselbegriffe und kontroverser Kulturbegriff am
Beispiel von Goytisolos Reivindicación del Conde don Julián. In: Fred Lönker (Hg.): Die literarische Übersetzung als Medium der Fremderfahrung. Berlin: Schmidt, 1992. S. 3-40. Zu Goytisolos Solidarisierung
mit Özdamar vgl. Juan Goytisolo. In: Times Literary Supplement.
489
Schriftreformen waren nicht erst seit Atatürk ein Thema. Damit die arabische Schrift in der Lage
war das Türkische bzw. Osmanische optimal wiederzugeben (problematisch waren vor allem die
fehlenden Zeichen für Vokale), wurden immer wieder neue Vorschläge diskutiert, wie die arabische
Schrift dem Türkischen besser angepasst werden könnte. Vgl. dazu Wolfgang-E. Scharlipp: Türkische
Sprache Arabische Schrift. Ein Beispiel schrifthistorischer Akkulturation. Budapest: Akademiai Kiado, 1995.
S. 144-168.
490
139
5.2 Gewährleistung der Integrität durch Sprache
ekber, selamünaleykum esselamünaley.« Wir redeten halb
englisch, halb arabisch, bis die Freundin kam. (K 58)
Dass der Student durch diese Dialoge davon abgehalten wird, sein eigentliches
Ziel zu verfolgen, zeigt, welche Integritätsgarantie Sprache bieten kann. Das
Wort ‚Bismillâhirahmanirrahim‘ hat eine große Relevanz (K 58f.), weil es den
Anfang nahezu aller Suren im Koran bildet. ‚Bismillâhirahmanirrahim‘ erscheint hier, genauso wie die zuvor genannten arabischen Ausdrücke, die im
alltäglichen Türkisch verwendet werden, als universale Sprache der islamischen
Religionsgemeinschaft. Erst nachdem durch dieses Wort ihre leibliche Integrität geschützt wird, schlägt die Erzählerin dessen Bedeutung nach: „Dann habe
ich im Buch geguckt, was Bismillâhirrahmanirrahim heißt: Im Namen Gottes,
oder im Namen Allahs, der schützt und vergibt.“ (K 58) Die Protagonistin
nutzt also sowohl das Arabische als Lingua franca der arabischsprachigen
Welt, als auch das Arabische als liturgische Sprache der Muslime. Dass das
Arabische als heilige Sprache gilt, führte allerdings auch zur Schriftreform, die
sowohl in der Karawanserei als auch in der Mutterzunge491 thematisiert wird.
Die Erzählerin der Mutterzunge glaubt, dass sie ihre Muttersprache verloren
habe. Dieser Verlust wird geradezu körperlich erfahren
Ich habe zu Atatürk-Todestagen schreiend Gedichte gelesen und geweint, aber er hätte die arabische Schrift nicht
verbieten müssen. Dieses Verbot ist so, wie wenn die Hälfte von meinem Kopf abgeschnitten ist. Alle Namen von
meiner Familie sind arabisch: Fatma, Mustafa, Ali Samra.
(MZ 12)
Um die fehlende ‚Hälfte ihres Kopfes‘ wieder zu gewinnen, meint sie Arabisch
lernen zu müssen. Wie bereits in der Gefährlichen Verwandtschaft erscheint der
Großvater als Schlüssel zur ‚Integritätsrestitution‘: „Vielleicht erst zu Großvater zurück, dann kann ich den Weg zu meiner Mutter und Mutterzunge finden.“ (MZ 12)
Um ihre Integrität im Sinne von Vollständigkeit wiederherzustellen geht sie
eine Liebesbeziehung mit ihrem Arabischlehrer Ibni Abdullah ein. Nur durch
die körperliche Vereinigung scheint der Bruch, der durch die Einführung des
Vgl. Emine Sevgi Özdamar: Mutterzunge. Berlin: Rotbuch, 1991. (Im Folgenden vor Zitatangaben
abgekürzt als MZ.)
491
140
5.2 Gewährleistung der Integrität durch Sprache
lateinischen Alphabets entstanden ist, wieder gut zu machen zu sein.492 Begründet wird der Wunsch nach Aufhebung dieses Bruchs rein biographisch:
[...] mein Großvater konnte nur arabische Schrift, ich konnte nur lateinisches Alphabet, das heißt, wenn mein Großvater und ich stumm wären und uns nur mit Schrift was erzählen könnten, könnten wir uns keine Geschichten erzählen. (MZ 12)493
Was in dieser Sequenz behandelt wird, ist aber von sprachhistorisch und
sprachpolitisch großer Bedeutung und somit auch vergleichbar mit der Verknüpfung privater und historischer Geschichte, um die es in Abschnitt 5.3
geht. Es trifft also zu, was Azade Seyhan in Bezug auf das Genre der Karawanserei als „autobiography as unauthorized biography of the nation“ bezeichnet
hat.494 Denn in der ambivalenten Haltung zur Person Atatürk und den Reformen zur Gründung eines Nationalstaates versteckt sich eine Kritik am Sprachpurismus, der im Zuge der Schriftreform einsetzte. Die Erzählerin der Karawanserei hält sich generell mit kulturellen Erklärungen zurück. Die Schriftreform erklärt sie jedoch ausführlicher:
Meine Mutter selbst konnte nicht die arabische Schrift lesen
und schreiben. Als sie in die Schule ging, war die Türkei eine Republik, und die arabische Schrift war verboten. Früher sprach man Türkisch und schrieb mit arabischen
Schriften. Nach 1927 machten die Republikaner eine
Schriftreform, und anstatt arabischer Schrift, wurden lateinische Buchstaben das türkische Alphabet. ( K 69)
Ganz im Gegensatz zu der am Mündlichen orientierten Erzählhaltung wird
hier die Schrift betont. Allerdings lässt sich die Kritik an der Abschaffung der
arabischen Schrift nur vollkommen nachvollziehen, wenn die in der Karawanserei gegebene Erklärung ergänzt und in Zusammenhang mit dem in der Mutterzunge geäußerten Wunsch nach dem Erlernen der arabischen Sprache gebracht
492 Vgl. dazu auch Yasemin Dayioglu: Von der Gastarbeit zur Identitätsarbeit – der Kampf um Integrität in
der Migrationsliteratur. In: Manfred Durzak/Nilüfer Kuruyazıcı: Die andere deutsche Literatur. Istanbuler Vorträge. Würzburg: Königshausen und Neumann, 2004. S. 104-110. S. 106f.
Vgl. dazu auch Karawanserei: „Ich kannte auch nur lateinische Buchstaben, aber mein Großvater
konnte nicht mit lateinischen Buchstaben schreiben. Er konnte in arabischer Schrift schreiben.
Wenn meine Großmutter schreiben und lesen gelernt hätte, könnte sie auch nur in arabischer Schrift
schreiben. Ich dachte, wenn also mein Großvater Ahmet und meine Großmutter Ayşe stumme und
taube Menschen wären und uns nur mit Schrift etwas erzählen könnten, hätte ich sie nie gekannt. So
hätte ich heute keine Großmutter, Großvater. Ich fing an zu weinen.“ (K 69)
493
494
Vgl. Seyhan: Writing outside the Nation. S. 150.
141
5.2 Gewährleistung der Integrität durch Sprache
wird. Die Erzählerin behauptet, man habe „früher“ Türkisch gesprochen.
Grundlegend aber war die arabische Schrift, die Verschriftlichung des Osmanischen, das eine aus Türkisch, Arabisch und Persisch bestehende Hofsprache
war. Die Alphabetisierungsrate war ohnehin gering. Mit der Einführung der
lateinischen Schrift wurden Alphabetisierungsmaßnahmen bei den breiteren
Bevölkerungsschichten vorgenommen.495 Das im Gegensatz zum Osmanischen leichter verständliche Türkisch und die neue Schrift sollten also nicht
nur im Zuge des Nation-Building die Abkehr von alten Traditionen symbolisieren, sondern auch die Alphabetisierungs- und Bildungsrate steigern. Die
arabische Schrift war bereits vor der Schriftreform im Jahre 1928 aus pädagogischer Perspektive kritisiert worden, aber erst die ideologische Besetzung des
Problems führte zum Umbruch. Wie Wolfgang Scharlipp feststellt, war die
Schriftreform nicht durch „linguistische beziehungsweise pädagogische Gründe“ motiviert, sondern eingebunden in „eine neue Ideologie“.496 Das sakrale
Arabisch als Schriftsprache, dass sich mit der Islamisierung verbreitete, sollte
durch eine profane Schrift mit einem konkurrierenden Geltungsanspruch ersetzt werden.497 Dass auch das lateinische Alphabet ursprünglich seine
Verbreitung durch die Ausbreitung der römisch-katholischen Kirche erfahren
hatte, nutzten die Gegner der Schriftreform als Argument. Die Entscheidung
für oder gegen ein bestimmte Schrift wurde also zur Entscheidung für oder
gegen die „islamische Welt“:
An dem Tag, an dem tausende von Bänden der Werke, die
in unserer Sprache geschrieben sind, in dieser falschen
Schrift, die ganz andere Formen hat, geschrieben werden,
geben wir damit auf die katastrophalste Weise […] Europa
eine schöne Waffe in die Hand, und sie werden gegen die
islamische Welt gerichtet sagen, dass die Türken die fremde
Schrift angenommen haben, und dass sie Christen geworden sind. Genau dies ist der vom Teufel […] stammende
Gedanke unserer Feinde.498
Für Atatürk war die lateinische Schrift vor allem eine ‚nationale Schrift‘, die
gleichwohl die Anbindung an Europa und die Säkularisierung demonstrieren
Vgl. Fikret Adanir: Die Geschichte der Republik Türkei. Mannheim: BI-Taschenbuchverlag, 1995.
S. 38. Es wurden beispielsweise viele Volkshäuser und Dorfinstitute eröffnet.
495
496
Vgl. Scharlipp: Türkische Sprache Arabische Schrift. S. 178.
Auch die Schriften, in denen Türkisch vor der arabischen verschriftlicht wurde, waren mit Religionszugehörigkeiten verbunden. Vgl. dazu Scharlipp: Türkische Sprache Arabische Schrift. S. 168f.
497
Der Vorsitzende des Wirtschaftskongresses in Izmir von 1923, Kazım Karabekir Paşa, zitiert in
Scharlipp: Türkische Sprache Arabische Schrift. S. 174.
498
142
5.2 Gewährleistung der Integrität durch Sprache
sollte. Eine generelle Abkehr vom Religiösen, also dem Islam, wurde nur von
staatlichen Institutionen gefordert, nicht von Privatpersonen. Einerseits wurde
also durch die Änderung der Schrift die Verbindung zur arabischen Welt auf
der Ebene der Physis, des ‚Sprachkörpers‘, aufgehoben; für die Erzählerin
verkörpert die arabische Schrift Bilder kalligraphischer Art, ohne dass in diesen
Fällen Wortkörper und Wortinhalt übereinstimmen und ohne dass sie den
Wortinhalt versteht.499 Andererseits bestand sie auf Ebene der Religionszugehörigkeit weiter und wurde ergänzt durch die Zugehörigkeit zur europäischen
Welt. Die Schriftreform trug so auf ihre Weise dazu bei, dass die Türkei nicht
mehr klar einem Lebensraum zugeordnet werden konnte. Zusätzlich zur binnentürkischen Pluralität und zur religiös geprägten türkisch-arabischen Verbindung wurde ganz offiziell die türkisch-europäische Anbindung vorangetrieben.
Verbirgt sich in der Kritik an der Sprachreform also auch eine generelle Kritik
an der Säkularisierung und der Öffnung nach Europa?500 Betrachtet man das
Gesamtprofil der Figur, sicherlich nicht.501 Plausibler erscheint die Sorge um
499 Als die Großmutter auf arabisch betet, kommentiert die Erzählerin : „Ich sah die Buchstaben,
manche sahen aus wie ein Vogel, manche wie ein Herz, auf dem ein Pfeil steckt, manche wie eine
Karawane, manche wie schlafende Tiere, manche wie ein Fluß, manche wie im Wind auseinanderfliegende Bäume, manche wie laufende Schlangen, manche wie unter Regen und Wind frierende
Bäume“ (K 18).
500 Vgl. dazu Azade Seyhan: Scheherezade’s Daughters: The Thousand and one Tales of Women Writers’. In:
Gisela Brinker-Gabler/Sidonie Smith (Hgg.): Writing new Identities: Gender, Nation and Immigration in Contemporary Europe. Minneapolis: University of Minnesota Press, 1997. S. 230-248. S. 246.
Aus emazipatorischer Perspektive erscheint die Kritik an der Reform ebenso schwer verständlich.
Vgl.: „The problem for female readers of Özdamar’s text ist that her protagonist is apparently rejecting the aspect of Atatürk’s reforms which contributed at least in part to the extension of literacy and
education to women.“ Brigid Haines/Margaret Littler: Contemporary Women’s Writing in German. Changing the Subject. Oxford: Oxford University Press, 2004. S. 121.
501 Die ambivalente Haltung zu den Reformen lässt sich auch in der Kritik an den Texten des Dichters Ahmet Haşim erkennen. Neben Orhan Veli, der als volksnaher Dichter affirmativ intertextuell
in der Karawanserei Erwähnung findet, zitiert Özdamar auch Ahmet Haşim, der von eben diesem
parodiert worden war. Die Protagonistin der Karawanserei lernt ein Gedicht von ihm auswendig und
trägt es bei einem Gedichtwettbewerb vor. „Ich las, aber es klang wie ein hinkendes Lied.“ (268).
Sieht man diese Textpassage im Zusammenhang mit der Kritik Orhan Velis an höfisch orientierter
Lyrik, ist zu vermuten, dass auch Özdamar Haşim gegenüber kritisch eingestellt ist. Der Affirmation
Velis steht also die Destruktion Haşims gegenüber. Sie kritisiert die Sprache des Gedichtes von
Haşim, die zu sehr Kunstsprache ist. „Der bewußt betonte Sprachgestus“ Orhan Velis, so heißt es
bei Pazarkaya, [...] grenzt es [das Gedicht; Anm. Y.D.] von anderen Kunstgattungen wie Musik und
Malerei deutlich ab.“ Yüksel Pazarkaya: Rosen im Frost. Einblicke in die türkische Kultur. Zürich: Unionsverlag, 1985. S. 143. Die höfische Epik war also von Musik nicht eindeutig abzugrenzen. Genau das
wird veranschaulicht, wenn von einem „hinkenden Lied“ die Rede ist. Was die Ich-Erzählerin liest,
kommt ihr wie ein Lied vor und nicht wie ein Gedicht. Die Erzählerin sieht sich in Bezug auf die
Lyrik der Moderne verpflichtet. In der Schule herrscht aber die schwer verständliche, an der DiwanLyrik orientierte Literatur vor. Scharlipp erklärt das Übermaß an arabischen und persischen Wörtern
mit der Übernahme des arabischen Metrums „‛arūż“, das für die türkische Sprache nicht geeignet
war. Vgl. Scharlipp: Türkische Sprache Arabische Schrift. S. 131f. Die Karawanserei schlägt sich in diesem
143
5.2 Gewährleistung der Integrität durch Sprache
die Unterbrechung der kulturellen Überlieferung und Vielfalt und der Behinderung einer natürlichen Entwicklung dieser.502 Nicht nur sind viele osmanische Texte nicht mehr ‚lesbar‘, weil sie in arabischer Schrift verfasst sind, sondern auch weil die die jüngeren Generationen immer weniger über den Wortschatz der älteren Generationen verfügen.503 Denn die Schriftreform zog auch
eine Sprachreform nach sich.504 Die Schaffung einer Nationalsprache war von
beidem abhängig. In seiner Rede zur Schriftreform vom August 1928 bezeichnet Atatürk die arabische Schrift als „eisernen Rahmen“, der die türkische
Sprache daran hindere, sich selbst zu „offenbaren“.505 In Folge der Schriftreform wurden viele arabische und persische Begriffe durch türkische Neologismen ersetzt. Dazu wurde eigens die türkische Sprachgesellschaft (Türk Dil
Kurumu) gegründet, die eine Sprachverwendung proklamiert, die auf rein türkischen Sprachwurzeln beruht. Wörter arabischen und persischen Stamms
werden nicht als Bereicherung der türkischen Sprache angesehen.506 Die Erschaffung einer türkischen Nation und eines türkischen Nationalgefühls führte
auch zur Vernachlässigung der binnentürkischen Hybridität. Özdamars Texte
thematisieren sowohl die binnentürkische Hybridität als auch die Verbindungen zur arabisch-islamischen und zur europäischen Welt. Allerdings führen sie
darüber hinaus Probleme im Umgang mit bestehender Hybridität, als auch im
Umgang mit der forcierten Unterbrechung überlieferter und Schaffung neuer
hybrider Lebensformen, vor Augen – zu Ausdruck gebracht wird das unter
anderem durch die kritische Haltung gegenüber der Schriftreform.
Festzuhalten bleibt, dass Özdamar nicht nur Hybridität in die deutsche Spra-
Punkt auf die Seite der modernen Literatur und wendet sich von literarischen Traditionen des Osmanischen Reiches ab. Fasst man die Moderne als Einfluss des Westens auf, so drückt sich hierin
gerade eine Abkehr von orientalischen Strukturen aus.
502 Nach Azade Seyhan gibt es sowohl Kritiker der Sprachreform, da „vital cultural heritages“ ausradiert würden, als auch Befürworter, die sich sowohl gegen das Osmanische als auch gegen Anglizismen zur Wehr setzten. Vgl. Seyhan: Writing outside the Nation. S. 122f.
503 Adanir weist darauf hin, dass „die Jugend, die nunmehr lediglich das lateinische Alphabet kannte
und daher nicht in der Lage war, die vor 1928 gedruckten Bücher zu lesen, auch sprachlich bald
außerstande [war], die klassischen Werke der eigenen Literatur zu verstehen.“ Adanir: Geschichte der
Republik Türkei. S. 46.
504 Für eine ausführliche Auseinandersetzung mit der türkischen Sprachreform vgl. Geoffrey Lewis:
The Turkish Language Reform. A Catastrophic Success. New York: Oxford University Press, 1999.
505
zitiert in Scharlipp: Türkische Sprache Arabische Schrift. S. 177.
Allerdings ist fraglich und anlässlich der Diskussionen um Anglizismen in vielen Sprachen der
Welt höchst aktuell, wie sehr eine Einmischung in den persönlichen Sprachgebrauch tatsächlich
möglich war und ist und ob eine ‚Modernisierung‘ der Sprache nicht unvermeidlich ist und natürlich
vollzogen wird.
506
144
5.3. Gewährleistung der Integrität durch geschichtliche Ereignisse
che bringt, sondern auf sprachhistorischer und -politischer Ebene auch zum
Nachdenken über die Hybridität bzw. ‚Reinheit‘ des Türkischen, über Integrität auf sprachhistorischer und -politischer Ebene anregt.507
5.3 Gewährleistung der Integrität durch geschichtliche Ereignisse
Im Folgenden soll das ‚emplotment‘ und ‚enactment‘ geschichtlicher Ereignisse in der Karawanserei thematisiert werden. Bei den geschilderten geschichtlichen Ereignissen handelt es sich maßgeblich um solche, die im Befreiungskrieg
und der Gründung der Republik Türkei kulminiert sind. Dazu zählen die Geschichten, die der Großvater und Mehmet Ali Bey erzählen. Im Anschluss
wird dann gesondert auf das ‚commitment‘ des Textes in Bezug auf die imperialistischen Interessen Deutschlands im Osmanischen Reich eingegangen.
Obwohl dieses Unterkapitel mit Gewährleistung der Integrität durch geschichtliche
Ereignisse übertitelt ist, stehen in den Erzählungen geschichtlicher Ereignisse
vor allem Integritätsverletzungen im Vordergrund. Dieser Widerspruch klärt
sich auf, wenn im Auge behalten wird, dass der Zerfall des Osmanischen Reiches die Gründung der Republik Türkei begünstigt hat. Der Integritätsherstellung gingen Integritätsverletzungen voraus.
Unter ‚emplotment‘ versteht Hayden White die Art und Weise, wie geschichtliche Ereignisse erzählt werden. Dabei unterstellt er Historikern, dass diese in
gleicher Weise wie Autoren fiktionaler Werke, den zu vermittelnden Stoff
durch bestimmte erzählerische Verfahren zu einer Geschichte formen. Er
unterscheidet Formen der Romanze, Tragödie, Komödie und Satire, wobei es
immer auch unterschiedliche Kombinationsmöglichkeiten gebe: “[…] any
given set of real events can be emplotted in a number of ways, can bear the
weight of being told as any number of different kinds of stories.“508 Zu den
unterschiedlichen Darstellungsweisen tragen auch die gewählten Tropen wie
etwa Metapher, Metonymie, Synekdoche und Ironie bei.509 Özdamar setzt das
‚emplotment‘ geschichtlicher Ereignisse mithilfe performativer Strategien um.
Insbesondere durch die Art und Weise wie Mehmet Ali Bey erzählt, wirkt die
Geschichte wie eine satirisch dargestellte Tragikkomödie.
507 Nach Kader Konuk „erproben“ die sprachlichen Eigenheiten in Özdamars Texten „die Bereitschaft, Abschied zu nehmen von der Vorstellung der ‚Reinheit‘ von Sprachen und Kulturen. Vgl.
Kader Konuk: Identitäten im Prozeß. S. 90.
508 Hayden White: The Content of the Form. Narrative Discourse and Historical Representation. Baltimore:
Johns Hopkins University Press, 1990. S. 44.
509 Vgl. Hayden White: Metahistory. The Historical Imagination in Nineteenth-Century Europe. Baltimore:
Johns Hopkins University Press, 1973. S. 31ff.
145
5.3.1 Großvater-Geschichte
Das ‚emplotment‘ der geschichtlichen Ereignisse weicht in den Erzählungen
des Großvaters und Mehmet Ali Beys nicht nur auf der Ebene der Darstellungsweise von der offiziellen Geschichtsschreibung ab. Auch in Bezug auf die
Inhalte, also dessen, was zum geschichtlichen Ereignis gezählt wird, gibt es
Unterschiede.
Unter ‚enactment‘ versteht Horst Turk das „Agieren einer Rolle auf der
Grundlage ihrer Verkörperung“.510 Im Folgenden soll anhand der vom Großvater und von Mehmet Ali Bey verkörperten ‚Gegengeschichte‘ die szenische
Erzählweise Özdamars analysiert werden. Eine Rolle im herkömmlichen Sinn
spielen diese nicht, vielmehr verkörpern sie komplizierte geschichtliche Zusammenhänge durch deren Allegorisierung.
5.3.1 Großvater-Geschichte
„Großvater, erzähle!“ (K 38) lautet die Aufforderung der Soldaten, mit denen
sich die Erzählerin und ihr Großvater Ahmet ein Abteil auf der Reise von
Istanbul nach Malatya teilen. Der Großvater webt einen großen Ausschnitt aus
der Geschichte der Türkei511 in seinen Erzählteppich: „Großvater sprach, und
sein unrasierter Bart wuchs auf seinem Gesicht, und der Bart fing an, einen
Teppich zu weben.“ (K 38)
Das Teppichmotiv zieht sich wie auch das Motiv der Eimer durch die
Erzählung des Großvaters. Im Folgenden soll aufgezeigt werden, wie diese
Motive immer wiederkehren und die szenische Erzählweise Özdamars
insbesondere durch die Eimer in ihrer multifunktionalen Verwendung als
Requisite(-Element) unterstützt wird. Teilweise erscheint die Umfunktionierung der Eimer wie durch Regieangaben in einem Theaterstück vorgegeben.
Die Eimer wie auch der Granatapfelbaum, der in der Geschichte des Mehmet
Ali Bey eine zentrale Funktion einnimmt, werden zu Mitspielern in den
Inszenierungen der beiden Erzähler.512 Dieses Erzählverfahren überträgt
Vgl. Turk: Philologische Grenzgänge. S. 137. Turk verwendet ihn in Anlehnung an Uri Rapp. Vgl. Uri
Rapp: Handeln und Zuschauen. Untersuchungen über den theatersoziologischen Aspekt in der menschlichen Interaktion. Darmstadt: Luchterhand, 1973. S. 111.
510
Korrekterweise muss zwischen dem Osmanischen Reich und der späteren Republik Türkei unterschieden werden. Die Begründer des Osmanischen Reiches waren zwar Türken und die Türkei ist
aus dem Osmanischen Reich hervorgegangen, aber vor der Proklamation der Republik Türkei im
Jahre 1923 gab es de facto noch keine Türkei. Da der Text sich hauptsächlich auf die Zeit der Republikgründung und die Zeit danach bezieht, wird hier verallgemeinernd die Bezeichnung Türkei
verwendet. Es sei denn, es ist explizit von der Geschichte des Osmanischen Reiches die Rede.
511
512 Vgl. dazu Volker Klotz: Gegenstand als Gegenspieler. Widersacher auf der Bühne: Dinge, Briefe, aber auch
Barbiere. Wien: Sonderzahl, 2000. S. 20.
146
5.3.1 Großvater-Geschichte
Özdamar im Übrigen auch auf die Sprache. Diese wird nicht nur in den
Buchstabenbildern der Großmutter (vgl. K 17) verkörpert, sondern auch im
bereits zitierten ‚Wörtergefecht‘ von Mutter und Tochter (vgl. K 53). Diese
Requisiten, bzw. das Bühnenbild von dem man in Bezug auf den
Granatapfelbaum bereits sprechen könnte,513 sind als theatrale Zeichen zu
verstehen. Sie werden weit über ihre materielle Bedeutung hinaus
polyfunktional eingesetzt.514
Die Erzählung des Großvaters erstreckt sich vom russisch-türkischen Krieg
1877/78 bis in die Gegenwart des Romans, also in die 50er Jahre des 20. Jahrhunderts. Dabei werden viele Geschichtsdaten und historische Persönlichkeiten mit einbezogen. Trotzdem kann diese Erzählung, obwohl sie einen groben
Abriss liefert, nicht als literarisch verschlüsselte Gesamtgeschichte des eingegrenzten Zeitraumes angesehen werden. Bestimmte Bereiche werden hervorgehoben, andere werden vernachlässigt. In beiden Fällen werden Ereignisse
wiedergegeben, die als ‚Gegengeschichte‘ zur offiziellen Geschichtsschreibung
gewertet werden können.515
Der Teppich steht in der Erzählung des Großvaters sinnbildlich für die heutige Republik Türkei.516 Eine deutsche Fahne, die neben der türkischen Fahne
auf dem Teppich „flattert“ (vgl. K 39) deutet die deutsch-türkische Zusammenarbeit an. Bereits 1877, nach dem Krieg gegen Russland, übernahm die
Firma Krupp die Aufrüstung des osmanischen Heeres,517 das darüber hinaus
auch personell unterstützt wurde. Der deutsche Otto Liman von Sanders hatte
zum Beispiel 1913 das Kommando über das erste Armeekorps in Konstantinopel.518
Eine besondere Rolle in der deutsch-türkischen Geschichte spielt der Bau der
so genannten ‚Bagdadbahn‘. Mit den Rechten an diesem Projekt wollte
Bird bezeichnet den Granatapfelbaum als Hauptrequisite („main prop“). Vgl. Bird: National
Identity. S. 202.
513
514 Vgl. dazu Erika Fischer-Lichte: Ästhetische Erfahrung. Das Semiotische und das Performative. Tübingen:
Francke, 2001. S. 163.
515 Bird bezeichnet Mehmet Ali Beys Darstellung als „kritische Hanswurstiade“ (critical buffoonery).
Über seine gegen die offizielle Geschichtsschreibung gerichtete persönliche Sicht der Ereignisse
werde eine türkische Identität in Abgrenzung zu westlichen Mächten affirmiert. Vgl. Bird: National
Identity. S. 202f.
In einem mit Der Aufruf übertitelten Gedicht von Nâzım Hikmet, auf das sich Özdamar an anderer Stelle bezieht, heißt es mit Bezug auf die Türkei: „[…] die einem seidenen Teppich gleichende
Erde/Das ist unsere Hölle, unser Himmel […].“ Nâzım Hikmet: Leben! Einzeln und frei wie ein Baum
und brüderlich wie ein Wald. Gedichte. Hamburg, 1984. S. 46.
516
517
Vgl. Matuz: Das Osmanische Reich. 247.
518
Vgl. ebd. S. 260 und Doğan Avcıoğlu: Türkiye’nin düzeni. Dün, bugün, yarın. Istanbul, 1973. S. 256.
147
5.3.1 Großvater-Geschichte
Deutschland sich in Konkurrenz zu den stark expandierenden Ländern England und Frankreich Zugang zu den Ölfeldern im Nahen Osten verschaffen.519
Auf dem Teppich Türkei erscheint nun Bismarck: „[…] dann kam Bismarck
wieder zum Teppich und brachte deutsche Eimer, mit denen er das Öl von
Bagdad mit nach Hause schleppen wollte.“520 (K 39) Als Folge des Streits um
das Öl bricht der „Öleimerkrieg“ aus, der metaphorisch für den Ersten Weltkrieg steht.
Die Engländer und Franzosen und Italiener hörten es und
kamen mit ihren eigenen Eimern in die Türkei. Deutsche,
Engländer, Franzosen, Italiener kehrten ihre Eimer um,
setzten die Eimer als Helme auf ihre Köpfe, zogen ihre
Handgranaten und Waffen aus ihren Hosentaschen, und in
der Türkei fand der Öleimerkrieg statt. (K 39)
Bei dieser scheinbar verharmlosenden Metapher handelt es sich hintergründig
um eine stark politisierende Sicht auf die Geschehnisse. Im imperialistischen
Expansionswillen der europäischen Mächte werden die Gründe für den
Kriegsausbruch gesehen.
Aus kindlicher Perspektive werden komplexe Zusammenhänge, wie der Ausbruch des Ersten Weltkrieges, auf einfache Bilder minimiert.521 In dieser
gleichzeitig verharmlosenden, euphemistischen Kriegsszenerie, in der aus Öleimern Kriegshelme werden, wird aber der eigentliche Hauptgrund für den
Als 1888 der erste Zug aus Wien direkt bis nach Istanbul fuhr, gab es im Landesinneren der
heutigen Türkei nur kürzere Teilstrecken, die meist von der Küste in das Landesinnere führten. Die
osmanische Regierung plante aber eine so genannte Transversale, eine Bahnstrecke, die sich quer
durch das ganze Land erstrecken sollte. Da die eigenen Mittel für dieses Projekt nicht ausreichten,
wurde mit deutscher Unterstützung 1892 das erste Teilstück bis nach Ankara ausgebaut. 1896 folgte
eine weitere Strecke nach Konya. 1903 wurde die Bagdadbahngesellschaft gegründet, allerdings
wurde die Strecke ab Konya nur 200 km erweitert. Weitere Verträge kamen erst in den Jahren 1908
und 1911 zustande, nachdem auch Russland seinen anfänglichen Widerstand aufgegeben hatte. Als
Deutschland England zusicherte, dass der deutsch kontrollierte Teil nur bis Basra führen sollte, tat
England es Russland 1914 nach. Erst 1940 wurde die Streckenführung nach Basra beendet. Zur
genaueren Planung, Finanzierung und Durchführung vgl. Gregor Schöllgen: Imperialismus und Gleichgewicht. Deutschland, England und die orientalische Frage 1871-1914. München: Oldenbourg, 1984.S. 39-49.
