Das Lächeln der Aphrodite

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Das Lächeln der Aphrodite
Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur- und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt
Das Lächeln der Aphrodite
eine kleine Kulturgeschichte der Seefahrt
Europa ist eine Gestalt der griechischen Mythologie. Sie ist die Tochter des phönizischen
Königs Agenor und der Telephassa. Der oberste Gott Zeus verliebte sich in sie. Er
verwandelte sich wegen seiner argwöhnischen Gattin Hera in einen Stier. Sein Bote Hermes
trieb eine Kuhherde in die Nähe der am Strand von Sidon spielenden Europa, und der ZeusStier entführte sie auf seinem Rücken. Er schwamm mit ihr an einen Strand auf der Insel
Kreta, wo er sich zurückverwandelte. Der Verbindung mit dem Gott entsprangen drei Kinder.
Auf Grund einer Verheißung der Aphrodite wurde der fremde Erdteil nach Europa benannt.
Und wahrlich: Die Geschichte Europas ist die Geschichte der Menschen auf dem
europäischen Kontinent, von dessen erster Besiedlung, die zwischen 45 000 und 25 000
v. Chr. stattfand, bis zur Gegenwart.
Die klassische Antike begann im antiken Griechenland, das im Allgemeinen als der Beginn
der westlichen Zivilisation angesehen wird und einen immensen Einfluss auf Sprache, Politik,
Erziehungssysteme, Philosophie, Naturwissenschaften und Künste ausübte. Die griechische
Kultur, die sich während des Hellenismus über weite Teile der östlichen Mittelmeerwelt
ausgebreitet hatte, wurde vom Römischen Reich übernommen, das sich nach der Eroberung
Italiens seit dem 3. Jahrhundert v. Chr. von Italien aus nach und nach über den gesamten
Mittelmeerraum ausbreitete und im frühen 2. Jahrhundert n. Chr. seine größte Ausdehnung
erreichte. Damals wurden die Fundamente gebaut, auf denen der kleine Kontinent EUROPA
zur führenden Macht in der Welt wurde, um nach dem 20. Jahrhundert mehr und mehr von
seinem Einfluss auf der Weltbühne einzubüssen . . .
INHALT
Europa und der Stier
Europa, die westliche Halbinsel Asiens
»Mare nostrum«
Weihrauch und Perlen, Bernstein und Zinn
Die Seidenstrasse
Marco Polos Reisen nach China
Die karthographische Erfassung der Erde
Die Akademie zu Sagrés
Wie gross ist der Globus?
Die Suche nach »Eugenia caryophyllata«
Die Rückseite der Erde
Freibeuter Ihrer Majestät
Auf dem Weg in die moderne Welt
Die Suche nach den Grenzen
Sind Indianer Menschen?
Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt
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Vorwort:
DIE SAGE VON EUROPA UND DEM STIER
Im Lande Phönikien1 wuchs die Jungfrau Europa, die Tochter des Königs Agenor, in
tiefer Abgeschiedenheit des väterlichen Palastes auf. Sie war, so heißt es in einer
griechischen Sage, eine unglaublich schöne Prinzessin, in die sich Göttervater Zeus
verliebt hatte. So schnell wie möglich wollte er sie kennen lernen. Zeus war sich
sicher, dass Europa Tiere mochte und dass er in Gestalt eines Tieres schneller mit
ihr bekannt werden würde. So verwandelte er sich in den prächtigsten Stier weit und
breit. Europa wurde aufmerksam auf ihn und setzte sich auf seinen Rücken. Der
Stier, der ja eigentlich Zeus war, raste los und entführte sie über das Meer.
Endlich gegen Abend erreichten sie ein fernes Ufer. Der Stier schwang sich ans
Land, ließ das Mädchen unter einem gewölbten Baum sanft vom Rücken gleiten und
erschien ihr sogleich als herrlicher, göttergleicher Mann. Er sei der Beherrscher der
Insel Kreta, sagte er, und er werde sie schützen, wenn sie sich ihm hingäbe und er
durch ihren Besitz beglückt würde. Europa in ihrer trostlosen Verlassenheit reichte
ihm die Hand als Zeichen der Einwilligung. So hatte Zeus das Ziel seiner Wünsche
erreicht. Aber auch er verschwand, wie er gekommen war.
Europa erwachte aus langer Betäubung, als schon die Morgensonne am
Himmel stand. Mit verirrten Blicken sah sie umher, wollte die Heimat suchen, aber
sie sah nur die fremde Landschaft; unbekannte Blumen und Felsen. »Was bleibt mir
übrig, als zu sterben?« Da erschien ihr die Göttin Aphrodite. Mit
einem Lächeln auf den Lippen sprach die Göttin: »Vergiss’
deine Verzweiflung, schöne Europa, tröste dich! Zeus ist es,
der dich geraubt hat; du bist die irdische Gattin des
unbesiegten Gottes: unsterblich wird dein Name werden! Lerne
so zu leben, wie es deiner hohen Stellung würdig ist. Die Hälfte
der Welt wird dir ihren Namen verdanken, denn der fremde
Erdteil, der dich aufgenommen hat, heißt hinfort Europa!«
2
(nach Horaz ).
Der Raub der Europa (Foto: Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz)
1
Phönikien (Phönizien, ›Purpurland‹), griechischer Name der historischen Landschaft an der
Mittelmeerküste etwa zwischen Syrien und Israel; in der Bibel als Kanaan bezeichnet. Die mindestens
seit dem 2. Jahrtausend v.Chr. hier lebende Bevölkerung mit semitischer Sprache trieb von den
wichtigsten Städten Byblos, Tyrus, Sidon und Beruta (heute Beirut) aus regen Handel. Nach Befreiung
aus ägyptischer Oberhoheit dehnten die Phöniker ihre Macht ab etwa 1100 durch Gründung von
Handelsfaktoreien und Kolonien im Mittelmeerraum aus. 572 unterwarf der babylonische König
Nebukadnezar II. Tyrus nach 13 Jahre langer Belagerung. Während der Eroberung des persischen
Reiches durch Alexander der Große wurde Tyrus 332 eingenommen.
2
Horaz (65 v.Chr. bis 8 n.Chr.), neben Vergil einer der bedeutendsten römischen Dichter und
Satiriker. Horaz war stets um das Wesentliche bemüht. Zentrales Thema ist die rechte
Lebensgestaltung. Die meisten Werke geißeln Laster, die sozialen Unfrieden stiften oder die
menschlichen Beziehungen beeinträchtigen, wie Habgier, Ehebruch, Aberglaube, Schlemmerei. Nicht
selten stellte er stellvertretend für den Normalbürger auch sich selbst und seine Schwächen dar.
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Von der eurozentrischen Weltschau des Altertums bis zur kartografischen
Vermessung letzter geografischer Entdeckungen von James Cook
Europa ̶ westliche Halbinsel Asiens
Die von Europa geprägte Geschichte war bis vor kurzem immer Weltgeschichte!
Die USA mögen die stärkste Wirtschaftsmacht sein, doch Europa ist nach wie
vor der Kontinent, der die Welt, wie sie sich heute darstellt, geprägt hat. Das
Meer hat dazu weitaus mehr beigetragen als die Wege über Land, wie z.B. die
seit dem 3. Jahrtausend v.Chr. sagenhafte Weihrauchstrasse von Südarabien
nach Damaskus oder die als Seidenstrassen berühmten Karawanenwege von
China durch Zentralasien bis nach Indien und an die Grenzen des römischen
Reiches. Das Meer wurde zur «Strasse der Völker», auf der die Kulturen sich
berührten, die den Handel belebte und europäische Staaten zur Macht führte.
Die hier beginnende Serie möchte mithelfen, das Bewusstsein der Leser zum
geschichtlichen Erbe aufzufrischen, was auch dem Europa von heute dienlich
wäre.
Am Anfang mussten sich die Menschen von angeborenen Ängsten befreien und
das Tor zur Erfahrung aufstossen. Quellen, auch Flussmündungen, deren
Süsswasser für die Seefahrer von jeher lebenswichtig war, waren anfangs heilige
Orte, die es zu schützen galt. Sie entwickelten sich nicht selten zu
Handelsplätzen, und bald war die Erlangung von Seeherrschaft ein wesentliches
Sicherheitsbedürfnis dieser Häfen. Viel früher als häufig gedacht fand schon
friedlicher Handel zwischen dem Mittelmeer und den Nord- und Ostseehäfen
statt. Bald schufen sich die Seefahrer Hilfsmittel, um ihren Weg über die Meere
zu finden: Seekarten, Kompass und Sternenhöhenmesser. Das ging nicht ohne
die Mithilfe der Wissenschaft, die sich nicht selten genug von einer kirchlichdogmatischen Weltschau verfolgt sah. Fern der Rivalitäten der europäischen
Staaten – allen voran Portugal, Spanien, die Niederlande, England und
Frankreich – gab es aber auch eine Solidarität der Seeleute verschiedenster
Länder im ständigen Kampf mit den Naturgewalten.
Abendland, Welt des Westens!
Im Mittelalter bildete sich dieser Begriff für jenen Teil Europas heraus, der sich
– stets in Abhebung von der östlichen Welt des Orients, des «Morgenlandes» –
als einheitlicher Kulturkreis formierte und, trotz Kriegen und politischen
Unterschieden, bis in die Neuzeit Einheitlichkeit und Bedeutung wahrte. Antike
Kultur, römisches Christentum, romanische und germanische Elemente bilden
die einigenden Faktoren des Abendlandes. Selbst Kriege unter den Staaten
Europas sowie die Reformation, die die kirchliche Einheit sprengte, liessen die
kulturellen Gemeinsamkeiten bestehen. Doch der Begriff «Abendland» wurde
zunehmend durch die geographische Grösse «Europa» abgelöst. Die
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französische Revolution mit ihren Idealen «Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit»
verstand sich als europäische Erneuerung; ihr Gedankengut liess eine politische
Kultur entstehen, die heute unter dem Sammelbegriff Demokratie
Volkssouveränität und Gleichheit vor dem Gesetz versteht.
Die frühe Vorstellung der Europäer von ihrem Teil der Welt hat nicht nur ihr
Bild vom «Rest» geprägt. Auch die aussereuropäischen Staaten der Welt können
den Stempel der Europäisierung nicht leugnen. Das Abendland sollte während
des grössten Teils der Geschichte Entdecker sein, Osten und Westen sollten von
Europa aus entdeckt werden. Der Reichtum des heute allgemein zugänglichen
Wissens wurde von forschenden, habgierigen und religiös beseelten Europäern
zusammengetragen, sie brachten den fernen Völkern Kunde von Europa; meist
zu deren Nachteil, aber fast immer zum Vorteil der Europäer. Nicht nur CocaCola, europäische Kleidung und westlicher Lebensstil finden in der Welt ihre
Nachahmung. Die «europäische» Denkweise, die in der Antike ihre Ursprünge
hat, die «europäische» Art zu rechnen und zu kommunizieren, befähigt heute
alle Staaten, an der Welt des Handels, des Kapitals, des Verkehrs, aber auch an
ihren Konflikten sowie Bemühungen um ihre Lösung rund um die Uhr
teilzunehmen. Nicht alles an Wissen und Können, was heute als «europäisch»
gilt, ist auch europäischen Ursprungs.
So hatte China viel früher als Europa Kenntnis vom Magnetismus und davon,
wie er praktisch einsetzbar ist; die Inder haben uns die Vorfahren der heutigen
Zahlen geliefert, die von den Arabern auf die noch heute gebräuchliche
Schreibweise 0 bis 9 weiterentwickelt wurden, woraus jede beliebige Grösse
(0,012; 1,2, 12, 120, 12000 usw.) zusammengestellt werden kann. Auch die
Lehre der Gleichungen, die Algebra, ist arabischen Ursprungs. Erst mit einem
logisch und einfach zu begreifenden Zahlensystem konnte sich auch eine
Mathematik entwickeln, die nicht nur aus Addition und Division besteht,
sondern das Rechnen mit Brüchen sowie mit irrationalen, negativen und
komplexen Zahlen ermöglicht. Und das ist doch noch in Europa entstanden.
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Die universale Weltschau des Altertums und Mittelalters war eurozentrisch.
Selbstbewusst und von ihrer Überlegenheit überzeugt, schufen Europäer eine
Erdkarte, die Europa als Zentrum sah. Schon im Mittelmeerraum der Frühantike
entstand der Mythos von Europa. Europa war der Name einer Meeresnymphe;
während sie am Ufer des Mittelmeeres Blumen pflückte, wurde sie von Zeus,
der die Gestalt eines Stieres angenommen hatte, über das Meer entführt. Die
Liebesgöttin Venus tröstete die am Meeresstrand weinende Nymphe und sagte
zu ihr: «Weine nicht. Lerne so zu leben, wie es deiner hohen Stellung würdig ist.
Die Hälfte der Welt wird dir ihren Namen verdanken» (nach Horaz).Zwar
verstanden auch die Chinesen ihr Reich als Weltmitte, doch war ihr Interesse an
Expansion kaum über das Meer gerichtet und er beschränkte sich vor allem auf
den Handel. Denn China war (und ist) ein ungeheuer grosser kontinentaler
Block; überseeischer Handel gewann nur während der mongolischen Yüan-
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Dynastie (1280-1368) und in der Ming-Zeit (1368-1644) einige Bedeutung. Im
14. Jahrhundert gelangten chinesische Handelsdschunken unter General Cheng
Ho bis nach Ostafrika. Aber dann liess China den «Bambusvorhang» nieder und
verschloss sich (fast) jedem westlichen Einfluss, der erst im 19. Jahrhundert von
britischen Kanonenbooten im sogenannten «Opiumkrieg» wieder erzwungen
wurde.
Anders Europa. Die meisten Landkarten zeigen Europa bis heute als reich
gegliederten, eigenständigen Kontinent (Abb. oben). Nun sind geographische
Karten immer auch ein Ausdruck der jeweiligen Kultur, und weil man – wie wir
noch sehen werden – bis zum Beginn der Neuzeit wenig von anderen Teilen der
Welt wusste, war Europa für seine damaligen Bewohner das Zentrum der Welt,
das im Zeitalter der Entdeckungen selbstverständlich Anspruch auf
Weltherrschaft erheben konnte.
Als die Entdecker an der Wende zum 16. Jh. Amerika erforschten, wurde nicht
etwa dieser neue Kontinent im Westen zum «Abendland», sondern zur Neuen
Welt. Schon verbal wurde damit gesagt, dass man unter dem Druck der Realität
zwar bereit war, die Karten der Welt neu zu zeichnen, doch Europa blieb das
Abendland, weil hier seit alters her der Nullmeridian (wenn auch in den
Epochen an verschiedenen Orten) festgelegt war, von dem aus sich die Welt
nach Osten und Westen zu dehnen hat. Aber ein Blick aus einer Weltraumkapsel
verschiebt die Optik. Geographisch ist Europa eigentlich nichts anderes als eine
kleine, tief gegliederte westliche Halbinsel Asiens, die seit dem Ende des 18. Jh.
– recht willkürlich – vom Eismeer, durch den Gebirgszug des Ural auf 60 Grad
Ost bis zum Kaspischen Meer, dann entlang der Nordküste des Schwarzen
Meeres bis zum Bosporus von Asien abgegrenzt ist (Abb. unten).
Herodot, der berühmte Reisende und Geschichtsschreiber des 5. vorchristlichen
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Jahrhunderts, bezeichnete noch den Fluss Don ohne nähere Begründung als
europäisch-asiatische Grenze. Marco Polo entschied sich um 1300 für die
Wolga. Der Hauptunterschied zwischen den zusammengewachsenen
Kontinenten wird wiederum durch die europäische Sicht definiert: «Der
Okzident schaut zum Meer, der Orient zum Gebirge» (Paul Claudel).
Meere umspülen Europa: das nördliche Eismeer, die Nordsee, die Ostsee, der
Atlantik, das Mittelmeer und, schon erwähnt, das Schwarze Meer. Verweilen
wir kurz bei den Dimensionen: Die gesamte Erde hat eine Fläche von
510'000'000 qkm, davon sind 71 % (361'000'000 km2) von Meeren bedeckt und
nur 149'000'000 qkm (29 %) besteht aus festem Land. Asien, als grösster
Kontinent, nimmt 44'400'000 km2 ein (8,7 % der gesamten Erdoberfläche oder
29,8 % des festen Landes). Auf Europa hingegen mit seinen «kümmerlichen»
10'500'000 qkm fallen nur 2,06 % der Erdoberfläche bzw. 7,1 % Land; darin ist
das 2'176'000 km2 grosse, fast menschenleere Grönland eingeschlossen. Der
gewöhnliche Bewohner Zentralasiens bekommt das Meer sein Leben lang nie zu
Gesicht; von Nowosibirsk nach Karachi sind es 4600 km. Asien dehnt sich über
11'000 km vom Ural im Westen bis nach Kamtschatka im Osten, ebenso weit ist
es von der Kara-See im Norden bis in den Süden Thailands. Aber kein
Westeuropäer muss weiter als 375 km reisen, wenn er ein Meer sehen will, und
selbst die Mitteleuropäer haben es knapp doppelt so weit.
Dass Meere nicht unüberwindbar sind, musste England früh erfahren. Schon 43
n. Chr. wurde es von den Römern unter Tiberius Claudius erobert und in das
römische Reich einbezogen. Ein Opfer der eigenen Fehleinschätzung wurde
König Harold II. Godwinson von England im Jahre 1066. Weil er dem
Normannenherzog Wilhelm der Eroberer die Königskrone streitig machte, die
diesem zugesprochen war, überfiel Wilhelm am 28. September England. Im
Frühling hatte Harold eine starke Flotte zusammengezogen, mit der er jeden
Invasionsversuch abschlagen konnte und der auch Wilhelm nicht gewachsen
gewesen wäre. Aber die Invasion erfolgte den ganzen Sommer nicht, sodass,
auch aufgrund falscher Informationen, Harold seine Flotte im September – wie
damals üblich – im Winterhafen von Sandwich «einmottete». Die Herbststürme
veranlassten ihn zum Glauben, dass mit einer Invasion nicht mehr zu rechnen
sei.
In Wahrheit besass Wilhelm der Eroberer im Sommer noch zu wenig Schiffe für
den Transport der Normannen über den Ärmelkanal. Von Mai bis Anfang
September liess er Schiffe in grosser Zahl bauen, auch verbündete Fürsten
brachten Schiffe in die Flotte ein, sodass Wilhelm schliesslich über 400 grosse
und zirka 1000 kleinere Fahrzeuge verfügte. Die riesige Flotte versammelte sich
in St.Valery, wo am 14. September 65'000 Mann bereitstanden. Starke Stürme
wüteten auf dem Meer, aber nach elf Tagen flauten sie ab und am 27. September
1066 herrschte sonniges und ruhiges Wetter. Wilhelm gab den Befehl zum
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Einschiffen und gelangte am Morgen des 28. September bei Pevensey an eine
verlassene englische Küste in der Grafschaft Sussex. Am 14. Oktober wurde
Harold in der Schlacht von Hastings vernichtend geschlagen und Wilhelm
anschliessend zum König von England gekrönt.
Normannen segeln gegen England
(Ausschnitt aus dem Teppich von Bayeux)
Kontakte und Beziehungen zwischen
Zentraleuropa mit seinen an Meeren
gelegenen südlichen und nördlichen
Rändern sind seit der Antike bekannt.
Die Legionen Cäsars benutzten den
Julierpass für ihre Alpenüberquerungen, ungezählte Saumpfade gewährten
Händlern mit ihren Maultieren die Überwindung der Alpenkette; mit ihren
Waren brachten sie Neuigkeiten aus fernen, aber europäischen Ländern. Und die
Eröffnung der Gotthardroute im Jahre 1237 hatte reiche Handelsströme in beiden Richtungen zur Folge. Paris, Augsburg und Nürnberg gehörten zu den
wichtigsten Handelsplätzen Innereuropas. Im Süden lockte das Mittelmeer mit
seinen warmen Gestaden, an dessen Horizonten sich das schwarze Afrika und
das Morgenland mit dem Islam – dem grössten Feind der Christenheit – abzeichnete, aber auch mit seinen ungeheuren Schätzen, dem Weihrauch, den Gewürzen, den Perlen und dem Gold.
Im Norden war die Welt der Wikinger mit ihren Grausamkeiten und Gefahren,
aber auch die an Hering, Lachs und Wal reichen Meere mit der für ihre
Konservierung so nötigen Salzgewinnung an den Küsten und dem sagenhaften
Bernstein. Die enge Verbundenheit von Land und Meer in Europa entstand
durch die Auffaltungen der Gebirge und dem unterschiedlichen Vordringen der
Eiszeitgletscher. Der Atlantik und seine Randmeere Nord- und Ostsee
umschlingen diesen Kontinent von der Barentssee am Polarkreis, um
Skandinavien und die britischen Inseln herum, die Bretagne und den Golf von
Biskaya hinab bis zur Strasse von Gibraltar, die als Verbindung zum
eigenständigen, weil antiken Mittelmeer gesehen werden muss. Dieses Bild
macht für uns verständlich, dass in der Antike und im Mittelalter die landläufige
Meinung verbreitet war, die Erde sei eine kreisrunde, vom Ozean umgebene
Scheibe.
Und während die «Säulen des Herkules» genannte Strasse von Gibraltar in der
Antike die Ein- und Ausfahrt zwischen Atlantik und Mittelmeer gestattete,
übernahm die Ostsee schon sehr früh die Funktion eines «Mittelmeers des
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Nordens» (Michel Mollat du Jourdin). Ähnlich wie im Mittelmeer, wo im Osten
und Süden Kontakte zu den morgenländischen und nordafrikanischen Kulturen
möglich waren und sehr früh auch gepflegt wurden, entwickelten sich in der
Ostsee frühe Handelsbeziehungen zwischen den Häfen Jütlands und der
dänischen Inseln mit Gotland, Lübeck, Danzig bis hinauf in den Bottnischen
Meerbusen, nach Nowgorod und zum Ladoga-See. Der Skagerrak, der Belt und
der Sund erfüllten dabei eine ähnliche Funktion wie die Strasse von Gibraltar:
sie ermöglichten Kontrollen über das Wer, Wieviel und Wohin.
Neben dem frühen europäischen Anspruch auf Weltherrschaft gab es auch
kritische Stimmen. Eine Oronce Finé zugeschriebene, 1536 datierte Weltkarte
zeigt die schon recht exakt wiedergegebenen Küsten der damals bekannten
Länder herzförmig als Gesichtsfeld in einer Narrenkappe. Europa ist recht klein
erkennbar. In Medaillons eingravierte Texte verspotten den Anspruch Europas
auf Weltherrschaft: «Vanitas vanitatum et omnia vanitas» – Eitelkeit der
Eitelkeiten, und alles ist Eitelkeit.
«Mare nostrum»
Das Mittelmeer als Wiege des eurozentrischen Weltbildes
Karthago, die Hauptstadt des punischen Reiches an der nordafrikanischen Küste
im heutigen Tunesien, herrschte bis ins 2. vorchristliche Jahrhundert über das
westliche Mittelmeer und über das heutige Spanien. Seit 270 v. Chr. suchten die
Punier, wie die Karthager von den Römern genannt wurden, die römischen
Küsten heim. Um sich der Plage zu erwehren, bauten die Römer 120
Kriegsschiffe; sie standen unter dem Oberbefehl von Gaius Duilius. Rom hatte
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wenig Erfahrungen auf dem Meer; so ersann Gaius Duilius eine Taktik, jede
Seeschlacht einer Landschlacht möglichst ähnlich zu machen. Die Schiffe der
römischen Flotte wurden am Bug mit einer aufziehbaren Enterbrücke
ausgestattet, die drei Mann gleichzeitig begehen konnten. Am vorderen Ende der
Brücke war zusätzlich ein eiserner Dorn – der «corvus», die Krähe – angebracht.
260 kam es zur ersten Seeschlacht der römischen Geschichte bei Mylae
(Milazzo) vor der sizilianischen Nordostküste. 125 karthagische Galeeren
standen 130 römischen Schiffen gegenüber. Die Karthager griffen an und
wollten – wie damals üblich – die Römer längsschiffs kapern. Aber die
römischen Kriegsschiffe machten unerwartete Kursänderungen und ruderten
frontal in die feindlichen Schiffe. Die Enterbrücken fielen nieder und verbanden
die gegnerischen Schiffe fest miteinander. Schon stürmten die Legionäre
hinüber und das Gemetzel begann: fast alle karthagischen Schiffe wurden
erobert, vierzehn wurden versenkt und über 7000 Karthager getötet. Die Römer
verloren kein einziges Schiff und «nur» 332 Mann.
Nicht alle Schlachten wurden zum römischen Sieg. Im Jahre 249 v. Chr. konnte
Karthago Revanche üben. Vor Trapani vernichteten sie 93 römische Schiffe und
22'000 Mann. Von nun an begannen die Römer die punische Flotte zu suchen
und anzugreifen, wo sie sie fanden. Seeherrschaft sollte die Macht auf dem
Lande sichern, eine Strategie, die bis zum ersten Weltkrieg jeden grossen Krieg
in der Geschichte beherrschte. Schliesslich besiegte Rom die karthagische Flotte
im Jahre 241 endgültig; 38 Jahre später sollte der Feind auch zu Lande
niedergerungen werden.
Das Römische Reich zur Zeit des Kaisers Augustus (dtv-Weltatlas 1989, Bd. 1)
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Im Zweiten Punischen Krieg (218 bis 201 v. Chr.) zog der karthagische
Heerführer Hannibal von Spanien her über die Alpen nach Italien und brachte
Rom in schwere Bedrängnis. Mit 38'000 Mann, 8000 Reitern und 37
Kriegselefanten schlug er die Römer 218 am Ticinus, vernichtete 217 das Heer
des Konsuls Gajus Flaminius, bezwang 216 bei Cannae in einer grossangelegten
Umfassungsschlacht das zahlenmässig weit überlegene Heer der Konsuln Licius
Aemilius Paullus und Gajus Terentius Varro und schloss ein Bündnis mit König
Philipp V. von Makedonien, konnte aber die Römer nicht bezwingen. Diese
unterwarfen hingegen 212/211 Syrakus und Capua, worauf Hannibal vor Rom
zog. Der bekannte Schreckensruf «Hannibal ante portas» – Hannibal ist vor den
Toren! – wird, wie Cicero erwähnt, falsch wiedergegeben; er lautet «Hannibal
ad portas» – Hannibal ist bei den Toren! Er lähmte die Römer nicht. Zwar wurde
die Stadt von den Karthagern belagert, aber ein römisches Heer eroberte
unterdes Spanien, und Hannibal kehrte nach Karthago zurück. Dort wurde er
von Scipio Africanus (dem Älteren) im Jahre 202 bei Zama kriegsentscheidend
geschlagen. Im Dritten Punischen Krieg (149-146) wurde Karthago dann restlos
zerstört und Rom errichtete seine Provinz Africa.
Nachdem auch das Makedonische Reich, das das heutige Mazedonien, Albanien
und Griechenland umfasste, sowie die Seleukidenherrschaft in der heutigen
Türkei niedergerungen waren, gewann Rom die endgültige Seeherrschaft über
das Mittelmeer und nannte es stolz «Mare nostrum» – unser Meer! Zur Zeit des
Augustus, also um Christi Geburt, segelten und ruderten römische Galeeren
nach Ägypten, Judäa, Syrien, Zypern, nach Asia (Türkei), Illyrien (Dalmatien),
Sizilien, zur Cyrenaika, nach Africa (Libyen), die Balearen und Spanien – und
befanden sich immer in römischem Herrschaftsbereich. Nach dem Niedergang
des römischen Reiches übernahm Byzanz unter Justinian I. diesen Begriff,
später benutzte ihn das aufstrebende Venedig, und auch der Stauferkaiser
Friedrich II., der auch König von Sizilien und – für kurze Zeit – König von
Jerusalem war, verwendete «Mare nostrum» als Bezeichnung für das Mittelmeer
in seiner 1239 veröffentlichten «Capitula», die erste gesetzliche Regelung der
Seefahrt. Pikanterweise sei vermerkt, dass auch der italienische Faschismus
unter Mussolini das Mittelmeer so nannte, obwohl der Ausspruch den Anspruch
nicht rechtfertigte.
Aber schon lange vor der römischen Dominanz über das Mittelmeer fanden hier
Kriege, Handel und kulturelle Kontakte zur See statt. Überhaupt ist Seefahrt viel
älter. Die Meere zu befahren – das ist wohl die gewaltigste Aufgabe überhaupt,
die sich die Menschheit je gestellt hat. Luftfahrt und Weltraumfahrt, so
atemberaubend sie erscheinen mögen: ihre grossen Erfolge hätten sie nicht
erzielen können ohne den ersten Schritt des Menschen aufs Meer. Die Fähigkeit,
Schiffe mit den jeweils verfügbaren Techniken zu bauen, die ständige
Weiterentwicklung der Schiffsformen, der Ruderanordnung und des Segelriggs,
die Beobachtung der Himmelserscheinungen, der Winde, der Wolken, der
Strömungen und der Gezeiten sowie die Fähigkeit, diese Beobachtungen
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wiederum in die praktische Nutzanwendung der Navigation umzusetzen, all das
ist zusammengenommen ein bestaunenswertes Zeichen der Erfindungsgabe und
Zielstrebigkeit der Menschen.
Man kann davon ausgehen, dass Seefahrt vor sechs- oder siebentausend Jahren
zaghaft begann. Die ältesten Darstellungen von Schiffen stammen aus Ägypten:
Die Abbildung A (unten) zeigt eine sogenannte «Skorpionschwanz-Galeere» mit
zahlreichen Rudern, einem Krieger (Kapitän?) und zwei Hütten, darunter (B)
eine Felszeichnung aus dem Wadi Hammamet, beide stammen aus der Zeit um
4000 v. Chr. Zirka 3400 v. Chr. überfielen die Ägypter unter der Herrschaft
ihrer ersten Pharaonen die Küsten Syriens mit seegehenden Schiffen, primitive
Fahrzeuge, die weder Kiel noch Achtersteven hatten, jedoch ein Segel und
möglicherweise bis zu 24 Ruderern besassen. Um 2600 v. Chr. unter Pharao
Sahurê fand eine erste Expedition ins Goldland Punt statt, das wahrscheinlich in
Südostafrika in der Gegend der Sambesimündung zu vermuten ist. Seine bereits
grösser gewordenen Schiffe hatten einen verstagten Mast, aber keine Spanten im
Rumpf. Um der Tendenz zum Verbiegen entgegenzuwirken, spannten sich
verdrillte Seile über Decksstützen vom Bug zum Heck.