519
Da die Erzählerin davon spricht, dass Bismarck die Bagdadbahn gebaut habe, bezeichnet sie
bereits die Strecke bis Konya als ‚Bagdadbahn‘. Bei der eigentlichen Streckenführung von Konya
nach Bagdad (nach 1903) war Bismarck bereits verstorben. Auch nach seinem Tod steht Bismarck
also symbolisch für Deutschland. Es wird der Eindruck erweckt, als ob der Ausbruch des Ersten
Weltkrieges noch auf Bismarcks persönlichem Bemühen begründet ist.
520
Göktürk spricht von „Comic-Strip-Versionen“ der türkischen Geschichte. Sie merkt an, dass
diese nicht „durch den Tiefgang der zugrundeliegenden historischen Analyse“ überzeugten, jedoch
„durch die kindlich-naive Erzählperspektive des Romans“ legitimiert seien. Göktürk: Muttikülturelle
Zungenbrecher. S. 86.
521
148
5.3.1 Großvater-Geschichte
Kriegsausbruch in seiner Einfachheit besonders hervorgehoben.522 Der Begriff
‚Eimer‘ erhält zur Veranschaulichung des Erzählten immer eine andere metaphorische Bedeutung. Wie bei einem Theaterstück, in dem Requisiten zu verschiedenen Zwecken benutzt werden, wird er z.B. umgedreht zu einem
Kriegshelm.
Am 2. August 1914 schloss das Osmanische Reich mit Deutschland ein Geheimbündnis, wonach es Deutschland im Falle eines Angriffes militärische
Hilfe versprach.523 Als bald darauf der Erste Weltkrieg ausbrach, wurde die
Türkei stark in Mitleidenschaft gezogen. Auch der Großvater wird eingezogen
und verletzt. „Der Großvater mußte für die deutschen Eimer in den Krieg.“
(K 39) Jetzt stehen die Eimer nicht mehr für Kriegshelme, sondern für das
deutsche Militär. Um die Verbindung zwischen Inhalten und dem Bild des
gewebten Teppichs herzustellen, spielt Özdamar an dieser Stelle mit Teppichmotiven. Die Verletzung des Großvaters manifestiert sich in einem roten
Dreieck im Teppich. Symbole wie dieses Dreieck können verschiedene Inhalte
wie z.B. Schmerz, Liebe und Sehnsucht ausdrücken.524 So kann ein Teppich
tatsächlich eine Geschichte erzählen.525
Nach dem Ersten Weltkrieg stand das Osmanische Reich neben Deutschland
auf der Verliererseite. Da Russland durch die Oktoberrevolution 1917 nicht
mehr zu den Feinden zählte,526 wurde die Türkei zwischen den Siegermächten
522 Entsprechend einer türkischen Weisheit, dass Kinder die Wahrheit sagen: ‚çocuktan al haberi‘.
Vgl. Ömer Asim Aksoy: Atasözleri Sözlüğü. Atasözleri ve Deyimler Sözlüğü. Istanbul: Inkilap, 1997.
S. 874. S. 222.
Der damalige Kriegsminister Enver Pascha war selbst in Berlin ausgebildet worden und vertraute
auf die deutsche Kriegsführung. Außerdem wollte er das Reich von dem wirtschaftlichen Druck
befreien, der von England und Frankreich ausging. Ein weiterer Gedanke war, die im Balkankrieg
verloren gegangenen Gebiete wiederzuerlangen und die russische Bedrohung für die Meerengen
auszumerzen. Diese ehemals türkischen Gebiete versprach Deutschland tatsächlich als Gegenleistung. Als im August 1914 zwei deutschen Kriegsschiffen in osmanischen Gewässern Schutz geboten
wurde, musste das Osmanische Reich Wort halten. Vgl. Matuz: Das Osmanische Reich. S. 263f.
523
524 Vgl.: „Die Teppich- und Kelimmuster enthalten keine rein abstrakten, sondern zu Symbolen
abstrahierte Formen, denen bestimmte Inhalte und Aussagen zukommen. Dennoch nehmen sie –
zusammen mit der türkischen Kaligraphiekunst – Formen, Farbgebungen und Elemente der abstrakten Malerei vorweg und bieten einer ganzen Bewegung innerhalb der modernen türkischen Malerei
neue und starke Impulse. Auch die in die Wollsocken farbig eingestrickten Formen symbolisieren
Inhalte wie Liebe, Sehnsucht oder Familienstand.“ Yüksel Pazarkaya: Rosen im Frost. S. 39.
525 Besonders anschaulich wird die Transformation von Geschichten in Teppiche in dem persischen
Film Gabbeh. Als dort ein kleines Mädchen stirbt, wird der Teppich mit schwarzer Farbe weitergewebt. Der Film Gabbeh zeigt das Leben einer Nomadenfamilie im Iran. Mohsen Machmalbaf: Gabbeh
(1996).
526 Auf die Begrüßung des Befreiungskampfes von bolschewistischer Seite wird an dieser Stelle
angespielt: „Auf dem Teppich ritt ein staubbedeckter Reiter, kam an, sein Pferd fiel und starb. Ein
149
5.3.1 Großvater-Geschichte
England, Frankreich und Italien aufgeteilt. Zwar gab es nach wie vor einen
Sultan, der das verbliebene ‚Reich‘ rund um Istanbul pro forma regierte, er war
aber nur ein Spielball in den Händen der europäischen Entente. Seine Machtlosigkeit wird durch die Charakterisierung als „nackt“ beschrieben. Jeden Tag
wäscht er sein Gesicht in einem anderen Eimer (vgl. K 38). Die Eimer stehen
jetzt stellvertretend für die einzelnen europäischen Mächte.
Als ob der Grund für den Verfall des Osmanischen Reiches in der Kette von
Machtkämpfen zu sehen sei (also aus europäischer Sicht), bei denen auch brutal gemordet wurde, wird der Sultan mit diesen Bildern im Spiegelbild des
Wassers im Eimer konfrontiert:527
Jeden Tag, wenn er sich über den Eimer bückte, zeigten
sich im Eimer alle Sultans, die von ihren eigenen Brüdern,
Müttern, Vätern erdrosselt, erhängt, zerstückelt worden waren, und sie färbten die Eimer rosa. (K 40) Der Eimer fungiert jetzt als Spiegel, in dem sich auch die von Abgaben
schwer belasteten Bauern spiegeln. Deren „Tierkadaver“
stehen im krassen Gegensatz zu den Diamanten, mit denen
sich der jetzt machtlose aber nach wie vor reiche Sultan die
Augen verschließt.
Nachdem die Kämpfer unter Atatürk sowohl die Besatzungsmächte als auch
das Osmanische Reich besiegen konnten, flieht Sultan Mehmet VI. an Bord
eines englischen Frachtschiffes. Die Eimer sind nun zu Schiffen umfunktioniert worden:
„[…] Die Eimer schwammen im Mittelmeer Richtung Italien, England und
Frankreich. […] Der letzte Sultan warf sich hinter ihnen ins Wasser und
Russe. Er schüttelte aus seinem Mantel und Mütze viele Waffen und Gold. Sagte: »Lenin und
Genossen begrüßen euren antiimperialistischen Krieg.«“(K 41)
Interessant ist Horrocks Deutung dieser Stelle: „The whole burlesque account reads as if Özdamar has chosen to take literally the German metaphor ‘im Eimer sein’ – ‘to be up the spout’ – and
that is well and truly ‘up the spout’ is the once powerful Ottoman Empire. [Hervorhebung im Text]“
Vgl. David Horrocks: In Search of a Lost Past. A Reading of Emine Sevgi Özdamar’s Novel ‘Das Leben ist
eine Karawanserei, hat zwei Türen, aus einer kam ich rein aus der anderen ging ich raus. In: David Horrocks/Eva Kolinsky (Hgg.): Turkish Culture in German Society Today Providence: Berghahn, 1996.
S. 23-44. S. 29.
527
150
5.3.2 Mehmet Ali Bey-Geschichte
schwamm weg und umarmte fest einen englischen Eimer.“ (K 41)
Der Befreiungskrieg festigte die Türkei in ihren heutigen Grenzen. Am 29.
Oktober 1923 wurde die Republik Türkei proklamiert.528
5.3.2 Mehmet Ali Bey-Geschichte
Auf der Ebene des ‚emplotment‘ geht es in Mehmet Ali Beys Performance um
die Darstellung der Machtergreifung der Jungtürken bis zum Eintritt des Osmanischen Reiches in den Ersten Weltkrieg an der Seite Deutschlands. Veranschaulicht wird das auf der Ebene des ‚enactment‘ vor allem durch die Funktionalisierung eines Granatapfelbaumes.
Eine der vielen kleinen Episoden der Karawanserei handelt davon, dass die Protagonistin und ihr Bruder Ali Bekannte der Tante Sıdıka in einem Dorf in der
Nähe Bursas besuchen. Bei Mehmet Ali Bey und seiner Frau „Tante Müzeyyen“ scheint es sich aber nicht um Bauern zu handeln. Dies wird einmal aus der
Anrede des Mannes mit „Bey“ ersichtlich.529 Sogar seine Frau spricht ihn so
an: „Aa, Mehmet Ali Bey, lauf nicht über die Kinder, erzähle!“530 (K 194) Im
Text wird aber auch erwähnt, dass Mehmet Ali Bey von der Demokratischen
Partei verbannt wurde.531 In seinem Unmut darüber empfindet Mehmet Ali
Bey auch die Kühe als feindlich. bzw. die Kühe repräsentieren die Gemeinschaft der Dorfbewohner. Diesen werden in dieser metonymischen BeschreiDieser Tag wird auch heute noch mit Militärparaden gefeiert. Die Erzählerin beschreibt einen
solchen Feiertag auch in der Karawanserei (vgl. K 103ff.).
528
529 Vgl. Karl Steuerwald: Türkisch-Deutsches Wörterbuch. Wiesbaden: Harrassowitz. 1975. S. 110:
„1. (der) Herr (Anrede oder Bez. für Gebildete […]. 1934 offizielle Ersetzung durch bay [Hervorhebung im Original])“
530 Bei „Lauf nicht über die Kinder“ handelt es sich um eine wörtliche Übersetzung der türkischen
Redewendung ‚birisinin üstüne gitmek‘. Diese wird verwendet, um auszudrücken, dass man von
einem Thema nicht abweicht und nachbohrt, bzw. eine Person nicht in Ruhe lässt. Vgl. Aksoy:
Deyimler Sözlüğü. S. 1092.
531 Vgl.: „Er war von den Demokratische Partei-Leuten in dieses Dorf verbannt worden, weil er in
der republikanischen Volkspartei war.“ (K 193) Als einziger Grund für die Verbannung wird seine
Mitgliedschaft in der Republikanischen Volkspartei angegeben. Wahrscheinlich ist eine Zwangsversetzung gemeint. In den 1950er Jahren regierte die Demokratische Partei. Nachdem Atatürks Cumhuriyet Halk Partisi, von Özdamar als „Republikanische Volkspartei“ übersetzt, lange Zeit die einzige Partei geblieben war, wurde nach dem 2. Weltkrieg das Mehrparteiensystem eingeführt. Die 1946
gegründete Demokrat Parti, Demokratische Partei, gewann bei den zweiten Wahlen in der Geschichte der Republik Türkei. Beamte, die Mitglieder der Republikanischen Volkspartei waren, wurden
durch Anhänger der Demokratischen Partei abgelöst und in entlegenere Gebiete, wie beispielsweise
das beschriebene Dorf, versetzt. Vgl. dazu Fikret Adanir: Die Geschichte der Republik Türkei. Mannheim: BI-Taschenbuchverlag, 1995. S. 84.
151
5.3.2 Mehmet Ali Bey-Geschichte
bung somit auch die negativen Attribute zugeschrieben, die Kühen nachgesagt
werden:
Mit dem Abend zusammen kamen die Kühe und Schafe
und Esel zu ihren Häusern zurück. Sie liefen an dem Garten vorbei, schauten uns an und sagten: »Muuuuh.« Mehmet Ali Bey sagte: »Die Kühe sind auch in der Demokratischen Partei, sie bellen, wenn sie mich sehen.« (K 193)
Damit werden die Kühe nicht nur personifiziert, sondern – wie in Orwells
Animal Farm – auch politisiert.532 Weiterhin kennzeichnen sie das Fremdsein
von Mehmet Ali Bey in diesem Dorf. Fremdheit entsteht hier nicht nur durch
unterschiedliche politische Meinungen, sondern auch aufgrund unterschiedlicher Bildung. Dass Mehmet Ali Bey gebildet ist, erkennt man an den Fragen,
die er den Kindern stellt und an den Ausführungen, die er selbst macht.
Mehmet Ali Bey führt regelrecht ein Lehrstück in der Manier des Agitproptheaters auf. Der Granatapfelbaum dient als Bühnenbild in diesem (wenn nicht
Straßen-, so doch) ‚Gartentheater‘. Seine Zuschauer, die Kinder, bindet er
durch gezielte Fragen in seine Vorführung ein.533 Wie Mehmet Ali Bey die
geschichtlichen Ereignisse im Sinne Brechts verfremdend darstellt, um die
Kinder zum Denken anzuregen, soll im Folgenden dargestellt werden.
Während er Stufe für Stufe seine Hose runterlässt und auf dem Baum herumklettert, hält er einen Vortrag über die Machtergreifung der Jungtürken, die
europäischen Interessen am Osmanischen Reich und dessen Eintritt in den
Ersten Weltkrieg. Dabei scheinen der Sitz seiner Hose und seine Höhe auf
dem Granatapfelbaum Darstellungsweisen zur Veranschaulichung seiner Erzählung zu sein. Der Granatapfelbaum fungiert hier vergleichbar mit den Eimern in der Großvatererzählung als Requisite zur symbolischen Veranschaulichung der dargestellten Inhalte. „Wie ein plötzlich aus dem Baum gefallener
Granatapfel“ (K 193) fängt Mehmet Ali Bey an, das geschichtliche Wissen der
Kinder abzufragen. Sechs Fragen beantworten die Geschwister ohne zu stocken. Als Mehmet Ali Bey jedoch nach der Freiheit fragt, ist das der Anfang
seiner monologischen Ausführungen. Zunächst lässt Mehmet Ali Bey seinen
Sohn dessen Geschichtsbuch herbeiholen:
Mehmet Ali Bey blätterte in dem Buch, über dem Buch hockend, und drückte mit seiner rechten Hand auf seinen
532 In Özdamars Erzählung Karagöz in Alamania tritt z.B. ein intellektueller Esel auf, der u.a. Marx
zitiert. Vgl. Karagöz in Alamania. Schwarzauge in Deutschland. In: Özdamar: Mutterzunge. S. 47-101.
Insofern ist die Personifizierung von Tieren typisch für Özdamars Erzählen.
Elemente dieser Art des politischen Theater finden sich bei Brecht und erlebten während der
Studentenbewegung in den 1960er Jahre eine ‚Renaissance‘. Vgl. dazu Hort Turk/Jean-Marie Valentin (Hgg.): Aspekte des politischen Theaters und Dramas von Calderón bis Georg Seidel. Bern: Lang, 1996.
533
152
5.3.2 Mehmet Ali Bey-Geschichte
Bauch und furzte, furtfurtfurt auf die Blätter. [...] Er sagte
zum Geschichtsbuch: »Man spuckt einem schamlosen
Mann ins Gesicht, der aber sagt: ‚Oh, es regnet wieder.‘«534 (K 194)
Mehmet Ali Beys ‚Gespräch‘ mit dem Geschichtsbuch kann als Gespräch mit
der Geschichte an sich aufgefasst werden – zumindest aber mit der Geschichtsschreibung.535 In der Kritik von Mehmet Ali Bey spiegelt sich hauptsächlich der Unmut darüber, was bzw. was nicht in den Geschichtsbüchern
steht: „Steht in Geschichtsbüchern, daß die Soldaten unter Regen wie Espenlaub zittern, steht nicht.“ (K 198) Durch dieses Urteil über die Geschichtsschreibung kritisiert er nicht nur, dass etwas verschwiegen wurde, sondern
auch welche Inhalte verschwiegen wurden. Das Geschichtsbuch wird durch
den Vergleich mit einem schamlosen Mann personifiziert. Durch seine stellvertretenden „Fürze“ auf das Geschichtsbuch demonstriert er der Geschichtsschreibung, dass er sie nicht für voll nimmt. Sie sei wie der schamlose Mann:
obwohl er auf sie „furzt“, schämt sie sich nicht; dabei müsste sie, das zeigt
Mehmet Ali Beys Verhalten, allen Grund haben, sich zu schämen. Die offizielle Geschichtsschreibung ist nicht integer, weil sie nicht alle Perspektiven auf
geschichtliche Ereignisse vollständig wiedergibt. In diesem Sinn ist sie auch
nicht ‚ehrlich‘.
Gleichzeitig ist in sein Handeln auch eine Kritik am Schulsystem der Türkei
verwoben, das den Kindern zwar Daten und Fakten vermittelt (bzw. verschweigt), nicht aber die Fähigkeit, sich über Begriffe wie ‚Freiheit‘ eine Meinung zu bilden. So hat die Protagonistin auch keine Antworten auf die provokativen Fragen ihres Onkels.
Ich wußte es nicht. In den Geschichtsbüchern liebte ich die
Gemälde von Sultanen und hatte Angst vor den Daten der
Kriege usw., weil ich sie nicht richtig auswendig konnte.
Mehr wußte ich nicht. (K 194)
Diese Textstelle gibt Aufschluss über den Inhalt der Geschichtsbücher und die
Methode des Unterrichts: Bilder von Sultanen und Daten von Kriegen. Aus
Diese Darstellung ist einer türkischen Redewendung entnommen. „Terbiyesiz adamın yüzüne
tükürürsün, ‚Yarabbi şükür, yağmur yağıyor‘ der«. Vgl. Aksoy: Atasözleri Sözlüğü. S. 194. Es wird
benutzt, um auszudrücken, wie ‚charakterlose Menschen‘ selbst Beleidigungen affirmativ umdeuten.
534
535 Vgl. dazu auch Cornelia Zierau, die die Mehmet Ali Bey Passage im Lichte von Homi Bhabhas
Ansatz zum Nation-Writing in postkolonialer Literatur interpretiert. Cornelia Zierau: Story und
History – „Nation-Writing“ in Emine Sevgi Özdamrs Das Leben ist eine Karawanserei. In: Manfred Durzak/
Nilüfer Kuruyazıcı: Die andere deutsche Literatur. Istanbuler Vorträge. Würzburg: Königshausen
und Neumann, 2004. S. 166-173.
153
5.3.2 Mehmet Ali Bey-Geschichte
Auswendiglernen besteht die Aufgabe der Schüler; eigene Meinungsbildung
und kritisches Hinterfragen scheinen keine Rolle zu spielen. Als ob sie tatsächlich in der Schule wären, haben die Kinder Angst davor, die Frage nicht beantworten zu können:
Da aber Mehmet Ali Bey auf eine Antwort wartete und dabei in seiner Nase bohrte, fing ich an, meine Finger zu zählen. Ich zählte elf Finger an meinen Händen, und um statt
der elf wieder zehn Finger zu haben, fing ich von neuem
an, die Finger zu zählen. Jetzt waren es zwölf. Ich schaute
durch die Spitzen meiner Wimpern, was die anderen machten: Sie zählten auch irgendetwas.
Einer zählte seine Zähne, der andere zählte seine Pickel, Ali
zog seine Hosenbeine lang, als ob seine Beine plötzlich länger geworden wären als seine Hose. (K 194)
Als Tante Müzeyyen lachend einschreitet, hört Mehmet Ali Bey auf zu bohren,
sowohl in seiner Nase, als auch bei den Kindern. Er beginnt seine Ausführungen, stellt seine Version der Geschichte vor. Ausgangspunkt ist erneut Sultan
Abdülhamit: „Mehmet Ali Bey zwickte seine Nase mit seinen Fingern, sprach
durch die Nase und sagte: »Nınnnnnnn,536 es war einmal eine türkische Nase,
diese Nase hieß Sultan Abdülhamit, und er regierte 32 Jahre“537 (K 195) Mehmet Ali Bey berichtet von dem Sultan, als handle es sich um eine Märchenfigur.538 Er identifiziert den Sultan durch seine Nase. Ein Teil seiner Person
steht für die gesamte Erscheinung (Synekdoche). Er spricht zunächst nicht
von einem Sultan, sondern von einer Nase, die Sultan Abdülhamit heiße. Die
Nase erscheint somit als Gegenspieler im Sinne von Volker Klotz.539 Wie beDiese Darstellung ist ein Beispiel für die von Özdamar oft verwendete Onomatopoesie. An dieser
Stelle wird sie türkisch benutzt. Deutsche Leser werden das Türkische ‚ı‘ als ‚i‘ lesen. Dabei gibt nur
die türkische Aussprache dieser Stelle, den Ton wieder, der aus einer zugehaltenen Nase kommt.
536
Interessant ist, dass in der türkischen Ausgabe die Regierungszeit auf 33 Jahre geändert wurde.
Vgl. Emine Sevgi Özdamar: Hayat bir kervansaray. Istanbul: 1993. S. 132: „[…] Abdülhamit 33 yıl
boyunca hükmetti.“ Auch Palmer spricht von 32 Jahren Regierungszeit. Vgl. Alan Palmer: Verfall und
Untergang des Osmanischen Reiches. München: List, 1994. S. 216. Regierungszeiten sind zumindest in
diesem Zeitraum exakt nachweisbar. Die unterschiedlichen Angaben kommen wahrscheinlich daher,
dass die Jungtürken Abdülhamit 1908 absetzten (nach 32 Jahren), er aber kurze Zeit später für ein
Jahr wieder an die Macht kam (und somit 33 Jahre regierte). In der türkischen Übersetzung wird die
Fiktion der Autorin durch faktische Geschichte eingeschränkt.
537
Erstaunlich ist, dass er die im Deutschen übliche Einleitung „Es war einmal“ wählt und nicht die
aus der Türkei bekannte Einleitung „Es war einmal, es war keinmal“, die auch Özdamar bei der
Wiedergabe von Märchen benutzt (vgl. S. 99). Ein Märchen mit dem Namen ‚Sultan Nase‘ gibt es
nicht. Es erinnert aber an das Märchen ‚Zwerg Nase‘ von Wilhelm Hauff.
538
539
Vgl. Klotz: Gegenstand als Gegenspieler. S. 20.
154
5.3.2 Mehmet Ali Bey-Geschichte
reits in der Erzählung des Großvaters wird erwähnt, dass der Sultan Angst vor
Aufständen und Attentaten hatte, und deswegen noch nicht einmal seinen
Schneider nahe an sich herantreten ließ.540 Vorsichtig drückt Mehmet Ali Bey
aus, dass der Sultan als Despot bekannt war: „Man sagt, Sultan Nase war ein
Despot“ (K 195).541
Während seiner Darstellung beginnt Mehmet Ali Bey, seinen Gürtel zu lösen
und seine Hose herunterzuziehen. Als er erzählt, dass die Jungtürken an die
Macht kamen und „die Freiheit“ brachten, lässt er die Hose ganz fallen. Die
Hose veranschaulicht allegorisch die Unterdrückung, die provozierende
Nacktheit des Onkels die Freiheit.
Den Zeitpunkt für die Machtübernahme stellt Mehmet Ali Bey auf simplifizierende Weise dar: Als der Sultan, der sich gerne französische Krimis vorlesen
ließ, „beim Krimizuhören eingeschlafen war, brachten die türkischen nationalistischen Offiziere, die Jung-Türken, die Freiheit.“ (K 195)
Die Proklamation der Republik Türkei war das Ergebnis der Bemühungen der
nationalistischen Bewegung. Diese wurde später kritisiert, eine Revolution von
oben durchgeführt zu haben. Dieser Kritik entsprechend fragt Mehmet Ali
Bey: „Wer wußte schon, was die Freiheit ist? Wer wollte sie, die Menschen?
Wußten die Menschen, was die Freiheit ist?“ (K 195) 542
Die Jungtürken werden hier kurz als „türkische nationalistische […] Offiziere“
(K 195) vorgestellt. Die jungtürkische Bewegung war der Wegbereiter der kemalistischen Reformen. Die Gruppierung, die sich um 1889 bildete, wollte
einen Nationalstaat nach europäischem Vorbild schaffen. Obwohl sie noch
um die Jahrhundertwende ins französische Exil mussten, gelang es ihnen, nach
1908 das politische Geschehen maßgeblich zu beeinflussen.543
Um die Bewunderung der jungtürkischen Bewegung für Frankreich zu untermauern, benutzt Mehmet Ali Bey die Metapher einer „französischen Seife“.
540 Diese Anekdote über den Sultan scheint entstanden zu sein, weil die Kleidung auf seinem unproportionierten Körper nicht gut saß. Palmer spricht vom zusammengesunkenen „leichenhaften Körper“ des Sultans. Vgl. Palmer: Verfall und Untergang des Osmanischen Reiches. S. 211.
Tatsächlich ist er als ‚Blutiger Sultan‘ in die Geschichte eingegangen. Bei Matuz heißt es, dass er
„vielfach – nicht ganz zu Recht – als furchtbarer Despot eingeschätzt wurde“. Vgl. Matuz: Das
Osmanische Reich. S. 235.
541
542 Dies bedeutet also, dass die Frauen sich durch den Schleier nicht eingeschränkt fühlten, sondern
ihnen vielmehr die Freiheit geraubt schien, ihn zu tragen. Den Menschen wurde also vorgeschrieben,
was für Freiheiten sie hatten, was den Freiheitsgedanken ad absurdum führt – oder aber ein existenzialphilosphisches Grundproblem anstößt, nach dem die Menschen zur Freiheit verdammt sind.
Diese Textstelle korrespondiert mit dem Abschnitt, in dem über die Reformen Atatürks berichtet
wird (vgl. K 41).
Zur ausführlicheren Darstellung der jungtürkischen Bewegung siehe Matuz: Das Osmanische Reich.
S. 249-261.
543
155
5.3.2 Mehmet Ali Bey-Geschichte
Die Freiheit war eine französische Seife, die die Türken, die
vor dem Sultan Nase nach Frankreich abgehauen waren,
mitbrachten. Sie wollten ihre etwas dunklen Hände mit
französischer Seife weiß waschen. (K 195f.)
Das Bild der Seife dient zum einen zur allegorischen Veranschaulichung des
abstrakten Freiheitsgedankens. Allerdings nicht im Sinne des barocken ‚vanitas
mundi‘, was auf die Vergänglichkeit der Freiheit hindeuten würde. Vielmehr ist
die Allegorie lebensweltlich instrumentalisiert. Cornelia Zierau interpretiert
diese Stelle als Versuch der Jungtürken zu „weißen, europäischen“ Menschen
zu werden.544 Verstärkt wird diese Deutung durch die Erwähnung des
„Prinz[en]“, der „verliebt in England“ (K 196) war. Mehmet Ali Bey unterstellt
diesem Prinzen, dass er Aufstände aus Liebe zu England und nicht aus der
Liebe zur Türkei geplant habe: „Er haßte uns, denen er die Freiheit bringen
wollte.“ (K 196) Bei dem „aufständischen Prinzen“ handelt es sich um den
Prinzen Sabahattin, der direkt aus der osmanischen Familie abstammte und ein
Führer der jungtürkischen Bewegung war. Er sympathisierte mit England.
Prinz Sabahattins Liebe zu England wird durch die Umarmung des Granatapfelbaumes versinnbildlicht. Er sah die Engländer als überlegen, die Türken als
zurückgeblieben an: „Die Engländer sind fortschrittlich, wir sind Nomaden.“
(K 196)545 Die „dunklen Hände“ stehen für die zurückgebliebenen Türken, die
von der „französischen Seife“, also den europäischen Ideen, rein gewaschen
werden sollen. Der „andere Mann, der uns die Freiheit bringen wollte“ (K 196)
ist Abdullah Cevdet, der die Idee vertrat, aus Europa Männer ins Land zu
bringen, um eine widerstandsfähige Generation heranzuziehen (vgl. K 196).
Beide Männer haben also gemeinsam, dass Ihnen ein Staat nach europäischem
Vorbild wichtiger ist als das Wohl ihres Volkes, dem sie zudem nicht zutrauen,
den Staat eigenmächtig zu gründen. Insofern werden die Jungtürken hier als
Gefahr dargestellt, die nicht nur die Integrität des Osmanischen Reiches, sondern vor allem die des Volkes bedrohen.
Der Granatapfelbaum steht für das Osmanische Reich. Mehmet Ali Bey verkörpert auf ihm die europäischen Großmächte, die ihre kolonialistischen Ambitionen in einem indirekten Kolonialismus auch in der Türkei durchsetzen
544 Vgl. Zierau: Story und History – „Nation-Writing“ in Emine Sevgi Özdamars Das Leben ist eine Karawanserei. S. 171.
Doğan Avcıoğlu nach beruhte die wissenschaftliche Theorie dieses Prinzen auf der Bewunderung
Englands. Prinz Sabahattins Überzeugung nach gibt es zwei verschiedene Gemeinschaften: Volksgemeinschaften und individuelle Gemeinschaften. Die englische Gemeinschaft sei individualistisch
und überlegen. Die osmanische Gesellschaft sei eine Volksgemeinschaft und zurückgeblieben. Deswegen sei es nötig, u.a. mithilfe von angelsächsischer Bildung von der Volksgemeinschaft in die
individualistische Gemeinschaft überzutreten. Vgl.: Avcıoğlu: Türkiye’nin düzeni. S. 240.