In Mesopotamien, dem Land zwischen Euphrat und Tigris, ist – fast gleichzeitig
zum ägyptischen Reich – eine andere Hochkultur entstanden: das Reich der
Akkader, aus dem das
sumerische und das
noch heute berühmte
babylonische Reich
hervorgingen. Schon
2814 v. Chr. soll bereits
Baumwolle aus Indien
über das Meer geholt
worden sein. 2350
sandte König Sargon I.
regelmässig hölzerne
Schiffe nach Melukha,
Tilmun und Nagan aus,
um Elfenbein, Gold
und (das für den
Schiffbau so
notwendige) Holz zu
holen.
Wo diese Orte liegen, ist dem Autor nicht bekannt, aber in der Keilschrift ist
festgehalten, dass die Schiffe in zwölf Tagen ihre Zielhäfen erreichen konnten.
Aufgrund dieser Angabe kann den Schiffen eine Distanz von 1200 bis 1500
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Meilen wohl zugetraut werden, womit Pakistan, Indien, vielleicht gar Somalia
als mögliche Destinationen infrage kommen.
Der Turmbau zu Babel wurde zum Symbol des menschlichen Willens, den
Himmel erreichen zu wollen. In den Ebenen des Zweistromlandes war das
Firmament stets beeindruckend zu sehen. Kein Wunder, dass hier die
Astronomie geboren wurde, die anfangs aber mehr eine Astrologie war. Auf
terrassenförmigen Türmen, den Zikkuraten, beobachteten Sterndeuter
systematisch den Himmel, vor allem die Sterne. Die Kenntnis von bereits 70
Fixsternen, der Sonne, des Mondes sowie des Planeten Venus und ihre Stellung
zueinander sollten herausfinden, ob eine Seereise erfolgreich verlaufen würde
oder ob man das Unternehmen besser aufschieben sollte. Ohne diese
Himmelsbefragung durfte kein Schiff auslaufen. Aber Babylon drang nie ins
Mittelmeer vor und vernachlässigte später seine Zuwendung zum Meer. Als die
Zikkurate im vierten vorchristlichen Jahrhundert zerfielen, berichtete ein
Ägypter von der Überlieferung, dass diese Türme «von Riesen gebaut worden
waren, die den Himmel ersteigen wollten», eine Auslegung, die sich in anderer
Form auch im Alten Testament nierderschlug.
Auch Ägypten spielte auf die Dauer keine bedeutsame Rolle im Mittelmeer. Für
kurze Zeit gewann die minoische Kultur zwischen 2000 und 1450 v. Chr. auf
Kreta eine gewisse Macht. Kreta ist als Handelszentrum ideal gelegen und war
in der bronzezeitlichen Welt, da überblickbar, auch gut zu verteidigen. Die
Minoer pflegten Handelsrouten nach Alexandria, Zypern, ins östliche
Mittelmeer und weit in den damals noch überwiegend unbekannten westlichen
Meeresteil hinein. Schwere Zerstörungen (Erdbeben?) beendeten plötzlich die
Bedeutung dieser hochstehenden Zivilisation. Um 1000 v. Chr. gewannen dann
die Phönizier die Seeherrschaft. Sie siedelten im heutigen Libanon und
erforschten von hier aus das ganze Mittelmeer, errichteten Niederlassungen in
Tunesien, Algerien, Italien, im Ägäisraum, auf Malta und Sardinien, gründeten
Malaga, Palermo, Cadiz und Karthago, segelten bald durch die Strasse von
Gibraltar, entdeckten die Kanarischen Inseln und kamen sogar bis nach
Cornwall, wo sie Zinn tauschten. Sie waren die ersten, die Sternkarten für die
Seefahrt erstellten und den Nordstern für die Orientierung benutzten. Die
Phönizier waren nicht nur hervorragende Seeleute, sondern auch erfolgreiche
Kaufleute. Um die Konkurrenz nicht unnötig auf den Plan zu rufen, war
Geheimhaltung ihr oberstes Gesetz; sie haben darum wenig an Aufzeichnungen
der Nachwelt hinterlassen.
Schon um 800 v. Chr. erblühten einige phönizische Gründungen in
Griechenland zu Stadtstaaten, von denen Euböa, Korinth, Athen und Sparta die
bekanntesten waren. Mit Ausnahme von Sparta, das autoritär regiert wurde,
entwickelte sich aus ihnen allmählich ein lockerer griechischer Staatenbund, der
sich deutlich von den ersten Hochkulturen des Mittleren Ostens oder Ägyptens
Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt
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unterschied. Als die Phönizier dann 572 v. Chr. von Nebukardnezar II. besiegt
worden waren, stieg das antike Griechenland zur Blüte empor.
Freiheit und Wissbegier
Die Griechen hatten eine andere Auffassung vom Wert des Menschen und der
Gemeinschaft als die feudal regierten Staaten vorher. Politische und persönliche
Freiheit hiessen die neuen Werte, dem Individuum wurden mehr Rechte
zugestanden und dem Staatswesen waren alle Bürger verpflichtet. Obwohl die
Führungsprinzipien auch hier von einer aristokratischen Ordnung bestimmt
waren, wurde das Volk doch zu Entscheidungen über seine Belange
hinzugezogen, was nach und nach zu einer Rechtswahrung durch den Staat
führte. Den ersten griechischen Entdeckerfahrten, vor allem nach Süditalien und
Kleinasien, folgten schon bald die Ansiedlungen: Barcelona, Marseille, Nizza,
Genua, Tarragona, Bastia, Syrakus, Ragusa (Dubrovnik), Kyrene in Libyen, der
Heimat des berühmten Gelehrten Eratosthenes – alles griechische Gründungen -,
aber auch die nördliche Ägäis, der Bosporus und die Küsten des Schwarzen
Meeres wurden von Griechenland aus besiedelt.
Die Griechen waren voller Wissbegier gegenüber ihrer Umwelt, entwickelten
die Geographie, begannen über die Beschaffenheit der Welt nachzudenken, und
machten die Sternenkunde zu dem, was sie heute noch ist: zur Astronomie. Und
dafür bedurften sie der Mathematik. Damit begann eine Entwicklung, die das
Abendland bis heute prägte. Anaximander gab um zirka 580 v. Chr. eine erste
physikalische Erklärung der kreisförmig gedachten Mond- und Sonnenbahnen.
Nur wenig später glaubte der Geheimbund der Pythagoreer – so genannt nach
ihrem Gründer Pythagoras -, dass die Harmonie der Welt auf
Zahlenverhältnissen beruhe und dass das Wesen aller Dinge in der Zahl bestehe.
Seine Theorien wurden in ihrer Tragweite erst viel später erkannt und bilden die
Grundlage der modernen Astronomie und Physik. Den Pythagoreischen
Lehrsatz haben seither wohl Legionen von Gymnasiasten auswendig lernen
müssen. In diese Zeit fallen auch die ersten spekulativen Überlegungen zur
Kugelgestalt der Erde durch Eudoxos von Knidos. Platon (428 bis 347 v. Chr.)
entwickelte daraus eine von den Gesetzen der Harmonie bestimmte
mathematische Theorie der Planetenbewegungen. Diese Theorie wurde erst
durch Johannes Kepler 1609 korrigiert! Aristoteles baute darauf sein
physikalisches Weltsystem auf, das bis zu den Erkenntnissen des Nikolaus
Kopernikus im Jahre 1616 Gültigkeit hatte. Um 250 v. Chr. entwickelte
Eratosthenes ein Verfahren zur Auffindung von Primzahlen, errechnete erstmals
den Erdumfang, entwarf eine Erdkarte und versah sie mit einem
Koordinatennetz von Breitenparallelen und Meridianen. Der Astronom Claudius
Ptolemäus übernahm einhundert Jahre später den Koordinatengedanken von
Eratosthenes, machte aber den grossen Fehler, bei seinen Berechnungen des
Erdumfanges (360 Grad) von zu kleinen Abständen der Meridiane auszugehen,
Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt
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so dass seine Erdkugel um ein gutes Viertel kleiner wurde. Auf die Korrektur
musste die Menschheit bis ins 16. Jahrhundert warten. Trotzdem war Ptolemäus
ein überragender Gelehrter, der unter anderen wertvolle Bücher über
Geographie, Tabellen zur Breiten- und Längenbestimmung von etwa 8000 Orten
der Erde sowie Niederschriften über die Optik und Musikharmonie hinterliess.
Das antike Griechenland drückte der abendländischen Kultur ihren
unvergänglichen Stempel auf. Selbst die modernen olympischen Spiele sind ein
Erbe, das 1894 wieder zum Leben erweckt wurde.
Wie David und Goliath
Die Bezeichnung Griechenland bezieht sich für die Antike auf die griechische
Halbinsel ohne Makedonien, die zugehörigen griechischen Inseln, den
Peloponnes und die Inseln des Ägäischen Meeres mit Kreta. Seit 540 wurde
Griechenland aber immer wieder von den Persern bedroht, die nach und nach
Thrakien im Norden und Makedonien im Nordwesten eroberten. Die Eroberung
Griechenlands zur Abrundung des Perserreiches konnten die Griechen in der
Schlacht beim 30 km nordöstlich von Athen gelegenen Marathon (490 v. Chr.)
abwenden. Die zahlenmässig unterlegenen Griechen unter Miltiades siegten
dank der überlegenen Taktik; die Meldung vom Sieg gelangte durch einen
Läufer nach Athen, der nach seiner Ankunft vor Anstrengung (angeblich) tot
zusammenbrach. Der olympische Marathonlauf entspricht mit seiner Länge in
etwa der Wegstrecke Marathon-Athen.
Angesichts der starken Flotte, mit der die Perser sich zurückziehen, beginnt
Griechenland ein grosses Flottenbauprogramm. Im Süden der Attika genannten
Halbinsel, auf der auch Athen liegt, sind damals gerade reiche Silberminen
erschlossen worden. Die Einkünfte, die der Staat aus diesen Bergwerken bezog,
sollten zur Finanzierung des Schiffsbaus dienen.
Aber der Perserkönig Xerxes liess nicht locker. Im August 480 kommt es zur
Niederlage der Griechen in der Schlacht am Thermopylenpass bei Delphi. Athen
wird von den Persern geplündert, ihre Bewohner konnten sich gerade noch auf
benachbarte Inseln retten. Durch die Niederlage am Thermopylenpass hatte sich
die Stimmung im griechischen Heer stark verschlechtert. Die Vertreter einiger
peloponnesischer Verbündeter liessen durchblicken, sie würden ihre Truppen
und Flottenverbände zurückziehen. Den Griechen drohte eine Zersplitterung der
Kräfte. Der griechische Admiral Themistokles erkannte, dass er handeln müsse,
wenn die letzte Chance gewahrt bleiben sollte. Nun zahlte sich die Weitsicht des
Flottenbaus aus. Schon im September des gleichen Jahres kam es zur berühmten
Seeschlacht von Salamis, in der die Griechen die Perser entscheidend besiegten.
Da Athen schon gefallen war und nun der Stadtstaat Sparta verteidigt werden
Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt
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musste, führte der
Spartaner Eurybiades
den Oberbefehl. 380
Schiffe standen ihm
zur Verfügung, Galeeren mit Doppelruderplätzen (Biremen)
und Trieren, bei denen die Riemen dreifach angeordnet waren. Die persische
Flotte des Königs
Xerxes bestand aus
850 Schiffen. Themistokles
arbeitete
mit dem Oberbefehlshaber Eurybiades einen genialen Plan aus.
Die Schlacht von Salamis (1): Die Aufstellung der Flotten
Die griechische Flotte ankerte in der Meerenge von Salamis, einer kleinen Insel
westlich von Athen. Themistoles und Eurybiades wollten die persischen Schiffe
in die Enge der Durchfahrt locken, um sie an der Entfaltung ihrer überlegenen
Kräfte zu hindern. Er liess das Gerücht ausstreuen, dass sich ein Teil der
griechischen Flotte nach Korinth zurückziehen wolle. Xerxes, der aber die
gesamte griechische Flotte zu schlagen hoffte, liess sich überlisten und sandte
sofort 250 seiner Schiffe nach Süden, um den Griechen – die die Insel Salamis
nördlich umfahren müssten – den erwarteten Rückzug abzuschneiden. Die
restlichen Schiffe riegelten sofort den Golf von Salamis ab. Nun lagen den 380
griechischen Schiffen «nur» noch 600 persische gegenüber.
Am 23. September 480 v. Chr. kam es zu der historischen Schlacht. Xerxes
wollte den triumphalen Sieg seiner Flotte von einer Anhöhe herab beobachten.
Als die persischen Galeeren, zuerst langsam, dann aber immer schneller auf die
Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt
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griechischen Schiffe zuruderten, rückten diese, scheinbar zurückweichend,
langsam in die Enge der Durchfahrt. Die persischen Schiffe folgten und fuhren
immer dichter nebeneinander, bis sie die Ruder nicht mehr unbehindert bewegen
konnten. Nun griffen die Griechen schnell an!
Die vordersten Galeeren der Perser verkeilten sich, die hinteren erkannten die
Gefahr zu spät; sie mussten seitwärts ausbrechen, um nicht auf ihre Gefährten
aufzulaufen. Die Griechen fuhren mit voller Fahrt in den persischen Block, die
Rammsporne bohrten beim Aufprall etliche persische Galeeren in den Grund.
Auf persischer Seite brach Verwirrung aus, ihre zahlenmässige Überlegenheit
brachte sie nun selber in Bedrängnis und erforderte viele zusätzliche Opfer.
Während von den vorderen Schiffen der Griechen die Soldaten enterten und der
Kampf Mann gegen Mann begann, entschied ein überraschender Flankenangriff
der Athener die Schlacht: wieder fielen viele persische Schiffe dem Rammsporn
der griechischen Trieren zum Opfer, dann begannen die Einzelkämpfe. Schon
flohen einige persische Galeeren, die Panik kostete die Perser noch weitere
Schiffe. Xerxes befahl der Flotte und seinem Landheer den Rückzug – das
kleine Griechenland hatte die Schlacht für sich entschieden!
Die Schlacht von Salamis (2): Die Griechen locken die persischen Schiffe in die Enge von
Salamis.
Knapp siebzig Jahre lang sollte Athen nun die Seeherrschaft innehaben. Aber
die Griechen waren untereinander häufig zerstritten, besonders Athen und Sparta
Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt
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kämpften kompromisslos um die Vorherrschaft auf der Halbinsel. 413 musste
die Flotte Athens das gleiche Schicksal erleiden, das sie vor Salamis den Persern
bereitet hatte: sie wurden von den Spartanern im Hafenbecken von Syrakus, in
dem sie sich nicht entfalten konnten, vernichtend geschlagen. 338 errang der
makedonische König Philipp II. die Vorherrschaft über Athen, Thrakien und
Illyrien und begann einen Feldzug zur Eroberung Persiens. Die Macht Athens
war gebrochen. Aber die griechische Triere, von den Römern in «Trireme»
umgetauft, sollten noch lange auf dem Mittelmeer der vorherrschende Schiffstyp
sein.
Der Alexanderzug
(dtv-Weltatlas 1989, Band 1)
Alexander bekam den Beinamen «der Grosse», aber er konnte die
Verwaltungsreform seines Riesenreiches nicht mehr durchführen. Schon 325 v.
Chr. musste sich das Heer unter seinem General Krateros vom Indus nach
Mesopotamien zurückziehen; im gleichen Jahr kehrte auch Alexanders Flotte
unter Nearchos vom Indischen Ozean an die Mündung von Euphrat und Tigris
heim. Völlig unerwartet starb Alexander zweiunddreissigjährig am 13. Juni 323
in Babylon, wahrscheinlich an Malaria. Sein Reich überdauerte ihn nicht lange
und zerfiel bald, seine Eroberungen hatten jedoch die griechische Zivilisation
weit nach Osten getragen. Nun wartete noch der Westen auf seine
«Hellenisierung».
Bis dahin war Rom eine unabhängige Republik. Nachdem Karthago bezwungen
war, besiegte Rom Makedonien in mehreren Kriegen und erklärte 196 alle
Griechen für frei, deren Kultur man bewunderte, nachahmte und übernahm. In
den folgenden Jahrhunderten sollte Rom der Erbe griechischer Kultur und
Geistesbildung werden, aber auch ein Reich errichten, das weit grösser war als
das Alexanders. Nach und nach eroberten die Römer Helvetien, Gallien,
Germanien bis an den Rhein und die Donau sowie Britannien. Sie bauten
Strassen über die Alpen. 42 n. Chr. überquerte ein römisches Heer das
Atlasgebirge in Nordafrika, Kaiser Nero sandte gar eine Expedition vom
römischen Ägypten aus, um die Quellen des Nils zu suchen. Und wenn diese
Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt
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Expedition ihr Ziel auch nicht erreichte, drang sie doch weiter ins Landesinnere
vor als je ein Europäer vorher.
Weihrauch und Perlen, Bernstein und Zinn
Erste Begegnung des Mittelmeerraumes mit Ost und Nord
Die Römer waren in der Frühzeit ihrer Staatsgründung kein Volk von
Seefahrern. In Zeiten der Bedrängnis vertrauten sie auf ihr durch Disziplin
gestähltes Landheer; seine Mobilität und Flexibilität war legendär! Geriet Rom
in Gefahr, dann wurden die Truppen in Gewaltmärschen über große Distanzen
zu den Brennpunkten verlegt und oft genug sofort in die Schlacht geschickt. Die
Macht Roms wurde mit den Schwertern und Lanzen seiner Legionen errungen.
Aber die Erhaltung jeder Armee verschlingt Unsummen; schon damals war es
billiger, die militärische Macht in politische Macht zu überführen. Nach der
Niederringung Karthagos (vgl. sm/96) setzte sich auch bei den Römern die
Erkenntnis durch, dass Seeherrschaft die politische Herrschaft absichert und
dass Seehandel die friedlichen Absichten der Partner stärkt.
Eine römische Flotte
liegt hoch am Strand
und trifft
Vorbereitungen zum
Auslaufen, zirka 100
vor Christus.
(Zeichnung: H. R. Römer.)
Aber dazu war es notwendig, die Sicherheit der Seewege zu garantieren; die
Bekämpfung der schon damals verbreiteten Seeräuberplage gab Rom
Gelegenheit, das ganze Mittelmeer kennenzulernen und zu erforschen. Das Mare
Nostrum der Römer hatte bald eine regulierende Funktion, und der Seeverkehr
diente neben der Ernährung auch der Erweiterung des Weltbildes. Aus
Griechenland gelangten – neben feiner Lebensart und Wissen – Wein, Öl, Salz
und Getreide nach Rom. Das Christentum kam durch Paulus über das
Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt
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Mittelmeer in die römische Metropole. Und bald gab es Kontakte zu den
östlichen Kulturen des Orients, die weit über Palästina hinausgingen.
Bereits um die Zeitenwende begannen hochseetüchtige römische Handelsschiffe
vom Roten Meer nach Indien zu fahren! Die von dort herbeigeschafften
selteneren und daher teuren Waren, vor allem Gewürze und Parfüme, Schildpatt
und Perlen, aber auch Seide aus China, regten die Einbildungskraft des Westens
über den märchenhaft reichen Osten mächtig an. Mit dem Niedergang des
römischen Reiches brachen jedoch die Kontakte mit dem Orient wieder ab. Als
sieben Jahrhunderte später der fränkische Kaiser Karl der Grosse mit dem
abbasidischen Kalifen Harun Ar-Raschid Gesandtschaften austauschte,
entfachten die Geschenke des Kalifen die fantastischen Vorstellungen der
Herrscher und Händler von neuem. Ihren Appetit, diese fernen Länder zu
beherrschen und auszubeuten, sollten sie bis ins Zeitalter der Entdeckungen
nicht mehr verlieren.
Doch der Norden war ebenso geheimnisvoll und von Gerüchten umwoben. Man
wusste kaum etwas von den "nebelverhangenen Ländern und Gestaden hinter
den eisbedeckten Bergen; dort hausen primitive Völker, die Kelten und
Teutonen heissen» (Tacitus). Im Jahre 55 vor Christus landete Cäsar in
Britannien, begann mit der Eroberung der Insel und gründete die ersten
römischen Niederlassungen. Andererseits gelangten griechisch-römische
Philosophie und Wissenschaft mit den Soldatenstiefeln der römische Legionen
in das nördlich der Alpen gelegene Europa. Alle bedeutenden geistigen
Strömungen der abendländischen Kultur haben im Mittelmeer ihren Ursprung.
Das römische Reich erreichte im 2. Jahrhundert nach Christus seine grösste
Ausdehnung, danach zerfiel es unter dem Ansturm der Goten, der Hunnen und
Vandalen und der Langobarden.
Die Silhouette Europas zwischen den Meeren im Norden und Süden trat anfangs
nur langsam aus dem Nebel der Unwissenheit hervor (Abb. 2). Seit mehr als
tausend Jahren übte das sonnige Mittelmeer eine fast magische Anziehungskraft
auf die Völker der Nordmeere aus, doch bis ins Hochmittelalter wussten die
Seeleute dieser unterschiedlichen Völkerfamilien nur wenig Konkretes
voneinander.
Bekannter (und spektakulärer) sind dagegen die Kontakte mit dem Osten. Schon
hundert Jahre nach dem Tode Jesu sollen einige furchtlose Gläubige von Rom
nach Jerusalem gepilgert sein. Nachdem Kaiser Konstantin 327 zum
Christentum übergetreten war, unternahm seine Mutter, die Kaiserin Helena,
eine Pilgerreise ins Heilige Land; sie fand den Kalvarienberg und angeblich
Holzsplitter des Kreuzes Jesu. Kaiser Konstantin liess daraufhin die noch heute
existente Grabeskirche erbauen. Im 4. Jahrhundert pilgerte eine fromme und
reiche Spanierin namens Etheria nach Jerusalem, danach diktierte sie ihre
Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt
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Erlebnisse, religiös verbrämt, einem Mönch. Bald darauf, 386, gründete der
Heilige Hyronimus in Bethlehem ein Kloster. Damit kamen Pilgerreisen zu den
heiligen Stätten des Christentums von ganz Europa nach Jerusalem in Mode,
und schon im frühen 5. Jahrhundert soll es fast zweihundert Klöster im Heiligen
Land gegeben haben.
Angelsächsische
Weltkarte aus dem 10.
Jahrhundert. Der Osten
galt als die vornehmere
Himmelsrichtung, er liegt
oben, wo nach damaliger
Vorstellung «gleich hinter
Asien» das Paradies zu
suchen ist. Dreht man die
Karte nach rechts, sind
(links oben) England,
Irland und Island gut zu
erkennen, aber Norwegen
und Schweden fehlen,
obwohl den Kartographen
die Heimat der Wikinger
bekannt gewesen sein
muss. (British Library, London.)
Viele Pilgerwege sind als historische Verkehrsrouten überliefert. Viel später
legte Napoleon seine gradlinigen Heerstrassen an, um die Truppen auf
schnellstem Wege ans Ziel zu bringen; für die Pilgerwege kann insofern ein
Vergleich hergestellt werden, als sie die Wallfahrer in eine zielgewisse Richtung
führten. Das wussten auch die Händler, selbst wenn für sie der kürzeste Weg
nicht unbedingt ein Weg der Frömmigkeit war. Und wie die Mönche vor der
Erfindung der Uhr den Tag nach den Stundengebeten, den Horen, massen, war
die Strasse für die Wallfahrer in Etappen eingeteilt: der Tagesweg war von
Dorfkirchen, Kapellen, Kreuzen, Bildstöcken und Wirtshäusern markiert.
Anfangs waren Pilgerfahrten reine Fussmärsche; eine Kette von sicheren
Herbergen auf dem ganzen Weg gab den Pilgern die Gewissheit von Obdach
und Schutz. Waffenlos, mit breitrandigem Pilgerhut, in der Hand den Pilgerstab,
die Pilgertasche geschultert, am Gurt die Muschel (als Trinkgefäss): die
Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt
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«Fremden» (das Wort Pilger leitet sich aus dem lateinischen «peregrinus» =
Fremder ab) waren die farbigen Gestalten des frühen Mittelalters, die überall
Schutz genossen.
Erst der Untergang des Weströmischen Reiches und die starke Zunahme des
Räuberwesens machten die Strassen unsicher, so dass die Pilger allmählich den
Seeweg benutzten. Aber zunehmender Widerstand der türkischen Seldschuken
gegen die christlichen Pilgerreisen und die bald darauf einsetzenden
Eroberungen der Araber im Mittelmeer gefährdeten die Pilgerfahrten erneut.
Mohammed war gemäss islamischem Glauben von den Felsen am Tempelberg
gen Himmel gefahren. Damit kam Konkurrenz um die heiligen Stätten auf. 638,
sechs Jahre nach dem Tode des Propheten, zog Kalif Omar als Sieger in
Jerusalem ein: ein tausendjähriger Kampf um den Einfluss in Palästina begann.
Im Jahre 610 hat Mohammed die Lehre des Islam als «Ergebung in den Willen
Gottes» verkündet. Der Islam ist neben dem Judentum und dem Christentum die
dritte grosse momotheistische Religion der Menschheit. Er fiel im arabischen
Raum auf fruchtbaren Boden und weitete sich im 7. und 8. Jahrhundert mit
unvorstellbarer Geschwindigkeit nach Norden, Westen und Osten aus und griff
ab 638 auf Jerusalem, Syrien, die Türkei und den Irak über (Abb. 3). Arabische
Reiterheere eroberten 640 Kairo, 642 Libyen und 698 Karthago, drangen 711 bis
Samarkand, Afghanistan und Pakistan vor, setzten im gleichen Jahr über die
«Dschebel al Tarik» (Berg des Tarik) genannte Strasse von Gibraltar und
eroberten ganz Spanien und Portugal. Erst 732 konnte in der Schlacht zwischen
Tours und Poitiers das weitere Vordringen der Araber nach Mitteleuropa
verhindert werden. Danach stand Europas iberische Teil 750 Jahre lang unter
«maurischer» Herrschaft. Der Name Mauren oder Moren (spanisch: los moros)
leitete sich von der in Nordafrika lebenden arabisch-berberischen negroiden
Mischbevölkerung ab und sollte bald als Pauschalbezeichnung für alle Muslime
im «christlichen» Wortschatz Eingang finden.
Die Ausbreitung des
Islam bis 750 (dtv-Weltatlas
1989, Band 1)
Als im 11.
Jahrhundert die
türkischen
Seldschuken nach
Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt
Seite 23
Westen vorzudringen
versuchten, aber auch als Folge der allgemeinen religiösen Verinnerlichung,
verbreitete sich unter den Rittern des christlichen Westens immer mehr der
Gedanke eines als notwendig und berechtigt empfundenen Krieges gegen den
Islam, um Jerusalem von der islamischen Herrschaft zu befreien. Es entstand die
Idee der Kreuzzüge! Die als Befreiungskriege gedachten Feldzüge nahmen in
der Folgezeit immer mehr die Form von Beutezügen an, denn die
Heimgekehrten erzählten vom unvorstellbaren Reichtum und vom bequemen
Leben im Orient. Der Bussgehalt eines Kreuzzugs zu Schiff kam allen Ernstes
vor allem dadurch zum Ausdruck, dass man sich während einer langen Reise
einem zu fürchtenden Element aussetzen musste, was der Selbstverleugnung und
der Überwindung von Angst gleichkam. Aber alle – Pilger und Kreuzfahrer –
brachten wertvolle Waren, vor allem Seide, Damast, wohlriechende Gewürze
und viele geheimnisvolle Neuigkeiten aus dem Morgenland mit nach Hause.
Jerusalem war im Mittelalter das ersehnte Ziel der Christenheit.
Nicht alle Kreuzfahrer kamen in ihre Heimat zurück. Die zur gleichen Zeit
gegründeten Ritterorden bauten Burgen und gründeten Niederlassungen zum
Schutze und zur Verteidigung eroberter Landstriche und Orte. Die Ritterorden
vereinigten das ritterliche Ideal des Mittelalters mit den mönchisch-asketischen
Lebensregeln: Armut, Keuschheit, Gehorsam und Schutz der Bedrängten. Der
berühmteste war seit 1113 der Johanniterorden, der aus der Bruderschaft des
Spitals in Jerusalem hervorgegangen ist. Seine Hauptaufgaben waren
Krankenpflege und Waffendienst. Die Ordenstracht, ein schwarzer Mantel mit
weissem Kreuz, wurde im Krieg gegen einen roten Waffenrock getauscht. 1291,
nach der Eroberung Jerusalems durch den Islam, wird der Orden unter dem
Druck des muslimischen Vordringens zuerst nach Zypern verlegt, 1309 nach
Rhodos und 1530 schliesslich nach Malta. Seither heissen sie «Malteser».
Die Reformatoren der Kirche – Luther, Erasmus von Rotterdam, Melanchthon,
Zwingli und Calvin – lehnten Wallfahrten ab und verurteilten rückwirkend die
Kreuzzüge. «Kindische und nutzlose Werke» seien sie; aber im Nachhinein
erwiesen sich die Kreuzzüge der kämpferischen Pilger als bedeutende
Erweckungsmittel. Während der sieben Kreuzzüge zwischen 1096 und 1270
wogte das Kriegsglück hin und her, die Feldzüge führten aber nicht zu
bleibenden Erfolgen für die Christenheit. Die Kreuzzüge scheiterten, weil sich
die nationalen Interessen der beteiligten Parteien nicht mit einer universalen
Idee, wie sie dem Islam innewohnt, vereinigen liessen. Aber für die Entwicklung
von Handel und Wandel erwiesen sich die Kreuzzüge als Katalysator; die
Kreuzritter nahmen in den friedlichen Phasen Handelsbeziehungen mit der
moslemischen Welt auf, von denen besonders die oberitalienischen und
südfranzösischen Städte profitierten. Dank den Erzählungen zurückkehrender
Kreuzritter über die orientalische Pracht nahmen der Orienthandel allgemein
einen starken Aufschwung. Der steigende Lebensstandard führte zu einer
Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt
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grossen Nachfrage nach Orientwaren; die Geldwirtschaft florierte und ein
reiches Bürgertum entstand. Der Kontakt zu den überlegenen byzantinischen
und arabischen Geisteswelten verstärkte darüber hinaus das kulturelle Niveau.