545
156
5.3.2 Mehmet Ali Bey-Geschichte
wollten. Von ihrer Seite her besteht die Gefahr einer anderen Art der Integritätsverletzung, die die Souveränität des Reiches auf ökonomischer Basis auszuhebeln droht. Als Mehmet Ali Bey über die Deutschen spricht, die sich
„verspätet“ hatten und „sich schnell nach Osten ausbreiten“ (K 196) wollten,
klettert er „eilig mit seiner von seinen Füßen aus dem Granatapfelbaum herunterhängenden Hose noch höher.“ (K 196f.) Er selbst ist zwar von der Hose,
also von der Unterdrückung durch den Sultan, befreit, aber nun lauert die Gefahr durch die Kolonialmächte: „England, Frankreich, die Russen und die
Deutschen bezeichneten das Osmanische Reich als kranken Mann am Bosporus.“ (K 197)
Die Anführer der jungtürkischen Bewegung heiraten nach der Machtübernahme die Töchter der Sultane;546 sie heiraten sich also in den Klan ein, den
sie verabscheuen. Mehmet Ali Bey hebt entschieden hervor, dass es bei diesen
Kämpfen nicht wirklich um das Wohl des Volkes ging, sondern um Machtübernahme- bzw. Machtzuwachs der jeweiligen Parteien. „Als Mehmet Ali Bey
‚heiraten‘ sagte, nahm er einen Granatapfel, zerdrückte ihn auf seiner Hand,
und der rote Saft des Granatapfels floß auf den hellen Rock der Tante Müzeyyen.“ (K 196)
Dieses Handeln drückt Wut aus. Der rote Saft des Granatapfels auf dem hellen Rock der Tante Müzeyyen kann aber auch als Metapher für die Entjungferung der Sultanstöchter stehen. Gleichzeitig verliert die jungtürkische Bewegung wenn nicht ihre Unschuld, so doch ihre Integrität im Sinne von ‚Unbescholtenheit‘, da ihre Führer gegen die eigenen Ideale verstoßen.
Im Anschluss wirft Mehmet Ali Bey ein paar Granatäpfel auf die Köpfe der
Zuhörer. Die Umfunktionalisierung der Granatäpfel zu Waffen stellt an dieser
Stelle ein Mittel zur erneuten Allegorisierung dar: Zur Veranschaulichung der
Bedrohung, die von den Großmächten England, Frankreich und Russland
ausgeht. 1907 wurden bereits Pläne von England und Russland gemacht, wie
das Osmanische Reich aufgeteilt werden sollte – womit sowohl die physische
als auch die politische Integrität zerstört worden wäre. Ziel der Bemühungen
um die Türkei war vor allem die Erreichbarkeit der Ölvorkommen auf der
arabischen Halbinsel. Die Rolle der Eisenbahn wird in Bezug zu den imperialistischen Interessen gesetzt; wobei die Ausbeutung (sowohl der natürliche
Reichtum der Wälder, als auch der materielle der Finanzkasse) des Osmanischen Reiches aufgrund der Kilometerpauschale im Vordergrund steht:
Die Engländer bauten Bahnlinien nach Baku. Die Deutschen bauten Bahnlinien nach Bagdad und Musul, zu den
Petrolbetten. Dann kam die Deutsche Bank nach Istanbul.
546
Vgl. Matuz: Das Osmanische Reich. S. 268.
157
5.3.2 Mehmet Ali Bey-Geschichte
Die Deutschen bauten die Bahnlinie nach Bagdad, und die
osmanische Regierung mußte pro Kilometer zahlen. Die
Deutschen haben, um diesen Kilometerverdienst zu vermehren, unnötig gefaltete Schlangenlinien gebaut. (K 197) 547
Mehmet Ali Bey betont nicht nur die imperialistischen Interessen der europäischen Staaten, sondern auch das Ausmaß ihres Machteinflusses auf das Osmanische Reich. Er zieht seine Hose ganz aus und sagt: „Und das war die Lage,
als die Jungtürken Sultan Nase stürzten und die Freiheit brachten.“ (K 197) Er
führt fort:
Die Freiheit war ein Gesetzbuch, und die Engländer, Franzosen, Russen, Deutschen, Österreicher gaben sich gegenseitig die Hand und bauten nebeneinander, um das Osmanische Reich danach untereinander zu verteilen. (K 197)
Damit will Mehmet Ali Bey bekräftigen, dass das Osmanische Reich nicht wirklich frei war. Obwohl in den Schulbüchern steht, dass die Jungtürken die „Freiheit gebracht“ und versucht haben, „das zerfallene Osmanische Reich wieder zu
retten“ (K 193), klingt es in der Erzählung des Mehmet Ali Bey eher so, als ob
die Jungtürken Schuld am endgültigen Zerfall des Osmanischen Reiches hatten,
weil sie mit den Deutschen in den Krieg zogen.548 „Die türkischen Offiziere
kriegten Lust, mit den Deutschen zusammenzuspielen.“ (K 197) Das Osmanische Reich war somit nach der Machtübernahme der Jungtürken nicht tatsächlich frei, sondern wurde vom imperialistischen Expansionswillen bedroht.
Nicht zuletzt aufgrund dieser Kilometerpauschale war die Bagdad-Bahn ein Gewinn versprechendes Projekt. Für jeden Kilometer, der in Betrieb ging, musste eine Kilometerpauschale von
15 000 Francs gezahlt werden. Vgl. Avcıoğlu: Türkiye’nin düzeni. S. 140.
547
Vgl.: „Für die osmanische Niederlage im Ersten Weltkrieg wurde das jungtürkische Triumvirat
verantwortlich gemacht und im Oktober 1918 entlassen […] das unrühmliche Ende der Jungtürken
entsprach ganz ihrer zwiespältigen politischen Rolle. Denn sie waren es, die das Osmanische Reich in
den Krieg geführt und dadurch sowie durch ihre chauvinistische Nationalitätenpolitik die Auflösung
des Reiches verursacht hatten. Es darf jedoch nicht übersehen werden, dass sie ernsthaft versucht
haben, ihr Land zu modernisieren und verschiedene dringend nötige Reformmaßnahmen durchzuführen. Wenn das Reformwerk nicht tiefgreifend genug war, keine gründlichen sozialen und ökonomischen Änderungen bewirkte, wenn es zum großen Teil unausgeführt blieb, wenn es kaum Berührungen
gab, die desolate Lage der breiten Bevölkerungsschichten zu ändern oder diese auch nur in Betracht zu
ziehen, so lag das nicht nur am mangelnden Vermögen der Jungtürken, sondern auch an den denkbar
ungünstigen machtpolitischen Verhältnissen.“ Matuz: Das Osmanische Reich. S. 268.
548
158
5.3.3 Commitment auf der Ebene des Imperialismus
Mehmet Ali Bey beendet seine Agitprop-Aktion, indem er sich vom Granatapfelbaum wirft. Dieser Sturz ist symbolisch für die Niederlage im Ersten Weltkrieg zu sehen. Er zieht sich die Hose wieder an, die Freiheit ist ‚beendet‘, jetzt
muss das Volk bildlich gesprochen den Gürtel noch enger schnallen.
Mehmet Ali Bey […] schnallte seinen Gürtel zu, setzte sich
auf die Erde und schaute auf seine Knie und sagte: „[…]
Als der Erste Weltkrieg zu Ende war, hatten wir vier Millionen Menschen verloren. Steht in Geschichtsbüchern, daß
die Soldaten unterm Regen wie Espenlaub zitterten, steht
nicht. Bringt das Buch wieder her.“ (K 198)
Der auf die Knie gerichtete Blick bezeugt die Trauer, die Mehmet Ali Bey aufgrund dieser Tatsachen befällt. Damit knüpft er seine Erzählung wieder an die
anfängliche Kritik an der Geschichtsschreibung an.
Der Erzählerin bleiben diese vier Millionen Tote als Seelen, für die sie in ihrer
Verantwortlichkeit beten muss: „Ich wollte für die Toten beten, aber ich wußte nicht, wie ich diese vier Millionen Soldaten zählen sollte.“ (K 198)
5.3.3 Commitment auf der Ebene des Imperialismus
Unter ‚commitment‘ verstehe ich in Anlehnung an Horst Turk politische Stellungnahmen, die diskursiven Charakter haben.549 Der Begriff des ‚commitment‘ geht auf Talcott Parsons zurück, der darunter allgemein die „moralische
Verpflichtungen der Aktoren eines sozialen Interaktionssystems, die die Integrität einer Wertstruktur erhalten und zusammen mit anderen Faktoren zu ihrer
Verwirklichung im Handeln führen“, fasst.550 Sowohl der Großvater als auch
Mehmet Ali Bey nehmen politische Positionen ein, verteidigen vor allem die
Wertstruktur des Volkes, das sie aufgrund von Machtinteressen als betrogen
ansehen.
Da Deutschland das Ziel hatte, die arabischen Ölvorhaben über die Bagdadbahn zu transportieren, ist ein imperialistisches Interesse Deutschlands nicht
von der Hand zu weisen. Dennoch hatte selbst Edward Said ein imperialistisches Interesse Deutschlands am ‚Orient‘ ausgeschlossen. Auf der Ebene des
‚commitment‘ betreiben Onkel und Großvater also eine Art alternativer Geschichtsschreibung.
Im Wettstreit mit den den europäischen Großmächten spielte die Bagdadbahn
sozusagen als altertümliche Pipeline für Rohöl eine Rolle. Nach Avcıoğlu ist
549
Vgl. dazu Turk: Philologische Grenzgänge. S. 143f.
550 Talcott Parsons: Über Commitments. In: Ders.: Zur Theorie der sozialen Interaktion. Opladen:
Westdeutscher Verlag, 1980. S. 183.
159
5.3.3 Commitment auf der Ebene des Imperialismus
die Geschichte der Eisenbahn gleichzeitig die Geschichte der Bemühungen der
imperialistischen Großmächte, das Osmanische Reich zu vernichten.551
Von dem Vorwurf dieses imperialistischen Interesses hat Said, wie in Kapitel
3.3 bereits dargestellt, Deutschland freigesprochen.552 Fuchs-Sumiyoshi, die an
exemplarischen Werken den Orientalismus in der deutschen Literatur untersucht hat, versucht anhand von Definitionen in deutschen, englischen und
französischen Nachschlagewerken Saids Fokussierung auf hauptsächlich englischen und französischen Orientalismus zu untermauern. Während für
Deutschland kein „politisch-ökonomisch fundierter Direktbezug zum Nahen
Osten“ bestünde, bewiesen die „beiden primären Kolonialmächte des neunzehnten Jahrhunderts England und Frankreich […] ein über das rein sprachwissenschaftliche hinausgehendes Interesse an ihren östlichen Kolonien.“553
Obwohl Fuchs-Sumiyoshi mit ihrer Arbeit konstatiert, dass auch der deutsche
Orientalismus eine Untersuchung wert sei, akzeptiert sie lediglich Deutschlands „intellektuelle Autorität“ über den Orient.
So einseitig war aber das deutsche Interesse am Orient nicht.554 De jure war
das Osmanische Reich zwar keine Kolonie, es war aber für die europäischen
Großmächte dennoch von großer Bedeutung, denn strategisch bildete das
Gebiet der heutigen Republik Türkei eine Pufferzone zwischen den europäischen Großmächten und Russland; wirtschaftliche Investitionen und Exporte
versprachen Gewinne.555 Nicht zuletzt stellte es eine Verbindung zum Nahen
Osten und dem indischen Subkontinent dar. Äußerlich ein rein wirtschaftli551
Vgl. Avcıoğlu: Türkiye’nin düzeni. S. 139.
Said begrenzt seine Aussage zwar auf die ersten zwei Drittel des 19. Jahrhunderts (vgl. Said:
Orientalism. S.19.), geht in Orientalism aber auch nicht weiter auf Deutschland ein. Allerdings gesteht
Said ein, dass er den deutschen Orientalismus nicht ausreichend behandelt habe: „Any work that
seeks to provide an understanding of academic Orientalism and pays little attention to scholars like
Steinthal, Müller, Becker, Goldziher, Brockelmann, Nöldeke – to mention only a handful – needs to
be reproached, and I freely reproach myself.“ Said: Orientalism. S. 18. Nina Beermann hat damit
begonnen, diese Forschungslücke zu schließen: Vgl. Nina Berman: Orientalismus, Kolonialismus und
Moderne. Zum Bild des Orients in der deutschsprachigen Kultur um 1900. Stuttgart: Metzler, 1997.
552
553 Andrea Fuchs-Sumiyoshi: Orientalismus in der deutschen Literatur. Untersuchungen zu Werken des 19. und
20. Jahrhunderts. Von Goethes West-östlichem Diwan bis zu Thomas Manns Joseph-Tetralogie. Hildesheim:
Olms, 1984. S. 4.
Kolonien hatte Deutschland hauptsächlich in Afrika. Togo, Kamerun, Ostafrika, Südwestafrika
(Namibia) sowie Erwerbungen in Nordostguinea und den pazifischen Marshall-Inseln waren deutsche Kolonien.
554
555 1881 betrug der Anteil Frankreichs an türkischen Staatsanleihen 40%, der Großbritanniens 29%
und der Deutschlands lediglich 4,7%. 1914 war der deutsche Anteil auf 20,1% gestiegen, während
der Großbritanniens nur noch 6,9% betrug. Zwischen 1888 und 1893 steigerte sich die deutsche
Exportrate um 350%. Vgl. Schöllgen: Imperialismus und Gleichgewicht. S. 62.
160
5.4 Zusammenfassung
ches Abkommen, entwickelte sich die Bagdadbahn zu einem Gegenstand von
politischer Bedeutung. Durch das Engagement auf dem Gebiet der heutigen
Türkei wurde auch Deutschlands Macht in der Weltpolitik gestärkt. Insofern
kann durchaus von „informellem Imperialismus“ gesprochen werden.556
Rathmann benutzt sogar den Ausdruck „Halbkolonie“.557 Der damalige deutsche Staatssekretär des Äußeren, Bernhard von Bülow, forderte 1897 einen
„Platz an der Sonne“.558 Die Bagdadbahn bezeichnete er als „wichtigstes Projekt auf dem Gebiet der imperialistischen Betätigung.“559 Während Bismarck
dafür plädierte, gemäßigte Außenpolitik zu betreiben, schlug Deutschland
unter Bülow eine aggressivere Orientpolitik ein, in deren Rahmen auch die
zweite Orientreise Kaiser Wilhelm II. stattfand.
5.4 Zusammenfassung
Wie bereits Sascha Muhteschem, so ist auch die Protagonistin von Özdamars
Trilogie um ihre Integrität bemüht. Sie problematisiert dabei weniger ihre Integration in ein kulturelles oder nationales Kollektiv, sondern in das Kollektiv
der ‚Theaterleute‘. Die anerkannte Zugehörigkeit zu diesem Kollektiv ist ihr
Hauptziel, das sie höher bewertet als andere, ebenfalls wichtige Teile ihres
Lebens wie beispielsweise die Beziehung zu Männern. Sie bleibt handlungsfähig, so lange sie am Theater arbeiten kann.
In Özdamars Werk nimmt neben dem Theater auch Politik eine wichtige Rolle
ein. So sind die Darstellungen des Großvaters und Mehmet Ali Beys zum Befreiungskampf auch als politische Statements zu lesen, in denen die Missachtung verschiedener Individuen und Kollektive zu Ausdruck gebracht wird.
Ähnliche Arten der Integritätsverletzung werden in den GeschichtsdarstellunSchöllgen definiert informellen Kolonialismus wie folgt: „Während der formelle Imperialismus
auf die direkte politische und militärische Kontrolle eines Territoriums abzielte, beschränkte sich die
informelle Variante auf die so genannte „pénétration pacifique“, auf die friedliche Durchdringung
eines Gebietes. Das Ziel lag auch hier in der Kontrolle, aber eben in der indirekten, d.h. in der Regel
wirtschaftlichen. […] Die häufigste und zugleich effektivste Methode der indirekten Kontrolle bestand freilich darin, Länder der überseeischen Welt wirtschaftlich und finanziell in einem Maße von
den europäischen Staaten abhängig zu machen, das sich gelegentlich nur noch graduell von einer
direkten politischen Kontrolle unterschied. […] Zielgebiete des informellen Imperialismus waren
insbesondere China und das Osmanische Reich […].“ Schöllgen: Imperialismus und Gleichgewicht. S. 48.
556
557 Lothar Rathmann: Stoßrichtung Nahost 1914-1918. Zur Expansionspolitik des deutschen Imperialismus im
Ersten Weltkrieg. Berlin: Ruetten & Loening, 1963. S. 26.
558
Zitiert in: Schöllgen: Imperialismus und Gleichgewicht. S. 3.
559
Zitiert in ebd. S. 4.
161
5.4 Zusammenfassung
gen der beiden Männer thematisiert, wobei der Großvater stärker den europäischen Neoimperialismus kritisiert, Mehmet Ali Bey dagegen die Jungtürken.
Die Truppen um Atatürk kämpfen für die Integrität (Souveränität und NichtAufteilung) der Republik Türkei und führen, um die Integrität der proklamierten Republik Türkei zu schützen, Reformen ein, die als Integritätsverletzungen
des Volkes angesehen werden können.
162
6. Mercedes, mon amour – Integrität und Konsum in Adalet Ağaoğlus
Die zarte Rose meiner Sehnsucht
Während die Hauptfiguren der untersuchten Texte in den vorangehenden
Kapiteln in intellektuellen Berufen tätig waren, geht es in Adalet Ağaoğlus Die
zarte Rose meiner Sehnsucht um einen klassischen Gastarbeiter: Bayram Ünal,560
der in einem Heimaturlaub von seinen Landsleuten ausgrenzt und dennoch
nicht in einer typischen Opferrolle präsentiert wird.561 Dies ist keine neue Erfahrung für den Protagonisten – vielmehr die eigentliche Motivation nach
Deutschland zu gehen und als „ein Bayram mit Mercedes“ (ZR 123) zurückzukehren.
Adalet Ağaoğlu: Fikrimin ince gülü. Istanbul: Remzi Kitapevi, 1977; Adalet Ağaoğlu: Die zarte Rose
meiner Sehnsucht. Stuttgart: Ararat Verlag, 1979. (Im Folgenden abgekürzt als Zarte Rose bzw. ZR.)
560
561 Vgl.: „The image that Turkish readers would have in mind [...] is of men and women exploited in
two cultures and belonging properly to neither. Such a picture also includes the annual trial by fire of
the vacation migration to Turkey: the neophyte drivers – who often learn to drive after they purchase a car for the journey – risking towards death on the highways as thy push themselves beyond
endurance by not stopping en route to rest.“ Ellen W. Ervin: The Novels of Adalet Agaoglu: Narrative
Complexity and Feminist Social Consciousness in Modern Turkey. Columbia University, 1988. S. 81.
163
6.1 „Bayram mit Wagen“ als Identitätsentwurf
Der Roman Die zarte Rose meiner Sehnsucht ist nach einem türkischen Lied benannt, das Bayram auf seiner Urlaubsreise in die Türkei fortwährend hört. Das
Lied in seinem honiggelben Mercedes abzuspielen, den er zärtlich „Honigmädchen“ nennt, gehört zu seiner Selbstinszenierung. So will er die Anerkennung seiner Umwelt gewinnen, die ihm insbesondere in seinem Heimatdorf
verwehrt wurde.
Im Folgenden soll nach einer kurzen Exposition des Romans, der Zusammenhang von Integrität und Konsum in Ağaoğlus Text unter Rückgriff auf die
Theorie der sozialen Status (Bourdieu) und einschlägige Konsumtheorien analysiert werden. Letztere thematisieren Aspekte der sozialen Anerkennung über
Objekte statt über interpersonelle Verhältnisse, was sich im historischen Wandel der Integritätsstandards niederschlägt und in seiner Grundsätzlichkeit weder von den interaktionistischen Identitätstheorien von noch der Anerkennungstheorie angemessen berücksichtigt wird, für die Analyse dieses Romans
jedoch von maßgeblicher Bedeutung ist.
6.1 „Bayram mit Wagen“ als Identitätsentwurf
Der umfangreiche Roman Die Zarte Rose meiner Sehnsucht gibt die in einem neuen Mercedes absolvierte Tagesfahrt des Gastarbeiters Bayram Ünal von der
türkischen Grenze bis in sein Heimatdorf in der Nähe von Ankara wieder. Die
Heimkehr konfrontiert Bayram mit der türkischen Gegenwart der 1970er Jahre, veranlasst ihn aber auch, sich zurückzuerinnern. Durch innere Monologe
und Rückblenden erfährt der Leser, dass Bayram, motiviert durch ein einschneidendes Kindheitserlebnis, alles daran gesetzt hat, die Bewohner seines
Dorfes durch den Besitz eines Autos zu beeindrucken und damit die Anerkennung zu erlangen, die ihm als mittellosem Waisenkind ohne Aussicht auf
einen sozialen Aufstieg vorenthalten wurde. So ist er nun vor allem darum
bemüht, den nach Jahren anstrengender Gastarbeit in Deutschland erworbenen Wagen ohne Schaden an sein Ziel zu bringen und das Dorf zu erreichen,
solange sein kranker Onkel noch lebt und bevor seine Jugendliebe Kezban
einen anderen heiratet. Das Vorhaben scheitert, und die erwünschte Restitution seiner Integrität bleibt aus. Stattdessen zeigt sich, dass Bayram einer Fehleinschätzung sowohl der Situation als auch der Bedingungen sozialer Anerkennung erlegen ist: Sein Auftreten wird in der Türkei als prätentiös und lächerlich empfunden, seine Rücksichtslosigkeit mit Missachtung sanktioniert.
Desillusioniert und zutiefst verunsichert dreht er kurz vor seinem Heimatdorf,
das inzwischen zu einem Museum, genauer: zu einer antiken Ausgrabungsstät164
6.1 „Bayram mit Wagen“ als Identitätsentwurf
te, geworden ist, also nicht mehr dem imaginierten Ziel seiner Reise entspricht,
um und verharrt ziellos am Rande des Dorfes (ZR 266f.).
Im Zentrum der Romanhandlung steht das Verhältnis des Protagonisten zu
einem Statussymbol, dem Mercedes. Dieser ist für Bayram kein beliebiger
Gebrauchsgegenstand, sondern ein Accessoire von beträchtlichem Funktionsund Identifikationswert, das Besetzungen auf sich vereinigt, die Bayram von
anderen Trägern – Verwandten, Kollegen und Freunden – abgezogen und auf
dieses Objekt übertragen hat. Der Wagen wird zu einem Fetisch, d.h. zu einem
– folgt man der Marx’schen Analyse des „Warenfetischismus“ – „mystifiziert[en]“ Ding, dem „gesellschaftliche Beziehungen als“ ihm „immanente
Bestimmungen“ zugeschrieben werden.562 Entsprechend anthropomorphisiert
er den Mercedes und lädt ihn erotisch auf.563 So stellt der Wagen nicht nur
Bayrams einzige Bezugsperson in Ersetzung anderer, entbehrter Bezugspersonen dar, sondern rückt auch in die Position einer (Ersatz-) Geliebten ein, wenn
Bayram sich im (Selbst-) Gespräch an sein „Honigmädchen“ (ZR 11) wendet
und die Erzählerin den Mercedes auf diese Weise in Konkurrenz zu Kezban
treten lässt.564 Während in der Regel interpersonelle Anerkennungsverhältnisse
– die sich nach Axel Honneth zuerst und paradigmatisch fortwirkend in Liebesbeziehungen (Eltern-Kind-Beziehungen, Partnerschaften) manifestieren565
– die für sie relevanten Objektbeziehungen regulieren können, präsentiert Ağaoğlus Roman einen Fall, in dem ein Individuum die ihm versagt gebliebene
interpersonelle Anerkennung durch eine alternative Form der Anerkennung
ersetzt: Bayram, der als Waisenkind nur unzureichend in seine traditionale
Gemeinschaft integriert ist, ergreift die Möglichkeit, die ihm die im Entstehen
begriffene türkische Konsumgesellschaft offeriert, und lässt an die Stelle zwischenmenschlicher Beziehung die Beziehung zu einem Objekt treten. Aber
562 Karl Marx: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie. In: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke. Bd.
42. Hg. v. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Berlin/DDR: Dietz, 1983. S. 588.
Vgl. zum Warenfetischismus: Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. In: Karl
Marx/Friedrich Engels: Werke. Bd. 23. Berlin/DDR: Dietz 1971. S. 49–98. In Ağoğlus Darstellung
überschneiden sich gesellschaftliche und sozialpsychologische Bestimmung, Marx’sche Kapitalismus- und Freud’sche Psychoanalyse des Fetisch.
563 Vgl. zum Fetischismus als einer besonderen Form der erotischen Objektwahl: Sigmund Freud:
Fetischismus. In: Sigmund Freud: Studienausgabe. Bd. 3. Hgg.v. Alexander Mitscherlich/Angela Richards/James Strachey. Frankfurt am Main: Fischer, 1989. S. 379–388.
564 In diesem Kontext erscheint der Titel der Verfilmung des Romans „Mercedes, mon amour“ als
äußerst treffend. Der Roman wurde 1993 in einer deutsch-französisch-türkischen Gemeinschaftsproduktion unter der Regie von Tunç Okan verfilmt. Auf die Anthropomorphisierung bzw. Personifizierung als Frau und Objekt der Begierde weist auch Ervin hin: „The personification of the Mercedes as a woman, and ‘her’ replacement of anyone else in Bayram’s affections, is a clear theme
throughout the novel.“ Sie bezieht sich beispielsweise auf den Vergleich der Wagenhupe mit einer
Frauenstimme – wobei die Hupe besser abschneidet. Vgl. Ellen W. Ervin, The Novels of Adalet
Agaoglu. S. 127.
565
Honneth: Kampf um Anerkennung. S. 153f.
165
6.1 „Bayram mit Wagen“ als Identitätsentwurf
naturgemäß können Objekte kein reziprokes Anerkennungsverhältnis begründen, es sei denn, sie werden – sei es in untergeordneter, sei es in übergeordneter Bedeutung – intersubjektiv mediatisiert. Diese Mediatisierung wird nach
Maßgabe der „moralischen Grammatik sozialer Konflikte“566 erschwert, wenn
Erwerb und Gebrauch des Objekts wie bei Bayram ein unmoralisches Verhalten mit sich bringen. Indem er das Statussymbol dauerhaft an die Stelle des
interpersonellen Kontaktes treten lässt, verletzt er die interpersonelle Gewährleistungsform personaler Integrität.
Statussymbole sind qua Identifikationsakt immer auch Identitätssymbole, gewissermaßen nach außen verlagerte und zur Geltung gebrachte Manifestationen eines Identitätsentwurfs, für den Anerkennung beansprucht wird. In Bayrams Fall ist der Wagen nicht nur Surrogat für ein personales Gegenüber, Bayram knüpft auch seine Identität an das Objekt, identifiziert sich physisch und
mental mit dem Auto: Wenn der Wagen blitzt und glänzt, fühlt Bayram sich
selbstbewusst und bestätigt. Je mehr Kratzer und Unfälle der Wagen hingegen
erlebt, desto stärker fühlt sich sein Besitzer verletzt (ZR 162). Um dem Auto
als Status- und Identitätssymbol die erwünschte Geltung zu verschaffen, bedarf es jedoch einer breiteren, über den bloßen Besitz des Objekts hinausgehenden Ausstattung und eines sozialen Konsenses über den Wert von erwerbbaren Objekten überhaupt.
Durch Bayrams in physischer, mentaler und interpersoneller Hinsicht obsessive Fixierung auf den Mercedes lässt sich alles, was dem Mercedes im Laufe der
Reise widerfährt, als Symptomatologie eines Integritätsproblems lesen. Da
Bayram sich physisch mit dem Wagen identifiziert, muss er – der Logik des
Identifikationsaktes folgend – Beschädigungen des Wagens als Angriff auf
seine leibliche Unversehrtheit567 werten, ein für die gewählte Existenz symptomatisches Syndrom. Da er sich für eine „Lebensweise“ als „Bayram mit
Wagen“ entschieden hat, muss er die in der Türkei erfahrene Geringschätzung
seines Accessoires als Entwürdigung seiner Person empfinden.568 Da er
schließlich auch seine intersubjektive Anerkennung an den Wagen koppelt,
muss er die Erfahrung, dass er bei seiner Rückkehr „mit Wagen“ in verschärfter Form als Außenseiter betrachtet und erneut diskriminiert wird, als Scheitern seiner objektbezogenen Identitätsbildung erleben. So versucht Bayram in
der letzten Phase seiner Fahrt „vergebens seine Hülle auszufüllen“ und fällt in
einen „Zustand völliger Aufgelöstheit.“ (ZR 259) Obwohl der Wagen am Ende des Romans fast vollständig um seinen Status- und Nutzwert gebracht und
So der Untertitel von Honneths Studie. Nach Honneth folgen alle Anerkennungsformen einer
„moralischen Logik sozialer Konflikte,“ vgl. Honneth: Kampf um Anerkennung. S. 256 ff.
566
567
Vgl. Ebd. S. 214 f.
568
Vgl. Ebd. S. 216ff.
166
6.2 Die Integritätsverletzung eines Waisenkindes
wieder auf seine Objekthaftigkeit reduziert wird, bleibt er Symbol für Bayrams
nun gescheiterten Identitätsentwurf: Der Mercedes wird ihm ironischerweise
zur „Last“, wo er ihn doch entlasten sollte, ein „Schrotthaufen“, der Bayram
bestenfalls wieder zurück nach Deutschland bringen wird:
Bayram trug den Wagen auf seinen Schultern. Nichts als eine
Last, nicht mehr die zarte Rose der Sehnsucht; Schönheit
und Bedeutung verloren, nichts als eine Last von anderthalb
Tonnen Stahl, Eisen, Kunststoff, Federn, Draht, Schrauben
und Muttern. [...] Wenn er noch zu etwas taugt, dieser
Schrotthaufen, dann nur dazu, mich noch zurückzubringen.
(ZR 266)
Ist damit mehr als nur das Exempel eines fehl laufenden identitären Aktes –
und zwar aus türkeitürkischer Sicht – statuiert? Bayram ist zugleich auch das
Opfer eines Übergangs der Türkei zur modernen Konsumgesellschaft, also
eines Übergangs, der weniger unter moralischen als unter politischen und ökonomischen Gesichtspunkten in einer trilateralen Konstellation von der Türkei, Deutschland und den USA initiiert wurde. Dass die Modernisierung im
türkischen Rahmen ähnliche Nebenfolgen auf der Ebene dynamisierter Integritätsstandards zeitigt wie im deutschen Rahmen und im Rahmen westlicher
Gesellschaften überhaupt, wird in der gegenwärtigen europäischen Identitätsdebatte aufgrund der Fixierung auf die konfessionellen Gegensätze und das
binnenkulturelle Integrationsproblem nur zu leicht vergessen. Da Ağaoğlu den
Fokus auf die Verwerfungen des Modernisierungsprozesses richtet, lässt sich
der Roman – soviel sei zu seiner Aktualität angemerkt – als säkulare Stellungnahme für die sensiblere, wechselseitige Abgleichung von interpersonellsozialen und ökonomisch-politischen Verhältnissen werten.