Vor dem Hintergrund dieser spektakulären Ereignisse wird heute allzu leicht
vergessen, dass der frühe Welthandel nicht nur aus Seiden und Gewürzen,
Perlen und Edelsteinen des Ostens bestand. Es gab auch schon sehr früh
Handelswege nach Norden. Im 1. Jahrhundert vor Christus wurde Venedig auf
dem Festland gegründete. Die aufblühende Stadt an handelspolitisch
strategischer Lage wurde von den «Barbaren», zuerst von den Hunnen, später
von den Langobarden, überfallen und verwüstet, so dass die Menschen auf die
sicheren Laguneninseln auswichen.
Nordeuropäische Land- und Seerouten
Von Zeit zu Zeit gelangten «barbarische» Händler aus dem Norden auf dem
Landweg von der Ostsee über Polen, Böhmen und die Steiermark nach Venedig.
Neben Honig, Wachs und Pelzen hatten sie auch ein fossiles, organisches
Material unter ihren Waren, eine Art goldgelbes Harz, das an den Stränden der
nordlichen Meere gesammelt wurde. Sie nannten es Bernstein. Manchmal waren
kleine Insekten, Ameisen oder Fliegen, darin eingeschlossen, und die reichen
Damen der Gesellschaft lechzten danach. Die Händler erzählten von
seefahrenden Völkern des Nordens, von den Wikingern, die – furchtverbreitend
Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt
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– die Meere dort beherrschten. Von ihnen stammten die Walrosszähne, die im
frühen Mittelalter noch die Funktion des Elfenbeins hatten.
Venedig konnte von Anfang an rege Handelsbeziehungen nicht nur entlang der
illyrischen (dalmatischen) Küste aufbauen, auch aus den Alpentälern und sogar
aus Süddeutschland gelangten Metalle aller Art, Wolle und Leinen sowie das für
den Schiffbau notwendige Holz nach Venedig. Auch Zinn war ein begehrtes
Handelgut aus dem Norden. Schon lange vorher hatte Herodot behauptet, dass
Zinn «vom Ende der Welt komme», und Pytheas von Marseille segelte
(wahrscheinlich im Auftrag Alexander des Grossen) um 325 vor Christus in die
Nordsee und nach Britannien, um die Herkunft von Zinn und Bernstein zu
erkunden. Die Scilly-Inseln wurden deshalb auch Zinn-Inseln genannt. Später
kauften muslimische Händler in Venedig die Sklaven ein, die die schwedischen
Wikinger in den russischen Wäldern gefangen hatten. Orientalische Seide und
Gewürze verliessen die Lagunenstadt in die Gegenrichtung.
So ergab sich doch schon sehr früh eine gegenseitige Abhängigkeit zwischen
Land und Meer; eine Entwicklung, die sich im 13. Jahrhundert durch das
Auftauchen der ersten brauchbaren Seekarten, des Kompasses, aber auch immer
besserer Schiffsbautechniken mehr und mehr zugunsten der Schiffahrt verschob.
Doch bis dahin verweilten die Seefahrer des Südens und Nordens überwiegend
in ihren angestammten Revieren. Die Brendansage aus dem 6. Jahrhundert
erzählt von der Reise irischer Mönche, die unter der Führung des Abtes
Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt
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Brendanus über das Meer nach Westen segelten. Sie erlebten für die damalige
Zeit allerlei unglaubliche Abenteuer und gelangten schliesslich in ein Land im
Westen, das sie als Kontinent erkannten. Sie glaubten, das Paradies gefunden zu
haben, kehrten aber nach Irland zurück, um davon zu berichten. Realistischer,
weil verbürgt, ist dagegen die weitverzweigte Handelstätigkeit eines seit
Urzeiten an der Nordseeküste ansässigen Volksstammes, der Friesen.
Die Friesen lebten zwischen der Scheldemündung und Schleswig. Sie waren ein
freiheitsliebendes Volk, das seine Häuptlinge unter dem Upstallsboom, einer
heiligen Eiche, auf Zeit wählte und ihnen Treue und Beistand schworen. Sie
hatten untereinander strenge Gesetze, die Eigentum und Freiheit des Einzelnen
sowie seinen Dienst an der Gemeinschaft regelten. Männer und Frauen waren
vor dem Gesetz gleich! Die geographische Lage ihrer Heimat sorgte bereits im
6. Jahrhundert für günstige Voraussetzungen eines regen Handels zur See;
friesische Seefahrer waren neben den Wikingern offenbar die ersten, die mit
ihren Schiffen bis Island, Spanien und nach Mallorca gelangten. Ihre
topographische Situation liess ihnen auch keine andere Wahl, denn sie wohnten
auf künstlich erbauten Hügeln, die mit dem Festland durch Dämme verbunden
waren. Die Friesen waren die ersten, die Deiche zum Schutz vor Sturmfluten
bauten. Ihre Einkommensquelle war anfangs das für die Fischkonservierung
unentbehrliche Salz, das sie dem Meer entzogen, sowie der Fischreichtum der
Küstengewässer.
Ihr Haupthafen war Dorestad (heute Duurstede) an der Verzweigung von Altem
Rhein und Lek (Abb. vorherige Seite). Die Friesen waren gute Kaufleute, und
wie die Griechen und Römer gründeten sie auch Handelsniederlassungen in
ihren Partnerhäfen. Schon zur Bronzezeit, also um 200 vor Christus, bestanden
nachgewiesene Schiffsverbindungen vom Rhein bis zur Ems und Weser sowie
ein Schiffahrtsweg entlang der ostfriesischen Küste. Doch mehr ist aus der
Frühzeit nicht bekannt. Im 8. Jahrhundert fuhren friesische Kähne die Schelde,
die Maas, den Rhein und andere Flüsse stromaufwärts zu den Siedlungsgebieten
des benachbarten karolingischen Reiches; friesische Häfen wurden immer mehr
zu Drehscheiben einer nach allen Seiten sich anbahnenden Beziehung mit
anderen Ländern. Ihre nautischen Fähigkeiten setzten sie in die Lage, schon in
der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts durch das Skagerrak in die Ostsee zu
gelangen und dort Handel zu treiben. Bald segelten und ruderten friesische
Schiffe über Jütland nach Bornholm, Gotland und zum Baltikum. Um 1200
tauchten sie in England auf und luden zur gleichen Zeit Tuffstein in Andernach
am Rhein, den sie für den Bau ihrer Kirchen benötigten. Auch mit der Hanse
fand zeitweise ein namhafter Warenaustausch statt: das hamburgische
«Pfundzollbuch» von 1369 erwähnt einen regen «Localverkehr» zwischen
Hamburg un der ostfriesischen Küste.
Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt
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Aber der Aufschwung der Hanse hat die friesische Schiffahrt nicht begünstigt.
Die Häfen verödeten und es setzte eine allgemeine Verarmung ein. So traten in
der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts friesische Freibeuter auf den Plan, die als
«Vitalier» oder «Vitalienbrüder» in die Geschichte der Freibeuterei eingingen.
Da sie untereinander alles zu gleichen Teilen aufteilten, nannte man sie auch
«Likendeeler» (lik: Plattdeutsch für gleich). Sie hatten ab 1395 ihre
Schlupfwinkel in den Flachwasserhäfen Ostfrieslands, die sie vor der
Verfolgung durch bewaffnete hansische Koggen mit grösserem Tiefgang
bewahrten. Doch im Mai 1400 gelang der vereinigten Flotte Bremens und
Hamburgs ein entscheidender Sieg über die Freibeuter. Die legendäre Gestalt
Klaus Störtebekers, der sein Hauptquartier im ostfriesischen Marienhafe hatte,
ist bis heute populär.
Über die Bauart ihrer frühen Schiffe wissen wir nicht viel, aber die ab 1200
vorkommenden Schiffstypen sind bekannt. Die friesische Kogge, der
bekannteste Schiffstyp des 13. Jahrhunderts, lässt sich bis ins 9. Jahrhundert
zurückverfolgen. Man kann davon ausgehen, dass die rundliche Bauform seit
jeher das Charakteristikum der friesischen Schiffe war. Das Wort Kogge ist mit
dem altgermanischen «kuggon» (krümmen, sich wölben) verwandt, die
Bezeichnung Kogge bezieht sich auf die breite, gerundete Schiffsbauweise. Ein
Nachfolger der Kogge war die Kuff, eine Bezeichnung, die sich aus
«kopfardie», dem späteren «Kauffahrtei» (Kauffahrerschiff), herleitet. Kuffen
besassen einen breiten Rumpf mit ziemlich flachem Boden, auffallend breitem
Vorschiff und fast senkrechtem Achtersteven. Wegen ihres kurzen Kiels hatten
sie anfangs Seitenschwerter zur Verringerung der Abdrift und der Kentergefahr,
wie sie die holländischen Flachwassersegler noch heute tragen. Sie waren 16 bis
24 Meter lang, 4 bis 6 Meter breit und hatten eine Verdrängung von 40 bis 125
BRT. Sie waren zweimastig als Ketch oder Schoner getakelt.
Kuff
Der vordere Grossmast war mit Rahsegeln bestückt, am Achtermast wurde ein
Gaffelsegel gesetzt. Am grossen Bugspriet konnten zwei Vorsegel (Fock und
Klüver) gesetzt werden. Andere Schiffe hiessen Tjalk, Schmack, Schnigge, Aak,
Schute und Mutte.
Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt
Seite 28
Tjalk
Das bekannteste ist begreiflich,
denn ihre schärfere Modell aber
wurde die Schaluppe. Ihr Name
leitet sich von «sloep» oder «slup»
(gleiten, schlüpfen) ab. Das
Bauform hebt sie deutlich von der
plumperen Kuff und der Tjalk ab.
Schaluppen hatten ebenfalls Seitenschwerter, waren aber schmaler gebaut und
an beiden Masten als Gaffelsegler
getakelt.
Wegen
ihrer
guten
Segeleigenschaft wurden schwertlose,
kleine Formen der Schaluppen später
von der britischen Marine als Beiboote
zur
Erforschung
unbekannter
Ankergründe und Buchten mitgeführt.
Schaluppe «Elbe»
Seit 834 wandten sich dänische Wikinger dem Kontinent zu, besetzten Friesland
und setzten sich dort fest. Da sie sich mit der angestammten Bevölkerung
mischten und die Friesen eine ähnlich stolze Vorstellung von Freiheit hatten wie
die Wikinger, blieb die Bezeichnung Friesen für die Bewohner der
Nordseeküsten erhalten. Das Wort Wiking bedeutet «Bewohner der Buchten und
Fjorde», ein Hinweis auf die zerrissenen Küsten ihrer angestammten Heimat in
Skandinavien. Sie waren hervorragende Seeleute. Ihre hölzerner Schiffe waren
lang und schmal, Bug und Heck von gleicher hochgezogener Form, oft in einen
Drachenkopf oder eine Rosette auslaufend. Die Handelsfahrzeuge waren kürzer
und breiter als die für den Kampf gedachten Langschiffe, die gut 40 Meter lang
sein konnten. 30 Paar Riemen und ein in Schiffsmitte errichteter Mast mit
Rahbesegelung brachten das Schiff auf erstaunliche Geschwindigkeiten. Das
farbige Leinwandsegel, gestreift oder gemustert, wurde von kräftigen Seilen
verstagt, damit es den stürmischen Winden der Nordmeere gewachsen war.
Während Regierungszeit Karl des Grossen hatten die Wikinger bereits überall
Angst und Schrecken verbreitet. Mit ihren langen und schmalen Schiffen waren
sie zweihundert Jahre früher aus dem hohen Norden, aus Dänemark, Schweden
und Norwegen aufgetaucht, weshalb man sie «Nordmänner» – Normannen –
Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt
Seite 29
nannte. Der geringe Tiefgang ihrer Schiffe liess es zu, dass sie auch kleinere
Flüsse stromaufwärts rudern konnten, wo man sie kaum erwartete. Schnell
waren die Masten gelegt, die Pferde an Land gebracht: Wie ein Wirbelsturm
fielen die Wikinger über Klöster, Städte und Dörfer her. Bald hatten die
norwegischen Wikinger die Britischen Inseln erreicht, gelangten um 860 nach
Island, entdeckten 982 unter Erik dem Roten Grönland und unter Leif Eriksson
im Jahre 1000 Nordamerika. Die Dänen eroberten die Nordseeküsten und
überfielen immer wieder England, konnten sich aber dort vorerst nicht halten.
911 setzten sie sich unter Führung Rollos in der Normandie fest und drangen
später bis ins Mittelmeer vor. Schwedische Wikinger waren seit dem 9.
Jahrhundert im Ostseeraum aktiv; sie gelangten über Nowgorod bis nach Kiew
und zur Wolga und zum Schwarzen Meer. Im Jahre 862 griffen sie gar die Stadt
Konstantinopel an, wurden zwar abgeschlagen, kamen aber 907 wieder und
konnten erst 941 wieder verjagt werde.
Einflussbereich der Wikinger
Bisher waren die Meere des
Nordens fast ausschliesslich als
Eroberungswege genutzt worden.
Die schon erzählte Eroberung
Englands durch die Normannen
hingegen gelang erst im Jahre
1066; sie beendete die Raubzüge
der Wikinger, aus den Plünderern
wurden Siedler und Händler. Ihre
Schiffe wurden breiter, hatten
einen grösseren Tiefgang und
konnten wesentlich mehr laden. Getreide, Bauholz, Stoff, Fisch und Mauersteine
fanden den Weg über das Meer zu fremden Häfen. Was die Hinwendung zur
Seefahrt ausmacht, blieb Nordeuropa kaum hinter dem Süden zurück. Nur der
arktische Teil verharrte noch lange im Dunkel der Unwissenheit.
Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt
Seite 30
Die Gefahren der Landwege (I)
Die Seidenstraße
«Die Pax Romana».
Der Zerfall des Römischen Reiches hatte mehr als
nur den Wegfall einer zentralen Regierungsgewalt und den Verlust der
ordnenden Rechtsprechung und Verwaltungsstruktur zur Folge. Schlägt man das
Buch der geschichtlichen Daten auf, könnte man glauben, dass auch unter der
Römerherrschaft ein Krieg den anderen ablöste und kein Ende der unruhigen
Zeiten auszumachen sei. Aber das stimmt nur bedingt. Zwar fanden im
römischen Riesenreich immer wieder kriegerische Auseinandersetzungen mit
den unterworfenen Völkern statt; immer wieder gab es Versuche der
Unterlegenen, das Joch der Fremdherrschaft abzuschütteln. Auch zettelten
häufig konkurrenzierende Generäle oder Konsule, die die Macht im Staate
erringen wollten, blutige Aufständen oder Revolutionen an, und nicht selten
hatten derlei Auseinandersetzungen einen Umsturz der Regierung zur Folge.
Aber meist waren nur einige Landstriche von diesen Unruhen betroffen; im
grössten Teil des römischen Herrschaftsbereiches blieb der Friede erhalten. Die
seit Kaiser Augustus um die Zeitenwende geltende Pax Romana – eine
Gesetzessammlung, welches die Rechtsnormen für jeden einzelnen Bürger
enthielt – garantierte weitgehende Rechtsgleichheit und Schutz der von den
Griechen übernommenen Zivilisation. Die Sicherheit der See- und Landwege im
römischen Herrschaftsbereich war dadurch über mehrere Jahrhunderte
weitgehend gegeben, was die Wirtschaft stabilisierte und dem Verkehr und
Handel grosse Konstanz verlieh.
West- und Ostrom.
Im Jahre 330 machte Kaiser Konstantin I. die am
Bosporus gelegene Stadt Byzanz, vorwiegend aus aussenpolitischen Gründen,
zur Hauptstadt des römischen Reiches und taufte es in Konstantinopolis um. Das
heutige Istanbul trug diesen Namen bis 1930. Konstantin und seine Nachfolger
tolerierten das Christentum, Kaiser Theodosius I. machte es im Jahre 381 für
alle Reichsangehörigen verbindlich und erhielt dafür von der
Geschichtsschreibung das Attribut «der Grosse». 395 wurde das Reich unter die
beiden Söhne des Theodosius, Honorius und Arcadius, in eine West- und eine
Osthälfte geteilt. Im Oströmischen
Reich entwickelten sich nach und nach
die christlich-orientalischen Kirchen,
die wir heute unter dem Sammelbegriff
Orthodoxe Kirche kennen.
Kaiser Konstantin der Große, 272–337.
(Fresco von 1245)
Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt
Seite 31
Diese hatte aus ihren Anfängen an ein anderes Christus-Verständnis als die
Römische (katholische) Kirche; vor allem lehnte sie auch den
Jurisdiktionsprimat ab, der dem Papst die oberste und unfehlbare
Entscheidungsgewalt in Fragen des Glaubens einräumt. Das Byzantinische
Reich übernahm bruchlos eine aus der Spätantike stammende Kunst, deren
Einfluss auch nach Westeuropa vordrang (z.B. die Mosaiken in Ravenna). Es
musste sich aber auch Jahrhunderte hindurch gegen Vandalen, Ostgoten,
Awaren, Slawen, Araber und Seldschuken verteidigen. Trotzdem hatte es bis zur
Eroberung Konstantinopels 1453 durch die Osmanen Bestand. Die christlichorientalischen Kirchen haben den Kalten Krieg unseres Jahrhunderts überlebt
und erfahren gegenwärtig eine Renaissance in Bulgarien, Serbien und Russland
wie in Griechenland.
Das Weströmische Reich hingegen zerfiel: wegen der Einfälle der Germanen,
die 410 (Westgoten) und 455 (Vandalen) Rom plünderten, löste sich das Reich
unter wechselnden Kaisern rasch auf und endete 476 mit der Entthronung des
Romulus Augustus durch den germanischen Söldnerführer Odoaker.
«Jahrhunderte der Verdüsterung».
Nach dem Fall Roms begannen die
«Jahrhunderte der Verdüsterung». Wegelagerer bedrohten die Sicherheit der
Reisenden, die wissenschaftliche Neugier erstarb, und der Forschergeist, der
einst zur einigenden Kraft der Antike gehört hatte, verödete. In dieses Vakuum
strömte ein anderer, neuer Geist der «Welterforschung». Er ging von einer
neuen, immer mächtiger werdenden Institution aus und trieb die geistige
Entwicklung des Abendlandes in eine andere Richtung.
Das geistige Zentrum der mittelalterlichen Welt war die Römische Kirche. Sie
sah ihre Hauptaufgabe im Auftrage Christi. Dem Evangelium gehorchend
(«Gehet hinaus in alle Welt und lehret alle Völker»), sandte sie Missionare in
die entlegensten Gegenden der Welt, bekehrte Heiden zum Christentum und
machte Rom zum Sitz der Nachfolger Christi, der Päpste. Die Ewige Stadt
wurde zu einem neuen, anderen Zentrum der Welt! Aber für die Erweiterung des
geographischen Wissens war sie eher ein Hindernis. Die Vorstellung der Kirche
vom Antlitz der Erde wurde von der Bibel vorgegeben, daher wurden
Neuentdeckungen, die sakrosankte Glaubensgrundsätze in Frage stellten,
ignoriert.
Besonders Harz.
Doch die Kirche brauchte Weihrauch für ihre kultischen
Zeremonien. Venedig schaffte ihn aus Rhodos, Antiochia und Tyros herbei,
Genuas Handelsschiffe luden ihn in Famagusta auf Zypern, in Beirut und
Alexandria, Segelschiffe aus Venedig und Genua brachten ihn aus dem östlichen
Mittelmeer und den Handelsplätzen Nordafrikas in die Häfen Europas. Mit
Karawanen war er aus der Tiefe Arabiens dorthin gelangt; dort wuchs, dornig
und verkrüppelt, die Boswellia, der Weihrauchstrauch, dessen brennendes Harz
Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt
Seite 32
den betörenden Duft verbreitet. Man wusste von der «Weihrauchstrasse», dem
alten Handelsweg, der seit Menschengedenken vom Süden der arabischen
Halbinsel über mehrere Verzweigungen an die Küsten des Mittelmeeres führte.
Festhalten am alten Weltbild.
Eine dogmatische Weltschau, die sich auf
die Bibel berief, machte die in der Antike bereits als Kugel erkannte Erde nun
wieder zur Scheibe: im Alten Testament, aber auch in den Briefen des Apostel
Paulus, findet man Textstellen, die auf die Vorstellungen und Lehren der alten
Sumerer und Babylonier zurückgehen. Danach war die Erde eine Scheibe, die
auf dem Abgrund ruht und vom Urmeer umflossen ist. Auf dem Abgrund stehen
Säulen, die das Himmelsgewölbe tragen. Auf der Unterseite dieses Gewölbes
sind die Fixsterne befestigt; dort wandern auch die Sonne, der Mond sowie die
Planeten auf von Gott vorgegebenen Bahnen. Besondere Kammern im
Himmelsgewölbe
enthalten Vorräte von
Regenwasser, Schnee,
Hagel und Tau, die
von Zeit zu Zeit durch
spezielle Öffnungen
auf
die
Erde
herabfallen.
Hohe
Berge stossen gar am
Himmel an, wo sie
dann das Quellwasser
für
die
Flüsse
anzapfen.
Das heliozentrische Weltsystem des Nikolaus Kopernikus, bei dem die Sonne den Mittelpunkt
des Universums bildet
Dieses Weltbild wurde nun für die Kirche als göttliche Offenbarung zur
Lehrmeinung und durfte nicht angezweifelt werden. Aber die unstillbare
Neugier, der Drang zu forschen, zu wissen und darum zu entdecken, war zwar
mitunter gefährlich, schlief aber in Europa nie ganz ein. Selbst die Kirche trieb
die Erkundung nach Handelsmöglichkeiten mit fernen, fremden Ländern oft
genug selbst voran; aber das geschah mit grosser Verschwiegenheit, um das
gewöhnliche Volk nicht in Glaubenszweifel zu stürzen.
Die Suche führte zunächst über Land. Das war mühselig und reich an Gefahren.
Nach dem Scheitern der Kreuzzüge richtete sich die Neugier der forschenden
Geister allmählich nach Osten. Mönche bildeten die Vorhut für die Entdeckung
Asiens durch Europa. Die Pioniere der Entdeckungen, die zu Lande gegen Osten
zogen, mussten anpassungsfähig, sprachbegabt und freundlich sein. Zu zweit
Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt
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oder zu dritt wanderten sie zu Fuss den grossen Handelsstrassen entlang, die sie
zu ihrem Erstaunen überall antrafen. Sie schlossen sich den Karawanen an oder
wanderten einsam, ernährten sich aus dem Land, das sie gerade durchquerten,
und hatten viele zufällige Begegnungen.
Freund oder Feind?
Die Schwierigkeit ihrer Lebensweise lag darin, jede
Situation richtig abschätzen zu müssen. Lauerten in diesem Wald Räuber? Ist
dieser Gasthof sicher? Kann man das fremde Essen vertragen? Wird man von
den berittenen Patrouillen der fremden Herrscher als feindlich oder friedlich
eingestuft? Soll man sich wie die Einheimischen kleiden und sich auf diese
Weise tarnen oder sollte man sich durch die eigene Kleidung von vornherein als
Fremdling zu erkennen geben? Wie schnell kann man die fremde Sprache
erlernen und wann redet man akzentfrei wie die Eingeborenen? Werden wir ins
Stadttor eingelassen? Ob wir wohl jedermann von unserer friedlichen Absicht
überzeugen können? Das Reisen über Land war ein mühsames und gefahrvolles
Unterfangen. Es konnte Jahre dauern. Die Mönche oder Kaufleute mussten
unterwegs oftmals einen Beruf ausüben, um an das landesübliche
Zahlungsmittel zu kommen und die Sprache zu erlernen. Der Reisende konnte
reiten oder ein Maultier oder Kamel als Lasttier mitführen; er konnte eine
Strecke als Passagier zu Schiff zurücklegen: aber immer war er ein Fremder.
Nicht zufällig leitet sich das englische Wort «travel» für Reise von «travail» für
Arbeit ab.
Für die einfachen Leute – auch die einfachen Pfarrer und «Leutpriester» – war
die Erde nach wie vor eine Scheibe. Aber in den Archiven des Vatikans lagerten
die aus der Antike und Frühzeit geretteten Schriften und wissenschaftlichen
Werke; die Päpste, Kardinäle, ihre geistlich-wissenschaftlichen Berater, aber
auch manch weltlicher Herrscher (wie die Dogen von Venedig oder die Herzöge
von Florenz) liessen nicht nach, die Welt zu erforschen.
Die Kunde von «Cathay», dem geheimnisvollen Land im fernen Osten, war mit
den Luxusgütern nach Venedig, Genua und in den Vatikan gelangt; die reichen
Kaufleute haben von ihren maurischen (muslimischen) Handelspartnern der
Levante erfahren, dass diese kostbaren Waren – erotisch knisternde Seide,
kostbare Teppiche, verheissungsvoll glitzernde Diamanten und betörend
duftende Gewürze – auf zwei Haupthandelsstrassen ins Mittelmeer gelangten.
Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt
Seite 34
Der Verlauf der Seidenstrasse
Die erste begann in China und führte über Land durch Zentralasien nach Indien
und weiter bis nach Syrien und in den Libanon; das war die Seidenstrasse. Die
andere führte zuerst über Wasser, und zwar über das Südchinesische Meer und
den Indischen Ozean zur Arabischen See, dann entweder durch den Persischen
Golf nach Basra oder durch das Rote Meer nach Suez. Dann mussten die Waren
über Land transportiert werden, nach Palästina und Syrien, nach Antiochia,
Sidon und Beirut oder durch Ägypten nach Alexandria, Tripolis, Tunis oder
Cëuta. Und dieser zweite Weg war – wie die Weihrauchstrasse – eine Domäne
der maurischen Händler.
Die Weihrauchstrasse
Verkannte Mongolen.
Im
Fernen Osten hatte in der ersten
Hälfte des 11. Jahrhunderts –
unbemerkt von den Europäern –
der Mongolenfürst Dschingis
Khan mit seinen Reiterhorden
Peking erobert und die YuanDynastie
errichtet.
Die
Mongolen eroberten in der Folge
ganz Ostasien, wandten sich
Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt
Seite 35
dann nach Westen und drangen durch Russland bis nach Polen und Ungarn vor.
Als Kublai Khan 1259 den Mongolenthron bestieg, dehnte sich sein
Herrschaftsraum von China bis an die Donau, von Sibirien bis an den Persischen
Golf.
Einhundert Jahre hatte dieses Reich Bestand, und in dieser Zeit hiessen die
Khane westliche Kaufleute willkommen, hielten die Zölle niedrig und sicherten
die Karawanenstrassen vor Räubern. Weil sich das christliche Abendland aber
von den Mongolen bedroht fühlte, haben die Mongolenherrscher bei uns (und in
China) bis heute keinen guten Ruf; in Wahrheit waren sie fähige Regenten,
hatten militärisches Genie, persönlichen Mut und entwickelten neben
administrativer Vielseitigkeit eine grosse kulturelle Toleranz.
Der tatkräftige Papst Innozenz IV., der 1243 den Stuhl Petri bestiegen hatte,
organisierte bald darauf die Christenheit gegen die Gefahr eines weiteren
Tatarenvorstosses nach Mitteleuropa. Er berief das Konzil zu Lyon ein, um
«Mittel gegen die Tataren und andere Verächter des Glaubens Christi» zu
finden. Man beschloss, ein Verteidigungsheer aufzustellen, Mauern zu bauen,
Gräben auszuheben und Barrikaden zu errichten; zur Finanzierung wurden
Kontributionen erhoben.
Anderseits war dem Papst auch die verhältnismässig grosse Neugier des Khans
gegenüber dem Westen zu Ohren gekommen. Aber seinen richtigen Namen
kannte er nicht; man nannte ihn den «Grossen Khan». Weil die Mongolen auch
den grössten Feind der Christenheit, die Türken, niedergeworfen hatten, glaubte
Innozenz, die Mongolen vielleicht auf andere Art von einem Vorstoss nach
Westen abhalten zu können. Er wagte den Versuch, Kontakt zu dem
Mongolenherrscher aufzunehmen, vielleicht in der vagen Hoffnung, ihn gar zum
Christentum bekehren zu können.
Am Hof des Khan.
Noch nie war ein Europäer in die Tatarenhauptstadt
gelangt und zurückgekehrt, aber der Papst hatte eine sehr glückliche Hand bei
der Auswahl seines Gesandten: der Franziskaner Johannes von Pian de Carpine
(1180-1252), ein Gefährte des heiligen Franz von Assisi, erwies sich als der
beste Mann für diesen Auftrag. Johannes wurde von einem weiteren
Franziskaner begleitet, Bruder Benedikt der Pole. Die beiden reisten zu Fuss und
zu Pferd quer durch Osteuropa und Mittelasien, trotzten den eisigen Stürmen
und der Kälte der Hochsteppen, quälten sich durch den Tiefschnee des
Altaigebirges und dürsteten in der Hitze der Wüste Gobi. Der dreissigseitige
Bericht des Johannes von Pian über die zwei Jahre dauernde Reise ist noch
heute eine gut beobachtete Beschreibung des Tatarenreiches:
«Und dann kamen wir, nachdem wir durch die Gnade Gottes vor den Feinden
des Kreuzes Christi gerettet worden waren, nach Kiew, der Hauptstadt von
Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt
Seite 36
Russland. Nach unserem Eintreffen holten wir uns dort Rat über unseren
Reiseweg. Man sagte uns, dass unsere Pferde auf dem Weg in die Tatarei alle
verenden würden, weil der Schnee hoch lag, denn sie wüssten nicht das Gras
unter dem Schnee auszugraben, wie die Tatarenpferde. Etwas anderes würden
wir unterwegs nicht für unsere Tiere zu fressen finden, und die Tataren hätten
weder Stroh noch Heu noch Futter. So beschlossen wir, unsere Pferde
dazulassen. (...) Ich war krank und dem Tode nahe; wir konnten uns ein Stück
weit noch einer Karawane anschliessen, und um der Sache der Christenheit nicht
zu schaden, liess ich mich in der starken Kälte durch den tiefen Schnee in einem
Schlitten mitschleppen.»