6.2 Die Integritätsverletzung eines Waisenkindes
Wie es dazu kommen konnte, dass der Mercedes zu dem “Wichtigste[n]“ (ZR
49) in Bayrams Leben wurde, erfährt der Leser erst nach fortgeschrittener
Romanhandlung in einer Rückblende. Ende der 1940er Jahre, als Bayram569
569 Bayrams Name, der oft in ländlichen Gegenden vergeben wird, steht laut Ervin für seine Abstammung. Vgl. dazu Ervin, The Novels of Adalet Agaoglu. S. 82. Diese Erklärung erscheint mir etwas
zu eindimensional. Vor allem scheint mir eine Alliteration beabsichtigt zu sein, denn Bayram fährt
nach Ballıhisar („Honigburg“) mit seinem honigfarbenen (balrengi) Mercedes, mit dem Namen
Honigmädchen (balkiz): „Ballıhisar’da Balkızlı Bayram.“ Der Name Bayram Ünal ist ein weit verbreiteter Name in der Türkei. „Bayram“ bedeutet so viel wie „Festtag“ Viele Festtage gibt es in Bayrams
Leben nicht. Auf den ersten Punkt weist auch Ervin hin. Sein Nachname „Ünal“ ist programma-
167
6.2 Die Integritätsverletzung eines Waisenkindes
ein fünfjähriger Junge ist, kommt ein Politiker der Demokratischen Partei mit
einem Ford in das Dorf (ZR 130ff.). Dem Mann – Vertreter der USAorientierten kapitalismusfreundlichen Partei, die 1950 die Regierung übernimmt und unter Menderes die Transformation der Türkei in eine Industrieund Konsumgesellschaft einleitet – wird ungewöhnliche Aufmerksamkeit und
Respekt entgegen gebracht. Sogar Großvater Rüştem, der als Ältester das
größte Ansehen im Dorf genießt, erhebt sich „zitternd von seinem Schemel“
und bietet dem Mann seinen Platz an. Da sich dieser Politiker aber als „ganz
gewöhnlicher Mensch“ (ZR 130) entpuppt, kommt Bayram zu dem Schluss,
dass der Wagen ihm dieses Ansehen verschafft. Als die Dorfbewohner dem
Mann zu Ehren sogar ein Opferlamm schlachten und das Blut gegen das Auto
spritzt, vollzieht sich in der Vorstellung des Jungen eine geradezu rituelle Identifikation mit dem Auto: „Bayrams Gesicht wurde zum Auto, dann war Bayram selbst ganz das Auto.“ (ZR 132) Das „profane Ding“ wird, wie Böhme in
seiner Analyse der ethnologischen Grundierung des Warenfetischismus konstatiert, durch die rituelle Handlung zu einem Fetisch mit vermeintlich „göttliche[r] Energie.“570
Diese Identifikation wird durch Bayrams Familiensituation und einen Vorgang
in der Familiengeschichte begünstigt. Als Waise hat er keinen familiären Rückhalt wie andere Kinder. Auch die Familie seines Onkels Raschit, die ihn aufnimmt, hat wegen ihrer Armut und weil sie der im Dorf (und bald auch in der
Türkei) die politische Minderheit repräsentierenden Republikanischen Volkspartei, der CHP571 angehört, eine geringe Position in der lokalen Hierarchie.
Da Raschit an den Konsumversprechen der Demokraten Zweifel hegt, hatte
ihm der reiche Osman Düldül,572 selbst Anhänger der Demokratischen Partei,
bereits vor dem Erscheinen des Politikers prophezeit, dass sich Raschits politische Meinung ändern werde, sobald er erst selbst im Besitz eines Autos sein
würde, und dass sich Raschit aus Dankbarkeit dann sogar bereit erklären müsste, Bayram zu opfern:
tisch, denn wörtlich übersetzt heißt er so viel wie ‚Ernte Ruhm!‘. Vgl. Ervin: The Novels of Adalet
Agaoglu. S. 82.
570 Hartmut Böhme: Das Fetischismus-Konzept von Marx und sein Kontext. In: Volker Gerhardt (Hg.):
Marxismus. Versuch einer Bilanz. Magdeburg: Scriptum, 2001. S. 289–318.
Der Onkel zählt als Anhänger der CHP (Cumhuriyet Halk Partisi; Republikanische Volkspartei),
die von Atatürk gegründet wurde, zu einer Minderheit im Dorf. Die Mehrheit der Dorfbewohner
sympathisiert mit der DP (Demokrat Partisi, Demokratische Partei), die zunächst ins Leben gerufen
wurde, um das Mehrparteiensystem einzuführen. Sie baute auf die Zusammenarbeit mit den USA
und wurde im Rahmen des Marshall-Plans finanziell unterstützt. Aus der politischen Zugehörigkeit
des Onkels erklärt sich, dass er der einzige ist, der befürchtet, dass die Annahme finanzieller Hilfe
aus den USA den Ausverkauf der Türkei bedeutet. Mit der Regierungszeit der DP begann 1950 die
Transformation der Türkei in eine Konsumgesellschaft.
571
572
Ironischerweise steht sein Nachname „düldül“ alltagssprachlich für ein altes, schrottreifes Auto.
168
6.2 Die Integritätsverletzung eines Waisenkindes
«Sobald wir unsere Partei an die Spitze gebracht haben, haben wir jeder ein Auto unter’m Hintern und einen Traktor
auf dem Feld,“ [...]. «Hör zu, Mensch, wenn ich in den
nächsten drei Jahren auch dich auf einem Auto sitzen sehe,
schleife ich dich geradewegs zu Menderes [...]. Du wirst
deinen Bayram anstelle eines Opfertiers zu seinen Füßen
schlachten...“ (ZR 75f.)
Obwohl Bayram sich unter einem Automobil vor der Ankunft des Politikers
noch nichts anderes als einen „Ochsenkarren mit zwei angebrachten Flügeln
und vergoldeten Rädern, die an die Füße der Ochsen gebunden waren“, (ZR
76) vorstellen kann, erschreckt ihn Düldüls Äußerung. Er versteht nicht, dass
sie als Redewendung und nicht buchstäblich zu nehmen ist. Deswegen mischen sich in Bayram Bewunderung und Angst, als der Politiker mit seinem
Wagen ins Dorf kommt. Er fürchtet, wie ein Lamm geopfert zu werden, und
begreift nicht, dass der Respekt dem Politiker nicht allein dank seinem Auto,
sondern dank seinem Status geschuldet wird. Nachdem Bayram merkt, dass
seine Angst vor dem ‚realen‘ Wagen unberechtigt war, ist alles, was bleibt, der
Respekt vor dem Wagen und das heißt: vor dem Statussymbol ohne hinreichende Berücksichtigung des Status. Bayrams Ziel ist von nun an die Realisierung
seines Gegenentwurfs zum „Opfertier“ (ZR 44) Bayram. Dieser ‚VerliererPosition‘ setzt er als ‚Gewinner-Position‘ „Bayram mit Wagen“ entgegen, einen „Bayram, der sich nicht opfern ließ. “ (ZR 44)
Wir haben es in dieser Episode und der narrativen Ausfaltung ihrer Folgen mit
einer mehr oder minder expliziten Analyse kultureller Symbolisierungsprozesse
im Kontext des sozialen Wandels zu tun. Denn die scherzhafte Drohung des
Osman Düldül stellt sich nach der Ratio der Erzählung als metaphorische
Vorausdeutung heraus. Tatsächlich wird Bayram doch zu einem Opfer und
zwar zu einem ‚Opfer‘ der fortschreitenden Konsumorientierung, als deren
Vorbote der Politiker der Demokratischen Partei im Heimatdorf erschien und
einen allgemeinen, auf Konsum gestützten Statuswechsel versprach: „Es geht
um die Besserstellung des Bauern! [...] Wenn ihr uns wählt, gibt’s für euch
Traktoren, gibt’s Lastwagen, gibt’s noch schönere Autos als dieses.“ (ZR 132)
Die Fiktion ist an dieser Stelle unmittelbar historisch kontextualisiert: In der
Türkei wurde mit finanzieller und politischer Unterstützung der USA in den
1950er Jahren ein radikaler Modernisierungs- und Industrialisierungsprozess
eingeleitet, mit dessen Verwerfungen Bayram bei seiner 25 Jahre später stattfindenden Urlaubsfahrt konfrontiert ist. Während auf dem Land kaum die
Wasserversorgung gewährleistet ist, Landflucht und Arbeitslosigkeit um sich
greifen, sind andere Regionen der Türkei übersät von Tankstellen, „Kalkfabriken, Kachelbrennereien, Ziegeleien, Autoreparaturwerkstätten, Nudelfabriken“
169
6.2 Die Integritätsverletzung eines Waisenkindes
und „Industrieanlagen“ (ZR 207) aller Art. Die soziale Schichtung ist aber
weder innerhalb der Regionen noch zwischen Stadt und Land aufgehoben.
Stattdessen gibt es, wie Bayram feststellen muss, nur „ [n]eue Herren“ und
eine „neue Art von Arbeitern“ (ZR 207). Er selbst aber ist auch „mit Wagen“
am Ende des Romans zu einem „Opfer“ (ZR 265) geworden, zerrieben zwischen den divergierenden Kräften der konsumgesellschaftlichen Modernisierung, denen er nicht nur ausgesetzt wurde, sondern die er auch im Sinne des
sozialen Wandels zu bedienen hatte.
Bayrams auf den ersten Blick befremdliche Absicht, seinen Anerkennungsanspruch auf ein Konsumgut als Statussymbol zu gründen, resultiert also aus drei
Faktoren: Erstens reagiert er auf eine empfindliche, in seiner Jugend erfolgte,
interpersonelle Integritätsverletzung durch Hänseleien; der Erwerb des Mercedes soll die Zurückweisung durch die Mitglieder seines Dorfes kompensieren
und als Statussymbol ihm dazu verhelfen, seine Integrität zu restituieren. Die
Idee, zu diesem Zweck einen Mercedes als Accessoire zu verwenden, wird
zweitens sowohl durch den Aufbruch der Türkei in eine kapitalistische Konsumgesellschaft als auch durch die konsumgesellschaftliche Orientierung seines deutschen Gastlandes begünstigt. Anders als in traditionalen, segmentär
oder stratifikatorisch gegliederten Gesellschaften, in denen die Herkunft über
die Zugehörigkeit zu einer Statusgruppe entscheidet, eröffnet die moderne,
kapitalistische Gesellschaft ihren Mitgliedern die Möglichkeit, sich in eine Statusgruppe über den Kapitalerwerb einzukaufen. Käuflich ist allerdings nur das
Statusobjekt, nicht aber der Status und die erforderliche habituelle Ausstattung, die zum angemessenen ‚sozialen Gebrauch‘573 des Symbols nötig ist.
Die kulturellen Differenzen zwischen und innerhalb des deutschen und des
türkischen Kollektivs führen drittens dazu, dass Bayram als Migrant mit divergierenden Integritätsstandards sowohl binnenkulturell als auch interkulturell
konfrontiert ist: Er müsste seinen „Kampf um Anerkennung“574 sowohl auf
die Erwartungen der deutschen Gesellschaft und der türkischen Gastarbeitergemeinschaft in Deutschland als auch auf die Erwartungen der modernen türkischen Gesellschaft und die traditionalen Werte der türkischen Dorfgemeinschaft, die er in seiner Erinnerung bewahrt hat, abstimmen. Diese Abstimmung wird durch den beschleunigten, aber für die Beteiligten weitgehend unkalkulierbar verlaufenden Modernisierungs- und Enttraditionalisierungprozess
insbesondere in der türkischen Gesellschaft erschwert.
Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1987. S. 172.
574 Vgl. Honneth: Kampf um Anerkennung.
573
170
6.3 Konsumgesellschaftliche Orientierungen
6.3 Konsumgesellschaftliche Orientierungen
Spätestens seit seinem Aufenthalt in Deutschland scheint Bayram blind an die
Versprechungen der Werbebranche zu glauben und speziell den Mercedes als
unhinterfragbares Statussymbol aufzufassen. Zwar nimmt Bayram die „beschissene“ (ZR 58), nämlich künstlich hergestellte Wettbewerbssituation
wahr,575 doch das mindert nicht seinen Glauben an die absolute Gültigkeit der
Statussymbole. So wird die Konsumgesellschaft neben der erinnerten Dorfgemeinschaft zu einem zweiten „verallgemeinerten Anderen“, das seine Identitätsbildung beeinflusst. Da die interaktionistischen Theorien von George Herbert Mead und Axel Honneth diesen Aspekt nicht eigens berücksichtigen,
bietet es sich an, zur Erläuterung von Bayrams Verhalten Konsum- und Lebensstiltheorien heranzuziehen. Letztere verzeichnen für die Moderne neben
den von Honneth beschriebenen sozialen Ausdifferenzierungs- und Enttraditionalisierungsprozessen576 eine zunehmende Abhängigkeit der sozialen Wertsysteme von der Werbeindustrie:577
With the decline of traditional social information systems
such as religion, politics and the family, advertising fills the
gap with its privileged “discourse through and about objects.” Advertising offers maps of modernity, maps of the
social order that are no longer available from traditional
sources. The meanings advertising provides allow people to
signal attitudes, expectations and sense of identity through
“patterns or preferences for consumer goods,” organized
into lifestyles, taste cultures and market segments […].578
Gemäß der Maxime: „Ich kaufe, also bin ich“ seien die konsumgesellschaftlich
sozialisierten Individuen gehalten, die eigene Identität wie aus Schaufenster-
575 „Wie beschissen diese Welt doch ist! Nichts als Konkurrenzkampf. Überall dieselbe Rivalität.
Oder etwa nicht? Mercedes gegen Ford, BMW gegen Mercedes, mit Fließheck und ohne, mit Automatik, ohne Automatik … Genau das gleiche wie mit den Hähnchen. Hauptsache der Hintern ist
gerupft.“ (ZR 58) Die Schaffung künstlicher Bedürfnisse manifestiert sich auch in den ständig auf
den Markt strömenden neuen Modellen: „[…] in welchem Wagen er sich schon sitzen sah, und von
dem er noch tausend Mark entfernt war, immer kam im Laufe des Jahres ein neues Modell heraus,
dass dann jeweils um zweitausend Mark teurer war. Das geschah stets im Handumdrehen.“ (ZR 47)
576
Vgl. dazu Ranke: Integrität und Anerkennung bei Axel Honneth.
577
Vgl. Slater: Consumer Culture and Modernity. S. 86f.
578
Ebd. S. 152.
171
6.3 Konsumgesellschaftliche Orientierungen
auslagen zusammenzustellen und sich mit Hilfe der erworbenen materiellen
Güter eines Distinktionswerts579 gegenüber anderen zu versichern:
We choose a self-identity from the shop-window of the
pluralized social world; actions, experiences and objects are
all reflexively encountered as part of the need to construct
and maintain self-identity.580
Die Konsumtheorien insinuieren, dass die intersubjektive Zuerkennung eines
bestimmten Status ausschließlich vom Besitz entsprechender Accessoires und
Statusobjekte abhängig ist. Ist in der modernen Gesellschaft der Besitz aber
tatsächlich an die Stelle der Herkunft getreten, so dass die individuellen Status
der jeweiligen Kaufkraft entsprechen, oder spielen nicht auch andere Faktoren
eine entscheidende Rolle?
Nach Pierre Bourdieus soziologischer Analyse ist die Anerkennung der sozialen Identität eines Individuums nicht einfach käuflich, sondern durch Habitus,
Status – Status der Herkunft in der feudalen, Status der Position im Produktionsprozess581 in der bürgerlichen Gesellschaft – und den Erwerb, Besitz und
Konsum der betreffenden Objekte bestimmt. Weder die Herkunft bzw. die
Position noch der Besitz bestimmter Objekte allein prädeterminieren die „persönliche und soziale Integrität“582 eines Individuums. Von entscheidender
Bedeutung ist der habituelle „soziale Gebrauch“ der Produkte.583 Der Umgang
mit den Konsumgütern – und dazu zählen, folgt man Bourdieu, nicht nur die
vermeintlich niederen Güter, sondern auch die von der dominierenden Schicht
konsekrierten höheren Kulturgüter – entscheidet mit über die persönliche
Anerkennung innerhalb und außerhalb der „Peer-group“584 bzw. des Milieus.
Der „Lifestyle“585 oder – nach der Terminologie Honneths – die „Lebensweise“586 einer Gruppe, die sich vermittels eines habitualisierten gemeinsamen
Konsumstils587 als einer spezifischen Praxisform588 identifiziert, misst be579
Vgl. Bourdieu: Die feinen Unterschiede. S. 405ff.
580
Vgl. Slater: Consumer Culture and Modernity. S. 85.
581
Bourdieu: Die feinen Unterschiede. S. 754f.
582
Ebd. S. 243.
583
Ebd. S. 172.
584
Ebd. S. 52.
585
Zum Begriff des „Lifestyle“ vgl. u.a. Giddens: Modernity and Self-Identity.
586
Honneth: Kampf um Anerkennung. S. 216ff.
“[…] we now secure social place and identity solely through the commodity-sign rather than
through our positions in social structural referents such as class.“ Slater: Consumer Culture and Modernity. S. 199. Allerdings muss ein enthaltsames Leben noch keine materielle Notwendigkeit sein, son587
172
6.3 Konsumgesellschaftliche Orientierungen
stimmten Gütern bestimmte Bedeutungen bei, die als Statussymbole fungieren
und auf die Zugehörigkeit zu einer Gruppe mit bestimmtem Status oder zumindest auf den Wunsch nach Zugehörigkeit verweisen.589
Für Bayram fungiert vor allem der Mercedes als Statussymbol. Mit ihm will er
symbolisch einen Statuswechsel von der bäuerlichen Schicht zur Oberschicht
zum Ausdruck und zur Geltung bringen: „Ein Auto bedeutet Zukunft, außerdem Würde und Ansehen.“ (ZR 127) Da der Wagen „stellvertretend für die
Person, die“ er „ist (oder gerne sein möchte), und als Symbol für die erreichten
Ziele“590 steht, lässt sich Bayram als „Geltungskonsument“ klassifizieren, der
sich durch „demonstrativen Konsum von anderen bestätigen“ lassen will.591
Verstärkt wird diese Absicht durch den Umstand, dass der Mercedes unter den
Automobilen für Qualität und Leistungsstärke592 wie auch für ein gewisses
Einkommen des Fahrers steht, und zwar im internationalen Rahmen. Denn
nicht nur in der Türkei wird dem Mercedes wie Automobilen generell ein hoher Prestigewert beigemessen – was sich unter anderem in der Reaktion einer
Mitreisenden äußert, die in Bayram eine gute „Partie mit Mercedes“ (ZR 153)
zu entdecken meint. Auch in Deutschland kann Bayram feststellen, dass die
Deutschen „kaum aus ihren Autos“ herauskommen und dass er ohne Auto
aus ihrer Gemeinschaft ausgeschlossen ist:
Sogar ins Kino können sie mit ihren Wagen fahren. Essen
tun sie dort, knutschen sich drin ab und belecken sich. Und
bumsen sogar im Auto. [...] Und du?... Was kannst du ohne
Wagen eigentlich anfangen? Wo kannst du hin; wo kannst
du mitmachen? (ZR 59f.)
dern kann gerade einen spezifischen Lebensstil markieren. Zum Asketentum aus freier Wahl vgl.
Bourdieu: Die feinen Unterschiede. S. 287.
588
Bourdieu: Die feinen Unterschiede. S. 279.
589
Vgl. Slater: Consumer Culture and Modernity. S. 153.
Vgl. Susanne Friese: Zum Zusammenhang von Selbst, Identität und Konsum. In: Michael Neuner (Hg.):
Konsumperspektiven: Verhaltensaspekte und Infrastruktur. Berlin: Duncker & Humblot, 1998.
S. 35–53. S. 41.
590
591 Vgl. Horst W. Opaschowski: Freizeit, Konsum und Lebensstil. In: Rüdiger Szallies/Günter Wiswede
(Hgg.): Wertewandel und Konsum: Fakten, Perspektiven und Szenarien für Macht und Marketing.
Landsberg/Lech: Verlag Moderne Industrie, 1990. S. 109–133. S. 119.
592 Daimler-Chrysler umwirbt seine erfolgreiche Marke wie folgt: „Mercedes-Benz gilt heute als die
weltweit erfolgreichste Automobilmarke. Die technische Perfektion, die Qualitätsstandards, die
Innovationskraft und die zahlreichen automobilen Legenden vom Schlage eines 300 SL Flügeltürers
sind einzigartig. Der Mercedes-Stern wurde zum berühmtesten automobilen Symbol und ist heute
eines der bekanntesten Markenzeichen der Welt.“
http://www.cms.daimlerchrysler.com/emb_classic/0,,0-195-78709-49-84456-1-0-0-0-0-0-43478641-0-0-0-0-0-0-0,00.html. Zuletzt eingesehen am <20.07.2005>.
173
6.4 Parvenü und Deutschländer
Doch trotz dieser allgemeinen Geltung als Statussymbol gelingt es Bayram
nicht, mit dem Mercedes die dem Symbol entsprechende Achtung zu erringen.
Zum einen liegt dies an Bayrams Verspätung: Schien der Ford in seiner Kindheit noch ein bewundernswertes, vom „Himmel“ (ZR 130) gefallenes Objekt
zu sein, ist ein Automobil in den 1970er Jahren auch in der Türkei nichts Besonderes mehr. So muss Bayram feststellen, dass die türkischen Straßen und
Parkplätze inzwischen mit Autos, zum Teil sogar mit neueren Modellen seines
Mercedes (ZR 124), überfüllt sind (ZR 66). Der Modernisierungsprozess hat
Bayram bereits ein-, wenn nicht sogar überholt. Zwar sind Automobile immer
noch Statussymbole, aber nun nicht mehr die Statussymbole der Oberschicht,
sondern der Mittelklasse. Dass sein Heimatdorf, in das jetzt eine Asphaltstraße
führt, zu einem Museum geworden ist, ironisiert die poetisch antiquierte Idee
Bayrams, mit seinem Automobil „als König“ (ZR 248) in dieses Dorf einzufahren. Selbst ein Hirtenjunge schätzt den Mercedes mit einem Kennerblick
ein: „Dein Mercedes war mal sehr schön. Jetzt ist er ein bisschen beschädigt. “
(Vgl. ZR 249)
Über diese mit dem Objekt verbundenen Probleme hinaus hat Bayram ein
habituelles Defizit: Er wird in der Türkei als Parvenü, sein Verhalten als Prätention,593 wahrgenommen und entsprechend quittiert
6.4 Parvenü und Deutschländer
Als Prätention bezeichnet Bourdieu das Verhalten eines sozialen Aufsteigers,
der, um seine „prekäre Stellung innerhalb der Sozialstruktur“ zu verbessern,
sich ostentativ bemüht, „den Eindruck zu vermitteln, er ‚gehöre‘“594 einer höheren Schicht bzw. einem besser gestellten Milieu an. Statt einen zwanglosen,
gewissermaßen „interesselosen“595 Umgang mit den entsprechenden Konsumgütern und Statussymbolen zu pflegen, ist der Parvenü, wie Bayram, ängstlich
auf die Respektierung und Beachtung seines Besitzes bedacht596 und konzentriert sich damit nur auf den Schein der Zugehörigkeit.597 Dies gilt insbesondere
dann, wenn er das Aussehen des Konsumguts wichtiger nimmt als den Nutz-,
593
Vgl. Bourdieu: Die feinen Unterschiede. S. 394.
594
Ebd. S. 394f.
595
Ebd. S. 104.
596
Ebd. S. 398f.
597
Ebd. S. 754f.
174
6.4 Parvenü und Deutschländer
Funktions-598 oder „Erlebniswert.“599 So legt Bayram größeren Wert auf das
Erscheinungsbild seines Wagens als auf die technische Ausstattung, wenn er
sein Auto mit einer Fernsehantenne ausstattet, obwohl er keinen Fernseher
besitzt (ZR 23), und auf die Installation einer Klimaanlage und einer Automatikschaltung verzichtet, weil das „Aussehen des Wagens [...] dadurch ja nicht
verändert“ (ZR 20) werde.
Wenn Bayram nun in der Türkei frustriert feststellt, das „ [n]iemand verstand,
welchen Stellenwert der Wagen in seinem Leben einnahm“, (ZR 41) täuscht er
sich. Gerade sein übertriebenes, nicht milieugerechtes Verhalten macht zumindest den Mitbürgern der höheren Statusgruppen mehr als deutlich, dass er
mit dem beanspruchten Status nicht hinreichend vertraut ist. Schon die Diskrepanz zwischen seiner Kleidung einerseits – Bayram trägt einen „aus synthetischen Fasern geflochtenen Tirolerhut“ (ZR 7) und ein synthetisches Hemd
mit dem Aufdruck „Franz Lehar“, (ZR 8) ohne zu wissen, um wen es sich
dabei handelt – und seinem überarbeiteten, abgespannten Gesichtsausdruck
andererseits hinterlässt einen widersprüchlichen Eindruck: „Der Stolz, den
sein glänzender Hut ausdrückte, und dagegen sein Gesichtsausdruck wirkten
zusammen recht unharmonisch.“ (ZR 33). Während Bayram aber in Dienstleistungszusammenhängen, etwa bei einem Kellner (ZR 191ff.), Anerkennung
zu finden meint, durchschauen andere seine Prätention und erkennen in ihm
einen der „Bauerntrottel, die erst gestern von ihren Ochsenkarren geklettert
sind und sich heute in solche Autos schwingen“, (ZR 88, vgl. auch 193) bzw.
als „einen von denen [...] aus Deutschland.“ (ZR 193)
Ambivalenter reagieren die Mitglieder seines eigenen Milieus, in Deutschland
wie in der Türkei. Schon seine Sparsamkeit – auch das ein typisches Kennzeichen des Aufsteigers – führt bei seinen Gastarbeiterkollegen zu dem Verdacht,
er sei „von Besitzgier beherrscht“600 und fühle sich als etwas Besseres. Tatsächlich nutzt die Erzählerin jede Gelegenheit, Bayram auf der Fahrt in die
Türkei als Emporkömmling in Szene zu setzen. Sein „Mitleid“ ist verkappter
598 „The construction of a personal lifestyle through the consumption of desirable consumer services
has little to do with the usefulness of the goods and much to do with image and the way that they
appear to others.“ Nigel Watson: Postmodernism and Lifestyles. In: Stuart Sim (Hg.): The Routledge
Companion to Postmodernism. London: Routledge, 2001. S. 53–64. S. 57. Baudrillard unterteilt den
Wert von Objekten in vier Stufen: Funktionswert (z.B. Auto als Transportmittel), Tauschwert (z.B.
ein Mercedes ist eine Wohnung in der Türkei oder einen Fabrikanteil wert), symbolischer
Tauschwert (z.B. ein Geschenk des Vaters) und Tauschwert des Zeichens (ein Mercedes weist auf
einen bestimmten sozialen Status hin). Vgl. Jean Baudrillard: For a Critique of the Political Economy of the
Sign. St. Louis: Telos Press, 1981.
599
Zum Begriff der Erlebnisgesellschaft vgl. Schulze: Die Erlebnisgesellschaft.
600
Bourdieu: Die feinen Unterschiede. S. 399.
175
6.4 Parvenü und Deutschländer
„Hochmut“, der nicht zuletzt der immer noch nötigen forcierten Distanzierung von der heimatlichen Lebensweise dient:
Das Mitleid, das Bayram eben noch mit den anderen Gastarbeitern empfunden hatte, machte einem Gefühl des
Hochmuts Platz. Ganz schnell. Da ließ Bayram keine Gelegenheit aus. Alle Gelegenheiten dieser Art lösten in Bayram
ein tiefes Wohlgefühl aus. Seine Selbstachtung, die bisher
nur mit Füßen getreten und nahezu zerstört worden war,
stellte er so wieder her. (ZR 79)
Diese Überheblichkeit lässt ihn den Angehörigen seiner eigenen Schicht gegenüber unsolidarisch (ZR 186f.) und egoistisch (ZR 11) werden, obwohl er
selbst in seinem Gefühl der Unsicherheit und Wertlosigkeit (ZR 73), ubiquitärer Angst (ZR 115, 161 u.ö.), Einsamkeit und einem gewissen unkontrollierten
Selbsthass (ZR 144) nach wie vor der Solidarität bedarf.
Unter diesen Umständen überrascht es nicht, dass der Mercedes, obwohl es
sich objektiv um ein Fahrzeug der gehobenen Mittelklasse handelt, nicht den
gewünschten Effekt hervorbringt. In der Türkei identifiziert man Bayram als
„Bayram mit Wagen“, folgt also seinem Selbstbild, wertet dieses aber als
„Großtuerei“ (ZR 88) und Anmaßung und verweigert ihm dementsprechend
die erwünschte Anerkennung. Die Migration hat Bayram einen Möglichkeitsraum eröffnet, der den ‚zu Hause Gebliebenen‘ verwehrt bleibt und dessen
persönliche Eröffnung partout nicht hätte als eine Integritätsverletzung des
heimatlichen Milieus interpretierbar sein dürfen. Genau dies ist aber der Fall.
Die Familienmitglieder und Mitglieder der Dorfgemeinschaft erwarten vom
Migranten, dass er ihre Lebensweise nicht diskriminiert, sondern respektiert
und dies durch entsprechende Geschenke (Fernseher o.Ä.) oder finanzielle
Zuwendungen zum Ausdruck bringt, die sie an seinem Erfolg teilhaben lassen,
um dann, gestützt auf diesen „sozialen Gebrauch,“ sein Privileg anerkennen zu
können. Doch diese Integritätsstandards nimmt Bayram nicht wahr, sondern
er diskreditiert die Türken ebenso – „In diesem Land gibt’s nur Gauner [...].“
(ZR 177) – wie die türkischen Lebensbedingungen, schimpft zum Beispiel auf
die im Vergleich zu Deutschland schlechteren Straßenverhältnisse (ZR 174)
und gibt sich auf diese Weise als arroganter „Deutschländer“ zu erkennen.
Zudem hat er es unterlassen, seinem Onkel oder seinem Vetter etwas mitzubringen, weil er dem Mercedes nicht mehr Ladung als unbedingt nötig „zumuten“ will (ZR 11). So ist nicht nur der junge Bayram aktiv und passiv durch das
türkische Kollektiv in seiner Integrität verletzt worden, sondern auch das türkische Kollektiv aktiv und passiv durch Bayram. Die Verweigerung seiner Anerkennung verweist auf eine kollektive narzisstische Kränkung der Zurückgebliebenen, die sich nunmehr durch das parvenühafte Verhalten Bayrams
176
6.5 Moralische Disqualifizierungen
bestätigt sehen und die Gelegenheit nutzen, den Emporkömmling negativ zu
sanktionieren. Bayrams Orientierung an der Konsumindustrie verschärft
auch unter diesem Aspekt seine Entfremdung von dem Herkunftskollektiv,
ohne sie zu kompensieren. Und so muss er schließlich erfahren, dass Gütern,
einmal in distinkte Zeichen verwandelt, verschiedene Symbolwerte zugeschrieben werden: Der Mercedes, der in den Händen des Politikers Zukunft,
wirtschaftlichen Aufschwung und Macht symbolisierte, wird in Bayrams Händen zum Symbol seiner Anmaßung gegenüber seinen türkischen Mitbürgern.
6.5 Moralische Disqualifizierungen
Ağaoğlu lässt Bayrams Lebensentwurf schließlich in dreifacher Hinsicht scheitern. Zum ersten tragen der Mercedes und Bayrams Selbstwertgefühl im Verlauf der Reise erheblichen Schaden davon. Das Projekt einer konsumorientierten restitutio in integrum scheitert, weil das Objekt in seiner Prätention als
Statusymbol zwar erkannt, aber nicht anerkannt wird. Zum zweiten ist die
Anerkennungsinstanz, Bayrams Heimatdorf als Ziel seiner Reise, bereits in
einer ihn überholenden und von ihm so nicht erwartbaren Weise zu einem
Opfer der Modernisierung, „einem Museum“ (ZR 265) geworden, in dem
außer Statuen nur noch der Museumswächter wohnt. Das Kollektiv, dem gegenüber er die Restitution seiner Integrität einklagen wollte, existiert nicht
mehr. Drittens – und dies ist das Entscheidende – wird Bayram auf seiner
Fahrt mit zurückliegenden moralischen Verfehlungen konfrontiert, durch die
er sich in den Genuss des inkriminierten Privilegs gebracht hat. Während er
sich in Deutschland ausschließlich auf seine Arbeit konzentrieren konnte,
zwingt ihn die Urlaubsfahrt in die Türkei, sich zu teilweise traumatischen Erinnerungen ins Verhältnis zu setzen. So gesteht er sich nicht nur ein, während
seiner Militärzeit, die in die Zeit des Militärputsches von 1971 fällt, an Folterungen beteiligt gewesen zu sein (ZR 225f.), sondern er setzt sich auch mit der
Vernachlässigung seiner Familie und Kezbans, sowie mit seinem schlechten
Gewissen gegenüber seinem Freund Ibrahim auseinander, dessen ärztliches
Gutachten er, um statt seiner als Gastarbeiter nach Deutschland gehen zu können, durch eine Bestechung des Laboranten hat fälschen lassen (ZR 218).601
601 Ervin sieht Bayrams Verhalten sogar als einen Verstoß gegen die Grundpfeiler türkischer Kultur
an, der nicht durch seine Existenz als Waisenkind gerechtfertigt werden kann: „Bayram’s povertystricken, orphaned background, which might invite sentimentalizing […] is undercut by showing the
ruthless way he has sacrificed relatives and friends and the basic values of Turkish culture by his
obsession with buying a car.“ Vgl. Ervin: The Novels of Adalet Agaoglu. S. 78.
177
6.5 Moralische Disqualifizierungen
Ağaoğlus Erzählstrategien einer tendenziell modernekritischen Sanktionierung
muten in einem trivialen Sinn moralisierend an, haben aber im Zusammenhang
des konsumgesellschaftlich prätendierten Wandels der Integritätsstandards
durchaus ihre Berechtigung. Dabei unterscheidet die ambivalente Zeichnung des
Protagonisten Die Zarte Rose meiner Sehnsucht von typischen Texten der so genannten Gastarbeiterliteratur. Bayram kann zwar als Opfer der heimatlichen
sozialen und familialen Verhältnisse und als Opfer des eröffneten Modernisierungsprozesses mit seinen Verwerfungen angesehen werden, erscheint jedoch
nicht als unschuldiges Opfer der Umstände.602 Die Autorin motiviert Bayrams
Verhaltensdispositionen sozialpsychologisch, wertet sie aber moralisch, wenn sie
ihren Helden zumindest zeitweilig seine Fehler einsehen und bereuen lässt. Eine
intradiegetische moralische Instanz, die diese Disqualifizierung Bayrams explizit
vornimmt, ist Kezban. Sie geht zunächst davon aus, dass Bayram einer Fehleinschätzung aufsitzt, und möchte ihm vermitteln, dass sie „auch mit einem Bayram ohne Wagen einverstanden“ (ZR 213) gewesen wäre, er also seine Zukunft
nicht auf ein Konsumobjekt, sondern auf zwischenmenschliche Beziehungen
hätte gründen sollen. Bayram hat im fast schon Honneth’schen Sinn einen Anspruch auf ihre Liebe und die daraus resultierende Anerkennung.603 Da er aber
aus „Angst vor Menschen [...] seine Liebe einer Maschine geschenkt“ (ZR 214)
hat, sieht Kezban das Scheitern von Bayrams Lebensentwurf bereits früh voraus: „Mal sehen, ob ein Mensch ohne Mensch sein kann“, (ZR 214) fragt sie
sich und wartet auf seine Einsicht. Als sie allerdings von Bayrams Betrug an
seinem Freund Ibrahim erfährt, ist es mit dieser Geduld vorbei: Kezban brüllt
einen „fürchterlichen Fluch“ (ZR 256) und produziert damit einen Skandal, von
dem sogar die Zeitungen berichten. Bayrams Name ist seit diesem Tag ruiniert
und steht für eine „Schandtat.“ (ZR 257) Der konsumgesellschaftlich motivierte
Verzicht auf interpersonelle Bindungen zugunsten einer Objektbindung führt
ihn in die vollständige Isolation:
Am Rande seines Dorfes war er allein und fremd. Er konnte sich keinen einzigen Menschen vorstellen, der freudig auf
Bayram in seinem Mercedes blicken würde. [...] Keine der
Straßen führte Bayram zu einem Ort, an dem jemand auf
ihn wartete. (ZR 266f.)
602 Ein anderer Eindruck entsteht allerdings in der filmischen Umsetzung des Stoffes. Dort kann der
Figur des Bayram uneingeschränktes Mitleid entgegengebracht werden, im Roman jedoch in gleichem Maße Unmut.
603 Nancy Fraser/Axel Honneth: Umverteilung oder Anerkennung? Eine politisch-philosophische Kontroverse.
Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2003. S. 164.
178
6.5 Moralische Disqualifizierungen
Ist das Scheitern aber tatsächlich Bayram zuzurechnen?604 Die Tatsache, dass
das Dorf wie Bayram Opfer der Modernisierung wird, gibt Anlass, nach alternativen Vorgehensweisen – sei’s im Feld des persönlichen Verhaltens, sei’s
unter dem Aspekt der in Anspruch genommenen Gewährleistungsinstanzen
und -medien sozialer und personaler Integrität, sei’s unter dem Aspekt unterschiedlicher Ausgangssituationen – zu fragen. Eine Alternative thematisiert der
Text selbst: In dem gleichen Maß, wie Bayram immun gegenüber der Kritik
seiner türkischen Arbeitskollegen in Deutschland und immun gegenüber der
Verachtung als ‚Deutschländer‘ in der Türkei ist,605 ist er auch immun gegen
eine außerhalb seines Denkhorizonts liegende Alternative. So stellen ihm seine
türkischen Kollegen in Deutschland die Möglichkeit einer gemeinsamen Investition in der Türkei vor Augen:
Alles, was man erreicht, schafft man durch Gemeinschaft.
Wenn du immer nur allein für dich schaffst und schaffst,
was erreichst du dann? Ein Auto! Und wenn du dann mal
mit einem zusammenkrachst oder eine Böschung runtersaust, dann war alles für’n Arsch! Wenn wir uns zusammentun und eine Fabrik aufbauen, so ist das eine Investition für
unseren Staat, eine Zukunftschance für unsere Kinder und
Kindeskinder. (ZR 73)
Dass ihm eine solche Investition ebenfalls Ansehen einbringen könnte, nimmt
Bayram ebenso wenig wahr wie die Tatsache, dass er sich durch seine Weigerung, mit ihnen den Traum einer zugleich patriotischen und privatwirtschaftlichen Kapitalanlage zu träumen, aus der Gemeinschaft seiner Arbeitskollegen
ausschließt und zum Sonderling wird. Die entscheidende Einschränkung wird
durch die Wahl des Konsums statt der Wirtschaft, der Politik oder eben der
Gemeinschaft als Gewährleistungsinstanz personaler und kollektiver Integrität
hervorgerufen.
604
Diesen Eindruck erweckt der Roman vor allem aufgrund der moralischen Diskriminierung.
„The Mercedes driver […] generally succeeds in remaining oblivious to his effect on those
around him, an effect more often infuriating than not, and never consonant with his expectations of
deference and respect.“ Ervin: The Novels of Adalet Agaoglu. S. 96.
605
179
6.6 Zusammenfassung
6.6 Zusammenfassung
Bayram ist, anders als Sascha Muhteschem oder auch Özdamars Ich in ihren
autobiographisch geprägten Texten, nicht gleichermaßen souverän im Umgang
mit den Regeln und Standards sozialer Anerkennungsprozesse. Er wurde von
Ağaoğlu psychologisch, sozial- und lebensgeschichtlich so konstruiert, dass er
sein Anerkennungsproblem weder wie Şenocaks Held historisch reflektieren
noch wie Özdamars Heldin ästhetisch lösen kann. Fixiert auf die materielle
Seite seiner Existenz, offenbart die Figur allerdings ein grundlegendes Problem
der modernen Konsumgesellschaft: Die literarische Pointierung zeigt, dass die
Konsumgesellschaft dahin tendiert, Individuen so zu manipulieren, dass sie
nicht nur ihre Identität an den Konsum koppeln, sondern den Konsum auch
zur Basis ihres Integritätsanspruchs machen. Der „Warenfetischismus“ ist, wie
Böhme im Rekurs auf Marx und Freud konstatiert, „eine normale, notwendige,
wenngleich phantasmagorische Erscheinungsform sozialer Beziehungen im
Kapitalismus.“606 Im Rahmen konsumgesellschaftlicher Standards verhält sich
Bayram adäquat: So können die deutschen Arbeitgeber mit ihm mehr als zufrieden sein, weil er bis zur Erschöpfung arbeitet, das verdiente Geld in eines
der hergestellten Produkte investiert, um es unmittelbar darauf zu konsumieren, d.h. in seinem Urlaub zu Schrott zu fahren. Für diese Konsum„Leistung“607 hätte er – zumindest aus einer zynisch überspitzen Perspektive –
eigentlich eine entsprechende Anerkennung durch das Kollektiv verdient. Bayrams Fehlverhalten ist unter diesen Prämissen aber nicht nur ihm, sondern
auch der Konstellation zuzurechnen, in die die Türkei als Teil einer von den
USA geförderten ökonomischen Kooperation mit Deutschland eingetreten ist.
606
Böhme: Das Fetischismus-Konzept von Marx und sein Kontext. S. 303.
607 Zum Aspekt der Leistung in Honneths Theorie vgl. Ranke: Integrität und Anerkennung bei Axel
Honneth.
180
7. Vaybee! – Transnationaler Lokalpatriotismus?
Nach einer Umfrage der türkisch-deutschen Online Community vaybee! fühlt
sich mehr als die Hälfte der Befragten nicht von den deutschen Medien repräsentiert. Darin könnte ein Grund für die große Beliebtheit liegen, der sich die
Online Community erfreut. Innerhalb kürzester Zeit hat sich die Webseite
innerhalb ihrer Zielgruppe etabliert, die vorkalkulierten Zahlen sind bei weitem
übertroffen worden. Die Fachpresse verliert für das zweisprachige Medium
nur lobende Worte608 und das Jungunternehmen hat bereits diverse Preise
gewonnen.609
Im vorliegenden Kapitel soll anhand der türkisch-deutschen Online Community vaybee! untersucht werden, wie hier die Zugehörigkeit zu mehreren Kollektiven auf individueller Ebene ausgehandelt wird und welche Aussagen sich
bezüglich der Relevanz von Identität und Integrität treffen lassen. Deswegen
steht eine Analyse und Auswertung der Selbstaussagen von vaybee!-Nutzern im
Forum ‚Integration‘ im Mittelpunkt. Nach einem kurzen Einblick in die tür608
Vgl. dazu Vaterland: Deutschland, Mutterland: Türkei. In: Markt und Wirtschaft 10 (2001).
Vgl. http://www.vaybee.de (Link zu Auszeichnungen unter „Über uns“). Zuletzt eingesehen am
<20.07.2005>.
609
181
7. Vaybee! – Transnationaler Lokalpatriotismus
kisch-deutsche Medienlandschaft, das türkisch-deutsche mediale Feld sozusagen, der die Sonderstellung einer Online Community hervorheben soll, folgt
eine theoretische Einordnung mit Blick auf die Forschungslage. Debatten um
Identität und Lokalität am Schnittpunkt zwischen Virtualität und Realität gibt
es seit dem Bestehen von virtuellen Gemeinschaften jeder Art. Für die Debatte um virtuelle Identität werden exemplarisch die Positionen von Sherry
Turkle und Lori Kendall gegenübergestellt. Im Anschluss an die Auswertung
der vaybee!-Analyse wird dann auf die Problematik des virtuellen Ortes eingegangen.
Der Vergleich zwischen Literatur und Online Community soll auf Ebene der
inhaltlichen Äußerungen von literarischen Figuren und Nutzern der Online
Community erfolgen, nicht aber auf ästhetischer Ebene. Außer Frage steht,
dass die Auseinandersetzung mit Fragen der Identität und Integrität auf literarischer Ebene auf einem ästhetischen Niveau betrieben wird, das nicht mit den
spontanen Äußerungen der Teilnehmer an Online-Diskussionsforen verglichen werden kann. Dennoch lassen sich Parallelen ziehen, denen Beachtung
geschenkt werden sollte. Denn während Aspekte der Identität und Integrität in
der Literatur tiefer gehender, subtiler und multiperspektivisch verhandelt werden können, sind Diskussionen in Online-Foren tagesaktuell und spiegeln die
Lebenswelt unmittelbar wieder. Neben der Interaktivität und der Schnelligkeit
des Mediums Internet sind es meiner Meinung nach aber besonders seine
durch den unkomplizierten Zugang bedingte große Reichweite und die Tatsache, dass ein anderes Publikum als das der Literaturrezipienten erreicht wird,
die es unausweichlich machen, sich mit diesem Medium auseinanderzusetzen.
Auf die Rolle, die Medien für die Erzeugung und Aufrechterhaltung einer kulturellen Identität spielen, hat vor allem Benedict Anderson in seinem viel beachteten Werk Imagined Communities hingewiesen.610 Die Aufrechterhaltung der
kulturellen Identität von Türkeistämmigen in Deutschland wird demnach auch
von türkischen Medien und Programmen gewährleistet.611 So können TürkeiMedien vereinten zunächst ein disperses Publikum von Zeitungslesern und dann Radiohörern,
die Informationen über ‚ihre Nation‘ erhielten. Deren einzelne Mitglieder kannten sich anders als in
einer Dorfgemeinschaft nicht persönlich. Vgl. Benedict Anderson: Imagined Communities: Reflections on
the Origin and Spread of Nationalism. London: Verso, 1983. S. 29. Vgl. auch: „We can say that, on either
side of the Atlantic, broadcasting has been one of the key institutions through which listeners and
viewers have come to imagine themselves as members of the national community.“ David Morley/Kevin Robins: Spaces of Identity: Global Media, Electronic Landscapes and Cultural Boundaries. London:
Routledge, 1995. S. 10.
610
611 In diesem Sinne äußert sich auch Reyhan Güntürk: Reyhan Güntürk: Mediennutzung der Migranten.
In: Butterwege/Hentges/Sarigöz (Hgg.): Medien und multikulturelle Gesellschaft Opladen: Leske
und Budrich, 1999. S. 136-143. S. 141. Neben der Literatur gibt es eine Vielzahl von Medien, die sich
in Deutschland mit türkischen bzw. türkisch-deutschen Inhalten befassen. Die meisten großen
türkischen Zeitungen haben mittlerweile spezielle deutsche Ausgaben und einen integrierten Lokal-
182
7. Vaybee! – Transnationaler Lokalpatriotismus?
stämmige an den Geschehnissen in der Türkei teilhaben: insbesondere bei
Angeboten, die sich hauptsächlich an ‚Türkei-Türken‘ richten. Vor der über
Satellit übertragenen Fernsehsendung oder dem Internet ist es unerheblich, ob
sich die rezipierende Person in der Türkei oder im Ausland befindet. Bei Medien, die sich speziell an Türken in der Diaspora wenden und ihre Inhalte daran ausrichten,612 wird mehr das Bewusstsein gestärkt, Teil einer DiasporaGemeinschaft zu sein. So kann bereits anhand der Mediennutzung von
Migranten Aufschluss über ihr Selbstverständnis als Migranten gewonnen
werden. In beiden Fällen kann die einseitige Nutzung gruppenspezifischer
Medien eventuell bestehende soziale Isolation in Deutschland verstärken.613
Eine ähnliche ‚Nähe‘ zum Heimatland wie das Satellitenfernsehen bietet auch
das Internet – ergänzt durch Interaktivität, die trotz des Schlagworts vom ‚interaktiven Fernsehen‘ nie von einem anderen Medium erreicht wurde. Dem
‚Nutzer‘ stehen ganz andere Möglichkeiten zur Verfügung als dem ‚Zuschauer‘
bzw. ‚Zuhörer‘. Er ist nicht nur Rezipient, sondern auch Produzent. Insbesondere eine eigene Homepage bietet die Möglichkeit die ‚Erzählung über sich
selbst‘614 einem Massenpublikum zugänglich zu machen.615
Während es Bestrebungen gibt und gab, Medien für multikulturelle Programme zu öffnen,616 bietet das Internet eine Möglichkeit, selbst ‚Medien zu machen‘, ohne vollständig den Regulationen der öffentlichen Hand ausgesetzt zu
teil für Städte wie Frankfurt und Berlin. Zeitungen waren neben literarischer Beschäftigung mit der
Gastarbeiterproblematik die ersten Medien, die Türken in Deutschland zur Verfügung standen. Es
folgten spezielle Radiosendungen des WDR in den jeweiligen Muttersprachen. Bevor der Kabelsender TRT INT ab 1991 flächendeckend mit seinem Angebot an Sendungen speziell für Türken im
Ausland anlief, waren Videokassetten mit türkischen Filmen im Umlauf. Einen Einschnitt stellte die
Möglichkeit des Empfangs von türkischen Privatsendern über Satellit dar. Über diese Sender können
Türken in Deutschland das Angebot genauso wahrnehmen, als wenn sie sich in der Türkei aufhielten.
Zu diesen gehören u.a. Lokalausgaben von türkischen Zeitungen, spezifische Radiosendungen
des WDR, Szenezeitschriften wie Detay (Vgl.: http://www.detaymagazin.de. Zuletzt eingeshen am
<20.07.2005>). Eine Sonderstellung nimmt der Radiosender MultiKulti ein, da er internationale
Musik spielt, sich jedoch nicht ausschließlich an Migranten als Zielgruppe richtet. Zum Sender Radio
MultiKulti vgl. Friedrich Voß: SFB4 radio MultiKulti – Bewahren und Integrieren. Weltmusik und Information (nicht nur) für Ausänder in Berlin. In: Ausländerbeauftragte der Freien und Hansestadt Hamburg;
Hamburgische Anstalt für neue Medien (HAM) (Hg.): Medien, Migration, Integration Berlin:
VISTAS, 2001.
612
613 Dem Zusammenhang zwischen Mediennutzung und Integration geht Reyhan Güntürk nach.
Vgl. Güntürk: Mediennutzung der Migranten.
614
Vgl. Kapitel 3.5 dieser Arbeit.
615
Vgl. Robert Burnett/P. David Marshall: Web Theory. An Introduction. London: Routledge, 2003. S. 68ff.
Vgl. Sabine Jungk: ,,Mehr Farbe in die Medien" – ein Modellbericht zur interkulturellen Öffnung von Rundfunkanstalten. In: Butterwegge/Hentges/Sarigöz (Hgg.): Medien und multikulturelle Gesellschaft. S. 207-227.
616
183
7. Vaybee! – Transnationaler Lokalpatriotismus
sein. Eine Homepage frei zu schalten ist viel weniger kostspielig und, was die
Genehmigung angeht, sehr viel unkomplizierter als beispielsweise die Einrichtung eines Fernsehsenders. Zwar bieten Bürgerfunk-Sendungen spezifischen
Gruppen Möglichkeiten zur Gestaltung von Sendungen, ermöglichen aber nur
begrenzte Sendezeit. Ein Äquivalent zum Begriff der ‚ethnic media‘ hat sich in
Deutschland im Gegensatz zu den USA nicht durchgesetzt. Dort wird beispielsweise von New California Media/Pacific News Service ein Verzeichnis
herausgegeben, das über ‚ethnic media‘ in Kalifornien informiert.617 Das NCM
Network Directory für das Jahr 2001 wird von der Direktorin der New California
Media, Sandy Close, als „more than a directory“ beschrieben:
It represents a coming together of ethnic media across language and cultural borders – connecting Chinese to Spanish, Korean to Farsi, Arabic to Vietnamese, Tagalog and
Russian to English language media in much the same way
as the ethnic media want to connect neighborhoods with
one another and with their home countries. In doing so,
the NCM network stands traditional notions of what “ethnic” means – insular and parochial – on their head. As
NCM itself suggests, ethnic media are not only the most effective ways to communicate with California’s fastest growing markets. They have begun to forge a truly global society
in California – the most important challenge facing us in
the 21st century.618
Die Medienpräsenz von Migranten kann die Akzeptanz in der Gesellschaft
also stärken. Dabei ist es wichtig, dass ein selbstbestimmtes transkulturelles
Bild vermittelt wird – kein von türkischen oder deutschen Medien vorgegebenes. Die Darstellung von Ausländern als Kriminelle oder Gemüsehändler in
multikulturellen Straßenvierteln kennt man aus deutschen Fernsehproduktionen.619 Selbstbestimmte Medienpräsenz kann dazu beitragen, dieses Bild zu
korrigieren.
In der deutschsprachigen Literatur zu Medien und Migration geht es meist um
die Repräsentation von Migranten in den dominanten Massenmedien oder um
617
Informationen über NCM unter: http://news.ncmonline.com. Zuletzt eingesehen am <20.07.2005>.
618
Vgl. NCM Network Directory 2001. Oakland: New California Media, 2001.
Zum Ausländerbild in deutschen Medien vgl. Georg Ruhrmann: Das Bild der Ausländer in der
Öffentlichkeit, Studien und Arbeiten des Zentrums für Türkei-Studien. Opladen: Leske und Budrich,
1995.
619
184
7. Vaybee! – Transnationaler Lokalpatriotismus?
die Mediennutzung der Migranten.620 Dass Migranten sich selbst repräsentieren und eigenständig Medien schaffen ist im Bereich der Literatur – trotz der
in Kapitel 2 beschriebenen Schwierigkeiten – akzeptiert worden. Aber nicht
nur auf dem Gebiet der Literatur findet ein ‚writing back‘ statt.621 Trotzdem
gerät die Medienproduktion von Migranten in Deutschland nur zögerlich ins
Blickfeld wissenschaftlicher Beschäftigung. Deniz Göktürks Analysen zum
türkisch-deutschen Film seien hier exemplarisch genannt.622 Tatsächlich ist der
Film ein Gebiet, auf dem sich immer mehr Türkeistämmige etablieren. Fatih
Akin ist zweifellos der renommierteste Filmemacher unter ihnen.623 Zudem
gibt es weniger bekannte Dokumentarfilmer, die sich in ihren Filmen mit ihrer
eigenen Geschichte auseinandersetzen, wie das auch Fatih Akin in Denk ich an
Deutschland – Wir haben vergessen zurückzukehren getan hat. Noch hat sich die
steigende Medienpräsenz von Migranten – man denke beispielsweise an den
Vgl. dazu u.a. die vom Zentrum für Türkeistudien herausgegebenen Studien: Ruhrmann: Das Bild
der Ausländer in der Öffentlichkeit; Andreas Humpert: Kurzfassung der Studie zum Medienkonsum der türkischen Bevölkerung in Deutschland und Deutschlandbild im türkischen Fernsehen. 1997; Christoph Butterwege/Gudrun Hentges/Fatma Sarigöz (Hgg.): Medien und multikulturelle Gesellschaft. Opladen: Leske und
Budrich, 1999.
620
So lautet das Schlagwort der „Writing Culture“-Debatte. Die Literatur von Autoren der so genannten Commonwealth-Literatur wird als ein ‚writing back‘ verstanden, weil die Literaten sich und
die eigene Kultur selbst darstellen – während zuvor die von Said kritisierten Publikationen von
ausländischen Ethnographen oder Autoren vorherrschten. Es geht in der „Writing-Culture“-Debatte
u.a. um Selbstdarstellung vs. Fremddarstellung, insofern kann sie auf die kulturellen Produkte von
Migranten angewandt werden. Zu „Writing Culture“ Vgl.: James Clifford/George E. Marcus (Hgg.):
Writing Culture. The Poetics and Politics of Ethnography. Berkeley: University of California Press, 1986.
Eberhard Berg/Martin Fuchs (Hgg.): Kultur, soziale Praxis, Text: Die Krise der ethnographischen Repräsentation Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1993.
621
622 Allerdings forscht Göktürk in den USA. Vgl.: Deniz Göktürk: Verstöße gegen das Reinheitsgebot:
Migrantenkino zwischen wehleidiger Pflichtübung undwechselseitigem Grenzverkehr. In: Ruth Mayer/Mark
Terkessidis (Hgg.): Multikulturalismus und Populärkultur St. Andrä/Wörden: Hannibal Verlag, 1998.
S. 99-114; Dies.: Turkish Women on German Streets. Closure and Exposure in Transnational Cinema. Myrto
Konstantarakos (Hg.): Space in European Cinema Exeter/Portland: Intellect, 2000. S. 64-76; Dies.:
Migration und Kino – Subnationale Mitleidskultur oder transnationale Rollenspiele? In: Carmine Chiellino
(Hg.): Interkulturelle Literatur in Deutschland Stuttgart: Metzler, 2000. S. 329-347; Dies.: Turkish
Delight – German Fright: Migrant Identities in Transnational Cinema. In: Deniz Derman/Karen
Ross/Nevena Dakovic (Hgg.): Mediated Identities Istanbul: Bilgi University Press, 2001. S. 131-149.
Zu seinen Produktionen gehören u.a. Kurz und Schmerzlos (1998), Im Juli (2000), Solino (2002),
Gegen die Wand (2004), der auf der Berlinale 2004 ausgezeichnet wurde, sowie der Dokumenatarfilm
Denk ich an Deutschland – Wir haben vergessen zurückzukehren (2001). 2005 sind Kebab Connection und der
Dokumentarfilm Crossing the Bridge herausgekommen. Vgl. dazu Tuncay Kuloglu: Der neue ‚deutsche‘
Film ist ‚türkisch‘? Eine Generation bringt Leben in die Filmlandschaft. In: Filmforum 16 (1999). S. 8-11;
Barbara Mennel: Bruce Lee in Kreuzberg and Scarface in Altona: Transnational Auteurism and Ghettocentrism
in Thomas Arslan's Brothers and Sisters and Fatih Akin's Short Sharp Shock. In: New German Critique 87
(2002). S. 133-156.
623
185
7. Vaybee! – Transnationaler Lokalpatriotismus
Erfolg des Komikers Kaya Yanar,624 der Musiksender-Moderatorin Gülcan
Karahancı, die nach Tarkan türkischen Pop nach Deutschland bringt625 – nicht
in Untersuchungen zur medialen Selbstdarstellung von Migranten niedergeschlagen. Ein Problem, dass sich abzeichnet – ähnlich wie im Bereich der
Migrationsliteratur – ist, dass Migranten in den Medien noch zu sehr einen
Platz als „Vorzeige-Exoten“ zugewiesen bekommen.626 Ob „brave Quotenausländer“627 oder schrille Exoten: sie sind gut für die Zuschauerquoten,628 aber
dadurch nicht zwangsläufig in der breiten Gesellschaft akzeptiert. Oliver
Hüttmann beschreibt diese Diskrepanz zwischen Medienrepräsentation und
Alltag:
Die türkischen Migranten kommen nach 40 Jahren an jene
Schwelle, die von der afroamerikanischen Bevölkerung der
USA lange überschritten wurde: Im Showbusiness und
Sport beliebt, im Alltag abschätzig geduldet.629
624 Comedy von Migranten stellt ein neues Forschungsinteresse dar. Vgl. Deniz Göktürk: Strangers in
Disguise: Role Play beyond Identity Politics in Anarchic Film Comedy. In: Ulla Haselstein/Berndt Ostendorf/Peter Schneck (Hgg.): Iconographies of Power. Poetics and Politics of the Image. Heidelberg:
Carl Winter, 2001. S. 187-212.
Durch sie wurde Aya benzer des türkischen Popstars Mustafa Sandal, bislang nur in der Türkei
bekannt, zu einem Hit in Deutschland. Vgl. dazu: Christoph Dallach: Türkischer Honig. Neuer PopTrend. In: Spiegel Online, 25.08.2003.
625
626
Vgl. Weber: Der Aufstand der Vorzeige-Exoten.
627 Oliver Hüttmann: Kennzeichen TR. Junge Deutschtürken erobern sich Musik, Film, Fernsehen, Theater und
Literatur. Kommt nach der Leid – die Leitkültür? In: Die Woche, 17.11.2000.
Vgl.: „Die Privatsender […] werden von Studien aufgeschreckt, nach denen die jungen Deutschtürken ausgesprochen „konsumfreudige, markenbewusste Vielseher“ seien. Dennoch zeichnet sich
ein Paradigmenwechsel ab: Die Macher hatten halt begriffen, dass der Alltag in Almanya nur stimmig gezeigt werden kann, wenn darin türkische Mitbürger ohne exotische Stilisierung vorkommen
[…].“ Hüttmann: Kennzeichen TR. Der Marktwert exotischer Stilisierung ist jedoch nicht zu unterschätzen. Ethno-Mode und Ethno-Pop bedienen sich kultureller und spiritueller Symbole, oft ohne
deren Bedeutung zu kennen. Vgl. dazu: Hettie Judah: Hands off our Culture. In: The Independent on
Sunday, 6.12.1998.
628
629
Hüttmann: Kennzeichen TR.