Johannes verhehlte nirgends das Ziel seiner Reise; oft schmeichelte er seinen
manchmal widerwilligen Gastgebern Führer und Pferde ab, um schneller
voranzukommen. Sie vernahmen, dass der Mongolenkaiser gestorben war und
ein neuer gewählt werden sollte. Dann hörten sie von einem Stammesfürsten mit
Namen Kuyuk Khan, dessen Hauptlager damals im Karakorum im Zentrum der
Mongolei gelegen war. Johannes und Benedikt trafen eine geschichtlich richtige
Entscheidung: sie würden Kuyuk Khan aufsuchen!
Ihr Besuch bei diesem Mongolenfürsten sollte das Bild, das sich die westliche
Welt vom Osten machte, geraderücken. Den Weg von der Wolga bis zu Kuyuk
Khans Quartier schafften die mutigen Brüder in dreieinhalb Monaten. Als sie
dort im August ankamen, waren gerade zweitausend Häuptlinge versammelt, die
ihren neuen Kaiser gewählt hatten. In einem Zelt «mit Goldplatten und goldenen
Nägeln beschlagen» hielt Kuyuk Khan, der neue Herrscher, seine erste Audienz:
«Sie fragten uns, ob wir unsere Geschenke übergeben wollten; aber wir hatten
bereits alles verbraucht und konnten dem Kaiser nichts geben. Da liess uns der
Khan warten. Auf einem Hügel in der Nähe standen wohl fünfhundert Karren,
alle voller Gold, Silber und Seidengewänder. Das alles wurde zwischen dem
Kaiser und den Häuptlingen aufgeteilt, und die Häuptlinge gaben auch ihren
Männern einen reichen Anteil.
Dann wurden wir wieder vorgelassen, um die Botschaft unseres Heiligen Vaters
zu überbringen, die da lautete: Alle Christen sind Freunde der Tataren. Damit
die Tataren mit der Macht Gottes im Bunde seien, müssten sie den christlichen
Glauben unseres Herrn Jesu Christi annehmen. Der Papst sei betrübt, dass die
Tataren so viel Christen erschlagen haben, die ihnen nichts getan haben, und er
dränge sie zur Busse und bat sie, ihm zu schreiben, was sie in diesen Dingen tun
wollen.»
Die Naivität des Papstes liess den Grosskhan unwillig werden, doch die beiden
sonderbaren Reisenden genossen seine Gastfreundschaft, und die war heilig. So
blieb Kuyuk Khan gnädig und gab Bruder Johannes zwei Briefe an den Papst
mit, in denen er erklärte, dass er und seine Leute nicht bereit seien, den
Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt
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christlichen Glauben anzunehmen. Dann schlug er vor, den Franziskanern einen
eigenen Botschafter für den Papst mitzugeben, «aber wir fürchteten, dass sie
unsere Kräfte erkundigen wollten, was sie ermutigen könne, gegen uns zu
marschieren. Nur mit grosser List konnten wir den Khan von diesem Plane
abhalten.»
So gab Kuyuk Khan am 13. November 1246 Bruder Johannes und seinem
Gefährten die Erlaubnis zur Abreise. Er hatte sie mit Schutzbriefen ausgestattet,
und so gelangten sie im Herbst 1247, ein Jahr nach ihrer Abreise aus dem
Karakorum, wohlbehalten wieder in Rom ein. Johannes erstattete Papst
Innozenz IV. persönlich Bericht und verfasste danach seine schriftlichen
Aufzeichnungen. Die beiden Ordensmänner waren die ersten Augenzeugen
mongolischer Wesensart.
Die Gefahren der Landwege (II)
Marco Polos Reise nach China
Enttäuschungen …
1248 überwinterte der französische
König Ludwig IX. während des siebenten (letzten) Kreuzzugs
auf Zypern. Dort traf fast gleichzeitig ein asiatisch aussehender Mann ein, der
sich als Botschafter des Khans ausgab. Er berichtete, der Grosskhan sei zum
Christentum übergetreten und begierig auf ein Bündnis gegen den Islam. Der
König entsandte aufgrund dieser frohen Botschaft sofort den Dominikanerbruder
Andreas von Longumeau zum Khan, der das Hauptlager nach langer Reise auch
wohlbehalten erreichte, aber eine herbe Enttäuschung erlebte: Kuyuk Khan war
gestorben, die Regentin Ogul Gaimish behandelte ihn hochmütig und schickte
ihn schliesslich mit einem unhöflichen Brief nach Europa zurück. Darin drohte
sie, ihre Krieger wieder westwärts reiten zu lassen, aber weder sie noch der
Papst noch König Ludwig wussten damals, dass die mongolische Expansion
bereits ihren äussersten westlichen Punkt erreicht hatte.
Bruder Andreas hatte in Erfahrung gebracht, dass die Mongolen ursprünglich
vom entgegengesetzten Ende einer grossen Sandwüste stammten, die am
östlichen Ende der Welt beginne und von einer Mauer (der Grossen Mauer?)
abgeschlossen sei. Fünf Jahre später starb Ogul Gaimish am Fieber; die
folgenden Machtkämpfe scheinen Europa abermals gerettet zu haben. Es dauerte
fünf Jahre, bis sich Kublai Khan, der Enkel Dschingis Khans, als Grosskhan
durchsetzen konnte, doch dann hatte er die mongolische Herrschaft auf ganz
China und auf Hinterindien ausgedehnt. Kublai Khan verlegte die Hauptstadt
nach Peking und nannte die Stadt Kambaluk, «Stadt des Herrn». Er selbst nahm
als chinesischer Kaiser den namen Shi Tsu an. Sein Hof und das gewaltige
Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt
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Reich, das er von dort aus regierte, sollte von einem der grössten
Entdeckungsreisenden des Mittelalters beschrieben werden, von Marco Polo.
«Kein Mensch»
... so beginnt Marco Polos Bericht stolz, «weder Christ
noch Heide, weder Tatar noch Inder, noch Angehöriger irgendeiner anderen
Rasse (...) hat so viele Erdteile besucht und erkundet, und das ist gewisslich
wahr.» Marco Polo reiste auf dem Landwege nach China und kehrte auf dem
Seewege nach Europa zurück. Siebzehn Jahre verbrachte er dazwischen am
Mongolenhof und reiste in dieser Zeit, meist im Auftrage des Kaisers, ausgiebig
in Kublai Khans Reich umher. 1298, drei Jahre nach seiner Heimkehr, geriet
Polo bei kriegerischen Auseinandersetzungen seiner Heimatstadt Venedig mit
Genua in genuesische Gefangenschaft. Hier diktierte er einem Mitgefangenen,
dem Schriftsteller Rustichello aus Pisa, sein berühmtes und noch heute
unterhaltsames Buch. Dabei hat wohl Marco Polo die Informationen und
Rustichello die schriftstellerische Phantasie beigesteuert. Einige Angaben von
der Reise, die Marco Polo von anderen erhielt, sind nicht immer genau, andere
gar falsch. Marco Polo hat auch vieles aufgeschrieben, was man ihm berichtet
hat. Deshalb hat man ihn oft der Unwahrheit beschuldigt. Aber Marco Polo war
ein scharfer Beobachter; heute weiss man, dass das, was er sah und selber
erlebte, sachlich und genau beschrieben ist. Obwohl einzelne Historiker
aufgrund von falschen Angaben und vermeintlichen Ungereimtheiten in den
Reiseberichten immer wieder Zweifel geäußert haben, ob die Reise überhaupt
stattgefunden hat, wird diese von den meisten Geschichtskennern als erwiesen
angesehen. Das Buch war wohl der erste Bestseller überhaupt; wenige Jahre
nach seinem Erscheinen war es in ganz Europa bekannt und eröffnete dem
europäischen Publikum des 14. Jahrhunderts eine völlig neue Welt. Europa, das
seit der Spätantike durch die unüberwindliche Schranke der islamischen Reiche
von China abgeschnitten war, trat erstmals wieder in Kontakt mit der
Zivilisation des Ferner Ostens.
Zufälle.
Marco Polo wurde um 1254 in
Venedig geboren (Abb.). Andere Quellen
behaupten, er stamme von der Insel Korcula in
Dalmatien, die damals im Besitz Venedigs war.
Er war noch ein Kind, als sein Vater Nicolo und
sein Onkel Maffeo eine Handelsreise nach
Konstantinopel und zum Schwarzmeerhafen
Sudak beschlossen. Dort gab es eine kleine
venezianische Kolonie, wo sie von einem
Mongolenfürsten namens Barka Khan in der
Stadt Sarai an der Wolga hörten, der dem
Handel mit westlichen Kaufleuten nicht
abgeneigt sei. Nicolo und Maffeo Polo reisten
also dort hin und wurden wohlwollend und
Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt
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ehrenvoll aufgenommen. Barkai Khan war ein Sohn des verstorbenen Dschingis
Khan! Da brach zwischen Barkai Khan und einem rivalisierenden
Mongolenfürst ein Krieg aus; den Polos war der Rückweg nach Venedig
abgeschnitten. Sie beschlossen, auf Umwegen zurückzukehren. So reisten sie
zunächst nach Buchara, wo sich gerade ein Gesandter des Grosskhans aufhielt.
Er lud Nicolo und Maffeo ein, ihn zu
begleiten und dem regierenden
Herrscher Kublai Khan einen Besuch
abzustatten; er werde die Kaufleute
aus dem Westen schützen. Die Polo
nahmen die Einladung an und
erreichten nach einer einjährigen
Reise, «auf der sie viele Wunder
verschiedener und merkwürdiger
Art» erlebten, den Hof von Kublai
Khan.
Öl aus Jerusalem.
Der Grosskhan erwies sich als ein sehr aufgeschlossener
und umfassend neugieriger Mann, der begierig alles über das Abendland
erfahren wollte. Kublai Khan war von konfuzianischen Gelehrten erzogen
worden und vereinigte in sich die besten Traditionen chinesischer Kultur. Bevor
die Mongolen China erobert hatten, galten sie bei den Chinesen als Barbaren,
aber ihre Herrscher waren einsichtig genug, die Jahrtausende alte Kultur Chinas
anzuerkennen. Sie waren wohl die einzigen Eroberer, die dem militärisch
unterlegenen, aber kulturell überlegenen Gegner nicht ihre eigene Lebensart
aufzwangen, sondern im Gegenteil die eher unzivilisierten nomadisierenden
Mongolen dem Einfluss Chinas aussetzten und nacheiferten.
Schliesslich bat er die beiden Brüder, als seine Gesandten an den Papst
zurückzureisen. In einem Schreiben bat er um einhundert Missionare, die in den
Sieben Künsten (Grammatik, Rhetorik, Dialektik, Arithmetik, Geometrie,
Astronomie und Musik) geschult sein sollten, um seine Gelehrten über das
Christentum und das Abendland in Kenntnis zu setzen. Hier zeigt sich die
wissenschaftliche Neugier des Herrschers, denn von einer Bekehrung war
wohlgemerkt nicht die Rede. Auch wolle er etwas Öl aus der Lampe vom
Heiligen Grabe in Jerusalem.
Als die Polo abreisten, hatten sie die «Goldenen Tafeln des Khans» bei sich,
Urkunden, die für sicheres Geleit sorgten (Abb.). Aber als sie 1269 Venedig
wieder wohlbehalten erreichten, erfuhren sie, dass Papst Clemens IV. gestorben
war. Die Wahl eines neuen Papstes zog sich endlos hin; die Christenheit
verpasste dadurch vielleicht eine grosse Chance! Als zwei Jahre später noch
immer kein neuer Papst gewählt war, beschlossen die Brüder, unverzüglich nach
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China zurückzukehren. Diesmal nahmen sie Nicolos Sohn Marco mit. In
Palästina erfuhren sie, dass der päpstliche Legat Tedaldo, der sich auch gerade
in Palästina aufhielt, als Gregor X. zum Papst gewählt worden war. Der neue
Papst erteilte ihnen den Segen und kam Kublais Wunsch nach hundert
christlichen Gelehrten durch die Delegation von zwei Klosterbrüdern entgegen.
Keiner der beiden überlebte die Strapazen der Reise, doch konnten die Polo
wenigstens das heilige Öl überbringen.
Reise auf das «Dach der Welt»
Marco Polo war bei der Abreise
vierzehn Jahre alt. Von Palästina ging die Reise zunächst nach Hormus am
Persischen Golf. Sein Bericht hält schon hier die erste Verlockung fest, die noch
einhundertvierzig Jahre später Prinz Heinrich den Seefahrer zu seinen grossen
Entdeckungsplänen beflügelt haben mochten: «Der Hafen wird von Händlern
aus allen Gegenden Indiens aufgesucht, die Gewürze und Spezereien, edle
Steine, Perlen, Gold und Seide, Elfenbein und viele andere Waren aus den
entfernten Ländern des Ostens mitbringen. Von hier aus nehmen sie auch den
Weg nach Europa.» Die Reisenden wandten sich dann nordwärts durch die
persische Kerman-Wüste und in die kalten Berge von Badakhshan. Sie blieben
dort ein Jahr, damit sich Marco in der reinen Bergluft von einer Krankheit
erholen konnte, und handelten Rubine und Lapislazuli ein. «Es tummeln sich
dort wilde Pferde», berichtet Marco Polo, «die von Alexanders berühmten
,Bukephalas' (seinem Lieblingspferd) abstammen; alle tragen sie ein Mal auf der
Stirn.» Dann ging es noch höher, durch ein Land mit Gletschern und vielen
Gipfeln von mehr als siebentausend Metern Höhe: das Hochland von Pamir, von
den Einheimischen als «Dach der Welt» bezeichnet.
«So gross ist die Höhe der Berge, dass keine Vögel in der Nähe ihrer Gipfel zu
sehen sind, und uns wurde versichert, dass wegen der Schärfe der Luft Feuer,
die angezündet werden, nicht dieselbe Hitze geben wie in niedrigeren Gegenden
und auch nicht so kräftig bei der Zubereitung der Speisen wirken.» – Marco
Polos Bericht geht unterwegs auf viele Einzelheiten ein, zum Beispiel die
Naturprodukte der Regionen und die Grundlagen des Lebensunterhaltes der
Einwohner, ihre Sitten, Religion und Gebräuche. Sie zogen weiter auf der alten
südlichen Karawanenstrasse durch Kaschmir, wohin bis zum 19. Jahrhundert
kein Europäer mehr gelangen sollte (Abb. nächste Seite), dann nach Osten nach
Lop am Rande der Wüste Gobi.
Gesandter des Khans.
Sie
ruhten eine Woche aus und
kauften, bevor sie die Wüste
durchquerten, Vorräte ein, denn
«auf diesem Wege trifft man keine
vierfüssigen Tiere und keinen
Vogel, weil kein Futter zu finden
Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt
Seite 41
ist». Nach der Wüstendurchquerung erreichten sie Tangut an der Nordwestspitze
Chinas, reisten – von Kurieren des Kaisers beschützt – sicher durch die
mongolischen Steppen und gelangten nach dreieinhalb Jahren an den Hof des
Grosskhans.
Marco staunte über die Grösse des kaiserlichen Palastes, der von 7½ Meter
hohen weissen Steinmauern umgeben war, über die grünen Palastgärten und die
prachtvoll gekleideten Adligen. Kublai Khan empfing die Europäer herzlich und
wiederum mit grossen Ehren. Nicolo stellte den inzwischen achtzehnjährigen
Marco mit den Worten «Mein Sohn und Euer Gefolgsmann» vor. Kublai Khan
unterhielt sich mit Hilfe eines Dolmetschers mit dem jungen Marco; er spürte
dessen Begabung, teilte ihm einen Sprachlehrer zu und prüfte ihn, indem er ihm
verzwickte Aufgaben stellte. Marco Polo gewann bald das Vertrauen des
Herrschers, besonders durch sein diplomatisches Geschick und seine Art, die
Welt zu sehen und zu beschreiben. Der Khan sagte einmal zu einem seiner
mächtigen Berater, es scheine ihm, dass nur Marco Polo gelernt habe, seine
Augen zu gebrauchen. Marco hingegen verehrte den Khan und wurde sein treuer
Diener. Marco wurde bald als Botschafter in die entfernteren Provinzen gesandt,
wo er diplomatische – und wie es scheint auch delikate – Aufgaben zur
Zufriedenheit des Khans erledigte.
Manchmal reiste er auch in eigenen Angelegenheiten, aber immer mit der
Zustimmung des Grosskhans. Er lernte die unterschiedlichen Sitten und
Gebräuche kennen. Die Mongolen tolerierten, wie schon gesagt, die Traditionen
der unterworfenen Völker; Marco Polo hatte nun Gelegenheit, diese Völker
selbst zu besuchen und zu beschreiben. Auf seinen Reisen gelangte er südwärts
bis nach Hang-Tschou und weit landeinwärts nach Burma und Indien. HangTschou war nach Marco Polos Worten «die prächtigste und schönste Stadt der
Welt», ein aufstrebendes Handelszentrum, auf dessen Märkten alles verkauft
wurde, «was das Herz sich nur wünschen konnte». In Maabar an der
Koromandelküste im Osten Indiens befindet sich «die Heimat der Yogis, einer
Glaubensgemeinschaft, die sehr enthaltsam leben, das Jahr herum fasten und nie
etwas anderes als Wasser trinken»; nachts schliefen sie nackt ohne Decke auf
dem Boden! In Tibet wiederum benutzten die Reisenden nachts das
hochgewachsene Rohrholz zur Feuerung, weil es beim Verbrennen knallende
Laute abgab, die geeignet waren, wilde Tiere zu erschrecken und abzuhalten.
Die Tibeter haben die Sitte, keine Jungfrau zur Frau zu nehmen; im Gegenteil,
der Wert der Frau steige mit ihrer Anzahl Liebhaber. «Ein herrliches Land für
einen Vierundzwanzigjährigen» fügte Marco Polo vielsagend an.
An anderer Stelle seines Berichts beschreibt er die Verwendung der Steinkohle:
«An vielen Orten im Lande Cathai findet sich ein schwarzer Stein, den man aus
den Bergen gräbt. Wenn man ihn anzündet, brennt er wie Holzkohle, erhält das
Feuer aber weit besser als diese, so dass es die ganze Nacht erhalten werden
kann.» Er lobt den Erfindergeist der Chinesen, erwähnt das Schiesspulver, den
Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt
Seite 42
Kompass, die Druckerkunst, die Teehäuser und war vom freien Handel im
Lande Kublai Khans beeindruckt: «Die Chinesen gebrauchen bedrucktes Papier,
das eine bestimmte Menge Goldes symbolisiert, was praktisch ist, da der Kaiser
den Gegenwert garantiert. Sie haben grosse Mengen roher Seide und verarbeiten
sie
nicht nur für ihren eigenen Gebrauch, sondern auch für andere Märkte. (...) Die
Marktplätze haben sehr grosse Ausdehnungen, weil sie eine ungeheure
Menschenmenge aufnehmen müssen. An drei Tagen der Woche versammeln
sich auf jedem der Plätze bis zu fünfzigtausend Menschen, um sich mit
jeglichem Vorrat zu versehen. Es gibt viel Wild, wie Rehböcke, Hirsche, Hasen
und Kaninchen, Rebhühner, Fasanen und Wachteln sowie eine Unmenge von
Enten und Gänsen. (...) Sie haben dort auch Schlachthäuser, wo das Vieh
geschlachtet wird, wie Ochsen, Kälber, Böcke und Lämmer. (...) Die Märkte
sind von Kaufläden umgeben, wo alle Arten von Waren gelagert und verkauft
werden, unter anderem Spezereien, Gewürze, Tand aller Art und Perlen.»
Endlich nach Hause.
Von Nicolo und Maffeo Polo wissen wir nicht viel
aus jener Zeit; sicher hatten sie gewisse Freiheiten, denn sie haben «grosse
Reichtümer an Juwelen und Gold erworben». Aber sie durften das Land nicht
verlassen, «so oft sie den Kaiser auch darum baten. Er hatte sie liebgewonnen
und genoss so sehr ihre Gesellschaft, dass ihn nichts dazu bewegen konnte, sie
des Weges ziehen zu lassen.» Als jedoch 1292 die Mongolenprinzessin
Kokachin mit dem Khan von Persien verheiratet werden sollte, war ein Geleit
für eine Seereise zusammenzustellen.
Gesandte des Persischen Herrschers
hatten es bereits auf dem Landweg
versucht,
mussten
aber
wegen
kriegerischer Unruhen umkehren. Den
Polos gelang es, als Teil des Gefolges
die Erlaubnis zur Abreise zu erhalten,
weil der persische Gesandte den guten
Ruf der Venezianer
als Seefahrer
kannte. Kublai Khan rüstete vierzehn
Schiffe mit einem Gefolge von
sechshundert Personen und Vorräte für
zwei Jahre aus, gab den Polos wiederum
die «Goldenen Tafeln» mit, die sicheres
Geleit garantierten. Danach schifften sie
sich in Zaitun ein (Abb.).
Nach einer nicht ungefährlichen
Seereise durch das Südchinesische Meer
nach Sumatra, Ceylon, Kalikut über den
Indischen Ozean zum Hafen Hormuz
Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt
Seite 43
konnte die Prinzessin unversehrt in Persien abgeliefert werden. Die Polo
verweilten noch einige Zeit als Gäste am Hofe des persischen Herrschers, als sie
eine schlimme Nachricht erreichte. Ihr grosser Freund und Beschützer Kublai
Khan war gestorben. Ihre Mission, ein bleibendes Band zwischen Europa und
China zu knüpfen, sollte nur hundert Jahre Bestand haben. So reisten sie nach
Konstantinopel ab. Prinzessin Kokachin hatte sich so sehr an die Venezianer
gewöhnt, dass sie beim Abschied weinte.
Den letzten Teil der Reise haben die Polo wieder zur See zurückgelegt: von
Konstantinopel ging es die griechische Küste entlang und durch die Adria nach
Venedig.
Nach vierundzwanzig Jahren Abwesenheit gelangten Nicolo, Maffeo und Marco
Polo wieder nach Hause. Marco Polos Buch war schon kurz nach seinem
Erscheinen eine Sensation! Für die im 13. und 14. Jahrhundert geltenden
Massstäbe fand es schnelle Verbreitung, und bald war es an allen Zentren des
gebildeten Abendlandes bekannt. Zwar gab es eine ganze Reihe einflussreicher
Stimmen, die ihm nicht glaubten, sondern als Phantasten und Grossmaul
verhöhnten, aber grossmütigere und sachlichere Geister waren fasziniert von
dem, was Marco Polo beschrieb: von den schachbrettartig angelegten Städten
Chinas und den grosszügigen Palästen, von der Papierherstellung und dem
Papiergeld, von der Perlen- und Seidenindustrie, von der gewaltigen Flotte
seetüchtiger Schiffe, von der merkwürdigen Heilkunst, bei der silberne und
goldene Nadeln in die Haut gestochen werden, und von den vielen im
Abendland bis dahin unbekannten Erfindungen (wie Seismographen und
Entfernungsmesswagen). Sie liessen Polos Bericht überprüfen, indem sie
Missionare und Händler über die Seidenstrasse in den Osten schickten. Die
Mongolenkaiser sicherten die Wege und schützten die Reisenden, hundert Jahre
lang blühte der Handel auf dem vieltausend Kilometer langen Weg. Aber die
Reise war langwierig, man musste in abgelegenen Orten überwintern, denn die
Unbilden der Witterung, Schnee, Stürme und grosse Kälte machten im Winter
das Reisen unmöglich. Der Länge der Reise – und damit der Kosten – entsprach
auch die Verteuerung, die die Warenpreise dabei erfuhren. Als dann in der
zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts die Kaiser der Ming-Dynasie (1368-1644)
China aus der Mongolenherrschaft zurückeroberten, war Europa wieder von den
Ländern des Ostens abgeschnitten, in denen Marco Polo so lange gelebt hatte.
Die Geschichte erlaubt sich manchmal merkwürdige Kapriolen: Wären Marco
Polo und Rustichello nicht im genuesischen Kerker zusammengetroffen, hätte
die Nachwelt vielleicht kaum etwas vom Reich des Kublai Khan erfahren.
Kolumbus' Vision vom westlichen Seeweg nach Indien ist nachweislich stark
von Marco Polo beeinflusst worden; besonders die grosse Ausdehnung Asiens
nach Osten hat ihn in der Annahme bestärkt, der Atlantik sei nur ein schmales
Gewässer und dahinter läge die Ostspitze Asiens. Das Buch Marco Polos aber
regte auch die Einbildungskraft Heinrich des Seefahrers, Vasco da Gamas und
anderer an, diese Länder nach Osten über das Meer zu suchen. Ein Satz Marco
Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt
Seite 44
Polos mag sie dazu besonders ermuntert haben: «Was ich geschrieben habe, ist
nicht die Hälfte von dem, was ich gesehen habe.»
Die kartographische Erfassung der Erde
Land- und Seekarten – Symbole territorialer Machtansprüche
Geographische Karten beeinflussten seit jeher das politische, wirtschaftliche
und soziale Handeln. Soweit geschriebene Geschichte zurückreicht, Karten
waren nicht nur Abbildungen der Erdoberfläche, sondern auch Ausdruck für das
gerade geltende Weltbild der Gesellschaft. Heutige Landkarten kennen keine
unbekannten Gefilde mehr; es gibt keine weissen Flecken, keine Geheimnisse –
nichts, was es zu entdecken, zu erobern gäbe. Wie aber hat es einmal
angefangen, mit der rätselhaften Macht der Karten?
Nil – Beherrscher Ägyptens. Um das gültige, das richtige Bild der Erde wurde
ein Jahrtausende langer Kampf geführt. Von den ahnungsvollen Abbildungen
der Welt im Altertum über die phantasievollen Darstellungen des Mittelalters bis
zur metergenauen Vermessung der Erde in der Jetztzeit war ein weiter Weg zu
gehen, voller Abenteuer und Intrigen. Er mag im Nahen Osten vor 5000 Jahren
begonnen haben. Damals beherrschte der Nil Ägyptens Leben; im alten Ägypten
hing das Wohl der Menschen von der jährlichen Überschwemmung ab; eine
Folge der tropischen Niederschlägen in den weit im unbekannten Süden
liegenden Bergen Innerafrikas.
Die Nilfluten brachten das Leben auf die Welt, oft genug auch den Tod. Die
Existenz der Bauern hing vom Wasserstand ab. So wurde er sorgsam Jahr für
Jahr am steinernen Nilometer registriert: war der Wasserstand zu niedrig,
konnten die Felder nicht überflutet und mit dem fruchtbaren Schlamm bedeckt
werden; alles verdorrte. War er zu hoch, dann ertrank das Korn. Mit seinen
Hochfluten wusch der Nil auch jeweils die Ackergrenzen hinweg. Beamten der
Regierung zogen die Grenzen immer wieder neu; sie spannten Taue zwischen
feststehende Steine und hatten so auch die Kontrolle über die dem Pharao
zustehenden Abgaben. Äcker konnte der Mensch sehen und daher auch
begreifen, aber die Welt in ihrer Unermesslichkeit liess sich nur im ewigen
Rhythmus der Gottheit erfassen.
Die Sonne im Feuerboot. Nut war im alten Ägypten die göttliche Mutter, die
nachts die Sonne, ihr Kind, schluckte, um sie am Morgen neu zu gebären.
Manche Menschen sahen die Sonne in einem feurigen Boot über den Himmel
reisen, andere glaubten an den riesigen Skarabäus, der die Sonnenkugel vor sich
herrollt. Den Ägyptern strahlte die Sonne von einem Himmel, der von vier
Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt
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riesigen Türmen an den Ecken der flachen, rechtwinkligen Erde getragen wurde,
und ein flacher Teller war die Erde in den Augen der Babylonier. In Babylon
beobachteten Sterndeuter auf hohen Türmen, den Zikkuraten, den Himmel und
befragten ihn nach dem Schicksal der Menschen. Babylon ist wohl der Ort, an
dem die Sterne einen überirdischen Sinn erhielten; babylonische Astronomie
war wahrscheinlich die Wiege allen Sternenwissens.
Die Griechen statteten ihre Götter mit menschlichen Zügen und Schwächen aus
und bauten ihnen herrliche Tempel, doch die Erklärung der Welt überliessen sie
den Naturbeobachtern und Philosophen. Europas moderne Wissenschaft hat ihre
Wurzeln in Kleinasien, wo sie im 6. Jahrhundert vor der Zeitrechnung in Milet
geboren wurde. Milet war vor zweieinhalbtausend Jahren eine reiche
Handelsmetropole mit Hafen und Karawansereien. Hier lebten die Männer, die
zum Erstenmal versuchten, die Erde verstandesgemäss zu erklären. Bevor ein
Schiff in See ging, betete man zu den Göttern und brachte ihnen Opfer, auch
Menschenopfer, dar.
Die allererste Karte. Mit Männern wie Thales, Anaximander und Archimedes
begann das Studium der realen Welt. Thales lehrte die Seeleute, den Polarstern
im Norden zu suchen und Anaximander hat die allererste Karte gezeichnet.
Beim Versuch, die Welt zu begreifen, gab es manchen Trugschluss: Thales sah
die Welt als Floss auf dem Meer schwimmen; Anaximander stellte sie sich wie
einen in der Luft aufgehängten Zylinder vor, die durch eine riesige
Wirbelbewegung aus dem «Unbegrenzten» entstanden ist. Doch ihre Antworten
sind nicht so wichtig; was allein zählt, sind die Fragen, die sie sich stellten. Und
diese lauteten: Woraus besteht die Welt, wie sieht sie aus? Von Menschen, die
kaum mehr kannten als das Mittelmeer und Kleinasien, war das kaum zu
beantworten. Von den Zikkuraten der Babylonier über die ägyptischen
Pyramiden bis zu den Campanilen Italiens und den Wolkenkratzern New Yorks
– immer wollten die Menschen in die Höhe klettern und von oben auf die
«Welt» niederschauen.
«Sphärenmusik». Die Griechen gingen eigene Wege, um dem Geheimnis
näherzukommen. Um 500 v. Chr. gab der griechische Philosoph Pytagoras dem
Universum eine erste Einordnung. So wie die Länge der Saite an einer Harfe die
Höhe des Tons bestimmt, so regeln musikalische Intervalle das pythagoreische
Universum: Im Zentrum schwebt die Erde als Kugel, sie wird von
Himmelskörpern umkreist; ein Halbton unterscheidet die Erde vom Mond, ein
weiterer Ton von Merkur und so fortlaufend über die Planeten, die Sonne und
die Sterne. Ihre Umdrehungen erzeugten ein konstantes, harmonisches Summen:
die Harmonie der Sphären. Die Anschauung von der Sphärenmusik hielt sich bis
in die Neuzeit; noch Goethe verwendet das Bild im Prolog zu «Faust». Die
geniale Idee des Pythagoras ermöglicht tatsächlich die Darstellung eines
Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt
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Modells unseres Planetensystems, in dem die Höhe eines Tons die Distanz zur
Erde bemisst.