186
7.1 Virtualität und Identität
7.1 Schöne virtuelle Welt – Virtualität und Identität
Bei Untersuchungen zu virtuellen Identitäten im Internet stehen klassischerweise Meinungen, nach denen Identität in diesem Medium anonym und frei
wählbar sei, solchen gegenüber, die die fort bestehende lebensweltliche Einbindung und die dadurch bedingten Einschränkungen betonen.630
Sherry Turkle hat 1995 mit Leben im Netz. Identität in Zeiten des Internet ein viel
zitiertes Pionierwerk zur Analyse von virtuellen Identitäten veröffentlicht. In
ihrer mit „Identität im Zeitalter des Internet“ betitelten Einleitung behauptet
sie:
Ein rasant expandierendes System von Netzen, die in ihrer
Gesamtheit als Internet bezeichnet werden, verbindet Millionen von Menschen in neuen Räumen, die unsere Denkweise, den Charakter unserer Sexualität, die Form der Gemeinschaftsbildung, ja unsere Identität selbst verändern.631
Die Qualitäten, die Turkle dem Internet beimisst, seine unvergleichlich schnelle Art der komplexen Datenvermittlung, seine Reichweite und seine Anonymität, die das Spiel mit Identitäten möglich macht, hält Turkle für eine Verwirklichung der postmodernen Prämissen. Die Art und Weise, wie personale Identität erzeugt und erlebt werde, habe sich grundlegend verändert.632 Im virtuellen
Raum besteht die Möglichkeit, die eigene Identität frei zu wählen. Dies gilt
umso mehr für so genannte MUDs (MultiUserDomains), in denen sich Spieler
in einer virtuellen Fantasiewelt bewegen.633
630 Die Möglichkeit andere Geschlechtsidentitäten vorzugeben, das so genannte Gender-Swapping,
und die vollkommene Auflösung von Geschlechtlichkeit stehen dabei unter anderem zur Debatte.
Vgl. dazu u.a. Donna Haraway: Die Neuerfindung der Natur – Primaten, Cyborgs und Frauen. Frankfurt/Main: Campus, 1995.
631
Sherry Turkle: Leben im Netz. Identitaet in Zeiten des Internet. Reinbek: Rowohlt, 1998. S. 9.
632
Ebd. S. 10.
Turkle vergleicht MUDs mit künstlerischen Darstellungsformen: „MUDs sind eine neue Art von
virtuellem Gesellschaftsspiel und eine neue Form von Gemeinschaft. Zudem sind textgestützte MUDs
eine neue Form von kollektiv geschriebener Literatur. MUD-Spieler sind gleichzeitig MUD-Autoren,
also Schöpfer und Konsumenten von Medieninhalten in einem. In dieser Hinsicht hat das Mitspielen in
einem MUD sehr viel Ähnlichkeit mit dem Drehbuchschreiben, der darstellenden Kunst, dem Straßentheater, dem Improvisationstheater, ja sogar der Commedia dell’arte. […].“ Ebd. S. 13.
633
187
7.1 Virtualität und Identität
Um die Möglichkeit der frei wählbaren Identität zu veranschaulichen, bezieht
sich Turkle auf eine Karikatur aus dem New Yorker. Ein Hund, die Vorderpfoten auf der Tastatur eines Computers, bemerkt einem Artgenossen gegenüber:
„Dort weiß niemand, dass Du ein Hund bist.“634 Die Anonymität der MUDs
ermögliche es, „eine Identität zu erzeugen, die so fließend und mannigfaltig ist,
dass es fraglich wird, ob man hier überhaupt noch von Identität sprechen
kann“.635 Mit dieser Feststellung befindet sich Turkle im Zentrum der Diskussion um die ‚postmoderne‘ Identität und bestätigt, dass diese (bzw. das, was als
solche definiert wurde) in der virtuellen Welt lebbar ist. Belegen kann Turkle
das aus den von ihr durchgeführten Interviews. So beschreibt einer der Befragten sein Verhalten:
Ich spalte mich auf. […] Ich kann mich selbst als zwei, drei
oder mehr Jemande betrachten. Beim Wechsel von einem
Fenster zum anderen aktiviere ich jeweils einen anderen
Teil meiner Persönlichkeit.636
Die reale Welt, auf die üblicherweise als „RL“ (für ‚real life‘) Bezug genommen
wird, wird nur zu einem weiteren Fenster auf dem Computerbildschirm, in
dem man z.B. an einer Windows-Anwendung arbeitet.637 Diese Fenster können als Metapher für ein dezentriertes Selbst angesehen werden. Ein Mensch
übernimmt demnach nicht nur verschiedene Rollen im realen Leben, sondern
übernimmt auch Rollen in verschiedenen Welten.638 Turkle beobachtet, dass
bei einigen Nutzern die Zeit, die sie in virtuellen Räumen verbringen, über
diejenige gestellt wird, die in „RL“ verbracht wird:
Wenn man mit verschiedenen Geschlechtsidentitäten und
Lebensstilen spielen kann, dann überrascht es nicht, dass
634
Vgl. ebd. S. 14.
635
Ebd.
636
zitiert in ebd. S. 16.
Faßler sieht in der Fähigkeit, sich sowohl in der Online- als auch in der Offline-Welt zurecht zu
finden, eine Art Creolisierung: „Medien werden digtal und damit verändert sich die organische Zusammensetzung von Kultur. Die Möglichkeiten, sich innerhalb dieser on-line & off-line, global & lokal, real-real
& virtuell-realen Zusammensetzungen zurecht zu finden, verweisen auf die Fähigkeit zur Creolisierung […].“
Vgl. Manfred Faßler: Kulturen ohne Land? 'Virtual Communities' im Internet als Alternative zu nationalen
Kulturen und Identitäten. In: Ausländerbeauftragte der Freien und Hansestadt Hamburg; Hamburgische
Anstalt für neue Medien (HAM) (Hg.): Medien, Migration, Integration Berlin: VISTAS, 2001. S. 6180. S. 74f.
637
Flusser unterscheidet neben dem Lebensraum den Weltraum und den Quantenraum. Vgl. Vilém
Flusser: Virtuelle Räume – Simultane Welten. Vilém Flusser im Gespräch mit Sabine Kraft und Philipp Oswald.
In: Arch+ 111 (1992). S. 33-52.
638
188
7.1 Virtualität und Identität
dieses Spiel so real geworden ist wie das, was man herkömmlicherweise als wirkliches Leben bezeichnet, obgleich
sich für sie [MUD-Spieler; Y.D.] selbst dieser Unterschied
längst aufgelöst hat.639
Von einem völligen Aufgehen in der Online-Welt kann laut Kendall aufgrund
der materiellen Anbindung in der Lebenswelt keinesfalls gesprochen werden:
„Each participant has in any case a physical body that remains involved in
experiences separate from the interactions occurring on-line.“640 Kendall steht
Turkle, die die reale Welt als eine Teilrealität mit einbezieht, kritisch gegenüber. Die Teilhabe an verschiedenen Online und Offline-Welten führe nicht
dazu, das Selbst als multipel zu begreifen, noch sei die Erfahrung des Umgangs
mit verschiedenen Lebensbereichen neu. Trotz fragmentierter Identitäten begriffen Individuen ihre Identitäten als integriert und beständig.641 Ganz richtig
kritisiert Kendall weiterhin, dass die Online-Welt oft als vollkommen unabhängig von den lebensweltlichen sozialen Beziehungen der Teilnehmer angesehen werde. Sie erscheine als neue und utopische Welt, in der Körper und
Machtverhältnisse keine Rolle spielten.642
Obwohl das Internet zweifelsohne bisher ungeahnte Möglichkeiten bietet, darf
allerdings über Restriktionen beim Zugang nicht hinweggesehen werden.643
Angesichts der Möglichkeiten, Zugriff auf Computer von außen zu nehmen
639
Turkle: Leben im Netz. S. 18.
Lori Kendall: Recontextualizing “Cyberspace”: Methodological Considerations for On-Line Research. In:
Steve Jones (Hg.): Doing Internet Research. Critical Issues and Methods for Examening the Net.
Thousand Oaks: SAGE Publications, 1999. S. 57-74. S. 61.
640
641
Vgl. ebd. S. 61.
Kendall zitiert ein Manifest von der bekannten „net personality“ John Perry Barlow aus dem
Jahre 1996. Dort heißt es beispielsweise: „I declare the global social space we are building to be
naturally independent of the tyrannies you seek to impose on us. […] We are creating a world that all
may enter without privilege or prejudice accorded by race, economic power, military force, or station
of birth […] Your legal concepts of property, expression, identity, movement, and context do not
apply to us […].“ Barlow zitiert in ebd. S. 60.
642
Internetnutzung ist in wohlhabenden Ländern sehr viel weiter verbreitet. 2001 gab es 446 Millionen Nutzer insgesamt. Davon befanden sich drei Fünftel in Nordamerika. Während sich fast die
Hälfte aller Anschlüsse in Japan befindet, gab es in China vergleichsweise geringe 1,5 Millionen.
Über ein Drittel der afrikanischen Internet-Nutzer stammen aus Südafrika. In Deutschland gab es
2001 7,3 Millionen Nutzer. Vgl. Barbara Thomaß/Werner Gries/Hans J. Kleinsteuber: Medien und
Wissensgesellschaften. In: Ingomar Hauchler/Dirk Messner/Franz Nuscheler (Hgg.): Globale Trends.
Fakten, Analysen, Prognosen Frankfurt/Main: Fischer, 2001. S. 181-197. Zu Aspekten des Internetzugangs in Entwicklungsländern siehe: Urs E. Gattiker: Personal and Organizational Use of the Internet:
Economic and Access Issues. In: Urs E. Gattiker (Hg.): The Internet as a Diverse Community. Cultural,
Organizational and Political Issues. Mahwah: LEA, 2001. S. 56-72.
643
189
7.1 Virtualität und Identität
und die Teilnahme in Chatrooms auf einen Computernutzer zurück zu verfolgen, wird auch der Aspekt der Anonymität fraglich.
Auf einen Aspekt, der zentral ist für die in dieser Arbeit vertretene Position,
weist Sherry Turkle hin: auf den Gegensatz zwischen Theorie und „gelebter
Erfahrung“.644 Einige Theoretiker des Poststrukturalismus und der Postmoderne behaupten nicht nur die Sprache konstituiere das Selbst und der Geschlechtsverkehr bestehe im Austausch von Signifikanten, sondern beschreiben das Selbst als dezentriert und multipel. Individuen seien aber durch die
Zwänge des Alltagslebens genötigt, „Verantwortung für [ihre] Handlungen zu
übernehmen und [sich] als intentionale und unitäre Akteure zu begreifen“.645
Diese Spaltung zwischen Theorie (das unitäre Selbst ist eine
Illusion) und gelebter Erfahrung (das unitäre Selbst ist die
fundamentalste Tatsache) ist einer der Hauptgründe dafür,
daß Theorien, die ein multiples oder dezentriertes Selbst
postulieren, nur zögerlich Anklang finden oder daß wir,
selbst wenn sie uns überzeugen, doch schon bald wieder in
das ältere Paradigma des zentrierten Subjekts zurückfallen.646
Im Internet aber könne das vollzogen werden, was die Alltagszwänge des reellen Lebens nicht erlaubten. Eindrücklich beschreibt Turkle diese Erfahrung:
So begegne ich den Ideen von Lacan, Foucault, Deleuze
und Guattari, zwanzig Jahre nachdem ich erstmal mit ihnen
Bekanntschaft gemacht habe, erneut in meinem neuen Leben am Bildschirm. Doch diesmal sind die gallischen Abstraktionen viel konkreter. In meinen rechnervermittelten
Welten ist das Selbst, das durch die netzvermittelten Interaktionen konstituiert wird, multipel und in ständigem Wandel begriffen, es wird von der Sprache erzeugt und trans-
644
Turkle: Leben im Netz. S. 19.
645
Ebd. S. 19.
646
Ebd.
190
7.1 Virtualität und Identität
formiert, der Geschlechtsverkehr ist ein Austausch von
Signifikanten und Bedeutung eher ein Produkt von Navigieren und Improvisieren als von rationaler Analyse.[…]647
MUDs regen zu Reflexionen über das eigene Ich an. Diese Erfahrung erläutert
Turkle am eigenen Beispiel. Unter dem Namen „Dr. Sherry“ verteilte eine
Cyberpsychologin in einem MUD Fragebögen; die Figur war jedoch nicht von
Turkle selbst eingeführt worden, sondern (anscheinend) von jemandem, der
sich mit ihren Forschungsinteressen auskannte. Aus diesen Erfahrungen
schließt Turkle, dass „computervermittelte Erfahrungen die Philosophie auf
den Boden der Wirklichkeit zurückholen“.648 Erfahrungen im Internet machen
Vielfältigkeit und Flexibilität konkret und zeigen den Konstruktcharakter von
Selbst und Wirklichkeit.
Turkle nach steht die aktuelle Gesellschaft an der Grenze zwischen Virtuellem
und Reellem. Mit Verweis auf den Anthropologen Victor Turner spricht sie
von einer Übergangsphase, in der neue kulturelle Symbole und Bedeutungen
geschaffen werden.649 Diese neuen kulturellen Symbole und Bedeutungen finden sich auch in vaybee!: sie werden zum einen durch die spezifische Struktur
einer Online Community geschaffen und zum anderen durch die türkischdeutsche Ausrichtung. Wenn man so will, steht vaybee! an zwei Schnittstellen
zugleich: der kulturellen und der virtuell-reellen.
647
Ebd. S. 19f.
648
Ebd. S. 22.
649
Vgl. ebd. S. 437.
191
7.2.1 Was ist vaybee!?
7.2 Vaybee!
7.2.1 Was ist vaybee!?650
Die vaybee.com AG bezeichnet sich selbst als „das führende Internet/Medien-Unternehmen in Europa, welches sich speziell an die türkische
Bevölkerung richtet“.651 Vaybee! will „in Deutschland und Europa lebende
Türken und türkische Unternehmer“ informieren, unterhalten und Möglichkeiten zur Bildung von Netzwerken bieten. Als Ziel formulieren die Betreiber
„die türkische Community europaweit miteinander zu vernetzen und ihren
Informationsstand zu erhöhen“.652 Unter dem Titel Vaybee!Solutions gehört
auch Ethnomarketing zu den Unternehmensbereichen.653
Die Geschäftsidee von vaybee! ist erfolgreich, denn die Webpage bietet den
Mitgliedern der Community nicht nur die üblichen Angebote wie E-Mail- und
SMS-Service, sondern sie ermöglicht auch die Erhebung zielgruppenspezifischer Informationen für Unternehmen: betriebswirtschaftlich gesehen eine
‚winwin‘-Situation für alle Beteiligten. Mit rund 1,5 Millionen Visits monatlich
sowie rund 400 000 Mitgliedern gehört vaybee! tatsächlich zu einem erfolgreichen Internet-Portal.654
Vaybee! versorgt seine Nutzer mit Berichten über viele für sie relevante Themen. Das Design der Webseite zeigt eine starke Orientierung in Richtung Unterhaltung wie man an den verschiedenen Links zu Schönheitswettbewerben,
Partys, Klatsch über VIPs, Konsumgüter und Lifestyle erkennen kann. Doch
gleichzeitig gibt es auch Links zu Informationen über das Ausländerrecht in
650
‚Vaybee!‘ wird im Türkischen ähnlich wie das englische ‚Wow!‘ gebraucht.
651
Vgl. http://www.vaybee.de („Über uns“). Zuletzt eingesehen am <20.07.2005>.
652
Vgl. ebd.
653 Online Communities bieten Marketingstrategen ein bereits abgegrenztes Segment, über das sie
anhand von Nutzer-Daten auch soziodemographische Daten erfahren können. Eine langwierige
Marktforschung entfällt hier also. Eine erste Monografie zum Thema Ethnomarketing legten KrausWeysser und Ugurdemir-Brincks vor. Vgl.: Folker Krauss-Weysser/Natalie Ugurdemir-Brincks:
Ethno-Marketing. Türkische Zielgruppen verstehen und gewinnen. München: Verlag Moderne Industrie, 2002.
654 Diese Zahlen beziehen sich auf das Jahr 2005. Vgl. auch Lebenswelt Deutschtürken. Webtipp und
Studie. In: DirektMarketing. 8 (2002). Pageviews werden auch als PageImpresions bezeichnet und
bezeichnen den Blick eines Nutzers auf eine Webseite. Gemeinsam mit Visits, die einen zusammenhängenden Nutzungsvorgang innerhalb einer Gemeinschaft benennen, gelten sie als Maßzahl für
den Werbeerfolg einer Seite. Nikolas Fentrop: Glossar. In: Irene Neverla (Hg.): Das Netz-Medium.
Kommunikationswissenschaftliche Aspekte eines Mediums in Entwicklung. Opladen: Westdeutscher
Verlag. 1998. S. 321-330. S. 327.
192
7.2.1 Was ist vaybee!?
Deutschland, über Militärdienst in der Türkei sowie lebhafte Diskussionen
über verschiedenste Themen in Foren und in Chatrooms.
Vaybee! präsentiert sich als transnational. Obwohl eine Vernetzung aller in
Europa lebenden Türkeistämmigen angestrebt wird, ist die Webseite momentan stark an Deutsch-Türken orientiert. Allerdings gibt es Chatrooms, die mit
‚Österreich‘ und ‚Holland‘ betitelt sind, was darauf schließen lässt, dass auch
Nutzer aus diesen Ländern zu der Community zählen; eine europäische Öffnung hat also bereits stattgefunden. Momentan sind alle Berichte auf Deutsch
und auf Türkisch abrufbar, eigene Beiträge können wahlweise auf Deutsch
oder Türkisch formuliert werden – wobei die deutsche Sprache mit einem
deutlichen Anteil an Code-Switching655 präferiert wird.656
Vaybee! ist nur eine von vielen transkulturellen Online Communities,657 in denen sich Individuen aus verschiedensten Interessen zusammenschließen. Das
gemeinsame Interesse an einem bestimmten Thema scheint das gemeinschaftsstiftende Element zu sein. Rheingold hat virtuelle Gemeinschaften als
„social aggregations“ definiert:
Virtual Communities are social aggregations that emerge from
the Net when enough people carry on those public discussions long enough, with sufficient human feeling, to form
webs of personal relationship in cyberspace.658
Nach Fernback zeichnen sich Online Communities durch gemeinsame Werte
und Normen, Regeln sowie einen geteilten Sinn für Identität aus.659 Gemeinschaft sieht sie u.a. konstituiert durch gemeinsame Sprache, Herkunftsland,
Nach Jannis Androutsopoulos und Volker Hinnenkamp eröffnet bilinguale ChatKommunikation ein neues empirisches Areal für Code-Switching. Ihre Analyse der bilingualen Chats
#hellas und #turks gehört zu den ersten deutschen Forschungsarbeiten auf diesem Gebiet. Vgl.:
Jannis Androutsopoulos/Volker Hinnenkamp: Code-Switching in der bilingualen Chat-Kommunikation: ein
explorativer Blick auf #hellas und #turks. In: Michael Beißwenger (Hg.): Chat-Kommunikation. Sprache,
Interaktion, Sozialität & Identität in synchroner computervermittelter Kommunikation. Perspekiven
auf ein interdisziplinäres Forschungsfeld. Stuttgart: ibidem, 2001. S. 367-401.
655
656
Vgl. dazu die Äußerung von „EdelTuerkin“. S. 205 dieser Arbeit.
Weitere türkische Online Communities finden sich u.a. unter http://www.bizimalem.de,
http://www.turkcafe.de, http://www.cikolata.de, http://www.dolunay.de, http://www.parantez.de,
http://www.yakamoz.de und http://www.turkdunya.de. Andere Beispiele für Webseites ethnischer
Minderheiten in Deutschland stellen http://www.polonium.de, http://www.germany.ru und
http://www.greektown.de dar. Zuletzt eingesehen am <20.07.2005>.
657
Vgl. Howard Rheingold: The Virtual Community. Finding Connection in a Computerized World. London:
Seeker & Warburg. 1994 S. 5.
658
Jan Fernback: There is a there there: Notes toward a Definition of Cybercommunity. In: Steve Jones (Hg.):
Doing Internet Research. Critical Issues and Methods for Examening the Net. Thousand Oaks:
SAGE Publications, 1999. S. 203-220. S. 211.
659
193
7.2.1 Was ist vaybee!?
Monumente, Kunst und Rituale. Einige dieser gemeinschaftsstiftenden Elemente kann man durch empirische Analysen in Cybercommunities nachweisen.660 Beispielsweise gibt es auch ein eigenes Strafsystem. So können Nutzer,
die sich den inhärenten Regeln der jeweiligen Community zuwider verhalten,
regelrecht ausgeschlossen werden. Auf diese und weitere Aspekte der Gemeinschaftsbildung und -organisation im virtuellen Rahmen wird an späterer Stelle
noch detaillierter eingegangen.
Gemeinsame Interessen können zur Gründung einer Art Selbsthilfegruppe
führen, wie im Fall von Eltern, die Kinder verloren haben oder Brustkrebspatientinnen und deren Angehörigen.661 Im Fall der Zapatistas in Mexiko hat
sich die Möglichkeit der politischen Machtentfaltung gezeigt.662 Viele der
transkulturellen Online Communities663 sind politisch motiviert. Um anschaulicher zu machen, wie Integrität innerhalb der Community verhandelt wird,
werden im Folgenden Beiträge des vaybee!-Forums ‚Integration‘ detaillierter
analysiert. Dabei werde ich auf Aspekte der Interaktion, Identität und Integrität zu sprechen kommen. Mein Interesse bei der Analyse gilt vor allem der
Frage, wie innerhalb der Online Community Identität verhandelt wird und
welche Aussagen sich über Integrität treffen lassen. Um darüber Aufschluss zu
bekommen, ist sowohl der Internet-Auftitt der Webseite an sich zu untersuchen, als auch die Informationen, die die Teilnehmer über sich selbst anbieten;
sei es durch Teilnahme an Chats und Foren, durch Postings am Board oder
durch die Informationen, die sie über sich in ihrem Profil angeben. Zum
einen wird also das Angebot der Webseite betrachtet, zum anderen die Interaktion und Selbstaussagen der Teilnehmer analysiert; ähnlich wie dies
bereits in Bezug auf fiktive Figuren in den vorhergehenden Analysekapiteln
geschehen ist. Dabei gehe ich beobachtend vor. Um meine Beobachtungen
machen zu können, bin ich selbst Mitglied von vaybee! geworden und habe
mich unter einem Nickname im Angebot von vaybee! bewegt (Nicht660
Ebd. S. 214.
661 Vgl. Barbara F. Sharf: Beyond Netiquette. The Ethics of Doing Naturalistic Discourse Research on the Internet. In: Steve Jones (Hg.): Doing Internet Research. Critical Issues and Methods for Examening the
Net. Thousand Oaks: SAGE Publications, 1999. S. 243-256.
Vgl dazu. Castells: The Power of identity. S. 72-81. Am Beispiel der Mobilmachung von Bewohnern
des Jervay Place, einem Wohnkomplex, der abgerissen werden sollte, erläutert Christopher Mele die
Möglichkeiten des Internets für „collective action“. Christopher Mele: Cyberspace and Disadvantaged
Communities. The Internet as a Tool for Collective Action. In: Mark A. Smith/Peter Kollock (Hgg.): Communities in Cyberspace London: Routledge, 1999. S. 290-310.
662
663 Exemplarisch seien hier folgende Seiten genannt: http://www.iranian.com,
http://www.punjabonline.com, http://www.hagalil.com, http://www.nriol.com,
http://www.russia-usa.com, http://www.hri.org, http://www.haitiglobalvillage.com. Zuletzt eingesehen am <20.07.2005>.
194
7.2.2 Vaybee! – Identitätsarbeit in einer Online Community
Mitgliedern ist der Zugang zu manchen ‚Features‘ verwehrt), ohne mein Forschungsinteresse öffentlich auszuweisen oder aktiv teilzunehmen, insofern
basiert diese Analyse auf teilnehmender Beobachtung.664
7.2.2 Vaybee! – Identitätsarbeit in einer Online Community
Türken trotzen der „Integration“
Die Bemühungen der Bundesregierung, aus Türken Deutsche zu machen, sind offensichtlich gescheitert. Neueste
Zahlen belegen, daß die meisten türkischen Staatsbürger in
Deutschland keinen bundesrepublikanischen Paß haben
wollen
Woran könnte das liegen? 665
Diese Frage wird von einer Person namens Sevil gestellt – zumindest ist das
der Nickname, durch den sie innerhalb der türkisch-deutschen Online Community vaybee! identifiziert werden will.666 Mit dem obigen Zitat eröffnet sie ein
neues Diskussionsforum über Integration. Dabei verbindet sie Integration mit
Einbürgerung und erweckt den Eindruck, dass der Wechsel eines Passes ausreicht, um vollkommen als Deutsche akzeptiert zu werde; nicht nur rechtlich,
sondern auch im gesellschaftlichen Leben. Zwar wird Eingebürgerten nicht
der Anspruch auf allgemeingültige Rechte verwehrt, dennoch empfinden viele
664 Steve Jones hat einen Band über Ansätze zur Internetanalyse herausgegeben. Darin werden verschiedenste Ansätze vorgestellt und diskutiert. Kendall hält eine teilnehmende Beobachtung für
unerlässlich. Dies hält sie in Bezug auf Online Communities gegen Untersuchungen, die den sozialen
Kontext von Online-Kommunikation und -Interaktion nicht berücksichtigen. Vgl. Lori Kendall:
Recontextualizing “Cyberspace”. S. 57. Eine Untersuchung, die nicht von den Teilnehmern ausgeht,
sondern sich auf die Struktur der Online Community bezieht, schlagen z.B. Garton, Haythornwaite
und Wellman im gleichen Band vor. Vgl. Laura Garton/Caroline Haythornthwaite/Barry Wellman:
Studying On-Line Social Networks. In: Steve Jones (Hg.): Doing Internet Research. S. 75-103.
665 Die Postings sind unverändert übernommen worden – inklusive Rechtschreibfehlern, die sich
den Verfassern eingeschlichen haben.
666 Nicknames zu benutzen, wird auch als „Masking of Identity“ (S. 47) beschrieben. Danet et al
vergleichen Nicknames mit Masken auf Maskenbällen oder im Karneval: „Masks are not only meant
to hide player’s real identity, but also to call attention to the person, and to the mask and its expressive power, imaginativeness, capacity to instill fear, evoke humor, and so on. Similarly, textual masks
– online nicknames – are not only a means to disguise RL identities but a form of online plumage.“
Brenda Danet/Lucia Ruedenberg/Yehudit Rosenbaum-Tamari: Hmmm...Where's that Smoke Coming
from? In: Margaret McLaughlin/Fay Sudweeks,/Sheizaf Rafaeli (Hgg.): Network and Netplay: Virtual
Groups on the Internet Menlo Park: AAAI/The MIT Press, 1998. S. 41-76. S. 49.
195
7.2.2 Vaybee! – Identitätsarbeit in einer Online Community
Teilnehmer am Forum „Integration“ sich nicht anerkannt als „vollwertiges
Mitglied eines Gemeinwesens“,667 was Auswirkungen auf ihre Integrität hat.
Das Forum „Integration“ gehört zu einer Reihe von Foren, die sich um Themen wie die beliebtesten Studiengebiete, religiöse Heirat oder Homosexualität
drehen. Seit dem Beginn des Forums um Integration haben viele vaybee!Mitglieder darüber diskutiert, wie sich Individuen mit einem speziellen Kollektiv identifizieren. Die angebotenen Antworten liegen erstaunlich nah an wissenschaftlichen und intellektuellen Debatten. Von essenzialistischen Ansichten
bis zu Proklamationen von Hybridität scheinen alle theoretischen Positionen
zum Thema Identität zur Sprache zu kommen.
Indem ich ausgewählte Beispiele aus dem Forum zum Thema Integration analysiere, möchte ich aufzeigen, wie sich die Teilnehmer in die Online Community integrieren und welche Strategien sie dabei anwenden. Folgende Fragen
sollen behandelt werden: Wie schaffen Online Communities wie vaybee! neue
Kollektive mit eigenen Identifikationssymbolen? Wie wird Exklusion und Inklusion innerhalb der Community verhandelt? Anhand der Selbstaussagen der
Teilnehmer lässt sich feststellen, dass sie sich gegen die Kategorisierung durch
die deutsche Gesellschaft wehren (und auch gegen den Ausschluss aus dieser)
– doch paradoxerweise selbst dazu tendieren, denselben Exklusions- und Inklusionsmechanismen zu verfallen, wenn es um andere Teilnehmer innerhalb
der Community geht.668
Vaybee!-Nutzer sind nicht nur durch ihr Kommunikationsmedium, den Computer bzw. das Internet miteinander verbunden – was sie noch mehr verbindet, ist die fehlende Anerkennung der deutschen Gesellschaft in Bezug auf
ihre Selbstwahrnehmung bzw. Selbstrepräsentation. Die Tatsache, dass jeder
Nutzer seine eigenen, privaten Ansichten darüber hat, wie er sich in die deutsche, türkische oder deutsch-türkische Gesellschaft zu integrieren hat, schafft
eine infinite Anzahl an möglichen Kollektiven – aber die Erfahrung des Lebens mit mehreren Gruppenzugehörigkeiten (komplexen Identitäten), der
Ausschluss aus der deutschen Gesellschaft und die Möglichkeit, diese Erfahrungen mit anderen zu teilen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben, lässt
667
Vgl. Honneth: Kampf um Anerkennung. S. 215.Vgl. auch S. 85. dieser Arbeit.
Insofern wird hier nicht die Meinung von Frank Böckelmann geteilt, der die vaybee!-Community
als „festlegungsfeindlich“ beschreibt. Derselbe schreibt wenig später: „Beim Abstreifen kultureller
und nationaler Fesseln aber gewinnt die türkische Herkunft erneut zentrale Bedeutung […]“ und
widerspricht sich somit selbst. Frank Böckelmann: Das Tragen von Kopftüchern ist hocherotisch. Bekenntnisse in der Online-Community: Junge Deutschtürken sprechen sich im Internet-Portal „Vaybee!“ aus. In: Süddeutsche Zeitung, 18.12.2002. Bemerkenswert ist die zu dem Text gehörige Abbildung, die eine Gruppe
älterer kopftuchtragender Türkinnen zeigt. Die in den Titel zitierte Aussage eines vaybee!-Mitgliedes
bezieht sich wohl kaum auf diese Gruppe, noch handelt es sich bei ihr um Mitglieder der OnlineCommunity – Interesse weckt das Kopftuch bei deutschen Lesern jedoch allemal.
668
196
7.2.2 Vaybee! – Identitätsarbeit in einer Online Community
alle derselben Gemeinschaft der vaybee!-Nutzer angehören (obwohl ihre Vorstellung davon, wie sie aussehen sollte, sich stark unterscheiden kann).