Die Idee von der Erde als Kugel ist intuitiv und sehr alt. Wir sehen Sterne, die
um den Pol kreisen und nie unter dem Horizont verschwinden (Abb.nächste
Seite); sie heissen daher «Zirkumpolarsterne» (d.h. «um den Pol kreisende
Sterne»). Man erkennt, dass diese Sterne, Kreisbögen zeichnen. Wenn alle
Sterne sich so verhalten, auch die auf- und untergehenden, müssen sie eine
Kugel bilden, deren Innenseite wir sehen.
Man kann sich also leicht vorstellen, dass die Kugel die Form des
«Sternenzelts» am Himmel wiedergibt. Daraus kann geschlossen werden: Wenn
das Universum eine Kugel ist, muss die Erde in ihrem Zentrum die Gestalt einer
Kugel haben! Und die Griechen beobachteten denn auch bei einer
Mondfinsternis den gebogenen Schatten der Erde.
Links: Zirkumpolarsterne
Nachdem die Griechen nun die
Kugelgestalt der Erde bestätigt
gefunden haben, wurden sie von der
Frage beunruhigt: Was ist auf der
Erde? Welche Länder gibt es, welche
Meere? Man musste Reisende und
Händler
befragen
und
deren
Erzählungen und Beobachtungen zu
einem Bild zusammenfügen.
Die Bibliothek von Alexandria. Alexandria, die reiche Stadt am Mittelmeer,
wurde zu einem Sammelplatz vielfältiger Informationen. Bilder und Statuen in
den Katakomben deuteten auf einen Schmelztiegel antiker Kulturen hin. Da
konnte man einen römischen Krieger auf einem ägyptisch gekleideten
Unterkörper neben Vasen griechischen Ursprungs und Modelle von
Totenschiffen aus Innerägypten sehen. Die berühmte Bibliothek mit ihren
500'000 Schriftrollen war ein unschätzbarer Hort der Literatur und des Wissens
der antiken Welt. Die unterirdischen Gewölbe mit ihren Wandnischen, in denen
einst die Pergamente deponiert waren, sind noch heute zu besichtigen.
Aber fast alle dieser kostbaren Manuskripte sind verbrannt. 48 v. Chr., als Cäsar
im Alexandrinischen Krieg Cleopatra zur Herrscherin über Ägypten machte,
brannte die Bibliothek zum erstenmal. Unruhen in den Jahren 270 und 390
zogen die Bibliothek wiederum in Mitleidenschaft. Ein kleiner Teil der Bestände
Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt
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wurde darauf durch Justinian I. nach Konstantinopel gebracht, aber der
bedeutsame Rest zerfiel im Jahr 642 bei der arabischen Eroberung endgültig zu
Asche.
Doch der Ruhm zweier Männer, die hier einst wirkten, wird nie vergehen. Der
eine war der Bibliothekar Eratosthenes, dem es gelang, nur durch eine logische
Winkelbeobachtung den Umfang der Erde fast genau zu berechnen. Der zweite
war der Gelehrte Claudius Ptolemäus. Sein Hauptwerk trägt den Namen
«Geographie». Karten, die später danach gezeichnet wurden, zeigen das
grossartige, für seine gewöhnlichen Zeitgenossen fast unverständliche Weltbild
des Ptolemäus. Europa und das Mittelmeer, Spanien, Portugal und Italien sind
darauf schon präzise umrissen.
Wo sind die Quellen des Nils? An den Rändern nimmt die Genauigkeit ab,
Britannien und das östlich davon liegende Schottland sind noch zu erkennen
(Abb. unten). Ptolemäus legte als erster ein Gitternetz über seine Karten, die
sich in Nordsüd- und Ostwestrichtung schnitten: die Längen- und Breitengrade.
Die Lage der Nilquellen allerdings konnte Ptolemäus nur schätzen, denn
niemand war so weit nach Innerafrika vorgedrungen. Er glaubte sie bei den
«Mondbergen»; Forscher wie Livingston und Stanley suchten sie noch vor
hundertzwanzig Jahren.
Weltkarte
des
Claudius
Ptolemäus, (um 100 bis nach
160
n.
Chr.),
Astronom,
Mathematiker und Geograph in
Alexandria
Den Indischen Ozean
machte er zu einem
grossen See und schuf
einen vierten
Südkontinent, die «Terra
Australis Incognita», als
Gegengewicht zur
nördlichen Landmasse
Asiens.
Ein weiterer Irrtum des Ptolemäus sollte sich noch lange nachteilig auf das
Wissen der Menschheit auswirken: er unterschätzte den Erdumfang gewaltig
und nahm ihn um 29 Prozent geringer an, als Eratosthenes hundert Jahre vor ihm
fast genau errechnet hatte.
Ptolemäus und die frühen Griechen wussten wohl die ihnen bekannte Welt zu
kartieren, doch für eine genaueres Abbild fehlten noch viele Informationen. Je
weiter die Reisenden und Kapitäne sich von ihrer Heimat im Mittelmeer
Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt
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entfernten, desto grösser wurde – aus Unkenntnis der Geographie – das Risiko
von Schiffbruch und Tod. Und doch: im Osten gab es ein besonders reizvolles
Geheimnis, Zeichen einer märchenhaften Zivilisation an den Rändern der
bekannten Welt! Kam nicht die herrliche Seide aus einem fernen Land im
Osten? Tatsächlich spannen winzige Seidenraupen eine Brücke zwischen den
zwei grössten und bedeutendsten Zivilisationen der alten Welt. In China
profitierte eine streng zentralisierte Bürokratie vom Erfindungsreichtum seiner
kaiserlichen Untertanen. Dort sammelten man die Kokons der Seidenraupen ein
und kochte sie in Wasser, wobei die Puppen abstarben. Was die Raupen um sich
spannen, wurde kunstvoll zu einem Faden versponnen; sieben Kokons waren
nötig, um den ersten Faden zu spinnen.
Karten auf Seide. Die Neuigkeiten von der Chinaseide drangen bis ins antike
Rom. Doch in China verwebte man die Fäden nicht nur zu schimmernden
Stoffen, sie dienten auch dem Krieg. Kaiser Wu, so wird berichtet, habe oft
bedauert, zwei Nachbarstaaten nicht erobert zu haben. Um ihre Lage zu
studieren, befahl er Fao, der Schwester seines Premierministers, eine Karte mit
den Bergen, Flüssen und Orten dieser Länder anzufertigen. Fao stickte die Karte
auf Seide. Bei der Arbeit entdeckte sie, dass Kette und Schuss des Stoffes ideale
Koordinaten für ein Kartennetz abgaben. Der Legende nach wurde so die neue
Präzision der Kartographie geboren.
Doch ein Unterschied trennte diese Karte von der des Ptolemäus. Das
chinesische Kartennetz galt für eine flache Erde, nicht für eine Kugel. Die Erde,
sagten die Chinesen, ist quadratisch wie das Schachbrett. Manche
Wissenschafler hatten zwar Befürchtungen, dass die Erde und Ozeane an den
Rändern abrutschen könnten, aber es blieb letztlich bei der orthodoxen
Anschauung. China war der Mittelpunkt der chinesischen Welt; ein paar
Nachbarn – wie Japan – wurden anerkannt, darüber hinaus gab es aber nur
Barbaren.
China fühlte sich so überlegen und selbstgenügsam, dass es eine Verbindung zu
anderen Ländern nicht für nötig hielt. Es hatte reichlich Nahrung und ein
weiträumiges Kanalnetz für Transport und Bewässerung. Die restliche Welt –
mit Ausnahme während zirka zweihundert Jahren ab 1280 – interessierte China
nicht. Doch nirgends wurde es in der Kartierung übertroffen! Auch das Papier
und der Druck wurden hier erfunden, und schon Jahrhunderte vor Gutenberg
erschienen in China gedruckte Karten auf Papier. Chinesische Erfindungen
standen stets im Dienste des Kaisers. Karten waren Machtinstrumente der
Regierung, denn nur ein Reich, das man genau kennt, kann man auch
beherrschen. Auch der Himmel wurde schon 3000 Jahre vor unserer
Zeitrechnung beobachtet; 2200 v. Chr. entstand der erste vollständige Kalender,
um 1300 v. Chr. erwähnten die Hofastronomen zum erstenmal eine Supernova,
Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt
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467 v. Chr. erstmals den Halleyschen Kometen, und auf das Jahr 310 wird die
erste Himmelskarte mit über 100 Sternen datiert (Abbildung unten).
Links: Chinesische
Sternkarte mit der
Milchstrasse,
um 310 n. Chr.
(aus: China, Wiege des Wissens
Das griechische Weltbild geht vergessen. Im fernen Europa trat zu dieser Zeit
das Weltbild griechischer Wissenschaftler zurück und wurde für lange Zeit
durch die Glaubensinhalte des Christentums ersetzt. Trotzdem aber wurde der
Handel mit dem Osten nie ganz unterbrochen. Auf seinen Indienfahren im 6.
Jahrhundert begegnete der byzantinische Händler Cosmas der Lehre des
Dschainismus, der das Töten lebender Wesen verbietet und die Seele des
Menschen durch Askese aus den Fesseln der Materie befreit. Obwohl der
Dschainismus eine indische, auf dem Sanskrit beruhende Religion ist, erschien
Cosmas das Weltbild der Dschaina sehr christlich. Unten ist die Hölle mit
bösartigen Teufeln angesiedelt; die Erde schwebt in der Mitte, sie ist ein Kranz
von Kontinenten, ihre Ozeane sind gefüllt mit Zuckersaft, Wein, Butter, Milch
und Molke. Oben befindet sich der Himmel, wo die Seelen in unendlicher
Wonne schweben.
Heimgekehrt zog sich Cosmas in ein Kloster zurück; angeregt von den
Vorstellungen des Ostens schuf er hier sein Weltbild aus der Bibel. Er folgte
dem Pauluswort, nach dem das Wohnzelt des Moses das Modell für die Erde sei.
Cosmas dachte sich die Welt in Form einer Truhe: der runde Deckel ist das
Himmelsgewölbe, von dem aus Gott seine Schöpfung betrachtet. Im Norden
befindet sich ein hoher Berg, den die Sonne verschiebt, damit die Nacht dem
Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt
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Tag folgt. Nach Cosmas war die Erde tellerflach, obwohl die antike
Wissenschaft bewiesen hatte, dass die Erde eine Kugel ist. Aber das konnte nach
Cosmas nur Unsinn sein, weil dann doch die Menschen auf der anderen Seite
der Erde ihr Leben lang mit dem Kopf nach unten an der Erde hängen müssten
und am Ende herunterfielen.
Drei Söhne – drei Kontinente. Doch es gab christliche Gelehrte, die griechisches
Wissen mit der Bibel zu verknüpfen verstanden. Im Spanien des 7. Jahrhunderts
zeichnete Isidore, Erzbischof von Sevilla, seine Weltkarte der Kompromisse.
Der Osten liegt oben. Diese «mappa mundi» ist eine kreisrunde Erde mit Asien,
Afrika und Europa, je ein Kontinent für Noahs drei Söhne! Isidore liebte es,
erregenden Geheimnissen nachzugrübeln, zum Beispiel der Frage, wo genau der
Garten Eden, das Paradies, zu finden sei. Es gab eine wunderbare Beschreibung:
Das Paradies ist ein Ort im Osten; gemäss der Übersetzung vom Griechischen
ins Lateinische ist es ein Garten mit vielen Obstbäumen, darunter der Baum des
Lebens. Dort ist es weder kalt noch heiss, es ist ewiger Frühling und es gibt eine
Quelle, die den Garten bewässert. Seit dem Sündenfall ist der Zutritt den
Menschen verboten; der Garten ist nun umhüllt von Flammen, einer
Feuermauer, die bis zum Himmel reicht. Wo allerdings das Paradies zu finden
sei, das war der Kirche nicht das Wichtigste; wichtiger war Jerusalem, das
Zentrum der Welt!
Wallfahrten – ein gutes Geschäft. Ab dem 12. Jahrhundert wurde es Mode, nach
Jerusalem zu wallfahren. Das wurde ein gutes Geschäft. Die Kreuzritter hatten
gerade das Heilige Land zurückerobert und den Christen geöffnet; mit dem
wachsenden Pilgerstrom erschienen Routenführer und Landkarten. Der
englische Mönch Mathäus Paris von St. Alban schuf eine solche Karte im 13.
Jahrhundert.
Nach seinem «Strassenatlas» begann die Pilgerfahrt bei der St.-Pauls-Kathedrale
in London; von dort ging es nach Canterbury, über den Kanal nach Frankreich
und durch das Land hindurch in den Nordosten Italiens. In Venedig stiegen die
Pilger aufs Schiff und reisten nach Jerusalem, dem Zentrum der mittelalterlichen
Welt. Jerusalem zu sehen, die Stätten, wo Christus gelebt hat, dort, wo er
gestorben ist: das muss in den Menschen des Mittelalters unvergleichlich
Gefühle geweckt haben.
Pilgerreisen verstärkten aber nicht nur den Bedarf an Karten, sie wirkten sich
auch auf die «Weiterentwicklung» des christlichen Weltbildes aus. Christus
hatte seine Apostel beauftragt: «Gehet hin und predigt den Menschen am Rande
der Erde». Das aber waren nach damaliger Auffassung die reinsten Monster:
Menschen mit Hundeköpfen, die sich nur anbellen konnten; andere mit Ohren,
gross genug, sich darin einzuwickeln oder sich selbst Schatten zu geben;
Pygmäen, die mit Leitern zu Pferde steigen mussten; andere trugen ihr Gesicht
auf der Brust oder hatten nur ein Auge (Abbildung nächste Seite).
Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt
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Monströse Phantasiemenschen in der mittelalterlichen Vorstellung (Bibliothèque Nationale, Paris)
Diese und andere Phantasiegestalten sollten die grosse Neugier der Menschen
stillen und sie abhalten, über die Grenzen der bekannten Länder hinauszureisen.
Macht, Mythos und Glaube waren die formenden Kräfte des Mittelalters. Die
Karten der Zeit waren voller Irrealität, aber sie dienten auch einem sehr realen
Zweck. Auf Landkarten, die Venedig, Pisa, Siena, Genua und andere mächtige
Handelsstädte in Auftrag gaben, waren diese Städte mit ihrem Besitz an Grund
und Boden, aber auch die tributpflichtigen, abhängigen Orte und Handelsplätze,
immer übermässig gross dargestellt. Derartige Karten waren Symbole
territorialer Machtansprüche, sie sollten zum Ausdruck bringen: Wir sind die
Grössten!
Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt
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Die Entdeckung des Mönchs Berludes. Konstantinopel, das heutige Istanbul,
war seit 330 die Hauptstadt des Oströmischen Reiches. Kaiser Konstantin der
Grosse hortete hier die Schätze aus Griechenland, Italien und Ägypten, darunter
auch die kostbaren, offiziell verbotenen Schriften der griechischen
Wissenschaftler und Philosophen. In der Mitte des 13. Jahrhundert verlor das
byzantinische Reich seine Macht; Konstantinopel wurde türkisch. Das Wissen
der Antike drohte in Vergessenheit zu fallen; nur wenig Belesene hatten noch
davon Kenntnis.
Zum Beispiel ein Mönch namens Maximus Berludes; er stöberte ab 1280 in den
Basaren Konstantinopels an den Buchständen nach den Werken der Alten.
Manche entdeckte er staubbedeckt und seit Jahrhunderten ungelesen, und einige
dickleibige Folianten musste der Mönch mühsam restaurieren. Endlich, 1295,
entdeckte er, wonach er so lange gesucht hatte: die «Geographie» des Claudius
Ptolemäus!
Im europäischen Mittelmeer waren es vor allem Genua und Venedig, die sich seit
alters her mit kleinen Segelschiffen auf der Suche nach wertvollen Handelsgütern
auf die offene See wagten. Ihre Fahrten gerieten nicht selten zu waghalsigen
Abenteuern, die auch neue geographische Erkenntnisse brachten, nicht selten aber
mit einem Fiasko endeten. Im Mai 1291 stachen von Genua aus zwei Galeeren
unter dem Befehl der Brüder Basino und Ugolino Gibaldi in See. Sie sollten den
Seeweg zum Fernen Osten suchen.
Vom Mittelmeer in den Atlantik. Aber die Mittelmeer-Schiffe des 13.
Jahrhunderts waren nicht für die schweren und mächtigen Wogen des Atlantik
gebaut, so war das Unternehmen ein Wagnis auf Leben und Tod. Die Brüder
kannten noch immer nur drei Kontinente, die von einem grossen Ozean umkreist
wurden; auf ihm hofften sie, Asien zu erreichen. Die Gibaldis navigierten nach
dem Himmel und dem neu in die europäische Seefahrt eingeführten Kompass.
Damals gab es noch keine Karten für ausserhalb Europas. Und so sind die
Brüder Gibaldi denn auch irgendwo an Afrikas Westküste verschollen.
Doch Genua gilt heute als der Ort, wo die Kunst der Kartographie zu hoher
Blüte gelangte. Genuas Kartenmacher beherrschten den Markt für Portulane,
wie die frühen Seekarten genannt wurden, im westlichen Mittelmeer. In Genua
verbrachte Kolumbus seine Jugendjahre. Auch Kolumbus’ Bruder Bartholomäus
hatte die Kunst der Kartographie erlernt; er wanderte nach Lissabon aus und
verkaufte mit Erfolg die neuen Karten der afrikanischen Küste, die zu seiner
Zeit von den Kapitänen Heinrich des Seefahrers entdeckt worden waren.
Sklaven und Gold. Christoph Kolumbus, der 1476 vor der portugiesischen Küste
mit einem flämischen Schiff schiffbrüchig wurde, rettete sich an Land, ging
nach Lissabon und half seinem Bruder, die Karten der Zeit zu aktualisieren. Der
Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt
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Erfolg von Prinz Heinrichs Unternehmungen war schon überall sichtbar:
Negersklaven, Elfenbein, afrikanischer Pfeffer und Gold!
Kartenzeichner des 15. Jahrhunderts waren mit nautischen Fachjournalisten
vergleichbar. Jeden Monat trafen neue Informationen in Portugal ein; viele
waren präzise Informationen der Kapitäne, noch mehr wurde geheimgehalten,
doch die Gerüchte summten von den Schiffen über die Kais und in die
Seemannsschenken. Überall musste man Ohren, Gewährsleute und Freunde
haben, manche Gefälligkeit war nötig, um wieder eine Wesentlichkeit zu
erfahren.
Seekarten waren aus Schafs- oder Ochsenbälgen hergestellt, die unempfindlich
gegen Salzwasser sind. Ihre Form ähnelt dem Fell des Tieres, wie man noch auf
der berühmten Karte aus dem Jahre 1500 von Juan de la Cosa, dem Piloten von
Christoph Kolumbus, sehen kann. Es handelt sich – wie bei allen Karten der Zeit
– um eine Portulan-Karte. Das Linienmuster stellt Kurse dar, die von Windrosen
ausgehen und denen man auf See zu folgen hatte. Der Nautiker steckt seinen
Kurs zwischen zwei Positionen ab und misst die Distanz mit dem Zirkel.
Damals war es schwer, den Kurs korrekt zu halten; bei jedem Segelmanöver
mussten Toleranzen eingerechnet werden. Doch die Präzision der Kartenmacher
ist bis heute
beeindruckend,
wenn man die
wenigen
Informationen
einrechnet, die
verfügbar waren.
Dass Amerika und
Europa mit Afrika
in verschiedenen
Massstäben
wiedergegeben
sind, war für die
damalige Zeit
völlig normal.
Auf einer Schafshaut gezeichnete erste Karte der neuen Länder im Westen von Juan de la
Cosa, dem Piloten Christoph Kolumbus’, 1500: links die westindischen Inseln mit den
amerikanischen Küsten, am rechten Rand Europa und die afrikanische Westküste (Museo Naval,
Madrid).
Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt
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Logscheit und Sanduhr. Ein anderes Problem bestand darin zu wissen, wo man
sich befand, auch wenn die Richtung bekannt war. Ein Kapitän musste also die
Geschwindigkeit seines Schiffes kennen, mit der er auf seiner Kurslinie
dahinfuhr. Als Messinstrument kannte man nur das ungenau Log. Ein Log ist ein
Brettchen (das «Logscheit»), an dem an drei Punkten ein dünnes Seil befestigt
ist; das Seil ist am Schiffsheck auf einer Rolle aufgerollt. Auf ihm sind in
regelmässigen Abständen farbige Bändchen eingeknotet. Wirft man das
Brettchen über Bord, läuft das Seil von der Rolle ab, bis sich das Logscheit –
vom Seilzug gehalten – im Heckwasser senkrecht aufstellt. Der Seemann misst
mit der Sanduhr die Zeit und zählt die in der Abrollzeit ausgelaufenen Knoten
des Seils; er weiss nun, wieviele «Knoten» sein Schiff gerade läuft bzw.
wieviele Seemeilen pro Stunde zurückgelegt werden. Doch wichtiger als jedes
Instrument war die Erfahrung des Kapitäns.
Im 14. Jahrhundert gehörte Mallorca zum Königreich Aragon und war als
bedeutender Handelsplatz auch ein Zufluchtsort der Wissenschaftler aus
Arabien, Kleinasien und Europa. Obwohl katholisch regiert, hing der Wohlstand
Mallorcas weitgehend von seiner jüdischen Gemeinde ab. Juden wirkten hier
ohne Behinderungen als Händler mit Juwelen und kostbarer Seide, jüdische
Handwerker kauften und verarbeiteten Silber und Gold und machten Mallorca
wohlhabend. Vor allem aber waren sie Kartenmacher für die Erobererer dieser
Epoche. Einer der berühmtesten war Abraham Cresques. 1375 zeichnete er für
den französischen König seine sehr präzise Katalanische Karte. Sie war mit
Bildergeschichten verziert: man sieht Schiffe auf allen Ozeanen, findet
Perltaucher an der indischen Küste, Diamantenschürfer in Bergspalten und
bestaunt vor allem den quer von Ost nach West durch Afrika verlaufenden
«Strom des Goldes», der gemäss Abraham Cresques an der westsaharischen
Küste, gegenüber den Kanarischen Inseln, in den Atlantik mündete.
Phantasie? Wirklichkeit? Das fragte sich auch Heinrich der Seefahrer. Auf
seinem Denkmal in Lissabon wird er als der «Fürst aller Weltentdecker»
gewürdigt. Portugal war ein armes Land, es hatte sich 1385 seine
Unabhängigkeit von Kastilien erkämpft und gerade von den Folgen der Pest
erholt. Entdeckungen und Eroberungen weit entfernter Länder lagen nicht in den
unmittelbaren Überlegungen von König Johann I. Die Forschungsreisen der
Neuzeit mussten, bevor ein Kapitän auch nur aufbrechen konnte, in der
Phantasie, im Kopf, durch Nachdenken stattfinden. Und das tat Prinz Heinrich
gründlich. Schon viele Schiffe waren aufgebrochen und nicht mehr
zurückgekehrt. Das wichtigste war die Fähigkeit zur Heimkehr! Ein neuer
Schiffstyp, die Karavelle, ermöglichte aufgrund von Widerstandskraft, Grösse
und Bewaffnung jede Rückkehr, Kompass und Karten jede Kursfindung. So gab
der Prinz seinen Kapitänen den Auftrag, diesen Seeweg zu suchen.
Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt
Seite 55
Bei Sagrés auf dem Kap Sao Vicente, wo noch immer die riesige Windrose im
Pflaster zu sehen ist, gründete Heinrich sein Hauptquartier. Hier rüstete Heinrich
seine Kapitäne mit dem modernsten nautischen Wissen seiner Zeit aus, bevor er
sie nach Süden schickte.
Katalanische Atlas von Abraham Cresques (unter Berücksichtigung der Berichte Marco Polos);
Ausschnitt Südostasien (Kolumbus-Atlas, Westermann, Braunschweig 1990.)
Bruder Mauro und das "kleine" Venedig. Nur wenig später lebte auf der Insel
San Michele vor Venedig einer der kenntnisreichsten Kartenmacher seiner Zeit,
der Mönch Fra Mauro. 1457 waren die Portugiesen schon bis zu den
Kapverdischen Inseln vorgedrungen und Portugals König Alfons V. wollte
erfahren, wo seine Schiffe landen würden; er bestellte bei Fra Mauro eine
Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt
Seite 56
Weltkarte nach dem letzten Stand des Wissens. Diese Karte spiegelt das
geographische Wissen der Mitte des 15. Jahrhunderts. Das Original ging in
Portugal verloren; zum Glück für die Nachwelt fertigte Fra Mauro eine Kopie
für den Dogen von Venedig. Doch scheint es, dass alle Nautiker der Zeit die
Karte kannten und studiert haben. Süden ist oben, aber wenn man die Karte
dreht, erkennt man die vertrauten Umrisse Italiens und des Mittelmeeres sowie
darunter das mächtige Afrika. Ein venezianischer Berater des Dogen sah das
Werk auch und bekam einen Schreck. Wie klein und unbedeutend war sein
grosses Venedig! Er empfand das als Kränkung und beschwerte sich! War
Venedig mit seinen Gondeln und Kanälen nicht die Grösste? Aber für den
portugiesischen König hatte Fra Mauro nur gute Nachrichten: der Mönch
glaubte, man könne um die Südspitze Afrikas nach Indien und weiter segeln.
Nelkenöl gegen die Pest. Venedig, Genua, Sevilla, Lissabon, aber auch die Häfen
in der Bretagne, den Niederlanden, Britanniens bis hinauf nach Kopenhagen und
Bergen konkurrierten bereits damals um Rohstoffquellen, mit denen sich viel Geld
verdienen liess. Im Mittelmeer waren es vor allem die Gewürze, der schwarze und
weisse Pfeffer, der Zimt, die Muskatnuss, der Ingwer und die Gewürznelken.
Fra Mauros nach
Süden
ausgerichtete
Weltkarte,
gezeichnet 1459.
(Biblioteca
Nazionale Marciana,
Venedig.)
Besonders
Gewürznelken
waren begehrt;
sie galten als
Medikament
gegen den
Schwarzen Tod,
die Pest, die in
Europa wütete.
Ausserdem –
und das war den
Seeleuten
wichtig – konnte man mit ihnen das Fleisch über einige Wochen konservieren.
Pfeffer hatte Portugal schon in Afrika gefunden, doch die besseren Sorten
Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt
Seite 57
kamen – wie man von Händlern wusste – von Indien und der Malabarküste, der
Zimt von Ceylon.
Die Heimat der anderen Gewürze lag in der unbekannten Tiefe Ostasiens.
Tonnenweise gingen die Gewürze in ihrer Heimat auf die Reise nach Westen,
gelangten mit arabischen Schiffen nach langer Fahrt über den Indischen Ozean
auf die Märkte des Mittleren Ostens und wurden von dort mit ungezählten
Kamelkarawanen an die Häfen des Mittelmeeres transportiert. Genuesische,
noch mehr aber venezianische Händler kauften die Ware auf und verkauften sie
wieder mit hohen Gewinnen in Europa. Die Spuren des Reichtums, den diese
Städte mit dem Gewürzhandel erlangten, locken noch heute viele Touristen an.
Für das prunkvolle Leben der Profiteure bedeutete es eine Katastrophe, wenn die
Portugiesen den Weg um Afrika nach Indien und in den Fernen Osten finden
würden.
DIE AKADEMIE ZU SAGRÉS
Portugal gelingt die Umrundung um Afrika, der Weg nach Indien ist gefunden!
1
»Habt ihr schon gehört, was unser gnädiger Vater beschlossen hat?« Prinz
Duarte schlendert in den Saal. Seine Brüder fahren herum.
»Wird er unseren Wunsch erfüllen? Ziehen wir in den Krieg? Sicher gegen
Kastilien!« Pedro macht ein paar schnelle Schritte auf den Thronfolger zu.
»Enrique, was glaubst du?« Duarte wendet sich an den dritten Sohn König
Joãos.
Der überlegt. »Krieg? Nein, kann ich mir nicht vorstellen. Pedro ist wie immer
zu vorschnell; Portugal hat 1385 noch nicht verdaut.«
»Hast recht, kleiner Bruder«, sagt Duarte. »Also, was hat der König
beschlossen? Ratet!«
»Nun spanne uns nicht auf die Folter, erzähle!«
Pedro kann sein Temperament nicht im Zaum
halten, während Enrique einfach abwartet.
Heinrich der Seefahrer, zirka 50 Jahre alt
Duarte nimmt in einem der breiten Sessel am
Fenster Platz. Die Aussicht ist überwältigend: auf
sanften Hügeln dehnt sich die Stadt bis zum
Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt
Seite 58
Küstensaum im Westen und Südwesten, wo sich die Halbinsel Setúbal zwischen
den Mündungen des Tejo und des Sado erstreckt; ganz hinten, an ihrer
Südspitze, kann man gerade noch den Turm der Wallfahrtskirche auf Kap
Espichél erkennen.
Aber Duarte nimmt die Schönheit des Panoramas nicht mehr wahr, zu oft schon
hat er von hier hinausgeschaut. Er lehnt sich zurück, streckt die Beine und sagt,
den Blick gegen die Decke gerichtet: »Turniere!«
»Was?«
»Ja, Turniere! Ein Jahr lang sollen Turniere abgehalten werden, bei denen wir
genügend Gelegenheiten finden würden, Geschicklichkeit und Mut zu zeigen,
um die Auszeichnung zu erringen.«
»Ist das ein Spaß?« Pedro kann es nicht glauben. »Du treibst Schabernack mit
uns. Wir wollen in die Ritterschaft aufgenommen werden, das kann seit alters
her nur in einer Schlacht erreicht werden!«
»Nein, was ich sage!« Duarte schnellt herum und schaut auf seine
Brüder.»Unser Herr Vater ist der Ansicht, dass eine längere Serie von
Turnierkämpfen genug Gelegenheit biete, uns die Gefolgschaft der Ritter und
Adligen im Reich zu sichern.«
Pedro kann es kaum glauben. »Aber nur mutige Bewährung im Kampf ist eine
Voraussetzung, um diese Achtung zu erringen. Warum sollen wir nicht wie
seinerzeit der König Ansehen und Ruhm erwerben können?«
Duarte antwortet: »Enrique hat recht: wir müssen Frieden halten, Portugal kann
keinen Krieg vom Zaun brechen. Wenn wir vor dreissig Jahren auch siegreich
waren, so war der Blutzoll doch sehr hoch für unser kleines Land.«
Im August 1385 war Portugal plötzlich von Kastilien überfallen worden. Die
portugiesische Armee – an Zahl weit unterlegen – hatte aber durch eine kleine
englische Hilfstruppe Unterstützung und errang einen sensationellen Sieg. Die
portugiesisch-englische Freundschaft wurde im Jahr danach durch die
Vermählung König João I. von Portugal mit Philippa, der Tochter des
englischen Königs Johann des Schmächtigen, weiter vertieft. Aus dieser
königlichen Verbindung gingen die drei Prinzen hervor; sie werden ein neues
Zeitalter einleiten.
Als Jungen wurden die Brüder von ihrer frommen und gebildeten Mutter in
Religion, Latein und Allgemeinbildung unterwiesen, so wie sie sich jetzt des
erst zehnjährigen jüngsten Sohnes Fernão annimmt. Der Vater lehrte sie das
Kriegshandwerk und die Regeln des Rittertums. Nun sind die drei älteren
erwachsen, Duarte ist 26 Jahre alt, sein Bruder Pedro 23 und Enrique zählt
19 Jahre.
»Kein Krieg, kein Sieg«, sagt Pedro resignierend.
Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt
Seite 59
»Nicht gegen Kastilien«, unterstützt Enrique den Kronprinz, »denn es sind
Christenmenschen wie wir.«
Schritte nähern sich, kommen näher und die jungen Männer sehen den Tesorero
Pero Gonçalvo, die lederne Dokumentenmappe unter dem Arm, vorbei eilen.
Duarte ruft ihm zu: »Dom Pero, auf ein Wort!«
Der kleine, spitznasige Mann mit mächtigem Schnauzbart wieselt herein. »Ah,
Dom Duarte – und die Senhores Ifantes!« Gonçalvo deutet eine Verbeugung an.
Er ist als Schatzmeister des Königs ein befähigter Mann und hat entsprechenden
Einfluss.
»Habt Ihr gehört, Dom Pero, Ihr müsst Geld für Turniere auftreiben.«
»Ja, Euer Gnaden, ich komme gerade von Seiner Majestät. Ich werde einen
Ausweg finden müssen.«
»Das wird teuer«, gibt Pedro zu bedenken. »Stellt Euch vor: ein Jahr lang, zwölf
Monate, werden die Ritter des Landes hier ein- und ausgehen. Natürlich mit
mehr oder weniger großem Anhang – je nach Rang und Würde der Herren! Das
braucht Quartiere, Kost und Logis für Herr und Knecht – und natürlich für die
kostbaren Rösser! Wir werden große Bankette geben und Preise für die Sieger
bereitstellen müssen. Und erst die Damen! Die Ansprüche der Holden und Edlen
werdet Ihr Euch vorstellen können. Oder etwa nicht?«
Der Minister nickt. »Die Senhores Ifantes sind gut beraten, meine bescheidene
Meinung anzuhören. Denn auch wenn ein Mann glaubt, die Nachricht zu
vernehmen, so hört er doch nur das, was er hören will. Aber jeder Mensch sieht
dasselbe mit anderen Augen an: denn unsere früheren Erfahrungen beeinflussen
die Gefühle, wenn Ohren hören und Augen sehen! Deshalb ist es besser, stets
mehrere Meinungen zu hören.«
»Und? Was sagt Ihr zu den Absichten unseres gnädigen Königs?«
»Ihr Herren«, antwortet Gonçalvo schlau, »sie werden uns zwingen, die Steuern
im Lande strenger einzutreiben und die Abgaben zu überprüfen. Sicher werden
die Ritter und Grafen auch gerne bereit sein, eine angemessene Summe für die
Ehre zu bezahlen, gegen die Söhne unserer hohen Majestät im edlen Wettkampf
anzutreten.« Und fügt sogleich hinzu: »Ein Krieg was würde wohl der kosten?«
Der sparsame Herr erschaudert bei dem Gedanken, Geld für einen Krieg
hingeben zu müssen, nur damit die romantischen Ambitionen der drei
königlichen Jünglinge erfüllt werden.
»Ihr habt recht, Dom Pero«, sagt Enrique. »Ein Krieg könnte nur gegen
Kastilien gerichtet sein, aber die Spanier – ich sagte es schon – sind Christen
wie wir. Warum sollen wir sie überfallen, da wir Frieden haben?«
In den Augen Dom Peros blitzt es listig auf, als er erwidert: »Da mir Euer
Verlangen und das Eurer Brüder seit einiger Zeit bekannt ist, habe ich über eine
Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt
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ganz andere militärische Aktion nachgedacht. Mein Plan würde nicht nur die
Wünsche der verehrten Prinzen befriedigen, sondern Portugal im Fall des
Gelingens auch finanzielle Vorteile bringen.«
»Was?« Duarte springt auf, Pedro und Enrique schauen gespannt auf den
Minister. »Redet!«
»Meine Spitzel haben mir vom Reichtum Cëutas ausführlich berichtet; sicher ist
den erlauchten Prinzen der Hafen im nördlichen Afrika bekannt. Dort leben
keine Christen, sondern Mauren! Und Mauren sind die Feinde der Christenheit;
für den Glauben zu kämpfen ist eine reine Tat!«
Niemand kann wissen, dass dieser Gedanke Portugal auf einen bedeutungsvollen
Weg der Erforschungen und Entdeckungen bringen wird. Die vier setzen sich
um den schweren Eichentisch und Pero Gonçalvo entwickelt vor den
aufmerksam Lauschenden seinen Plan. Die Prinzen sind begeistert.
2
»Cëuta überfallen?«, fragt der König ungläubig, als sie ihm bei
Gelegenheit die Sache vortragen. Er schaut Gonçalvo entgeistert an,
wendet den Blick dann gegen seine Söhne. »Cëuta? Seid ihr verrückt
geworden? Wie soll das kleine Portugal die Kraft aufbringen, diese mächtige
Maurenstadt auf der afrikanischen Seite des Mittelmeeres zu überwinden?«
Der Schatzmeister hat den Einwand erwartet. »Das ist leichter vollbracht, als
man gemeiniglich annimmt. Von einen Matrosen, der als Galeerensklave in
maurischer Gefangenschaft war und von einem unserer Kanonenboote mit
anderen Gefangenen befreit werden konnte, erfuhr ich nähere Einzelheiten über
die Befestigungen, die Bewaffnung und die Stärke der maurischen Garnison.
Daraus ist zu ersehen, dass bei geschicktem Vorgehen die Stadt von See her
leicht anzugreifen ist.«
Beflissen entrollt er ein Pergament. »Wenn Eure Majestät dieses sorgfältig
zusammengetragene Dokument prüfen, werden Eure Herrlichkeit zum gleichen
Schluß kommen.«
João beugt sich über den Plan. Es ist alles darauf verzeichnet, was ein Angreifer
wissen müßte: die Zufahrt vom Meer her, die Wassertiefen, Klippen und
Untiefen, die Mauerhöhen der Befestigungen und ihre Bewaffnung, die Lage der
Hafenmolen und die Unterkünfte der Soldaten, Waffendepots, Lagerhallen,
Plätze und Straßen: alles ist sorgfältig verzeichnet.
Der König studiert das Dokument; er muß zugeben, dass der Verfasser gute
Arbeit geleistet hat. Aber ist es echt?
»Und wenn dieser Plan eine Fälschung ist?» fragt er, »ein Falsifikat, um uns in
eine Falle zu locken?«
Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt
Seite 61
»Er ist keine Fälschung, Majestät, ich habe das kontrolliert.«
»Trotzdem muß es überprüft werden.«
Bevor Gonçalvo antworten kann, mischt Duarte sich ein. »Ihr habt recht, hoher
Vater, natürlich müssen wir uns vergewissern. Wir werden einen Spion
schicken; als Maure verkleidet, wird er auf leichte Weise in die Stadt gelangen.
Inzwischen beginnen wir mit unseren Vorbereitungen.«
»Und woher sollen wir die Schiffe nehmen? Unsere Flotte ist zu klein und
schlecht bewaffnet. Außerdem fahren unsere wackeren Landsleute nur zum
Fischen auf das Meer und kaum weiter, als sie den Rauch ihrer Hütten sehen.«
»Wir werden Schiffe bauen!« Es ist Enrique, der das sagt. Er steht mit dem
Rücken zum Vater am hohen Fenster und schaut auf den Silberstreif des Meeres
am Horizont. In seiner Stimme ist etwas, das aufhorchen läßt; es klingt wie eine
Prophezeiung. Als der König sich verwundert seinem jüngsten Sohn zuwendet,
dreht der sich wieder den anderen zu und sagt: »Ja, wir werden Schiffe bauen!
Portugals Männer sollen über die ungebrochene Linie der Kimm hinausfahren.
Und Cëuta könnte ihr erstes Ziel sein.«
Doch der König verweigert seine Zustimmung. »Die Invasionen der
Mohammedaner gegen die Christen Europas nahmen von Cëuta ihren
Ausgang«, begründet er. »Daher ist es kaum zu glauben, dass diese islamische
Festung so verwundbar sein sollte, wie dem Schatzmeister berichtet wurde.«
König João spricht über die großen Gefahren und Schwierigkeiten des
vorgeschlagenen Expeditionszuges und nötigt seine Söhne zu weiteren
Überlegungen. Er ist der König, er muß auch die politischen Folgen erwägen.
»Gelingt es Portugal, Cëuta zu erobern«, argumentiert er, »wird das maurische
Königtum Granada zur Beute der militärischen Macht Kastilien werden, denn
Granada ist von der Hilfe aus Cëuta abhängig. Wenn Granada aber einmal aus
dem Wege geschafft ist, wird Kastilien sich wieder seinem alten Feind Portugal
zuwenden.«
»Ein Sieg über Cëuta wird Portugal glorreich dastehen lassen. Kastilien wird
sich dreimal überlegen müssen, ob es uns erneut zu seinem Feind machen will«,
antwortet der Kronprinz.
Pedro sagt: »Mit Hilfe unserer englischen Verwandten werden wir Ferdinand
von Antequera abermals aufs Haupt schlagen!«
Und Enrique bringt eine weitere Begründung vor: »Das islamische Cëuta
einzunehmen, ist eine Dienstleistung für Gott! Diesen Dienst nicht zu verrichten,
aus Furcht, er könnte Kastilien helfen, wäre eine Sünde wider Gott.«
Der König lehnt sich zurück, er merkt, wie sein Widerstand schwindet; gegen
Enrique anzukommen, ist nicht einfach. »Die Verantwortung liegt beim König«,
sagt er fest. »Schnell hat sich die Jugend entschieden, aber sieht sie auch die
Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt
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möglichen Tragweiten voraus? Der König von Kastilien und Aragonien wird
sich eine gute Gelegenheit wohl nicht entgehen lassen.«
»Warum, hoher Vater, seid Ihr davon so überzeugt?« Enrique schaut dem Vater
in die Augen. »Mit dem Fall Cëutas helfen wir ihm, Granada los zu werden.
Und selbst wenn Ferdinand unser größter Feind wäre«, schloß er, »kann er dies
nur aus Zufall sein, denn er ist genau wie wir ein Christ. Die Mohammedaner
aber sind von Natur aus unsere Feinde«.
Während über die Vorteile Portugals nach einer erfolgreichen Belagerung
Cëutas nachgedacht wird, muß der Schatzmeister auch die Kosten der ein Jahr
dauernden Feste und Turniere überrechnen. Die Expedition gegen den Hafen
Cëuta schlägt da besser zu Buche. Daher bestärkt der königliche Bankhalter die
jungen Leute ob ihrer Ambitionen und rät ihnen, ihren Vater für einen Krieg
gegen Cëuta zu überreden. Die haben sich in jugendlicher Begeisterung schon
festgelegt, und Prinz Enrique, der Sprecher der drei Brüder, überwand
schließlich auch die Bedenken seines Vaters.
Die erste Stufe des Unternehmens, das Verteidigungssystem von Cëuta
auszuspionieren, wird in Angriff genommen. Zwei Galeeren segeln bald von
Oporto ab, nehmen Kurs ins Mittelmeer und gehen für eine Zwischenlandung in
Messina vor Anker, um – wie die Kapitäne den sizilianischen Behörden
bekanntgeben – Trinkwasser und Lebensmittel an Bord zu nehmen. Die Frage
nach dem Wohin beantworten sie mit Civitavecchia; sie hätten den päpstlichen
Legaten dorhin zu bringen, der über die Via Appia mit einer Botschaft des
Königs von Portugal nach Rom weiterreisen werde.
Messina ist ein Ameisenhaufen; Schiffe aller Herren Länder laufen ein und aus,
sie kommen aus Neapel und Genua, aus Massilia, Alicante, Valencia, Barcelona,
Malaga und Syrakus, von Malta und Rhodos, von Venedig, Alexandria, Tanger
und Cëuta, selbst Bretonen, Friesen und Briten wurden schon gesichtet. Man
hört alle möglichen Sprachen und Idiome, sieht verwegene und wild
dreinschauende Matrosen, es wimmelt von den verschiedensten Trachten,
Bekleidungen und Uniformen. Niemand achtet auf den maurischen Kaufmann,
der anderntags mit einem arabischen Schiff nach Tanger abreist, wo er sich einer
Kamelkarawane nach Cëuta anschließt.
Vier Wochen später wirft eine kleine nach Westen segelnde Barca »zur
Erholung der Mannschaft« in unmittelbarer Nähe von Cëuta Anker. In der Nacht
nähert sich ein schwimmender Schatten dem Schiff. Die Wache ruft ihn leise an,
das Losungswort stimmt, schon klettert der »maurische« Kaufmann halbnackt
an Bord. Am Gurt ist eine aus geöltem Ochsenleder gefertigte Tasche befestigt,
darin der Plan, was er feststellen konnte.
In Lissabon wird nach der erfolgreicher Erkundung ein Modell der
Verteidigungsanlagen gebaut. Nun ist König João überzeugt und läßt die
Expedition vorbereiten. Die drei Prinzen übernehmen dabei wichtige Aufgaben.
Enrique muß den Bau und die Ausstattung der Schiffe und die
Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt
Seite 63
Zusammenstellung der Mannschaften in den nördlichen Landesteilen
organisieren. Sein Hauptquartier ist Oporto. Pedro übernimmt eine ähnliche
Aufgabe im Süden mit dem Hauptquartier in Lissabon. Duarte wird Leiter der
Finanzen des Landes und ist für die Justizverwaltung verantwortlich. Auf diese
Weise kann sich der König auf die diplomatischen Probleme konzentrieren, die
sich notwendigerweise ergeben werden. Außerdem organisiert er die Artillerie
und alle anderen Waffen für seine Schiffe.
Die folgenden Monate spricht alles nur über Schiffe und Munition, besonders in
Oporto und Lissabon. Hier gibt es kaum eine Seele, die nicht irgendwie an den
Vorbereitungen beteiligt ist. Überall in Portugals Häfen entstehen neue Schiffe,
in den Werften wird gesägt und gehämmert, Geruch von Salz, Teer,
konserviertem Holz und frischer Farbe liegt über dem emsigen Tun.
Wallend steigt Dampf aus den Schwartenboxen, in denen Holz geweicht und
gebogen wird, Kalfaterer dichten Fugen in Schiffsrümpfen, etwas abseits, auf
den Reeperbahnen, entstehen Taue alle Art und Länge, Küfer liefern Fässer in
vielen Größen, Rinder und Schweine werden geschlachtet und eingesalzen, Brot
wird in Unmengen gebacken, an die Fischer ergehen außerordentliche Aufträge
zum Fangen und Trocknen von Fischen, und viele Hilfskräfte sind mit dem
Füllen der Geschosskörbe beschäftigt. Nur die Heranschaffung der Waffen –
Arkebusen, Mörser und Kanonen, Spieße, Armbrüste und Hellebarden –
geschieht meist nachts unter größter Geheimhaltung.
Das Geschwätz über den Aufbau einer Streitmacht und die Anlage von Vorräten
sind im Volk kaum zu verheimlichen. Aber mit Ausnahme eines inneren Kreises
von Vertrauenspersonen am königlichen Hof weiß niemand ganz genau, was es
mit dieser große Flotte auf sich hat.
Schnell dringen auch entsprechende Gerüchte nach Kastilien und Granada. Man
schickt diplomatische Missionen, die dem König von Portugal die
Befürchtungen ihrer Herrscher mitteilen. Aber König João beruhigt sie; Portugal
plane keine Angriffe in Iberien, sondern träfe nur Vorbereitungen, um seine
Interessen zu schützen. Wie das zu deuten ist, macht er auf andere Weise klar: er
schickt dem Herzog von Holland ein Ultimatum und sorgt dafür, dass dieses
»Geheimnis« überall publik wird. Sein Gesandter aber gibt dem Herzog zu
verstehen, dass das Ultimatum nur zur Täuschung des wirklichen Feindes dienen
sollte.
3
Die Bewohner von Cëuta haben keine Ahnung von dem, was
ihnen bevorsteht. Dann aber sind sie plötzlich von mehr als 200
portugiesischen Schiffen eingeschlossen, die eines Tages vor der
Küste der kleinen Halbinsel erscheinen. Die Soldaten der portugiesische Armada
Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt
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stürmen die Festung Cëuta am 24. August 1415 in einer sehr einseitigen
Schlacht. Gut bewaffnet und gerüstet – wieder unterstützt durch eine Gruppe
englischer Bogenschützen – überwältigen die Portugiesen die Moslems in einem
kurzen Kampf. Binnen eines Tages ist die Heidenfestung eingenommen und
schon am Nachmittag beginnt die Armee mit der Plünderung der Stadt.
Den Prinzen hat der Fall der Stadt den ersehnten Ruhm verschafft. Wie sie es
gewünscht hatten, wurden sie auf dem Schlachtfeld geprüft und für wert
befunden. Mit den Schwertern ihrer Mutter erhielten sie anderntags den
Ritterschlag. Acht Portugiesen waren zu Tode gekommen, während in den
Straßen der Stadt die Leichen der Moslems zuhauf lagen.
In Cëuta erhält Prinz Enrique einen ersten Eindruck, was in Afrika verborgen
liegt. Denn die Beute besteht aus der Fracht von Karawanen, die durch die
Sahara im Süden und quer durch den afrikanischen Kontinent aus Arabien,
Persien und Indien in den Westen gelangten. Außer Lebensmitteln – Weizen,
Reis und Salz – finden die Portugiesen riesige Vorräte an Pfeffer, Zimt, Nelken,
Ingwer und anderen Gewürzen. In den Häusern von Cëuta hängen reiche
Tapisserien und liegen orientalische Teppiche. Und das alles zusätzlich zur
üblichen Beute an Gold, Silber und Juwelen.
Dann lassen die Portugiesen eine kleine Garnison zurück, die übrigen fahren
wieder nach Hause. Prinz Enrique bleibt jedoch in Cëuta, denn die Moslems
wollen ihre Stadt zurückerobern, und Enrique übernimmt den Oberbefehl über
die Verteidigung. Hier verbringt er mehrere Monate damit, alles über den
afrikanischen Karawanenhandel zu erfahren.
Vor dem portugiesischen Überfall herrschte in Cëuta blühendes Treiben.
Vierundzwanzigtausend Läden handelten mit Gold, Silber, Messing, Seide und
Gewürzen, alles wurde durch Karawanen herbeigeschafft. Nun, da Cëuta eine
»christlichen« Stadt ist, kommen keine Karawanen mehr. Die Portugiesen sitzen
in einer Stadt ohne Profite. Wollen sie den Handelsstrom wieder beleben,
müssen sie sich mit den Heidenstämmen der Umgebung einigen oder das
Hinterland ebenfalls erobern. Prinz Enrique sammelt Informationen über die
Länder, aus denen die Schätze nach Cëuta gekommen waren. Er hört
Erzählungen über einen merkwürdigen Handel, den »stummen Handel« von
Völkern, die die Sprache ihrer Handelspartner nicht beherrschen. Die
Moslemkarawanen, die von Marokko aus über den Atlas nach Süden ziehen,
gelangen nach zwanzig Tagen an die Ufer eines großen Flusses, der Senegal
heißt. Dort legen die marokkanischen Händler getrennte Häufchen von Salz,
Korallenkugeln und billigen Handelswaren aus. Dann ziehen sie sich außer
Sichtweite zurück. Angehörige lokaler Stämme, die dort im Tagebau nach Gold
schürfen, kommen ans Flußufer und legen neben jeden Haufen marokkanischer
Waren ein Häufchen Gold. Dann ziehen sie sich außer Sichtweite zurück und
überlassen es den marokkanischen Händlern, entweder das angebotene Gold zu
nehmen, oder ihren Warenhaufen so zu verkleinern, dass er dem angebotenen
Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt
Seite 65
Preis in Gold entspricht. Wiederum ziehen sich die marokkanischen Händler
zurück und das Verfahren geht weiter. Durch dieses merkwürdige
Handelssystem kommen die Marokkaner zu ihrem Gold.
Berichte solcherart beflügeln die Hoffnungen Prinz Enriques. Seit dem letzten
Kreuzzug der Christenheit zur Befreiung der heiligen Stätten Jerusalems von
islamischer Herrschaft sind 125 Jahre vergangen, aber in Heinrich lebt noch
immer der Geist der Kreuzfahrer. Er sammelt eine portugiesische Flotte und
verkündet seine Absicht, den Heiden die Djebel al-Tarik, Berg des Tarik,
genannte Felsenfestung auf der Südspitze der Iberischen Halbinsel zu entreißen.
Unterwegs holt ihn die Nachricht ein, dass König João diese Expedition
verbietet, und Prinz Enrique kehrt verbittert nach Hause zurück. Aber anstatt an
den Hof in Lissabon zu gehen, zieht er sich weit südwärts durch die Algarve auf
den südwestlichsten Zipfel Portugals zurück, zum Kap São Vincente, der letzten
Landspitze Europas. Das Kap erlangte schon im Altertum mystische Bedeutung;
als Grenze zur Unendlichkeit des Ozeans haben bereits die Römer diesen
Landvorsprung Promentorium Sacrum, Heiliges Vorgebirge, genannt. Spätere
Völker, Sueben oder Westgoten, haben daraus Sagrés gemacht, noch heute trägt
das Städtchen am Fuß von Kap São Vincente diesen Namen.
Frei schweift der Blick von der Höhe des Kaps auf den bewegten Atlantik, tief
unten läuft die stetig rauschende Brandung aus, nagt an den Klippen, und
häufige Stürme tosen über die Felsen. Hier baut Enrique eine Burg – die »Villa
Tercanabal« –, um in Ruhe und mit einigen Gleichgesinnten den Plan für ein
zukünftiges portugiesisches Weltreich auszuarbeiten. Er baut eine Sternwarte
und gründet seine »Nautische Akademie«, eine Seefahrerschule, darum herum
eine kleine Stadt. Unten ins Sagrés, am Fuße des Kaps, entsteht eine Werft, und
Enrique schickt heimlich Werber in alle Seefahrernationen, um die besten
Schiffsbauer anzuwerben. Er findet sie am Oberlauf des Tejo und am Duoro, sie
kommen aber auch aus Flandern, der Bretagne, von der Loire und der Elbe.
Zuerst stellt der Prinz alle Einzelinformationen zusammen, die er inzwischen
gesammelt hat. Wie könnten sie am besten seinem Vorhaben dienen, einen
vernichtenden Schlag gegen das islamische Reich zu führen? Sein Engagement
beim Aufbau der Kriegsflotte brachte ihm Kontakt mit vielen erfahrenen
Seeleuten und er konnte dabei festgestellen, dass ein gut ausgerüstetes Schiff
länger Zeit auf See bleiben konnte, als dies bisher üblich war. Die Einnahme
von Cëuta hat ihm darüber hinaus gezeigt, wie wirkungsvoll eine Seestreitmacht
gegen die Mohammedaner sein kann. Er erfuhr, wie weit sich das islamische
Reich an der Westküste Afrikas nach Süden hin ausdehnt, weiter, als jemals
bisher irgendein Europäer gelangt ist. Handelsleute, die regelmäßig die
Karawanenrouten in den Süden und Westen bis zur Küste Guineas bereisten,
haben ihm in Cëuta wertvolle geographische Informationen über Afrika
vermittelt. Enrique hatte gesehen, in welch verschwenderischer Fülle den
Mohammedanern die kostbarsten Güter zur Verfügung stehen. Seide, Gewürze,
exotische Felle, Gold, Perlen und Schildpatt, Porzellan, Messinggefäße, kostbare
Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt
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Hölzer und vielerlei Edelsteine strömen aus der Tiefe des Ostens auf ihre
Märkte. Die christlichen Länder aber bekommen sie nur zu Bedingungen, die
die Mohammedaner diktieren. Einzig die Stadtstaaten Venedig und Genua 
ebenfalls christlich  haben eine pragmatische Haltung im Umgang mit den
Ungläubigen entwickelt und profitieren von dieser Situation. Weil sie mit den
Mohammedanern eine Preisbasis finden konnten, haben ihnen diese ein
Handelsmonopol eingeräumt.
Die Waren des Orients erreichen die Mittelmeerküste im Libanon und in
Ägypten über den Indischen Ozean, das Rote Meer und Karawanenrouten, wo
sie von arabischen Kaufleuten an die Händler Venedigs und Genuas übergeben
werden. Für den Weiterverkauf legen nun Christen die Preise fest! Die
westlichen Königreiche sind von den vielen Kämpfen gegen den Islam müde
geworden. Nach wiederholten und immer vergeblichen Versuchen christlicher
Heere, das islamische Monopol zu brechen, stehen die Handelsbarrieren fester
denn je. Europa muß sich damit abfinden, den Luxus aus Indien und noch weiter
östlich liegenden unbekannten Ländern über Genua und Venedig zu beziehen.
Die einzige, kaum zu denken gewagte Alternative besteht darin, einen anderen
Handelsweg zum Osten zu suchen, einen, der über die Weltmeere führt und der
die islamischen Machtsphären umgeht.
Aber die Suche nach einem solchen Weg erfordert eine weit ausholende Reise
über den Atlantischen Ozean nach Süden, um festzustellen, ob Afrika mit den
Eismassen des Südpols zusammengewachsen ist oder irgendwo den Weg in den
Indischen Ozean freigibt. Dazu braucht man Schiffe, die diese unvorstellbar
langen Reisen überstehen und genügend Raum für Menschen und Vorräte
bieten. Gelänge das große Vorhaben, wäre es der größte Triumph, den die
Christenheit über die Mohammedaner erringen könnte!
Kurz darauf wird Prinz Heinrich vom Christusorden, der sich der Verteidigung
der Christenheit gegen die Moslems verschrieben hatte, zu seinem Großmeister
gewählt. Doch der Prinz ist sich bewußt, dass die Christenheit das Interesse an
Kreuzzügen verloren hat. Er weiß auch von der Unmöglichkeit, die Portugiesen
zu einem Kampf gegen das islamische Reich aufzustacheln. Das kleine
Königreich selbst konnte nicht hoffen, mehr zu tun, als es bisher gegen die
Mohammedaner im Mittelmeergebiet getan hatte. Wenn aber portugiesische
Schiffe lange genug auf See blieben, um diese Küsten zu erforschen, könnte
Enrique über die Verteidigungsstärke des Islams wertvolle Hinweise erhalten.
Ist sie an den entfernten Grenzen schwach, wie Enrique vermutete, dann ließe
sich dort das Imperium erfolgreich angreifen.
Ein solches Wagnis braucht aber Verbündete. Konnte vielleicht der sagenhafte
Priester Johannes ein Bundesgenosse sein, dessen Reich man seit dem
Mittelalter, genauer seit drei- oder vierhundert Jahren, im Inneren Afrikas
vermutet? Als sich das Reich der Moslems zum ersten Male ausdehnte, blieben
innerhalb seiner Grenzen einige Inseln des Christentums erhalten. Über
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Jahrhunderte hinweg konnte sich der Glaube – oder war es nur eine Legende? –
an ein mächtiges christliches Königreich des Priesterkönigs lebendig erhalten.
Jetzt dringen gar neue Nachrichten zu Enrique: der Priesterkönig sei ein
Abkömmling der Drei Weisen und regiere sein ererbtes Land mit Weisheit und
Gerechtigkeit. Sein Reich liege im schwarzen Äthiopien oder im Land, wo der
Heilige Thomas begraben liegt, irgendwo im märchenhaften Indien, und er habe
bereits ein starkes Moslemheer geschlagen. Das wäre der ideale Alliierte, die
entscheidende neue Kraft, mit der zusammen die Christen das Moslemreich
eindämmen könnten. Der Glaube an diese phantastische Möglichkeit ist für
Prinz Enrique ein weiterer Anreiz, einen Weg nach Süden zu suchen.
Am Beginn seiner großen Entdeckungsfahrten will Prinz Enrique den Heiligen
Krieg gegen den Islam aus einer neuen und noch nicht erprobten Richtung
aufnehmen, um neue Handelsmöglichkeiten für Portugal zu suchen, denn
Enrique glaubt – wie Gomes Eanes de Azurara, der Chronist, berichtet – »dass,
falls in den südlichen Gebieten Häfen vorhanden sind, viele Handelswaren von
ihnen zu niedrigen Preisen zurückgebracht werden können, weil es dort keine
anderen Menschen gibt, die mit ihnen konkurrieren.«. Er wird das Unbekannte
erforschen, um mehr über die Welt in Erfahrung zu bringen.
Da erreicht eine Sensation die gebildete Welt, die auch Enrique wahrlich
elekrisiert. Durch Zufall hatte ein Mönch auf dem Basar zu Konstantinopel die
Schriften des Claudius Ptolemäus wieder entdeckt, die seit der Eroberung
Alexandrias durch die Mauren vor mehr als 700 Jahren als verschollen galten.
Man hatte angenommen, dass sie, wie viele andere unersetzliche Werke, dem
Brand der berühmten Bibliothek Alexandrias zum Opfer gefallen waren.