Auch die Anonymität des Forums erlaubt es Menschen unterschiedlichen Hintergrunds in Verbindung zu treten, obwohl beispielsweise Deutsch-Türken mit
unterschiedlichen politischen oder religiösen Vorstellungen sehr wahrscheinlich offline nicht miteinander verkehren (bzw. dieselben Lokalitäten aufsuchen) würden. vaybee!-Mitglieder debattieren über ihre Erfahrungen innerhalb
der deutschen Gesellschaft an einem anonymen Ort, der seine eigenen Regeln
hat und in dem gleichzeitig Akzeptanz und Anerkennung eine ebenso wichtige
Rolle spielen wie in der Offline-Welt.669
Bei näherer Betrachtung der Postings fällt auf, dass es Ähnlichkeiten zwischen
Migrationsliteratur und vaybee! gibt. Die Teilnehmer der Online Community
verhandeln ihre Identitäten, sowohl als Deutschtürken oder TürkischDeutsche oder Almancilar, wie sie in der Türkei genannt werden,670 und auch
ihre Identität innerhalb der Online Community.
Obwohl das postmoderne, zersplitterte Ich theoretisch reizvoll ist, belegt die
Problematisierung der Gruppenzugehörigkeit, dass die Zugehörigkeit zu mehreren Kollektiven nicht durchweg als positiv wahrgenommen wird. Die fehlende Anerkennung von außen führt zur Problematisierung der Zugehörigkeit
und der eigenen Identität im weitesten Sinne:
Autor: Gulsah77
Datum: (25/02/2003 – 20:21)
Forum: Integration
Assimilation ist die Devise nicht
Integration. Die Türken oder whatever sollen nicht in ihren
Feinheiten und „Andersarten“ in das bestehende System integriert werden. Dem deutschen wäre es lieber wir waren
ganz deutsch am liebsten auch dem aussehen nach (und der
Lebensweise nach sowieso). Ich wunder mich immer noch
wenn die Omas einen schief angucken wenn man sich mit
ihnen unterhält und dann kommt dieser ach so nette Satz
„Sie sprechen aber perfekt deutsch genau wie eine Deut669 Bei meiner Analyse des Forums „Integration“ steht der Inhalt der Postings im Vordergrund. Auf
Regeln der Interaktion kann nur am Rande eingegangen werden. Für eine detaillierte Studie, die
soziales Verhalten in Online Communities anhand anschaulicher Beispiele analysiert, sei auf Carla G.
Surratt verwiesen. Carla G. Surratt: Netlife. Internet Citizens and their Communities. Commack: Nova
Science Publishers, 1998.
670 Vgl. dazu Kapitel 6 dieser Arbeit. Es gibt auch ein Onlinemagazin, das sich nach dieser ursprünglich negativ konnotierten Zuschreibung benannt hat. Vgl.: http://www.almancilar.de. Zuletzt eingesehen am <20.07.2005>.
197
7.2.2 Vaybee! – Identitätsarbeit in einer Online Community
sche“. Nö sag ich dann manchmal. Mein deutsch ist besser
als das der arischen deutschen. Die gucken dann manchmal
blöd aber wen juckts.
Nutzer teilen ihre Erfahrungen darüber, dass sie – egal wie sie sich verhalten –
als Türken oder zumindest als Nicht-Deutsche kategorisiert werden. Indem sie
Gulsah77s Deutschkenntnisse lobt, beweist die alte Dame, dass sie von einer
‚Nicht-Deutschen‘ nicht erwartet, dass diese wie ‚eine Deutsche‘ spricht.
Im folgenden Beitrag wird die vertretende essenzialisierende Position, vom
Gebrauch der Vokabeln „wir“, „die“ und „richtigen Türken“ verstärkt:
Autor: TurkON
Datum: (25/02/2003 – 12:31)
Forum: Integration
Wir sind was ganz Neues!!! KuRz! KiSa!!
Wir reden hier von uns Deutschtürken. Also mal ehrlich,
guckt euch unsere Türken hier an, und unsere "richtigen"
Türken. Es fällt "uns" sofort auf, das "die" ein wenig anders sind. Wie sie sich anziehen, wie sie sich bewegen, sprechen..alles!!! Mann, kommt mal klar und gebt endlich zu das
wir uns weiterentwickelt, unterentwickelt haben, oder einfach nur anders sind als "die"! Wir sind nicht eingedeutscht,
wir sind etwas ganz Neues! Hut ab, vor den Leuten die vor
dieser Tatsache immer noch ihre Augen verschliessen.
Hier wird eine Abgrenzung der Gruppe der „Deutschtürken“ („wir“) von den
„richtigen Türken“ vorgenommen, wobei mit den „richtigen Türken“ in der
Türkei sozialisierte Türkeistämmige gemeint zu sein scheinen. Die Art wie
man sich kleidet und spricht sind für diesen Nutzer Identifikationssymbole, die
die eine Gruppe von der anderen unterscheiden. Gleichzeitig grenzt der Verfasser sich von der Gruppe der ‚Deutschen‘ ab, da er es ablehnt als „eingedeutscht“ angesehen zu werden. Vielmehr spricht er von „etwas ganz
Neue[m]“, womit er ein deutschtürkisches Mischprodukt zu meinen scheint.
Allerdings grenzt er trotz des Aufzeigens der eigenen Hybridität sowohl die
Herkunftskulturen als auch die entstandene Mischkultur durch essenzialistische Beschreibungen voneinander ab.
Dieselbe Person, die das Forum initiiert hat, macht einen essenzialistischen
Kommentar, der aufgrund der Blut-und-Boden-Metaphorik als problematisch
erscheinen würde, wenn er von einem Deutschen stammen würde:
198
7.2.2 Vaybee! – Identitätsarbeit in einer Online Community
Sevil (21/02/2003 – 23:59)
weißt du wie schlimm das war
als ich den schönsten pass der welt ..... der dunkelblaue mit
dem halbmond und dem stern drauf abgeben mußte gegen
so einen lepschen plastik inga ausweis :-((
naja, aber es zählt sowieso nicht das was auf papier steht .....
das blut ist das wichtige !!!!!!
Wieder andere antworten polemisch:
GoneWithTheWind (22/02/2003 – 12:15)
hat dich jemand dazu gezwungen, diesen tollen pass abzugeben?
Cidam (22/02/2003 – 0:35)
naaa naaaa ;-) dafür hast du aber so nen süssen rosa ausweis
bekommen,
In den oben zitierten Beiträgen ist das Symbol des Halbmondes mit dem
Stern, das die türkische Nationalfahne schmückt und die Türkei als Nationalstaat repräsentiert, ein Symbol, das Individuen als türkische Staatsbürger identifiziert und oft von eher nationalistischen Türken getragen wird. Die Aufgabe
des Passes mit diesem Symbol wird nicht nur als Verlust der Zugehörigkeit zu
einem Nationalstaat als deren Staatsbürger, sondern als eine emotionale Entfremdung vom ‚Heimatland‘ angesehen.
Manche Nutzer wollen einen Teil ihrer Identität betonen, ihr Deutsch- bzw.
Türkischsein („identity amplification“), andere versuchen eine Synthese von
zwei Kulturen zu leben („identity consolidation“), wieder andere definieren
sich als Teil einer vollkommen neuen Kultur („identity transformation“).671
Die Nutzer identifizieren sich nicht nur in Abgrenzung zu den ,,Kartoffeln“,
,,Hans“ und ,,Ingas“ – wie sie Deutsche nennen – sondern auch durch andere
spezifische symbolische Marker. Sprache spielt zweifellos eine sehr wichtige
Rolle in den Debatten – manchmal vergessen Nutzer das eigentliche Thema
und diskutieren über Fehler, die andere beim Gebrauch der türkischen oder
deutschen Sprache gemacht haben. Auf die Bewertung durch andere Nutzer
soll an anderer Stelle noch eingegangen werden. Außer Sprache werden Religion, Literatur und Geschichte als Identifikationsmarker herangeführt – was in
etwa den Kategorien entspricht, die Sabine Döring in Bezug auf Literatur mit
671
Vgl. Kapitel 3.7 dieser Arbeit.
199
7.2.2 Vaybee! – Identitätsarbeit in einer Online Community
Identifikationsfeldern bezeichnet.672 Beispiele für traditionelle Identifikationssymbole liefert das folgende Posting von Cidam:673
[…] In diesem Forum gibt es so viele Leute, die stolz darauf sind, türkisch zu sein. Aber ich verstehe nicht so recht,
was so türkisch an ihnen ist. Die Meisten wissen nicht, wie
man korrekt schreibt. Indem sie Türkisch und Deutsch
vermischen, ruinieren sie die türkische Sprache.
Okay, Leute, die hier (in Deutschland) geboren und aufgewachsen sind mögen nicht besonders gut Türkisch sprechen, aber dann sollten sie auch nicht durch die Gegend
laufen und vorgeben die türkischsten Türken zu sein. Sprache ist das wertvollste Erbe einer Nation.
[…] Es gibt sogar Leute, die kennen die Hauptstadt der
Türkei nicht. Du wirst nicht zum Türken, indem du einen
Halbmond mit einem Stern um den Hals trägst. Wenn du
Türkisch bist, musst Du etwas über deine Kultur (Literatur,
Geschichte etc.) wissen. Dein Land kennen…
Für die Verfasserin gelten Kenntnisse der Sprache und der Kultur, Literatur
und Geschichte als Identifikationssymbole.
Gulsah77 entgegnet, dass fehlerhafte Sprache nicht bedeute, dass man nicht zu
einem Kollektiv dazugehören könne – von der obigen Position angegriffen,
führt sie Religion als Argument ins Feld:
viel peinlicher finde ich es wenn sich eine „muslima“ (wer
weiß!) für das thomasevangelium etc interessiert und ihre
eigene religion bis ins kleinste detail kritisiert als wäre sie
voller widersprüche.
Für sie ist Religion anscheinend ein stärkeres Identifikationssymbol als Sprache. In dieser Diskussion geht es vor allem um zwei Aspekte, zum einen um
den Umgang mit Kritik auf persönlicher Ebene. Wie Baym zeigt, ist die Bewertung durch andere Mitglieder sehr wichtig für die Mitglieder einer Community.674 So wird Anerkennung bzw. Missachtung zum Ausdruck gebracht.
672 Sabine Döring: Vom nation-building zum Identifikationsfeld. Zur Integrationsfunktion nationaler Mythen in
der Literatur. In: Horst Turk (Hg.): Kulturelle Grenzziehungen im Spiegel der Literatur Göttingen:
Wallstein-Verlag, 1998. S. 63-83.
673 Das Posting wurde von mir ins Deutsche übersetzt, da es ursprünglich auf Türkisch verfasst war.
[Y.D.]
Nancy K. Baym: Tune in, Log on. Soaps, Fandom, and Online Community. Thousand Oaks: Sage Publications, 2000. S.171ff.
674
200
7.2.2 Vaybee! – Identitätsarbeit in einer Online Community
Es geht also niemals nur um ein Thema, sondern auch um den Stellenwert der
Nutzer innerhalb der Community. Dabei ist es wichtig, sich den Gepflogenheiten – der „Netiquette“ bzw. „Chatiquette“675 – in der Community anzupassen.
Für den Chat bei vaybee! gilt als „oberstes Gebot“:
Lasse deine Wut nicht an deinen Mitmenschen aus.
Wen jemand gegen die Chattiquette verstößt, wird versucht, ihn durch Ermahnungen, Rauswurf/Kicken und
Verbannung zur Einhaltung der Chattiquette zu bringen.
Bei besonders schlimmen Fällen halten wir uns strafrechtliche Verfolgung vor.
Wenn jemandem ein Verstoß gegen die Chattiquette auffällt, der sollte sie bitte einem Agent melden.676
Jeder Beitrag zu einem Forum kann bewertet werden. Der Beitrag ist mit einem kleinen Balken versehen, der sich bei positiver Bewertung grün, bei negativer Bewertung rot färbt. Wenn Khosravi in Bezug auf iranische Online
Communities der Diaspora formuliert, dass man politische und gesellschaftliche Tabus thematisieren könne, ohne mit Verfolgung rechnen zu müssen, so
trifft das auf die lebensweltlichen Konsequenzen zwar zu – aus der Community kann man jedoch genauso verbannt werden wie aus einem realen Ort bzw.
Land.677
Netiquette setzt sich aus ‚Net etiquette‘ zusammen und bezeichnet die Werte, Normen und Regeln, denen sich die Nutzer von Online Kommunikation anpassen sollten. Obwohl die Anonymität
des Mediums aggressives Verhalten leichter macht, kann ein solches Verhalten Restriktionen nach
sich ziehen. Als Beispiel führt Surratt einen neuen Nutzer – einen „newbie“ – in einem Chat an, der
nur in Großbuchstaben schreibt, obwohl das in Chats als klares Zeichen des ‚Brüllens‘ gilt. Während
dieser lediglich darauf aufmerksam gemacht wird, in Kleinbuchstaben zu schreiben („kill the caps“),
wird eine Person, die trotz ihrer Beteuerungen, weiblich zu sein, aus dem Chatroom für Lesben
geworfen, weil vermutet wird, es handle sich um einen Mann. Vgl. Surratt: Netlife. S. 108f. und 117f.
Bei vaybee! Findet man unter ,,Chatiquette“ folgenden Eintrag: „Großbuchstaben (Caps)
symbolisieren im Chat lautes Schreien und gelten wie im richtigen Leben als unhöflich. Verwende sie
darum so selten wie möglich. Wer über einen längeren Zeitraum nur großschreibt und dies trotz
Ermahnung durch unsere Agents weiter tut, wird aus dem Chat verwiesen. Dasselbe gilt für die
übermäßige Verwendung von /me (Handeln). Des weiteren stören zu viele Farbwechsel, darum
suche dir deine Farbe bitte im Sepa aus. Beachte bitte: Die ,,optische“ Farbe Weiß ist als eigene
Farbe nicht erlaubt, da sie für die anderen Chatter unsichtbar und irritierend ist.“
http://www.vaybee.de (Chattiquette unter Chat) Zuletzt eingesehen am <20.07.2005>.
675
676
Ebd. Hier finden sich auch andere Details zum Chat und Chatiquette.
677 Vgl.: „Cyberspace gives Iranians a chance to enter and exit from public discussion anonymously.
It is a virtual public sphere for Iranians, where they can talk about political issues or taboo subjects
such as homosexuality (www.homan.com) and pornography (www.iransex.com) without the risk of
persecution.“ Shahram Khosravi: An Ethnographic Approach to an Online Diaspora. In: ISIM newsletter.
6 (2000). S. 13.
201
7.2.2 Vaybee! – Identitätsarbeit in einer Online Community
Auf der Ebene der Debatte ist es interessant, wie die Mitglieder jeweils verschiedene Identifikationssymbole höher werten als andere Nutzer. Die dargestellte Debatte um Sprache vs. Religion ist nur ein Beispiel dafür. Obwohl
diese traditionellen Identifikationsfelder für die Nutzer der Online Community
noch Gültigkeit besitzen, spielen auch andere eine wichtige Rolle. Eines dieser
Felder ist der ‚Lifestyle‘. Manche Nutzer bezeichnen Ausgehen an Wochenenden als spezifisch türkisch. Ein Blick auf die Webseite vaybee! konfrontiert den
Nutzer ebenfalls mit dem Bild eines spezifischen Lifestyles. Das Design privilegiert VIPs, Sex, Partys und Mode über politische Themen – was aber nicht
heißt, dass die Diskussionen auf einem oberflächlichen Niveau stattfinden.
Ganz im Gegenteil scheinen Nutzer emotional engagiert und manche wollen
ihre Beiträge in den Foren/Chats auf eine wissenschaftliche Ebene heben,
indem sie Wissenschaftler und Politiker zitieren.
Ein wichtiger Teil eines bestimmten Lebensstils ist die dazugehörige Sprache.
Nur auf den ersten Blick eliminiert das Medium Computer Elemente der visuellen Kommunikation wie Gestik und Mimik, denn neue Mittel werden geschaffen, um wichtige, metakommunikative Information zu übermitteln. Emoticons, besser bekannt als ‚Smileys‘, sind bildliche Repräsentationen von Emotionen. Eine Online Community bildet in der Regel einen soziokulturellen
Code aus, der immer offen für Modifikation ist. Ein Beispiel hierfür scheint in
vaybee! die Nutzung stereotypischer Namen zu sein, um auf stereotype Bilder
von Deutschen zu referieren. Dazu gehören die oben bereits genannten Namen Hans und Inga und „Die Kartoffeln“ im Allgemeinen. Ein Nutzer bzw.
eine Nutzerin beschreibt sich wie folgt: „Mein Kartoffelname ist Gertrud.“
Das klingt trotz aller Ironie als ob im Umgang mit Deutschen Decknamen
verwendet werden, bzw. eine bestimmte Identität vorgetäuscht wird. Aber
einen bestimmten Stil zu verfolgen reicht nicht aus, um zu einer bestimmten
Gruppe zu gehören. Elementar ist die Anerkennung durch andere Gruppenmitglieder. Baym hat gezeigt, dass die Leistung durch die Antworten auf
Postings bewertet wird: Postings zu schreiben, auf die geantwortet wird, gehört zu einer wichtigen Fähigkeit, innerhalb der Community.678
In diesen Bewertungen spielen auch Moral und Loyalität eine Rolle. Manche
empfinden bestimmte politische Kommentare als nicht loyal dem türkischen
Staat gegenüber, andere wehren sich gegen die Kritik an Religion, wie man an
der Auseinandersetzung zwischen Gulsah and Cidam sehen konnte.
In vielen Postings wird die große Bedeutung von kulturellen Werten im Prozess der Integration betont, wie beispielsweise im Folgenden:
678
Vgl. Baym: Tune in, Log on. S. 171.
202
7.2.2 Vaybee! – Identitätsarbeit in einer Online Community
Autor: bugecebarda
Datum: (25/02/2003 – 21:05)
Forum: Integration
Von jedem etwas!!!!
Man sollte einen guten Mittelweg finden. Und an den Werten festhalten die einem wichtig sind (z.B. Respekt gegenüber Ältern oder Jungfräulichkeit.)
Ein bisschen Türke und ein bisschen Deutsch und man ist
auf dem richtigen Weg. Modern und kultiviert wie ein deutscher auf der anderen Seite familienorientiert und traditionsbewusst wie ein Türke.
Werde Deutscher wie die Deutschen um was zu erreichen,
aber sei auch in der Lage in der nächsten Sekunde Türkischer als ein Türke zu sein.
Dieses Posting weist auf die Bedeutung von gewissen Integritätsstandards hin,
nach denen man leben muss, um innerhalb einer Gemeinschaft integriert zu
sein. Diese Standards können sich aber auch verändern. So wehrt sich z.B. eine
(vorgeblich) weibliche Nutzerin gegen den männlichen Standard der Jungfräulichkeit.
Individuen schaffen – wieder in Interaktion mit ihrer Umwelt – ihre eigenen
Werte. Die Zugehörigkeit zu verschiedenen Kollektiven in sich zu integrieren
– türkisch zu sein, wenn nötig und deutsch, wenn nötig – scheint das zu sein,
was die meisten, die sich in dieser Debatte engagieren, tun, auch wenn sich
einige mehr gegen das ‚Deutschsein‘ wehren als andere. Indem sich Mitglieder
in der Debatte um Integration engagieren, artikulieren sie, welche Zugehörigkeitssymbole für sie ausschlaggebend sind, um die Zugehörigkeit zu einem
Kollektiv zu kennzeichnen. In diesem Prozess der Artikulation machen sie
auch Aussagen über ihr eigenes Selbstbild. In dieses ist – was immer Türkischbzw. Deutschsein in ihrer eigenen Definition heißt – in individuell variierenden Proportionen integriert. Somit kann ihr Engagement in der Debatte als
Mittel gelesen werden, ihre eigenen komplexen Identitäten zu verhandeln.
Manche wählen, sich als nur deutsch oder nur türkisch zu identifizieren, andere versuchen eine Synthese ihrer unterschiedlichen Hintergründe, aber alle
wollen sich selbst definieren. Darin drückt sich der klare Wunsch nach persönlicher Integrität i.S. von Autonomie und Selbstbestimmung aus.
Online Communities werden oft als Ort angesehen, an dem eine diasporische
Community ihre Heimat wiedererschaffen kann. Für die Online Community
203
7.2.2 Vaybee! – Identitätsarbeit in einer Online Community
vaybee! mag es zutreffen, dass das, was sie verbindet, nicht nur das Medium ist,
über das sie kommunizieren, sondern auch ihre Position innerhalb der deutschen Gesellschaft. Somit könnten sie einen Ort gefunden haben, an dem sie
Gedanken zu kultureller Hybridität entwickeln können, die in einer Welt, in
der nach einem ‚Entweder-oder-Schema‘ kategorisiert wird, nicht viel Anerkennung finden. Vergegenwärtigt man sich aber, wie die Community von innen funktioniert, scheinen die realweltlichen Strukturen in Bezug auf Identifikationsfelder als ‚Integritätskategorien‘ übernommen worden zu sein.
Die Webpage ist nicht nur ein Ort, um über die Zugehörigkeit zu einer Gruppe und die eigene Identität zu debattieren, sondern auch ein Ort, um mit Identität zu spielen. Als plötzlich ein Werner im Forum erscheint und noch dazu
einen typisch deutschen Standpunkt vertritt, fragen sich die Nutzer, ob er echt
ist oder eine Art Spion einer deutschen Zeitung. Dieses Beispiel zeigt, dass
‚echte Deutsche‘ seltene Gäste in der Community sind. Und dass manche
Teilnehmer aufgrund ihrer Meinung ausgegrenzt werden. Für Werner scheint
die Kombination aus Name und Meinung sehr ungünstig zu sein, somit bleibt
er ein Außenseiter, obwohl in vaybee! durchaus mit Nicknames (die auch irre
führen können) gearbeitet wird und die Nutzer ihre ‚wahre Identität‘ nicht
angeben müssen.679
AydinK (24/02/2003 – 12:10)
klappe du bierbauch
hast eh keine Ahnung.
Ich glaub DU bist der Reporter von „Der Zeit“, der die
Vaybee Comm so untersucht hat und nur scheisse rausfand.
Werner (24/02/2003 – 21:43)
Ich hab kein Bierbauch!
Sevil (25/02/2003 – 9:23)
du bist echt zu bewundern ... entweder hast du dich so sehr
angepasst dass du dich umbenannt hast, aber wieso hast du
WERNER ausgewählt? HANS ist doch viel schöner :)
Dies ist z.B. in Form einer Signatur in der von Surratt untersuchten Usenet Community notwendig. Bei vaybee! erfüllt das Profil, das auf Wunsch angelegt werden kann, die Aufgabe, mehr Informationen über einen Nutzer zu ziehen – falls dieser verlässliche Informationen hinterlegt hat. Zu Signatur vgl. Surratt: Netlife. S. 143f.
679
204
7.2.3 Auswertung
oder bist du ein gebürtiger deutscher und liebst es unter
türken zu sein????
hmmmmmmmm.........
In gewisser Weise sind vaybee!-Nutzer also auch um die Integrität ihrer Community besorgt. Diese kann offenbar von „bad apples“680 wie es Werner zu
sein scheint, bedroht werden.
7.2.3 Auswertung
Auf die Kommunikation in vaybee! trifft es zu, dass die Identität – wie von
Turkle proklamiert – anonym und frei wählbar sein kann. Ein Blick auf die
Webseite, spätestens ein paar Pageviews zeigen aber, dass viele Mitglieder
nicht an Anonymität interessiert sind. Regelmäßig wird „das Mitglied der Woche“ gewählt und mit Bild und Personenbeschreibung abgedruckt (siehe Anhang). Spezielle Veranstaltungen, z.B. Silvesterfeiern, werden von den Betreibern angeboten, so dass sich dort die Möglichkeit bietet, sich im „RL“ zu treffen.681 „EdelTuerkin“ beispielsweise habe zu vielen Nutzern lebensweltlich
Kontakt aufgenommen. Sie habe Täuschungen, auch Identitätstäuschungen
erlebt, räumt aber ein, dass das auch im „wirklichen Leben“ passiere:
Ich finde, dass ich hier sehr nette Menschen kennen gelernt
habe.. mit denen ich telefonisch und auch privat Kontakt
habe.. oder halt durchs i.net. Natürlich muss ich mich auch
bei den Menschen bedanken, weil sie immer für mich da
waren.. weil ich mit denen gelacht und auch geweint habe
und weil ich mit denen über jedes Problem reden konnte
und sofort eine Lösung gefunden habe.
Aber alles hat halt seine negativen Seiten. Man kann sich
aber bei einigen Leuten täuschen. Die Leute, von denen du
denkst, dass sie wirklich in Ordnung sind, sind in Wirklichkeit falsche Schlangen. Ich bereue es wirklich, mit einigen
Kontakt gehabt zu haben, denn sie waren es nicht einmal
680 Vgl.: „In general, people believe that there are a few bad apples within the network, but that : 1)
that ‚type‘ does not exist in the channels which they, themselves, frequent: and 2) they can readily
spot those deviants and kick them from the channel in order to maintain channel integrity.“ Surratt:
Netlife. S. 112.
681
Ähnliches lässt sich auch über manche MUDs sagen, die Mitgliedertreffen veranstalten.
205
7.2.3 Auswertung
wert, angerufen zu werden oder sonst was. Aber diese Erfahrung macht anscheinend jeder Mal, auch im wirklichen
Leben.
(20.10.2003)
Bei vielen scheint auch der Wunsch danach, einen Partner zu finden, den
Wunsch nach Anonymität in den Hintergrund zu drängen682 – natürlich lässt
sich aber bis zu einem Treffen in der ‚reellen Welt‘ eine andere Identität vortäuschen. Als Partnervermittlung hat vaybee! es schon zur Erwähnung neben
ausdrücklich dafür vorgesehenen Seiten gebracht.683 Der Wunsch, speziell auf
dieser Webseite einen Partner zu finden, weist auch darauf hin, dass nach einem Partner mit ähnlichem, mehrfach kodiertem (türkisch-deutschem) Hintergrund, gesucht wird.684
Bei den Mitgliedern von vaybee! herrscht eher eine Mischung zwischen der Lebenswirklichkeit und der Wirklichkeit der Online Community vor.685
Die verschiedenen Features und Angebote von vaybee! unterscheiden sich entschieden von der Fantasiewelt einer MUD. Sie sind lebensweltlich orientiert,
weil die Anbieter ihre Ware (Reisen oder Musikartikel im OnlineShop) verkaufen wollen, und zum anderen, weil die Teilnehmer Themen besprechen wollen, die im türkisch-deutschen Kontext relevant sind. Themen wie Auswanderung in die Türkei oder deutsch-türkische Ehen sind gerade lebensweltlich
relevant.686 Das Forum ermöglicht es zudem Meinungen zu äußern, die lebensweltlich nur verdeckt geäußert werden können.
Meine Beobachtungen in Bezug auf vaybee! decken sich insofern mit denen von
Kendall, als die lebensweltlichen Beziehungen innerhalb der Community noch
immer eine wichtige Rolle spielen. Die Teilnehmer an den Diskussionen zum
Vgl. dazu auch Matilda Jordanova-Duda, die in Bezug auf die Online Community
www.germany.ru feststellt, dass viele Nutzer dort „ihre bessere Hälfte“ zu finden hoffen. Matilda
Jordonova-Duda: Vaybee! das bedeutet so viel wie "Wow!" und zeigt, dass Ethno-Portale im Internet nicht nur
informativ sind. In: Der Tagesspiegel, 27.03.2002.
682
683
Vgl. Tomorrow. Ausgabe März 2003.
Betrachtet man Heirat als eine der ältesten Formen interpersonaler und interkultureller Vernetzung, drückt sich darin ein Wunsch nach Verharren in Bekanntem aus.
684
685 Lori Kendall weist auf die Bedeutung der lokalen Offline-Umwelt der Mitglieder hin. Zu untersuchen, wie die Online- und Offline-Kontakte und -Leben miteinander vermischt werden, hält sie für
einen wichtigen Schritt, um die Bedeutung von Online Communities herauszuarbeiten. Vgl. Kendall:
Recontextualizing “Cyberspace”. S. 60.
Interessant ist, dass von Auswanderung gesprochen wird und nicht von Rückkehr. Tatsächlich
sind viele vaybee!-Nutzer in Deutschland geboren. Von einer Rückkehr zu sprechen wäre also nicht
angebracht.
686
206
7.2.3 Auswertung
Forum Integration wollen sich festlegen in Bezug auf Zugehörigkeit. Sie wollen wissen, was deutsch und was türkisch ist, Grenzen ziehen und einander
einordnen – nur nicht eingeordnet werden. Kendall fasst ihre Beobachtungen
über das online Forum „BlueSky“687 wie folgt zusammen:
[…] even on-line, where the performative nature of identity
seems almost unavoidably obvious and where tales abound
multiciplity and fluidity […], people persist in seeking essentialized groundings for the selves they encounter online.688
An multiplen Identitäten scheinen die Nutzer also weniger interessiert zu sein.
Das lässt sich zum einen aus dem Analysegegenstand erklären – ein Online
Forum ist etwas anderes als die Fantasiewelt einer MUD689 – zum anderen
scheint in Bezug auf die Online-Welt genauso enthusiastisch die Lebbarkeit
von neuen theoretischen Ideen proklamiert worden zu sein, wie in Bezug auf
Migrationsliteratur. Und wie auch bei der Migrationsliteratur liegt die Wahrheit
in der Mitte: Texte (offline und online) bieten Möglichkeiten, verschiedene
Realitäten aufzuzeigen, sich spielerisch in ihnen zu bewegen – aber auf Integrität, sei es in Form von entgegengebrachtem Respekt oder der Integration von
Teilidentitäten, möchte niemand verzichten.
687
Der Name wurde von ihr geändert.
Kendall fand in ihrer Untersuchung heraus, dass Teilnehmer am Forum BlueSkyZeit linear empfinden, Erfahrungen, die sie unmittelbar machen, über medialisierte Erfahrung stellen und diese
ständig in ein integriertes Ganzes eingliedern wollen. S. 62.
688
689
Dies räumt Kendall selbst ein. Vgl. ebd. S. 69.
207
7.3 Zusammenfassung und Ausblick
7.3 Zusammenfassung und Ausblick
In Imaginery homelands spricht Salman Rushdie den Aspekt der Wiedererschaffung einer Heimat in der Literatur an. Diese Qualität wird Exilliteratur im
Allgemeinen zugesprochen. Ein geographischer Ort bekommt gerade dann
besondere Relevanz, wenn er aus politischen Gründen verlassen werden musste. Die Literatur von Migranten wird oft als eine Art imaginäre Ersatzheimat
angesehen. Eine Online Community bietet Möglichkeiten, die über die der
Literatur hinausgehen. Themen werden ständig aktualisiert und können von
den einzelnen Nutzern mitgestaltet werden. Verschiedene Nutzer können direkt angesprochen werden, über Postings auf Bulletin Boards oder im
Chatroom. In Bezug auf die Online Community iranian.com stellt Khosravi
fest:
While exile refers to a glamorous return to the ‘real’ homeland, diaspora creates an alternative homeland, an imagined
one. Exile denies ‘here’ and mourns for ‘there’. Diaspora
lessens the unbearable nostalgia by constructing a community based on the networks which link the dispersed.690
Im Fall politisch motivierter Migration bietet die imaginäre Heimat in der Literatur und viel mehr noch die im Internet Möglichkeiten der Einmischung, die
in Bezug auf die unerreichbar gewordene ‚wahre‘ bzw. geographische Heimat
verwehrt bleiben.
Dennoch werden Chatrooms, von denen es in großen Communities wie vaybee!
relativ viele gibt, nicht nur nach Themen (z.B. „Flirt“, „30-Plus“), sondern
auch nach realen Orten benannt. Bei vaybee! gehören neben Istanbul deutsche
Städte wie Berlin, Frankfurt und Köln dazu. Zusätzlich gibt es die Chaträume
Schweiz, Österreich und Holland. Dass sich in diesen Chaträumen vaybee!Nutzer unterhalten, die tatsächlich in diesen Städten bzw. Ländern wohnen,
lässt sich nur vermuten. Trotz der oft zitierten Deterritorialisierug scheinen
also reale Orte ihre Anziehungskraft nicht zu verlieren.691 Angesichts der Diskussionen um den Verlust räumlicher Bezüge betont auch Hepp die Rolle der
Lokalität: ,,Lokalität ist ein unhintergehbarer Aspekt der physischen Kompo-
690
vgl. Khosravi: An Ethnographic Approach to an Online Diaspora.
Vgl.: „Although the Internet is deterritorialized, it seems that there is still a passion for locality.“
Ebd.
691
208
7.3 Zusammenfassung und Ausblick
nente des menschlichen Daseins.“692 Das heißt aber nicht, dass ein Mensch
oder eine Kultur an eine spezifische Lokalität gebunden ist; Lokalitäten wurden und werden freiwillig oder zwangsweise gewechselt. Von einer in räumlicher Virtualität aufgelösten, ,,nicht-lokal[en] Medienkultur“693 könne dennoch
aufgrund der örtlichen Bindung des Menschen als physischem Wesen nicht die
Rede sein. Deterritorialisierung von Lebensräumen geschehe aufgrund dieser
Verbundenheit. In Anlehnung an Tomlinson schlägt Hepp vor, anstatt vom
Modebegriff Globalisierung von ,,komplexer Konnektivität“ zu sprechen.694
Die Konzepte von Konnektivität und Deterritorialisierung
helfen [...] zu fassen, dass einerseits die Vorstellung territorial rückbezüglicher Abgeschlossenheiten kommunikativer
Räume nicht mehr haltbar ist, gleichzeitig Lokalität als Referenzkategorie nicht sinnvoll aufgegeben werden kann.
Menschen leben als physische Wesen zwingend an bestimmten Orten, die ihren Lebensmittelpunkt darstellen. Es
ist das Lokale, d.h. solche Netzwerke von erreichbaren Lokalitäten, das in dem kommunikativen Netzwerk der Konnektivität für den Einzelnen bzw. das Einzelne der primäre
Fokus des Alltags ist.695
Ich halte es für sinnvoll, zwischen physischem und symbolischem Ort zu unterscheiden. Während man lebensweltlich an eine Gemeinschaft gebunden ist,
die lokal fixiert ist (Hausgemeinschaft, Dorf, Schulklasse), kann man sich virtuell – unabhängig von dem persönlichen Wohnort – in eine frei gewählte
Gemeinschaft eingliedern. Wie bei der Definition von Online Communities
dargelegt wurde, gibt es Zugehörigkeitssymbole, die denen der ‚realen‘ Gemeinschaften entsprechen. Neben realen Orten kann das Internet zu einem
neuen (allerdings rein symbolischen) Ort werden, denn viele Nutzer teilen die
Meinung von Fistigim, die sich sowohl in der Türkei als auch in Deutschland
ausgegrenzt fühlt:
Ich bin leider ganz anders als die Menschen in der Türkei.
Hier bin ich Ausländerin, dort Almanyacı! Ich habe keine
Andreas Hepp: Translokale Medienkulturen. In: Andreas Hepp/Martin Löffelholz (Hgg.): Grundlagentexte zur transkulturellen Kommunikation Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft, 2002. S. 861-885.
S. 863.
692
693
Ebd. S. 873.
694
Vgl. ebd. S. 874.
695
Ebd. S. 874.
209
7.3 Zusammenfassung und Ausblick
Heimat, in der ich akzeptiert werde. Die Leute haben zuerst
uns ausgegrenzt nicht wir sie.
Mit Bezug auf den Begriff ‚Heimat‘ stellen Kevin/Morley fest: „Places are no
longer the clear supports of our identity“.696 Vaybee! allerdings kann sowohl
einen Ort für diejenigen repräsentieren, die sich sowohl in der Türkei als auch
in Deutschland nicht zugehörig fühlen, also auch einen Ort für diejenigen, die
sich in beiden Ländern zugehörig fühlen und Akzeptanz für diese Identität
suchen. Der im Sinne Kevin/Morleys vielleicht veraltete Heimatbegriff kann
somit sozusagen ‚virtualisiert‘ worden sein.
Obwohl die Relevanz der Lebenswelt in dieser Arbeit nicht außer Acht gelassen werden soll, geben die Beobachtungen zu vaybee! Anlass dazu, Kendall zu
widersprechen, die sich dagegen verwehrt, das Internet als „seperate, sovereign
realm“ anzusehen.697 Meiner Ansicht nach kann das Internet durchaus als
solch ein Raum bezeichnet werden. Auch wenn er sich gewissen Restriktionen
fügen muss, so hat er doch seine eigenen Regeln, die – wenn auch nicht in
ihrer Form, so dann in ihrer Umsetzung – von denen der realen Welt abweichen. Hinzu kommt, dass die Vermischung von Online- und Offline-Welt
nicht in allen Internetbereichen eine Rolle spielt; z.B. bei MUDs, die in reinen
Fantasiewelten spielen.
696 Kevin/Morley: No Place like Heimat. Images of Home(land) in European Culture. In Erica Carter/James
Donald/Judith Squires (Hgg.): Space and Place. Theories of Identity and Location. London:
Lawrance and Wishart, 1993. S. 3-31. S. 5.
697
Kendall: Recontextualizing “Cyberspace”. S. 61.
210
8. „Wer vierzig Tage mit Leuten zusammenlebt wird einer von ihnen“ –
ein Ausblick
Zaimoğlus provokative Formulierung, die deutschen Politikern nachsagt, dass
sie sich ‚einen Türken zu bauen‘ vermögen, diente als Einstieg in diese Arbeit.
An ihrem Ende bleibt festzuhalten, dass das Spannungsfeld von „innen“ und
„außen“ wie es Andreas Hepp formuliert hat, das Selbst- und das Fremdbild
also, nicht nur in diesem einen Fall divergiert.698 Mehr noch als das Selbstbzw. Fremdbild divergiert die Inszenierung beider. Es wird also die Möglichkeit
eingeräumt, von außen manipuliert zu werden. Wie gesagt bleibt es nicht beim
‚Türkenbau‘, José F.A. Oliver beklagt die Stilisierung zum Ausländer (vgl. Kapitel 2), aus Sascha Muhteschem möchte die Mutter in der Gefährlichen Verwandtschaft einen Deutschen machen (vgl. Kapitel 4), in der Online Community
vaybee! wird dieses Vorhaben (mit Bezug auf die Einbürgerung von Türkeistämmigen) der ‚Bundesrepublik‘ in den Mund gelegt (vgl. Kapitel 7). Diese
Aussagen implizieren, dass diejenigen, die von außen verändert werden sollen,
mit der ihnen zur Disposition stehenden oder auch von ihnen gewählten Identität – sei diese nationaler, ethnischer, kultureller oder auch subkultureller Natur (im Sinne eines spezifischen Lifestyles) – keine Akzeptanz finden. Ähnlich
698
Vgl. Hepp: Cultural Studies und Medienanalyse. S. 57. Vgl auch Anm. 241 dieser Arbeit.
211
8. Ausblick
ergeht es Bayram Ünal, der sich in Die Zarte Rose meiner Sehnsucht selbst als
„Bayram mit Mercedes“ inszeniert (vgl. Kapitel 6). Die Protagonistin der Özdamar’schen Trilogie scheint die Einzige im Bund dieser Arbeit zu sein, die für
ihren persönlichen Selbstentwurf als Schauspielerin Anerkennung von der
Stelle bekommt, von der sie diese braucht: vom Theaterkollektiv. Dennoch
werden auch in den Geschichten, die sie über sich selbst und über andere erzählt, Integritätsverletzungen thematisiert (vgl. Kapitel 5). Solche Integritätsverletzungen treten auf, wenn Individuen oder Kollektive aufgrund bestimmter Identitätsmerkmale, die auch auf freier Wahl beruhen können, diskriminiert
werden:
Wenn die Selbstbeschreibung von der Fremdbeschreibung
in einem extremen Maß abweicht, können Verletzungen
der Integrität einer Person oder Gruppe auftreten, die ihrerseits zur substantiellen Erfahrung ihrer Identität werden
können.699
Die Teilidentität, aufgrund derer man diskriminiert wird, wird in der individuellen Selbstorganisation höher bewertet. Unmissverständlich wird das am Beispiel von Sascha Muhteschem, der sich mit seiner ‚türkischen Vergangenheit‘
auseinandersetzt, sich insofern als Türke identifiziert – allerdings um in
Deutschland dazuzugehören. Auch Bayram Ünal versucht die Integritätsverletzung, die er als Waisenkind in seinem Heimatdorf erdulden musste, ungeschehen zu machen, indem er als angesehener Mann in sein Dorf zurückkehrt.
Das Zugehörigkeitssymbol, das ihn zur Gruppe der angesehenen und mächtigen Männer zählen lassen soll, löst in der Türkei allerdings andere Assoziationen aus. Es identifiziert ihn als ‚Deutschländer‘ und führt somit zu einer neuen
Ausgrenzungserfahrung. In der Online Community vaybee! zeigt sich, dass persönlich erfahrene Integritätsverletzungen nicht unbedingt dafür sensibilisieren,
diese anderen nicht zuzufügen, sondern die erfahrene Polarisierung beibehalten wird. ‚Diskriminiert zu werden schützt vor Diskriminieren nicht‘, könnte
man sagen. Diese Polarisierung tritt auch in Zaimoğlus Kanak Sprak zu Tage.
Laut Zaimoğlu eint alle von ihm Porträtierten das Gefühl,
‚in der liga der verdammten‘, gegen kulturhegemoniale Ansprüche bestehen zu müssen. Noch ist das tragende Element dieser Community ein negatives Selbstbewusstsein,
wie es in der scheinbaren Selbstbezichtigung seinen oberflächlichen Ausdruck findet: Kanake! Dieses verunglimp-
699
Emcke: Kollektive Identitäten. S. 16f.
212
8. Ausblick
fende Hetzwort wird zum identitätsstiftenden Kennwort,
zur verbindenden Klammer dieser Lumpenethnier.700
Das eigentlich diskriminierende Schimpfwort wird zum identitätsstiftenden
Merkmal gemacht. In gewisser Weise sind aus diesem Mechanismus der besonderen Identifizierung mit der diskriminierten Teilidentität spezielle soziale
Bewegungen wie die Frauen-Bewegung enstanden. Diese Entwicklung wird
unter dem Schlagwort ‚Identity Politics‘ gefasst. Wenn Individuen zu Opfern
von Diskriminierungen werden, ist es schwer, tatsächlich von Identität als
Konstrukt auszugehen. Selbst wenn das Fremdbild inszeniert und somit konstruiert wird, hat dies reale Folgen für die Integrität der Betroffenen. Lediglich
über Identität zu diskutieren, reicht nicht aus. Erst wenn der Aspekt der Integrität, der die Akzeptanz der Identität, sei diese nun ein Konstrukt oder nicht,
gewährleistet, mit ins Spiel kommt, ist das psychologische und soziale Bild
komplett.
Literatur ist ein fiktionales Medium und muss nicht die Lebenswelt abbilden.
Vielmehr eröffnet sie Möglichkeiten, bestimmte Dinge fiktional vorzudenken.
In einer Online Community ist das ähnlich. Auch hier werden Möglichkeiten
vorgedacht, die lebensweltlich noch nicht existieren mögen. Dennoch spiegeln
die in dieser Arbeit analysierten Texte eine bestimmte Wirklichkeit – wenn
auch teilweise überspitzt – wieder.
Auf eine detaillierte Zusammenfassung soll an dieser Stelle verzichtet werden.
Vielmehr soll ein Ausblick auf weitere Forschungsbereiche folgen. Ziel dieser
Arbeit war es nicht, auf Hybridität zu bestehen, sondern nach konkreter Organisation der Identität zu fragen und Strategien der Identitätsarbeit zu analysieren. In gewisser Weise geht es auf literatursoziologischer Ebene auch um die
Identität und Integrität der Migrationsliteratur. Das Interesse an dieser geht
mit einer Vorliebe der anglo-amerikanischen Literaturwissenschaft für die so
genannten ‚displaced writers‘ einher. Die Position des ‚Entorteten‘, wie ‚displaced‘ übersetzt werden kann, wird besonders von „Dritte-Welt-Eliten“701 als
Position gehandelt, die gemeinsam mit dem fremden auch einen besonders
kritischen Blick ermöglicht.702 ‚Dislocation‘ oder ‚displacement‘ gelten als ein
ästhetischer oder kritischer Gewinn.703 Somit stellt sich die Frage, wie sehr die
700 Zaimoglu: Kanak Sprak. S. 17. Zaimoğlu zieht mit dieser Beschreibung Vergleiche zur „Blackconsciousness-Bewegung“ in den USA. Vgl. ebd.
701
Caplan: Questions of Travel. S. 107.
Für eine kritische Diskussion dieser Sichtweise und zur Verallgemeinerung und gleichzeitiger
positiver Besetzung der Exilsituation vgl. ebd. S. 101-142.
702
703
Vgl. ebd. S. 103.
213
8. Ausblick
Verortung der deutschen Migrationsliteratur „ins Reservat“704 auch mit der
wissenschaftlichen Beschäftigung zusammenhängt, die die Identität der Autoren selten von ihren Texten trennt. Bezeichnungen wie „Autoren nichtdeutscher Herkunft“705 kategorisieren diese Literatur immer noch nach Herkunft
ihrer Autoren, nicht nach inhaltlichen oder ästhetischen Gesichtspunkten.
Dabei ist die Migrations- und Identitätsthematik längst nicht allein zum Thema
von Autoren geworden, die als Migrationsautoren in diesem Sinne bezeichnet
werden würden. Sten Nadolnys Selim oder die Gabe der Rede wird gerne als Beispiel für einen deutschen Text genannt, der die Arbeitsmigration nach
Deutschland thematisiert:
„Wenn du über ein Brücke gehen willst und es begegnet dir ein Bär, verneige
dich tief und sage ‚Onkel‘ zu ihm, bis du das andere Ufer erreicht hast!“, lernt
der Deutsche Alexander von seinem türkischen Freund Selim. Diese Faustregel ist eine von vielen, die Selim als so genannter Gastarbeiter ‚unter der Zunge‘706 aus der Türkei mit nach Deutschland gebracht hat. Selim oder die Gabe der
Rede erzählt die Geschichte zweier Ringer. Der eine, Selim, ist türkischer Amateurmeister, der andere, Alexander, ringt um Worte.707 Dennoch handelt es
sich bei diesem Roman nicht um Migrationsliteratur. Diese wird herkömmlicherweise nach der Herkunft der Autoren kategorisiert. Noch verdient es
eine explizite Nennung, wenn ein Autor ‚nichtdeutscher Herkunft‘ sich nicht
mit dem Thema Identität beschäftigt. So urteilt Weber in Bezug auf Selim
Özdoğans Roman Nirgendwo & Harmonie: „Die Worte Ausländer, Türke, Identität sucht man darin vergeblich.“708
Imre Török weist darauf hin, dass Identität ein zentrales Thema eines jeden
Schriftstellers sei: „Das mit der eigenen Identität ist nicht zu umgehen, aber
vielleicht beschäftigt er [der Schriftsteller; Y.D.] sich auch stellvertretend mit
Identität.“709 Die Herkunft der Autoren hat im Zuge des ‚writing back‘710 sicherlich seine Wichtigkeit. Um den Fokus von der Autorfigur zu nehmen,
erscheint mir jedoch eine autorenunabhängige Beschäftigung mit Inhalten, die
sich um Fragen der Migration und Identität drehen, vielversprechender. Damit
704
Vgl. Gegen die Verortung ins Reservat.
705 So der Titel des von Mary Howards herausgegebenen Bandes. Vgl. Mary Howards (Hg.): Interkulturelle Konfigurationen: zur deutschsprachigen Erzählliteratur von Autoren nichtdeutscher Herkunft. München:
iudicum, 1997.
706
Vgl. K 52.
707
Vgl. Sten Nadolny Selim oder die Gabe der Rede. München: Piper, 1990.
708
Weber: Der Aufstand der Vorzeige-Exoten.
709
Amirsedghi/Bleicher: Literatur der Migration. S. 123.
710
Vgl. dazu Anm. 621 dieser Arbeit.
214
8. Ausblick
sollen die Errungenschaft des ‚writing back‘ nicht minimiert werden, es soll
nur eine Fixierung auf die Identität der Autoren abgewendet werden. Denn
bereits ein Autor wie Franz Werfel hat sich in den 1930er Jahren mit der Geschichte der Armenierverfolgungen auseinandergesetzt und sie zum Thema
seines Romans Die vierzig Tage des Musa Dagh gemacht.711
Der in dieser Arbeit verwendete Begriff der Migrationsliteratur versteht sich
inhaltlich und nicht auf die Herkunft der Autoren bezogen. Deswegen wurde
auch der Roman Die zarte Rose meiner Sehnsucht der türkischen Autorin Adalet
Ağaoğlu herangezogen. Begrüßenswert sind also Arbeiten, die Migrationsautoren vergleichend zu Texten setzen, deren Verfasser sich nicht durch Migrationserfahrung auszeichnen. Beispielhaft seien hier die Arbeiten von Stephanie
Bird, die Özdamar im Vergleich mit Ingeborg Bachmann und Anne Duden
liest712 und Kader Konuk, die wiederum Özdamar im Kontext der türkischen
Autorinnen Latife Tekin und der englischsprachigen türkeistämmigen Autorin
Güneli Gün behandelt, genannt.713 Zwar geht es immer noch um Identitätsverhandlungen im weitesten Sinn, aber die Auswahl der Texte macht sich an
den Inhalten fest und nicht ausschließlich an der Herkunft der Autoren. Auch
Azade Seyhan erweitert den gewohnten Analyserahmen, indem sie deutschsprachige Migrationsautoren mit US-amerikanischen Migrationsautoren wie
Maxine Hong Kingston, Eva Hoffman und Edwidge Danticat vergleicht.714
Dass die Migrationsliteratur in der Auslandsgermanistik stark rezipiert wird,
während sie im deutschen Curriculum kaum Beachtung findet, sieht Petra
Günther in einer Art Werbefeldzug für die amerikanische Auslandsgermanistik
begründet. Zum einen gelte die Anglistik als „Vorreiterin in Sachen minorities’
literature und Postkolonialismus“. Zum anderen sieht Petra Günther das Interesse der US-amerikanischen Auslandsgermanistik in der „Krise der amerikani-
711 Die Gründe hierfür wurden teilweise in seiner jüdischen Herkunft gesehen. Betrachtet man aber,
dass Werfel der Nazi-Regierung nicht von Anfang an kritisch gegenüber stand, lässt sich diese Vermutung nicht halten. Für einen Vergleich von Werfels Musa Dagh mit Şenocaks Gefährlicher Verwandtschaft vgl. Yasemin Dayioglu-Yücel: Kulturelle Komplexität und Integrität: Franz Werfels Die vierzig Tage des
Musa Dagh und Zafer Şenocaks Gefährliche Verwandtschaft im Vergleich. In: Trans 15 (2004).
http://www.inst.at/trans/15Nr/03_1/dayioglu15.htm. Zuletzt eingesehen am <20.07.2005>.
Vgl. Bird: National Identity. Ebenfalls gemeinsam mit Bachmann und Duden wird Özdamar von
Brigid Haines und Margret Littler behandelt, die sich in Contemporary Women’s Writing in German.
Changing the Subject darüber hinaus mit Elfriede Jelinek, Christa Wolf und Herta Müller beschäftigen.
Vgl.: Haines/Littler: Contemporary Women’s Writing in German. Auch Todd Kontje widmet Özdamar
ein Teilkapitel in seiner Abhandlung über deutsche Orientalismen und liest sie somit in thematischem Zusammenhang mit Grimmelshausen, Novalis, Goethe, Botho Strauß und Günter Grass.
Vgl.: Todd Kontje: German Orientalisms. Ann Arbor, University of Michigan Press, 2004.
712
713
Vgl. Kader Konuk: Identitäten im Prozeß.
714
Vgl. Seyhan: Writing outside the Nation.
215
8. Ausblick
schen Germanistik“ begründet.715 Diesen pragmatischen Grund räumt auch
Ülker Gökberk ein, sie betont aber auch die theoretischen und ideologiekritischen Gründe.716
Neben der Loslösung von der Autoridentität ist ein weiteres Anliegen dieser
Arbeit eine interdisziplinäre Öffnung der Germanistik – insofern kann sie von
den amerikanischen German Studies lernen. Unabhängig davon, wie pragmatisch deren Hintergründe sind, sollte eine mögliche Bereicherung nicht aus
Gründen eines pragmatischen Hintergrundes übersehen werden. Migrationsphänomene werden nicht nur in literarischen Texten verhandelt. Zwar ist
Literatur traditionell das Medium, das Vorstellungen von nationaler Identität
und somit auch das kollektive Gedächtnis im Sinne Jan Assmanns transportiert.717 Anhand der Analyse der Online Community lässt sich aber auch belegen, dass intermediale Vergleiche bereichernde Studien im Sinne einer kulturwissenschaftlichen Öffnung des Faches Germanistik liefern. Analysen, die
interdisziplinäre Verknüpfungen ziehen, fügen neue Aspekte und Perspektiven
hinzu und machen das Fach interessanter, denn literarische Produktion ist
nicht der einzige Weg, um kulturelle Inhalte zu vermitteln.
Einen Einblick in das türkische kulturelle Gedächtnis eröffnet Emine Sevgi
Özdamar deutschen Lesern. Dadurch, dass das türkische kulturelle Gedächtnis
in deutscher Sprache archiviert wird, geht es in gewisser Weise auch in das
deutsche kulturelle Gedächtnis ein. Özdamars Romane archivieren nicht nur
türkische Kultur, auch deutsche geschichtliche Ereignisse wie die 68erBewegung werden dargestellt sowie Einblicke in die ostdeutsche Theaterszene
gewährt. Die Gefährliche Verwandtschaft beschäftigt sich auf andere Art und Weise mit deutscher Vergangenheit. Şenocak fragt, ob man als Migrant auch in die
deutsche Vergangenheit migriert,718 und die Gefährliche Verwandtschaft suggeVgl. Petra Günther: Die Kolonisierung der Migrantenliteratur. In: Christof Harmann/Cornelia Siebert
(Hgg.): Räume der Hybridität. Postkoloniale Konzepte in Theorie und Literatur. Hildesheim: Georg
Olms Verlag, 2002. S. 151-159. S. 153. Weiter heißt es: „Durch schwindendes Interesse am Fach,
rückläufige Studentenzahlen und Versiegen finanzieller Ressourcen in ihrem Überleben als akademische Institution bedroht, versucht die amerikanische Germanistik spätestens seit Mitte der neunziger
Jahre einigermaßen verzweifelt, durch Überarbeitung des Studienangebots, Veränderung und Modernisierung des Kanons und Öffnung des Fachs nach außen ihr Existenz zu sichern.“ Ebd.
715
Vgl. Ülker Gökberk: Culture Studies und die Türken: Sten Nadolnys Selim oder die Gabe der Rede im Lichte
einer Methodendiskussion. In: The German Quarterly 70 (1997) 2. S. 97-122. S. 97.
716
Vgl. dazu: „Deutsche Literatur, die als kollektives Gedächtnis über Jahrhunderte hinweg die
Wünsche, Ängste und Hoffnungen der Deutschen artikuliert und gespeichert hat, ist damit auch
konstitutiver Teil deutscher Identitätspräsentation geworden. Anton Kaes: Literatur und nationale
Identität. Kontroversen um Goethe 1945-49. In: Albrecht Schöne (Hg.): Kontroversen, alte und neue.
Akten des VII. Internationalen Germanisten-Kongresses. Bd. 10. Tübingen: Max Niemeyer, 1986. S.
199-206. S. 199.
717
718
Vgl. dazu S. 116 dieser Arbeit.
216
8. Ausblick
riert, dass man das muss; dass Zugehörigkeit ohne Teilhabe an einer gemeinsamen Vergangenheit, so blutig und unbequem sie auch sein mag, nicht funktioniert. Das kulturelle Gedächtnis aber scheint schwer „internationalisierbar“.719 Wenn die gemeinsame Vergangenheit als Prämisse der Zugehörigkeit,
des Wir-Gefühls erscheint, können „komplexe Gesellschaften“ keine gemeinsame Identität ausbilden.720 Wenn es stimmt, dass Zugehörigkeiten, in „Erinnerungszusammenhängen stehen“,721 dann müssten die zukünftig in Deutschland Geborenen – unabhängig von ihrer Herkunft – eine gemeinsame Vergangenheit ausbilden. Denn ungefähr nach 40 Jahren treten laut Assmann die
Inhalte des kommunikativen Gedächtnisses in das kulturelle Gedächtnis über.722
In dieser Arbeit ging es u.a. darum, dass das reale Leben als ein weiteres Fenster auf dem Computerbildschirm betrachtet werden könne. In der Gefährlichen
Verwandtschaft wird das Bild des Fensters in vergleichbarer Weise benutzt:
Das Türkische in mir war nur ein Fenster mehr in dem
Haus, das ich in Deutschland und in der deutschen Sprache
aufgebaut hatte, ein Fenster mit Ausblick auf einen Teil
meiner Kindheit, in der Wurzeln unterschiedlichen Geschmacks liegen. (GV 107)
Das „Türkische“ in dem Erzähler Sascha Muhteschem wird zu einem weiteren
Fenster. Ein anderes Fenster wiederum gewährt ihm den Blick auf den jüdischen „Geschmack“ seiner Kindheit. Ob es das „Haus“ ist, von dem hier die
Rede ist, oder der Computerbildschirm, auf dem die unterschiedlichen Fenster
erscheinen; sie bilden eine Art Rahmen, eine Organisationsebene, für die vielfältigen Teilidentitäten. An dem Bild des Computerbildschirms lässt sich besonders prägnant veranschaulichen, dass immer nur an einer Anwendung gearbeitet wird, die anderen Programme bzw. Fenster laufen für den Moment im
Hintergrund. In diesem Sinne möchte ich auch die Identitätsarbeit verstanden
wissen, die die in dieser Arbeit analysierten Figuren betreiben. Je nachdem welchen Lebensentwurf sie für sich geplant haben, welcher ‚Flugbahn‘ sie folgen
719 Vgl. Rudolf von Thadden: Identitätskonstrukte im Vergleich. In: Horst Turk/Brigitte Schultze/Roberto Simanowski. Grenzziehungen im Spiegel der Literaturen. Nationalismus, Regionalismus,
Fundamentalismus. Wallstein: Göttingen, 1998. S. 261-270. S. 262.
Vgl. dazu: Jürgen Habermas: Können komplexe Gesellschaften eine vernünftige Identität ausbilden?. In:
Ders.: Zur Rekonstruktion des historischen Materialismus. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1976. S. 92126.
720
721
Vgl. Thadden: Identitätskonstrukte im Vergleich. S. 268.
722
Vgl. dazu Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. S. 50ff.
217
8. Ausblick
möchten, können sich die Geschichten, die sie über ihre Vergangenheit, aber
auch über ihre Zukunft erzählen, ändern. Die Relevanz der Teilidentitäten verändert sich entsprechend den Lebensentwürfen. Bestimmte Identitätsentwürfe
bedürfen zu ihrer Realisierung bestimmter Integritätsstandards. Festzuhalten
bleibt, dass diese Integritätsstandards nicht immer an nationalen oder ethnischen Grenzen verlaufen. Im Falle einer Binnenmigration wie sie beispielsweise
in der Karawanserei beschrieben wird, werden soziale Integritätsstandards, die
sich an der Grenze von Hochtürkisch und dörflichem Dialekt festmachen,
relevant. In der Zarten Rose kommen zu den sozialen auch ökonomische Integritätsstandards hinzu. Ein bestimmter Lebensstil als Integritätsstandard, der sich
hier andeutet, spielt auch in der Online Community vaybee! eine Rolle. Hier
kommen aber auch traditionelle Integritätsstandards, die sich an nationalen und
religiösen Kategorien orientieren, zum Tragen. In der Gefährlichen Verwandtschaft
wird die gemeinsame Vergangenheit zu einem Integritätsstandard erhoben.
Als Integritätsstandard besonderer Art erscheint in einer Kolumne von Rafik
Schami der Nudelsalat, ein klassisches Mitbringsel deutscher Gäste. Kein Araber hingegen „käme auf die Idee, selber zu kochen oder zu backen, wenn er bei
jemandem eingeladen ist.“723 Nach 22 Jahren in Deutschland bemerkt der Erzähler Veränderungen an sich: „Aber die Mitbringsel der Gäste? Wein kann ich
inzwischen annehmen, aber Nudelsalat? – niemals.“
„Wer vierzig Tage mit Leuten zusammen lebt, wird einer von ihnen“, heißt es
laut einem in dieser Kolumne zitierten arabischen Sprichwort. Jan Assmann hat
die mystische Zahl 40 beibehalten, rechnet aber mit 40 Jahren, die es brauche,
damit Elemente aus dem kommunikativen Gedächtnis in das kulturelle Gedächtnis Eingang finden. Diese Schwelle ist unlängst mit den Feierlichkeiten zu
vierzig Jahren Arbeitsmigration in Deutschland überschritten worden. Zu hoffen bleibt also, dass die nun folgenden in Deutschland geborenen Generationen eine andere Art der Zusammengehörigkeit entwickeln: mit oder ohne Nudelsalat.
Vgl. Rafik Schami: Andere Sitten. In: Ders.: Loblied und andere Olivenkerne. München: Hanser,
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Weil er seinen Geburtstag nicht feiert, gilt der Erzähler der Kurzgeschichte Integration als nicht integriert. Vgl. Şinasi Dikmen: Integration. In: Ders.: Wir werden das Knoblauchkind schon schaukeln.
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723
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