Ptolemäus war Mathematiker und Geograph, er lebte einhundert Jahre nach
Christi Geburt und hatte durch lange Beobachtung und viele Berechnungen
bewiesen, dass die Erde den Mittelpunkt des Weltalls bildet, umkreist von den
Planeten und Fixsternen. Mit seinem geozentrischen Weltbild, lateinisch
Almagest genannt, legte er die erste systematische Ausarbeitung der Astronomie
vor. Die zweite große Schrift des Ptolemäus vermittelt die mathematischen
Kenntnisse für die Längen- und Breitenbestimmung von Orten. Er hatte auch
eine berühmte Weltkarte gezeichnet, auf ihr waren Europa, Asien und das tief
im Süden mit der Antarktis zusammengewachsene Afrika zu sehen.
Und genau dieser Punkt ist es, der Prinz Heinrich immer wieder zu denken gibt.
Wie weit können Schiffe nach Süden fahren? Ist Afrika mit dem Südpol
verbunden oder weichen seine Küsten vorher nach Osten, um einen Seeweg zum
Priester Johannes, nach Äthiopien oder Indien freizugeben? Er wird Nachschau
halten. Dann werden seine Schiffe auch auf die Quellen des Reichtums stoßen,
auf denen die legendären »Schätze des Orients« gründen.
Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt
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Prinz Heinrich vertieft er sich ins Studium der Mathematik,
Astronomie und Geographie. Systematisch entwickelt er eine neue
Wissenschaft: die Navigation. Er muß annehmen, dass seine
Kapitäne auf Ihren Fahrten das Land aus den Augen verlieren
werden. Um nicht durch die starken auflandigen Winde auf den
Strand getrieben zu werden, müssen die Seefahrer außerhalb der
Sichtweite des Landes fahren. Wie sollen sie sich orientieren, wie
ihren Kurs finden und wie wieder nach Portugal zurückkehren?
Sein Arbeitszimmer ist ein großer Raum mit zwei doppelflügeligen Türen und
einer Reihe hoher Fenster, vor denen sein mit Pergamenten und Papieren
bedeckter Schreibtisch steht. Von der nicht sehr hochgewölbten Decke hängen
einfache Kronleuchter, an den Wänden, statt Gobelins, Waffen oder Gemälden,
sind Karten zu sehen, Portolanos der bekannten Seegebiete mit ihren
charakteristischen Windrosen und dem Spinnenetz der Kurslinien, aber auch
Risse und Baupläne von Schiffen und Abbildungen des Sternenhimmels. Ein
kleiner Tisch im Hintergrund ist bedeckt mit Quadranten, einem Astrolabium
aus Messing und Sanduhren verschiedener Grösse.
Ruhelos überlegend läuft der Prinz auf und ab. Irrtum und Erkenntnis gehen
Hand in Hand! Das hat ihn schon Cëuta gelehrt. Nach Ptolemäus ist die Erde
kugelförmig. Stimmt das? Enrique betrachtet die Karte auf dem Tisch. Die Erde
darauf ist kreisrund und flach: eine Scheibe. Der Osten liegt oben, dort findet
sich auch der Garten Eden, das Paradies. Enrique weiß, dass es ein Garten mit
vielen Obstbäumen ist, darin der Baum des Lebens. Dort ist es weder kalt noch
heiß, nur ewiger Frühling, und es gibt eine Quelle, die den Garten bewässert.
Seit dem Sündenfall ist der Zutritt den Menschen verboten; der Garten ist nun
umhüllt von Flammen, einer Feuermauer, die bis zum Himmel reicht. Das
Wichtigste findet sich im Mittelpunkt des Kreises: Jerusalem, das Zentrum der
Welt! Darum verteilt sieht man drei Kontinente, Asien, Afrika und Europa, je
ein Kontinent für Noahs Söhne Sem, Ham und Japhet! Der äußere Rand wird
begrenzt vom Weltmeer, dort ist die Welt zuende, dahinter ist der Abgrund, das
Chaos.
Sieht so die Welt aus? Enrique hat Zweifel. Die Wahrheit benötigt völlig
anderen Quellen. Will man den Lauf der Welt in diese oder jene Richtung
umleiten, darf man dem, was als absolut wahr niedergeschrieben ist, nicht
vertrauen. Er sammelt alle Informationen, denen er habhaft werden kann. Was er
erfährt, bestärkt ihn in der Ansicht, dass die reale Welt anders beschaffen sein
muß, als man es ihn in der Jugendzeit gelehrt hat.
Da wird ihm eine Depesche von Duarte überbracht. In der Rolle findet er eine
Seekarte des westlichen Mittelmeers, dazu ein Brief: »Lieber Bruder, den
beigefügten Portolan haben wir auf einer maurischen Galeere gefunden, die
unsere Schiffe kürzlich kaperten und in Besitz genommen haben. Ich habe ihn
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mit Zustimmung des Königs, unseres gnädigen Vaters, zum Documento secreto
erklärt, da er uns besonders informativ erscheint. Das Kleinod wurde in
Mallorca vom Kartographen Jehuda Cresques, einem Experten für nautische
Instrumente und Landkartenherstellung, gezeichnet und ich glaube, sein
Schöpfer könnte Dir wegen seiner sorgfältigen Machart und Akkuratesse
nützlich sein.«
Wie Enrique den Portolan entrollt, findet er ein großes, buntes Blatt mit dem
Abbild des Mittelmeeres, er liest die in Antiqua gezeichneten Namen der Länder
und Städte, schaut auf die farbigen Windrosen, folgt mit den Augen dem
Spinnenetz ihrer Linien und erkennt zugleich die einzigartige Meisterschaft
eines Kundigen. Nichts ist hier zufällig oder schlampig eingetragen, wie er es so
oft schon erlebt hat. Der akribische Glanz dieses Portolans, seine Wesenlosigkeit
und Ferne, die von dieser gemalten Mediterranea ausgeht, behagt seinem ganz
in Abstraktion und Entrückung eingesponnenen Denken; hier sieht man nichts
vom Brandschein der Städte, von den Schutthalden der Kriege; das Papier der
Landkarte ist sauber und glatt kein, Blutfleck, keine Asche haftet an ihm, alles
ist Wissen und Intellekt.
Lange betrachtet Enrique die Karte mit großem Interesse, dann lehnt er sich
zurück, überfliegt noch einmal die Nachricht seines Bruders und bleibt mit den
Augen am Namen des Kartographen hängen. Jehuda Cresques! – Jehuda
Cresques! Das muß der Sohn des bekannten Abraham sein, der anno 1375 den
berühmten Katalanischen Atlas für den König von Aragon gezeichnet hatte. Der
Sohn – oder der Neffe? Egal, jedenfalls ein Mitglied der Familie, und er wird
von seinem angesehenen Verwandten in die Kunst der Kartenmacherei
eingeführt worden sein.
Abraham Cresques war Jude, und Mallorca war damals noch ein Königreich.
Der König kümmerte sich wenig um die Religion seiner Untertanen, solange sie
der Krone treu ergeben waren und die Steuern pünktlich bezahlten. Deshalb
siedelten sich auf der Insel viele jüdische und maurische Gelehrte und Händler
an, die andernorts nicht willkommen waren. Über die südfranzösischen
Provinzen Montpellier und Perpignan, die zum Besitz der mallorquinischen
Könige gehörten, hatten die Balearen Anschluß an das europäische Festland und
pflegten regen Warenaustausch bis nach Brüssel und Amsterdam hinauf;
Mallorca war ein Zentrum der Seefahrt und des Handels. Aber nach der Schlacht
von Llucmajor ist Mallorca an Aragon gefallen, und 1412 gelangte mit
Ferdinand I. von Antequera das kastilische Haus Trastámara in Aragonien an die
Macht. Heinrich weiß, dass Aragon neuerdings die Juden wieder verfolgt.
Nun, im Frühjahr 1417, sendet er einen geschickten Boten zu Meister Jehuda
nach Mallorca mit dem Angebot, in seine Dienste zu treten. Der Mann soll die
Karten der afrikanischen Küste und der Atlantikinseln verbessern, weil jede
Entdeckungsfahrt neue Informationen zurückbringen wird. Aber auch ein so
versierter Kartograph wie dieser Meister Jehuda wird nur eine beschränkte Hilfe
Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt
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für Enriques Lotsen sein, denn die wenigen zur Verfügung stehenden nautischen
Instrumente sind primitiv, man kann die Position eines Schiffes nur schätzen
und seinen Kurs unsicher bestimmen. Obwohl seit Jahrhunderten die
Ausrichtung einer Magnetnadel nach Norden hin bekannt ist, berichten
Schiffsführer immer wieder, dass sie häufig etliche Grade nach Osten oder
Westen abweichen. So werden sich seine Lotsen auf die Kenntnis des
Sternenhimmels verlassen müssen.
5
»Der Hebräer ist da, Euer Gnaden.«
»Welcher Hebräer?«
»Der Kartenmacher.«
Prinz Enrique schaut auf. »Cresques? Der Mallorquiner?«
Der Diener bestätigt: »Ja, Euer Gnaden, derselbe.«
»Schicke ihn herein.«
Der Diener hüstelt verlegen. »Er – Verzeihung, Euer Gnaden, ...«
»Was ist mit ihm?«
»Er riecht!«
»Ich werde es überleben.«
»Er riecht«, der Diener gibt sich einen Ruck, »nein, er stinkt. Außerdem ist er
zerlumpt.«
»Dann laß ihm ein Bad richten, kleide ihn und gib ihm zu essen. Aber dann will
ich ihn sehen!«
Der Diener verneigt sich und will sich entfernen. Da ruft Enrique ihm nach:
»Und weise ihm eine angenehme Kammer. Er ist mir wichtig!«
»Sehr wohl, Euer Gnaden.« Sichtlich irritiert schließt der Lakei die Tür hinter
sich.
Zwei Stunden später wird ihm der Jude wieder gemeldet und auf Enriques
Befehl betritt ein kleiner rundlicher Mann mit kurzem weißem Bart das
Arbeitszimmer. Er eilt auf Prinz Heinrich zu, sinkt vor ihm in die Knie und
versucht, die entgegengestreckte Hand zu küssen. »Nein«, sagt der, »laßt das!«
»Danke, Euer Gnaden!«
»Dank? Wofür?«
»Für die Zuflucht, die Ihr mir vor der Inquisition in Mallorca gewährt«,
antwortet, noch immer am Boden kniend, der Jude.
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»Steht auf, Jehuda Cresques. Ihr werdet noch Gelegenheit finden, mir zu danken
– mit Eurem Wissen.«
Cresques richtet sich auf. Enrique läßt sich in einen Sessel fallen und betrachtet
seinen Gast. Man hatte ihm ein einfaches Gewand gegeben, aber die Haltung des
kräftig gebauten Mannes und der offene Blick verraten einen wachen und
kritischen Geist.
»Wie alt seid Ihr?«
»Zweiundvierzig Jahre, Euer Gnaden.«
»Ich kenne den Namen Eures berühmten Vaters und den weit verbreiteten Ruhm
seines Könnens als Kartograph. Ich gehe davon aus, dass er vieles aus der Fülle
seines Wissens an den Sohn weitergegeben hat.«
»Er war mein Lehrmeister, wurde aber – Gott allein weiß, was ihm erspart
geblieben ist – schon vor elf Jahren zu seinen Vätern abberufen. Ich war damals
erst einunddreißig Jahre alt und es wird mir wohl nicht gelingen, sein Wissen
und seine Reife zu erringen.«
»Wie alt wurde Meister Abraham?« Das Interesse des Prinzen ist mehr als
höfliches Interesse.
»Mein Vater durfte das hohe Alter von einundsiebzig Jahren erreichen. Er ist bis
heute mein unerreichbares Vorbild.«
»Und seine Hinterlassenschaft? Ich meine, er hat in seinem Leben doch viele
Unterlagen, Aufzeichnungen weitgereister Händler und Kapitäne, wohl auch
Skizzen und Pläne der Reisenden gesammelt. Was ist mit diesem Vermächnis?«
»Ein Teil befindet sich in meinem Gepäck, ein anderer in meinem Kopf, Euer
Gnaden.«
»Nun, wir werden sehen, was Ihr von Eurem berühmten und verehrten Vater
lernen konntet. Darum habe ich Euch rufen lassen.«
Der Besucher verbeugt sich in Trauer und Dankbarkeit. »Ich danke Euch,
Hoheit, dass Ihr mir Asyl gewährt, auch wenn ich es dem Ansehen meines
Vaters verdanke.«
»Ich habe von den neuerlichen Verfolgungen gehört, denen die Juden in Aragon
ausgesetzt sind. Ich will nicht, dass Ferdinand von Antequera in seinem Wahn
die geistige Elite Mallorcas ausrottet. Darum mache ich mir Eure Kunst
dienlich. Wenn Ihr mir danken wollt, dann durch Loyalität.«
Der Jude nickt kaum merklich. »Ich werde es nicht vergessen, Eure Hoheit.
Doch wenn ich Euch meinen ›neuen‹ Namen nennen darf ...«
Enrique horcht auf. Cresques hat das Attribut »neu« merkwürdig betont. Er
versteht sofort. »Ihr seid getauft, ein Converso?«
»Ja, Euere Hoheit, und ich heiße jetzt Jacôme.«
Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt
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Der Prinz sieht den Besucher nachdenklich an. »Jacôme. So, so!« Und nach
einer Weile: »Gut, ich werde Euch Jacôme nennen.« Und er denkt: Vielleicht ist
das gut so, es muß ja nicht jeder wissen, dass Juden auf Kap São Vicente leben!
Cresques hat sich inzwischen verstohlen im Raum umgesehen. Er macht eine
Handbewegung zu den überall herumliegenden nautischen Gegenständen und
sagt: »Portolanos, Schiffsbaupläne, Astrolabien: es geht um Seefahrt?«
»Richtig.« Enrique deutet auf einen Stuhl. »Nehmt Platz, Jacôme.« Er wartet,
bis dieser sich gesetzt hat, dann fährt er fort: »Um meinen Kapitänen das
praktische, aber fundierte Rüstzeug der nautischen Wissenschaften zu geben, bin
ich seit einiger Zeit bemüht, eine Bibliothek zu gründen, in der alle wichtigen
Werke versammelt sind, die der Seefahrt und der Erforschung der Erde dienen.
In aller Welt sammeln meine Agenten Bücher und Handschriften, es sind schon
beachtliche Schätze zusammengetragen worden. Was wißt Ihr von der
Steuermannskunst?«
Cresques läßt sich willig examinieren. »Steuermannskunst beantwortet die
Fragen, welchen Weg über See man einzuschlagen hat und auf welchem Ort auf
See man sich befindet. Sie umfaßt auch den Bau und die Ausrüstung des
Schiffes und die eigentliche Kunst des Seemanns, sein Schiff zu handhaben.«
»Richtig! Das Mittelmeer befuhren schon die Kreter, Griechen und die
Phönizier, letztere segelten angeblich auch durch die Enge des Herkules. Aber
über ihr Ziel weiß ich nichts, und darum mag das nur ein Gerücht sein. Zur
Seefahrt übers große Westmeer haben wir kaum verläßliche Quellen. Nicht
umsonst nennt man ihn den Oceano Tenebroso, das Meer der Finsternis.«
»Die Phönizier wurden nicht nur als kluge Handelsleute und geschickte
Gewerbetreibende gepriesen, sie waren auch hervorragende Seefahrer und
lebten ursprünglich im Lande Kanaan, ihre Stadt war Sidon, und sie soll vor
mehr als 4400 Jahren gegründet worden sein. Der schmale Küstenraum bot
wenig Raum zu Ackerbau und Viehzucht, aber das Gebirge des Libanon mit
seinen Zedern lieferte in unmittelbarer Nähe das trefflichste Holz zum
Schiffsbau. Das Volk hatte einen regen Geist; es ersann die Buchstaben- und
Ziffernschrift, fertigte Schmuck aus Gold und Silber und brachte die Weberei
und Färberei zu so hoher Blüte, dass die Griechen das Land nach den schönen
Gewändern, die sie von dort bezogen, Phönizien, das heißt Purpurland nannten.
Aber sie waren auch als verschlagene Seeräuber verrufen.«
»Woher wißt Ihr das?«
»Die Bevölkerung Sidons war so rasch gewachsen, dass man schon 240 Jahre
später die Tochterstadt Tyrus gegründet hatte. Von der Üppigkeit und Pracht,
die in ihr herrschte, lesen wir in der großartigen Schilderung des 27. Kapitels
des Propheten Hesekiel. Die Schiffe durchfuhren das ganze mediterrane Meer
bis über die äußerste Grenze im Westen, und nach phönizischen Urkunden
wurde vor 2500 Jahren die Stadt Cadiz gegründet. Von hier aus knüpften sie
Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt
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Handelsbeziehungen nach Norden. Sie begründeten einen einträglichen
Zinnhandel mit den Fundorten in Britannien und sollen selbst bis zu den
Bernsteinküsten an der Ostsee vorgedrungen sein.«
Der Prinz hat mit wachsendem Interesse zugehört. Er hat einen Geographen
erwartet, aber hier offenbart sich ein Mann, aus dem das reiche Wissen eines
alten Volkes spricht. »Also das waren die Ziele der Phönizier!«, antwortet er.
»Aber das war auch nur Küstenseefahrt.«
»Sie stießen bald in ganz andere Gegenden vor! Vor 2400 Jahren schloß König
Hiram von Tyrus einen Vertrag mit König Salomo, um für den Tempelbau Gold
und Silber und edle Bauhölzer aus den Küstenländern des Indischen Ozeans zu
holen. Die Schiffe, welche durch das Rote Meer fuhren, hießen Orphirfahrer,
das heißt Südfahrer. Und vor 2000 Jahren schickte König Necho von Ägypten
phönizische Schiffe aus, um vom Arabischen Meer aus eine Fahrt nach Süden
um Afrika herum zu unternehmen, die – wie Herodot berichtet – drei Jahre
später von Westen her durch die Säulen des Herkules zurückkehrten. ›Sie
erzählten‹, schreibt Herodot, ›was zu glauben ich anderen überlasse, dass sie
bei ihrer Fahrt von Osten nach Westen um den Süden Afrikas die Sonne stets zur
Rechten gehabt hätten.‹ Und das, was Herodot bezweifelt, bestärkt mich an der
Glaubwürdigkeit dieser Reise.«
»Ja, da ist etwas dran. Wir denken uns nach Ptolemäus, dass die Erde keine
Scheibe, sondern eine Kugel ist. Weil aber Herodot nur das Mittelmeer kannte,
in dem man auf Westkurs die Sonne links sieht, war es für ihn nicht vorstellbar,
die Sonne bei gleicher Fahrtrichtung rechts zu haben. Aber leider haben die
nachfolgenden Zeiten vieles wieder ins Dunkel des Vergessens gehüllt.«
»In der Tat wird mit Recht geklagt, dass die Steuermannskunst auf der
Unendlichkeit der großen Ozeane noch immer ein so dunkles Gebiet ist, dass
man nur zu leicht irre gehen kann.«
»Wir werden die Ozeane erforschen, Jacôme« sagt Enrique entschieden, »und
um ein Schiff über See zu führen, braucht es befahrene Seeleute; dazu ist weder
ein beliebiger Ruderknecht noch ein belesener Gelehrter, sondern nur ein gut
geschulter Pilot fähig.«
»Es ist wahr, Hoheit, man kann vom Seemann nicht die Kenntnis der alten
Schriften verlangen, und vom Gelehrten nicht die Vertrautheit mit nautischen
Dingen.«
»Wenn man davon ausgeht, dass die alten Epiker, Dramatiker, Historiker und
Philosophen technisch-nautische Kenntnisse gehabt haben, finden wir doch –
wie zum Beispiel bei Aristophanes – viele Beispiele nautischer Situationen, die
uns dienen könnten.«
»Gerade das erscheint mir fraglich.«
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»Wieso das? Zu ihrer Zeit war doch das Schiff das einzige Fernreisemittel
überhaupt – vom Pferd abgesehen. Da kann man doch davon ausgehen, dass sie
damit einigermaßen Bescheid wußten.«
»Das mag für einige der Klassiker gelten, aber wir haben keinen Grund, alle ihre
Texte kritiklos anzunehmen. Ist es doch unglaublich, wieviel Unkenntnis,
wieviel Schein- und Halbwissen selbst die Kartographen haben.« Jacôme
Cresques war bei seinen letzten Worten aufgestanden und an den Tisch getreten,
auf dem er eine Seekarte entdeckt hatte. »Beim Anblick ihrer Portolane kommt
man oft nicht aus der heiteren Stimmung heraus. Seht her!«
Enrique trat stirnrunzelnd hinzu. »Wie meint Ihr das?«
»Nun, wenn man die zierlichen Abbildungen der Schiffe betrachtet, die die
Karte schmücken, merkt man bald, dass sie nicht von einem Sachkundigen
herrühren können. Auch der Nichtseemann findet auf den ersten Blick den
kindischen Widerspruch heraus: der Wind muß – wie hier – von vorn kommen,
weil die Segel back liegen, aber er bläst gleichzeitig von hinten, denn die Flagge
am Heck weht zum Bug hin aus.« Heinrich folgt mit den Augen dem zeigenden
Finger des Karthographen. Der weist auf eine schmückende Hafenszene am
Kartenrand. »Oder hier: das Schiff an der Mole. Die Sprossenleiter ist so schräg
an das Schiff gelegt, dass es nur einem Seiltänzer möglich ist, anders als auf
allen Vieren an Bord oder an Land zu gehen. Diese Künstler haben vielleicht
von einem Laufgang gehört, wissen aber nicht, dass sich der Seemann, um von
Bord an Land zu gehen, keiner halsbrechenden Sprossenleiter, sondern eines
starken Balkens oder eines Stegs bedient.«
»Was also soll man von den Quellen halten?« fragt Heinrich und fährt fort. »Die
Reisen im Mittelmeer, auch an der Küste des großen Westozeans hinauf nach
Brügge, Antwerpen und weiter, bedeuten für erfahrene Seeleute nichts anderes
als Küstenfahrt. Man orientiert sich nach Landmarken und findet so den Weg
zum Ziel. Nur, wo eine bekannte Bucht tiefer in das Land schneidet oder der
Küstenverlauf, wie bei der Biskaya, einen bekannten Winkel bildet, kürzt man
den Umweg auf direktem Kurs ab. Und wenn eine Insel in absehbarer Ferne
vom Land liegt, wagt man die Überfahrt. Aber schon außerhalb der heimischen
Gewässer ist die Seefahrt mühselig und voller Gefahren. Man muß fortwährend
die Wassertiefe loten, um nicht auf Grund zu geraten, und auch diese Vorsicht
wird überschätzt, wenn rauhe Untiefen oder Klippen so steil emporsteigen, dass
das Lot keine Warnung gibt. Wenn der Schiffer zudem von einem Sturm
überfallen wird und dem nahen Land zutreibt, wo es auf der Sandbank strandet
oder an Felsen zerschellt, dann mag er es als ein Wunder ansehen, wenn er das
nackte Leben retten kann.«
»So ist es in der Tat, Eure Hoheit. Das offene Meer hingegen birgt derlei
Bedrohungen nicht. Wenn Eure Kapitäne erst einmal den Mut gefunden haben
werden, ohne Sicht des Landes zu segeln und der hohen See zu trauen, dann
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werden sie sich bald überzeugen, dass die Tiefe weniger Gefahren bietet als die
Untiefe.«
»Darin liegt eine unserer Aufgaben, Jacôme. Wir müssen unseren Seefahrern –
Kapitänen, Piloten und Matrosen – die Furcht vor dem Unbekannten nehmen,
wir müssen gute und einfach zu bedienende Instrumente haben, mit denen es
möglich ist, einen durch nichts beeinträchtigten Kurs ohne Landsicht zu finden.
Unsere Seekarten – heute noch ungenau, lieblos und schlampig hergestellt –
müssen genau und immer besser werden, je mehr Informationen die Kapitäne
zurückbringen. Und das alles wird durch seetüchtige und wendige Schiffe
möglich werden, die den Seefahrern das Vertrauen in ihre Rückkehr garantieren
und die auch Platz für eine ausreichende Mannschaft sowie Tausch- und
Handelswaren bieten.«
»Nur so werden Eure Hoheit das stolze Ziel erreichen. Und wenn die Schiffe
nach Sturm und Flauten, durch Unwetter verschlagen und in Windstille von der
Strömung versetzt, nach vielen Abenteuern und langen Irrfahrten mit neuen
Waren und Erfahrungen die Heimat endlich wieder erreichen, wird mit dem
Erfolg die Lust zu neuen Taten wachsen und aus den zaghaften Küstenfahrern
werden kühne Seefahrer werden.«
»Ihr wißt zu begeistern, Jacôme. Aber bis dahin bleibt viel zu tun. Die
Beklommenheit vor dem unbegrenzten Ozean, von dem kein jenseitiges Ufer
winkt, ist noch zu besiegen! Noch wohnt die Furcht in den Köpfen und Herzen.
Wir müssen dem Seemann das Gestade verheißen, an er sich Ruhe von
beschwerlicher Reise erhoffen darf, wo er seine verbrauchten Vorräte ersetzen
und sein seeuntüchtig gewordenes Schiff ausbessern kann.«
»Ja, aber auch, dass seine Mühen von Euer Gnaden reichlich belohnt werden,
wenn er nach durchstandener Unternehmung mit Erfolg das heimische Portugal
wieder erreicht.«
»Seid ein schlauer Fuchs, Jacôme, das gefällt mir. Nichts spornt mehr an als die
Aussicht auf reichen Lohn!«
»Was nützt es, ferne und vielleicht feindliche Länder zu besuchen, wenn nach
der Rückkehr nicht fürstliche Erkenntlichkeit winkt? Mit Verlaub, aber Euer
Ehren tun nichts anderes. Die Kapitäne reisen mit der Verlockung, Reichtum zu
erringen hinaus; Euer Ziel ist es, den Reichtum der Welt nach Portugal zu
holen!«
Prinz Heinrich beginnt, im Raum hin und her zu laufen. »Unsere Seefahrt wird
keine Küstenfahrt mehr sein, Cresques! Schaut!« Er eilt an eines der Fenster,
von denen man auf den Atlantik hinaussieht. Mit ausgestrecktem Arm zeigt er in
die Abendsonne, nach Südwesten. »Dorthin müssen unsere Schiffe reisen, dort
werden sie hinter dem Horizont verschwinden, wir werden ihnen nachschauen
und auf ihre Rückkehr warten. Sie werden ihren Kurs nach der Sternen
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berechnen müssen, die Sterne werden ihnen den Weg zu fremden Königreichen
weisen, und die Sterne müssen sie wieder heimführen!«
Auch Cresques erhebt sich vom Stuhl, bleibt aber im Hintergrund des
Arbeitszimmers stehen und beobachtet den Prinzen, von dessen Begeisterung
angesteckt.
Heinrich dreht sich brüsk um und fragt: »Und was wußten eure Phönizier
darüber? Sie haben doch angeblich Afrika umfahren?«
»Die Phönizier waren verschwiegen und wollten keine Konkurrenz; darum hat
man von ihnen kaum eine Aufzeichnung. Aber der griechische Geograph und
Historiker Strabo schildert sie zu Beginn der christlichen Zeitrechnung als
fleißige Forscher der Himmelskunde, weil die Kenntnis der Gestirne der
Schiffahrt wie dem Handel unentbehrlich waren. Und Plinius sagt – er kam beim
Vesuvausbruch im Jahre 79 ums Leben: ›Die Sternbeobachtungen wendeten
zuerst die Phönizier an‹. Auch ist es bezeichnend, dass Thales von Milet ein
Sohn phönizischer Eltern war. 600 Jahre vor Strabo lehrte er, dass der Himmel
eine hohle Kugel sei, welche die auf dem Wasser schwimmende Erdscheibe
umgebe. Doch schon fünf Jahrzehnte später trat Pythagoras auf. Ihm kommt das
Verdienst zu, als Erster die Kugelgestalt der Erde erkannt zu haben; den Beweis
dafür lieferte dann Aristoteles 350 Jahre vor christlicher Zeitrechnung. Er zeigte
die kreisförmige Begrenzung des Erdschattens bei Mondfinsternissen und
beobachtete, dass sich der Scheitelpunkt verschiebt, wenn man seinen Standort
nach Nord oder Süd verändert.«
»Ja, Jacôme, ich habe das gelesen. Daraus ergibt sich, dass man in Ägypten
südliche Sterne sehen kann, die in nördlichen Gegenden nicht mehr aufgehen,
während wieder nördliche Sterne, die in südlichen Gegenden auf- und
untergehen, in nördlichen Breiten während ihres ganzen Umlaufs über dem
Horizont gesehen werden. Ptolemäus errechnete daraus sogar den Umfang der
Weltkugel.«
»Wir werden uns das Wissen der Antike, besonders das des Ptolemäus, zum
Wohle Eurer Kapitäne und damit Portugals zunutze machen, Euer Gnaden – wie
es auch die Mauren tun.«
Heinrich läßt sich wieder in seinem Sessel nieder. »Ja, die Mauren«, sagt er
nachdenklich. »Heute gehört ihnen die halbe Welt. Sie beherrschen nicht nur die
Länder von Arabien nach Indien und Nordafrika, noch immer sind sie am Djebel
al-Tarik (Gibraltar) und in Granada ein Stachel in iberischem Fleisch. Ihre
Schiffe segeln – wie man hört – vom Roten Meer über den Indischen Ozean und
weiter!« Und zum Kartographen gewandt fragt er: »Was hat Ptolemäus mit den
Arabern zu tun?«
»Der Schlüssel zu Ptolemäus«, erwidert der Kartograph, »ist seine Lehre der
Gestirnsbewegung. Die Sonne, der Mond und die Planeten bewegen sich in
unterschiedlichen Entfernungen, den Differenten, um die Erde. Jedes dieser
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Gestirne bewegt sich seinerseits auf einer kleinen Kreisbahn um sich selbst. Dies
erklärt, warum wir auf der Erde stets sich ändernde Konstellationen beobachten
können.«
»Und das haben sich die Araber nutzbar gemacht?«
»Ja, Euer Gnaden. Als die Lenker der römischen Kirche die Welt als Scheibe
zum Bestandteil des christlichen Glaubens erhoben, versank das Wissen der
Antike im Strom des Vergessens. Allerdings –«, der Jude lächelte verschmitzt,
»allerdings nur für die gewöhnlichen Gläubigen. Meinem Vater wurden, als er
am ›Atlas‹ arbeitete, geheime Unterlagen aus der vatikanischen Bibliothek
zugespielt, die auf die Griechen zurückgingen. Und für die Byzantiner, die ja
heute noch so stolz auf ihre griechische Herkunft sind, blieben Pythagoras,
Aristoteles und Ptolemäus immer Heilige.«
Der Prinz wird ungeduldig. »Komm endlich auf die Araber zu sprechen!«
»Auch die Araber hielten antikes Wissen hoch. Sie mögen in ihrem Glauben
noch so fanatisch sein, im Umgang mit den Wissenschaften verhielten sie sich
pragmatisch und übernahmen vieles, was die Menschen des Altertums schon
wußten. Und seit dem Altertum besaßen die Araber, wie die geographische Lage
Arabiens einleuchtet, eine reiche und praktische Länderkunde, denn sie
vermittelten doch den Verkehr zwischen Indien und Ostafrika einerseits, dem
römischen Reich und den Euphrat- und Tigrisländern andererseits.«
»So wie sie heute die Plätze Genua und Venedig mit ihren starken Märkten
unterstützen!«
»Ja. Aber anfangs haben sie sich die Erde als ein Haus oder Zelt vorgestellt, und
Mohammed spricht von der Erde, die Gott den Menschen wie einen Teppich
ausgebreitet hat. Wie Ihr wißt, ist der Koran nicht nur ein religiöses Buch, wie
beispielsweise die Bibel, er bestimmt auch weitgehend das tägliche Leben der
Mauren. So ist es auch logisch begründet, dass die ersten Eroberungstruppen
den Handelsstraßen folgten.«
»Allerdings, und ihr geographischer Horizont weitete sich in wenigen Jahren
ungemein. Sie waren beritten und überfluteten auf ihren schnellen Pferden große
Teile Asiens und Afrikas.«
»Nicht nur deshalb, verehrter Prinz. Die arabischen Feldherrn unterrichteten sich
vor ihren Feldzügen als gute Strategen über Wege und Straßen, über
Entfernungen und Hindernisse, zum Beispiel Gebirge und Flüsse, natürlich auch
über die Größe und Stärke feindlicher Völker. Und sie eroberten zuerst die
Länder alter Kulturen, drangen in die Türkei und nach Persien bis Buchara und
Samarkand vor. Dort waren die Straßen gut erhalten und mit Meilensteinen
besetzt, es existierte auch eine gut organisierte Staatspost. Alle diese
Institutionen machten sich die Araber zunutze, die eingesessenen Beamten
durften ihre Posten behalten, denn sie waren dazu viel besser geeignet als die
unsteten Araber. So konnten sie aber auch weiterhin ihre Kräfte gebündelt
Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt
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einsetzen, wandten sich nach Nordafrika und überranten alle Länder bis nach
Portugal und Spanien.«
»Gut, gut, aber aus Portugal haben wir sie schon 1279 wieder verjagt. Was hat
das mit arabischer Geographie zu tun?«
»Der Islam verlangt von seinen Bekennern, dass sie beim Gebet ihr Antlitz
gegen ihre heilige Moschee von Mekka richten. Das ist leicht zu erfüllen, wenn
man sich nur wenige Tagereisen weit von dieser Stadt aufhält. Aber bei
größeren Entfernungen erheischt dieses Gebot, wenn man ihm genau
nachkommen will, geographische und astronomische Kenntnisse. Darüber
hinaus ist jeder gläubige Muslim verpflichtet, einmal in seinem Leben eine
Pilgerfahrt nach Mekka zu unternehmen, und auch diese Vorschrift regte den
geographischen Sinn an. Deshalb mußten sich die Araber aus ganz alltäglichen
Gründen den mathematischen Grundlagen der Geographie zuwenden.«
Dämmerung hat sich ausgebreiten; der Nachmittag ist dem Abend gewichen,
aber die beiden Männer merken nichts davon.
»Wie unwissend wir sind, Jacôme.« Enrique, der stolze Prinz von Portugal,
erkennt plötzlich, dass der Jude nicht nur Kartenmacher ist. Jacôme Cresques ist
nicht, wie viele Christen, von die Wissenschaften einengenden
Glaubensgrundsätzen beschwert. Gespannte Erwartung erfüllt ihn angesichts des
reichen Wissensschatzes des Mallorquiners. »Redet weiter!«
»Nun es ist sicher, dass die begehrten Handelsgüter Genuas und Venedig – also
die Gewürze, Seiden und Perlen – von den Arabern über den Indischen Ozean
und das Rote Meer herbeigeschafft werden. Dort besteht seit ältesten Zeiten ein
lebhafter Schiffsverkehr. Wir wissen das aus den Aufzeichnungen des Ibn
Batuta. Die arabischen und – nicht in letzter Linie – chinesischen Seefahrer
benutzen gewiß einige wichtige Hilfsmittel, zum Beispiel Instrumente, um die
Sternenhöhe zu messen; wir kennen zum Beispiel das Astrolabium. Doch haben
sie wahrscheinlich auch eine Art von Seekarten.«
»Woher wollt Ihr das wissen?«
»Der arabische Gelehrte Haggi Halfa, genannt Bulak, schreibt schon 1274 über
die Geographie: ›Dies ist ein griechisches Wort mit der Bedeutung: Darstellung
der Erde. Sie ist eine Wissenschaft, durch die man die Zustände der Klimate, die
auf dem bewohnten Viertel der Erdoberfläche liegen, ferner die Breiten und
Längen der Länder, die darauf liegen, die Zahl ihrer Städte, Gebirge,
Festländer, Meere, Flüsse und anderes mehr erfährt.‹«
Es war fast dunkel im Saal. Der Prinz konnte die Gestalt des Kartographen nur
noch als Umriß erkennen. Gespannt und voll ungebrochenen Interesses lauscht
er der sanften Stimme.
»Und dann schreibt Haggi Halfa: ›Der erste, der in dieser Wissenschaft ein
Buch verfaßte, war Batlamyus al-Kalauzi, denn er verfaßte, nachdem er den
Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt
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,Almagest‘ geschrieben hat, auch das Buch, das unter dem Namen ,Gagrafiya‘
bekannt ist!‹«
Der Prinz springt auf. »Wie war der Name des Verfassers?«
»Batlamyus al-Kalauzi.«
»Das ist –?«
»Ja, edler Prinz, Ihr habt es erkannt. Es ist der arabische Name für Claudius
Ptolemäus!«
»Stimmt es, dass das verschollene Werk wieder aufgetaucht ist?«
»Ja, in Konstantinopel. Ein Mönch fand es unter Plunder auf dem Basar.«
»Und? Können wir daraus Nutzen ziehen?«
Heinrich kann nicht sehen, dass Jacôme Cresques befriedigt lächelt. »Ich glaube
schon, Euer Gnaden, denn es ist mir gelungen, eine Kopie zu beschaffen. Schon
seit einiger Zeit arbeite ich an der Übersetzung der ›Geograhia‹ des Ptolemäus.
Die vorhandenen Auszüge – und bald das ganze Werk – stehen Portugal
selbstverständlich zur Verfügung.« Er zieht ein Bündel eng beschriebener
Blätter aus seinem weiten Gewand und legt es vor den Prinzen auf den Tisch.
»Erlaubt mir, Euch zu danken, »Illustrissime!« Enrique, sonst immer sehr
zurückhaltend, reicht dem Juden spontan die Hand. »Es wird meine nächste
Aufgabe sein«, fährt er fort, »Männer zu finden, die in Sagrés auch die Weisheit
der antiken Gelehrten verbreiten.«
»Das wird nicht schwer sein, Hoheit«, entgegnet Jacôme, »heute, da Mallorca
von Aragon annektiert wurde und das Königreich Mallorca nicht mehr existiert,
kann man überall im Abendland geflüchtete Gelehrte finden, die gezwungen
sind, von ihrer Bildung, vom Verkauf ihrer Bücher und ihren Kenntnissen zu
leben. Ihr werdet nicht lange nach geeigneten Helfern für Euer Werk zu suchen
brauchen.«
6
Während sie über den Weg diskutieren, entstehen zu Sagrés
die Vehikel, die ihre Theorien zur Praxis machen sollen.
Wenn der Südwestwind vom Atlantik herüberweht, kann
man hier oben auf dem Cabo São Vincente den Lärm von Sägen und Hämmern
auf der Werft vernehmen. Emsig werken seine Fachleute an der Gerippen der
Schiffsrümpfe, versehen die eichenen Schiffsrümpfe mit Planken aus
Strandkiefer, verlegen Steven und Plankengänge mit Pinienholz und geben den
Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt
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Schiffen nach Art der Hansekoggen axiale Steuerruder, die von riesigen Pinnen
bewegt werden müssen. Bis zu 3000 Bäumen benötigen sie für jedes Schiff.
Heinrichs Schiffsbauer entwickeln einen neuen Schiffstyp: leicht gebaut, mit
starken Decks und genügend Tonnage, um ausreichende Wasser- und
Nahrungsmittelvorräte für lange Seereisen aufzunehmen. Karavellen können
länger auf See bleiben, als jeder andere Schiffstyp vorher, und sind auch in der
Lage, die Segel den Erfordernissen anzupassen: dreieckigen Lateinsegel für
leichte bis starke Winde bei raumen Kursen und am Wind, sowie quadratische
Rahsegel, um achterliche Winde für eine rasche Fahrt zu nützen.
Karavellen sind speziell dafür konstruiert, die Entdecker wieder nach Hause zu
bringen. Die vertraute schwerfällige und mit Rahsegeln ausgestattete Barca oder
die noch größere Karacke sind für das Segeln vor dem Wind gedacht. Im
Mittelmeer, wo die Größe eines Schiffes Maßstab seines Nutzens ist, sind sie die
richtigen Schiffe. Große Schiffe bedeuten mehr Profit aus größerer Ladung.
Aber ein Entdeckerschiff hat seine eigenen Probleme. Es ist kein Frachtschiff,
muß lange Entfernungen in unbekannten Gewässern zurücklegen und muß auch
gegen den Wind kreuzen können. Ein Forschungsschiff taugt nichts, wenn es
nicht hin- und wieder zurück gelangen kann. Seine wichtigste Ladung besteht
aus Nachrichten, die man auf wenig Papier niedergeschrieben befördern kann!
Notfalls genügt dafür der Verstand eines Mannes!
Entdeckerschiffe müssen nicht sehr groß sein, aber wendig, gut manövrierfähig
und vor allem rückkehrfähig. Man kennt die großen Windsysteme, die die
Ozeane beherrschen; Schiffe, die vor dem Wind davonsegeln, werden meist bei
Gegenwind heimkehren müssen. Die Schiffe des Mittelmeers nützen den
Entdeckern nichts. Die Karavelle wird beweisen, dass größer nicht immer besser
bedeuten muß. Vorbild zu dem neuen Schiffstyp ist die Dhau der Araber. Die
mit einem schräg hängenden, dreieckigen Lateinersegel getakelte Dhau
transportiert dreißig Mann und siebzig Pferde und zeichnet sich durch besonders
gute Manövrierfähigkeit aus. Hinzu kommt, dass eine Karavelle wegen ihres
geringen Tiefgangs besonders befähigt ist, küstennahe Gewässer zu erforschen
und dass sie für Reparaturen oder zum Kalfatern leicht auf den Strand gesetzt
werden kann. Während die rahgetakelte Barca bestenfalls 67 Grad an den Wind
gehen kann, segelt die Karavelle 55 Grad hoch am Wind. Wenn also eine Barca
beim Kreuzen fünfmal über Stag gehen muß, laviert die Karavelle nur dreimal.
Die Einsparung an Entfernung und Zeit von einem Drittel kann bei den großen
Distanzen, die die Seefahrer erwarten, mehrere Wochen bedeuten. Der
Seemann, der weiß, dass er ein speziell für seine Sicherheit und schnelle
Rückkehr entworfenes Schiff segelt, wird mehr Selbstvertrauen haben und
größere Bereitschaft zeigen, längere Reisen ins Unbekannte zu wagen.
Zur gleichen Zeit, da die Schiffe entstehen, studieren begabte Seeleute unter
Anleitung berühmter Nautiker, Kartographen und der besten Praktiker alte und
neue Unterlagen zur Seefahrt. In Prinz Heinrichs Seefahrtsschule werden mutige
Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt
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Kapitäne und Piloten herangebildet, die mit guten Schiffen bald zu unbekannten
Küsten aufbrechen sollen.
Wichtigster Lehrstoff ist die Navigation. Besonders die Orientierung nach den
Gestirnen. Bei Nacht kann man, solange man sich nördlich des Erdäquators
befindet, den Polarstern sehen; man weiß, dass er sehr dicht beim Nordpol steht.
Dort ist Norden! An der wechselnden Stellung des Kleinen Bären kann auch die
Zeit abgelesen werden, denn der Polarstern im Norden ist sein Deichselstern, um
den sich das Sternbild dreht.
Am Tage, solange ein Schiff nördlich des Wendekreises des Krebses bleibt,
steht die Sonne am Mittag immer im Süden. Man rechnet, dass die Sonne in
jeder Stunde, die sie nach ihrem Erscheinen über dem Horizont an Höhe
gewinnt, um am Nachmittag wieder dem Untergangspunkt zuzueilen, 15 Grad
zurücklegt. Denn 24 Stunden mal 15 Grad ergibt einen Vollkreis Man kann also
die Sonne benutzen, um die Zeit am Tage ansagen zu können. Dazu dient ein auf
Deck senkrecht aufgestellter Stab, dessen Schatten am Vormittag kürzer, am
Nachmittag immer länger wird. Der Punkt, an dem der Schatten am kürzesten
verweilt, zeigt die Mittagszeit an.
Die Position eines Schiffes ist wesentlich schwieriger zu bestimmen als der
Kurs. Daher ist es äußerst kompliziert, die genaue Lage eines neuentdeckten
Kaps, einer Insel oder einer Flußmündung festzulegen. Die Wiederentdeckung
des Almagest des Ptolemäus gibt Anstöße, die Dinge neu zu überdenken. Bald
kann Meister Jacôme dem Ptolemäus zustimmen, dass die Angabe von Länge
und Breite die weitaus sicherste Methode ist, einen bestimmten Punkt auf der
Erde zu bezeichnen. Aber wie sollte das geschehen?
An Land läßt sich die geographische Breite durch Messung der Höhe des
Polarsternes über dem Horizont ableiten. Die Astronomen konnten schon lange
solche Messungen mit hoher Genauigkeit mit einem entsprechenden Instrument,
dem Astrolabium, durchführen. Aber das war an Deck eines schwankenden
Schiffes völlig unbrauchbar. Stattdessen benutzt man ein wirklich einfaches
»Instrument«: Die Finger der Hand! Wie hoch der Polarstern über dem Horizont
eines Schiffes steht, bestimmt man, indem man die Hand weit von sich streckt.
Wird der Raum zwischen Stern und Horizont durch die Dicke eines Fingers
ausgefüllt, steht der Stern 2 Grad über dem Horizont. Der Durchmesser des
Handgelenks entspricht einem Winkelabstand von 8 Grad, die volle Spanne
einer Hand etwa 18 Grad.
Für die Feststellung der geographischen Länge auf See müßte gleichzeitig die
Lokalzeit und die Zeit irgend eines anderen festen Ortes, z. B. des
Heimathafens, bekannt sein. Es gibt aber keine Methode, diese zwei Zeiten zur
gleichen Sekunde festzulegen. Um die Länge ihres Schiffswegs zu bestimmen,
müssen die Lotsen die grobe Schätzung der Entfernung zwischen zwei
Längenkreisen benutzen, die Ptolemäus festgelegt hatte. Sie müssen also genau
die Fahrt verfolgen, um sagen zu können, wie weit ihr Schiff westlich oder
Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt
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östlich gefahren ist. Man nennt das »Koppeln«. Dabei notieren die Lotsen die
Fahrtrichtung des Schiffes und wie lange sie in dieser Richtung fahren, dazu
noch die Schiffsgeschwindigkeit, die wie folgt festgestellt wird: Man bringt in
der Höhe des Schiffbugs ein schwimmendes Objekt auf die Wasseroberfläche
und stellt fest, wie lange es dauert, bis sie neben dem Schiff, dessen Länge ja
bekannt ist, vorbeigeglitten ist.
Doch diese schnell und auch nur grob gewonnenen Ergebnisse machen es den
Kartographen unmöglich, die genaue Lage von Örtlichkeiten durch ihre Breitenund Längenangabe zu fixieren. So werden die Karten der afrikanischen Küste
wohl noch einige Zeit gezeichnet, wie es die Seefahrer seit den Kreuzzügen
taten. Solche Portulankarten zeigen zahlreiche Windrosen, aus deren
Windstrahlen ein sich netzartig überschneidendes Gitternetz kreuzender Linien
die Navigation erleichtert. Die Linien entsprechen Kompassablesungen. Mit
Hilfe von Lineal und eines Zirkels kann der Lotse diejenige Gitterlinie
bestimmen, die parallel zum Kurs des Schiffes zwischen augenblicklicher
Position und dem Zielhafen liegt. Die Zurückverfolgung dieser Linie bis zum
Kompasspunkt, von der sie ausgeht, liefert dann die Kompassablesung, der der
Lotse mit seinem Schiff zu folgen hat.
So sind die Navigationsinstrumente, als Prinz Enrique seine ersten Schiffe
aussendet, kaum den wirklichen Notwendigkeiten einer Ozeanerforschung
angepaßt. Entsprechend unvollkommen sind Landkarten und kartographischen
Hilfsmittel. Aber Prinz Enrique hat zwei sehr wertvolle Pluspunkte auf seiner
Seite: Gute Schiffe und fähige Männer.
7
Mit großen Hoffnungen hatte Prinz Heinrich im Jahre 1418 seine
Entdeckungsfahrten begonnen. Er ließ seine Kapitäne an der Küste
Afrikas entlang segeln und glaubte, dass sie bald mit den
Nachrichten zurückkehren würden, die er hören wollte: die genaue
Erforschung der Küste und ihre kartographische Erfassung, die
Bekehrung einer Vielzahl von Nichtchristen zum wahren Glauben und wertvolle
neue Handelsverträge. Überall, wo sie an Land gingen, stellten sie ihre Padrões
auf, weithin sichtbare Steinsäulen mit dem Wappen Portugals; sie sollen
nachfolgenden Seefahrern den Weg weisen und gleichzeitig den Anspruch
Portugals auf diesen Landstrich dokumentieren. Aber der Prinz muß noch viele
Jahre warten, bis seine Träume auch nur teilweise in Erfüllung gehen.
Schauerliche Geschichten über ein Meer der Finsternis nehmen den Seeleuten
den Mut, die unbekannten Gewässer zu befahren. Kap Bojador, etwa 162
katalanische Meilen südlich der Kanarischen Inseln, gilt als besonders
gefährlich. Die Seeleute sagen von dem schmalen Landrücken an der Küste der
Sahara, dass keiner, der diesen Punkt umsegelt hat, jemals zurückgekehrt ist. So
oft und gut unterrichtet Heinrich seine Kapitäne und Matrosen auch hinaus
Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt
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schickte, konnten sich nicht überwinden, nur um der Forschung willen ihr Leben
zu riskieren.
Die Geschichten, die über das Meer jenseits von Kap Bojador im Umlauf sind,
können schon dem tapfersten Herzen Furcht bereiten. Einige behaupten, dass bei
Kap Bojador der Ozean koche und dampfe. Andere sagen, dass »es hinter
diesem Kap keine Menschen gäbe, kein Wasser, weder Bäume noch grüne
Pflanzen; die See sei so flach, dass sie kaum einen Faden Tiefe betrage, und das
drei Seemeilen von der Küste entfernt. Die Gezeiten seien so stark, dass kein
Schiff nach der Passage von Kap Bojador zurückkehren könne!« Es ist kein
Wunder, dass sich unter diesen Umständen die Matrosen fragen: »Warum sollen
gerade wir die Grenzen überschreiten, die unsere Vorfahren beachtet haben?
Auch ein Prinz kann nicht Gewinn erwarten, wenn er unsere Seelen und Körper
dafür einsetzt.«
Anstatt den Instruktionen Heinrichs zu folgen und auf einem südlichen Kurs um
Kap Bojador herum zu bleiben, drehen seine Seeleute rund 15 Jahre lang ständig
in andere Richtungen ab, kreuzen unschlüssig herum oder treiben Handel.
Einige segeln ostwärts ins Mittelmeer und geraten an seinem östlichen Ende in
die Gefangenschaft der Ungläubigen und die Sklaverei.
Heinrich ist ein ruhiger, sehr geduldiger Mann. Selten bestraft er die Lotsen und
Kapitäne wegen ihrer Irrfahrten. Aber er verfolgt hartnäckig sein Ziel. Immer
und immer wieder schickt er Karavellen nach Süden, und trotz der Furcht vor
dem berüchtigten Kap bringen einige der Kapitäne Nachrichten von neuen
Entdeckungen nach Hause. Die Kanarischen Inseln, Madeira und die Azoren
werden gefunden, besiedelt und als Stützpunkte und Versorgungshäfen für die
Schiffe, die der Route zu noch entfernteren Inseln folgen, ausgebaut.
Eigentlich sind es Wiederentdeckungen, denn alle drei Inselbereiche waren
schon in früheren Jahrhunderten bekannt. Um das Jahr 100 erwähnte Ptolemäus
die Kanaren und nannte sie die »Glücklichen Inseln«. Danach wurden sie von
Zeit zu Zeit von phönizischen, später von maurischen Seeleuten, von Genuesen,
Normannen und Spaniern aufgesucht. Und tatsächlich: als Heinrichs
Wiederentdeckungen ruchbar werden, meldet Kastilien sofort seine Ansprüche
auf die Inseln Lanzarote und Fuerteventura an. Da sie der afrikanischen Küste
am nächsten liegen, sind sie für Spanien strategisch bedeutungsvoll. Noch ist
Portugal schwach und muß nachgeben. Die übrigen Inseln des Archipels bleiben
vorerst portugiesisch und Heinrich bestimmt sie als Ausgangspunkte für
zukünftige Entdeckungsreisen nach Afrika.
1425 sendet er eine Flotte mit mehr als 2000 Mann und 100 Pferden aus, die
äußere Insel Gran Canaria zu erobern. Zwei Jahre später folgt eine andere Flotte
mit dem gleichen Auftrag. Beide Expeditionen sind nur mangelhaft ausgerüstet
und scheitern am hartnäckigen Widerstand der Eingeborenen. Aber von Zeit zu
Zeit werden die äußeren Inseln wieder bestürmt. Portugal bereitet den
Kastilianern mit den Eroberungszügen nicht wenig Sorge, und bald droht Krieg
Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt
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um den Besitz der Kanaren. Um Blutvergiessen zwischen christlichen Staaten zu
vermeiden, bitten Kastilien und Portugal den Papst, über die Frage der
Besitzrechte der Kanarischen Inseln zu entscheiden. Papst Eugen IV. spricht
Kastilien Lanzarote und Fuerteventura zu, muß aber Portugal freie Hand über
die äußeren Inseln von Gran Canaria, Teneriffa, Palma und Gomera gewähren.
Nun können Portugals Seefahrer die Inseln gefahrlos als Stützpunkt für
Trinkwasser- und Nahrungsmittelergänzungen anlaufen. Aber noch immer ist
Kap Bojador nicht umfahren worden! Heinrichs Geduld schmilzt wie sein Geld
allmählich dahin.
Gil Eanes, dem portugiesischen Landadel entstammend, gehört zu den
Hoffnungsträgern unter den Kapitänen. Prinz Heinrich vertraut ihm das
Kommando über eine Karavelle mit dem Befehl an, so weit wie möglich die
afrikanische Küste entlang zu segeln.
Tapfer fährt der Mann hinaus, aber am Ende »machte er die gleiche Reise wie
die anderen, weil ihn die gleiche Furcht überfiel; er segelte nicht über die
Kanarischen Inseln hinaus«, wie der Chronist Gomes de Zurara zu berichten
weiß. Bei seiner Rückkehr entschuldigt Eanes seinen Ungehorsam
unklugerweise mit Einzelheiten über die extremen Gefahren, vor denen ihn
andere Seeleute gewarnt hätten. Jetzt war Heinrichs Geduld am Ende:
»Tatsächlich, ich muß mich über die Einbildungen wundern, von denen ihr
besessen seid«, sagte er. »Sollten diese Dinge wirklich existieren, wenn auch in
nur winzigen Mengen, dann möchte ich noch Entschuldigungen für Euch haben.
Aber ich bin erstaunt darüber, dass Ihr solche Dinge von den Seeleuten
übernehmt, die weder den Kompass noch eine Seekarte zu handhaben wissen.«
Heinrich schickt Eanes erneut aus; und der »redete sich selbst resolut zu, nicht
mehr vor den Prinzen zu treten, ohne die ihm aufgetragene Mission beendet zu
haben.«
Dieser Entschluß kommt ihm wohl zustatten. 1434 kehrt Eanes mit der
freudigen Nachricht zurück, dass er Bojador umsegelt habe. Direkt hinter dem
Kap sei er gelandet und habe einige Pflanzen eingesammelt, die St. MarieRosen, um dem Prinzen zu zeigen, was dort wachse. Eanes hat eine Barriere der
Furcht und des Schreckens überwunden! Jahrhundertelang glaubten die
Seeleute, dass die Welt südlich von Bojador zuende sei, ein Abgrund voller
Schrecken und Unheil. Gil Eanes hat herausgefunden, dass das Meer und die
afrikanische Küste dahinter kaum anders beschaffen sind als nördlich des Kaps.
Eanes wird zum Ritter geschlagen. Nun sind auch andere Matrosen bereit und
erklären, sie würden noch weiter segeln als Eanes.
Prinz Heinrich weiß, dass der Erfolg Eanes den lang erwarteten Wendepunkt
seines Programms bedeutet. Diese Meinung teilt auch sein älterer Bruder
Duarte, der nach dem Tode des Vaters im Sommer 1433 zum König proklamiert
wird und der die finanzielle Situation Heinrichs entscheidend verbessert: Der
König investiert den »königlichen Anteil« aus dem schnell aufblühenden
Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt
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Exporthandel Madeiras – ein Fünftel des gesamten Gewinnes – in Heinrichs
Projekt.
Prinz Heinrich ist nicht mehr zu halten. Jahr um Jahr schickt er Expeditionen
aus, von denen jede ein Stückchen weiter ins Unbekannte vorstößt. Noch einmal
segelt Eanes Kurs Süd, diesmal mit dem königlichen Mundschenk Affonso
Baldaya. Mit zwei Schiffen gelangen sie 200 Meilen über Kap Bojador hinaus
und bringen die Nachricht zurück, dass man bei der Landung Fußspuren von
Menschen und Kamelen gesichtet hätte. Prinz Heinrich lobt sie voller Freude
und stellt fest: »Wenn Ihr diese Fußspuren tatsächlich gefunden habt, scheint es
mir, dass in nicht zu großer Entfernung von diesem Punkt Menschen wohnen
müssen, oder es waren zufällig vorbeiziehende Handelsleute mit Waren für
einen Seehafen. Daher möchte ich Euch sofort wieder dorthin schicken. Ich
ermahne Euch, Euer Bestes zu tun, mit diesen Leuten zu sprechen oder einige
einzufangen, so dass ich selbst Auskünfte über ihr Land einholen und mit diesen
Leuten sprechen kann, um festzustellen, ob sie Mauren oder Heiden sind oder
welches ihre Lebensart ist ...«
Baldaya steuert wiederum mit seiner kleinen Mannschaft nach Süden und
gelangt rund 100 weitere Meilen südlicher als Kap Bojador, bevor er in einer
Bucht landet. Er sendet zwei jüngere Matrosen auf mitgebrachten Pferden aus,
um nach Einheimischen oder Handelsleuten zu suchen. Nachdem sie mehrere
Kilometer an der Küste entlang geritten waren, treffen sie plötzlich auf eine
Gruppe von 19 Eingeborenen, die mit Speeren bewaffnet sind. Sie versuchen
Gefangene zu machen, können aber nur mit Mühe ihr eigenes Leben retten.
Trotzdem erreichen sie die Küste und berichten Baldaya über ihr Erlebnis. Am
nächsten Tag kehren er und einige seiner Männer zu dem Ort zurück. Doch die
Eingeboreren sind verschwunden. Baldaya kann seinen Auftrag nicht erfüllen.
Bevor er zurückkehrt, versucht er das Beste aus seiner Situation zu machen. Auf
einer Sandbank in der Nähe des Ankerplatzes seines Schiffes sehen sie
Tausende von Robben. Sie töten so viele Tiere, wie sie nur können, und laden
die Häute aufs Schiff. Es ist die erste Handelsladung, die Portugal aus dem
reichen Afrika bekommt. Bevor Baldaya zurücksegelt, fährt er nochmals 100
Meilen in südwestlicher Richtung weiter und kommt zu einer schmalen Bucht,
der er den Namen Rio de Oro (Goldfluß) gibt. Er weiß nicht; dass er tatsächlich
ein Gebiet erreicht hat, aus dem arabische Karawanen regelmäßig Gold holen.
Als Baldaya endlich seinen Heimathafen wieder erreicht, glaubt Heinrich, nun
sei die Zeit gekommen, die Entdeckungsfahrten in großem Maßstab
aufzunehmen, um seine Hoffnungen in Realität umzusetzen. Aber da zerstört ein
schlecht durchdachter Feldzug gegen Tanger das Glück Portugals.
Heinrichs jüngerer Bruder Fernão wartet im Alter von 34 Jahren ungeduldig auf
seine Bewährung als Ritter in einer Schlacht. Deshalb drängt er König Duarte,
den nordafrikanischen Hafen Tanger anzugreifen, eine islamische Festung, etwa
12 Leguas westlich von Cëuta. Widerstrebend beginnt der König im August
Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt
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1437 den Angriff. Das Unternehmen mißlingt; die Portugiesen erleiden eine
katastrophale Niederlage und die Moslems gestatten den Rückzug nur gegen die
Rückgabe von Cëuta. Außerdem erzwingen sie, Prinz Fernão als Geisel
zurückzulassen. Die Portugiesen gehen scheinbar darauf ein, Fernão geht in
Gefangenschaft, aber Cëuta wird den Mauren nicht zurückgegeben. Die Stadt ist
jetzt offiziell christlich, und die Kirche bleibt dabei, dass eine christliche Stadt
Gott gehöre und deshalb nicht den Ungläubigen übergeben werden könne.
Heinrich muß sich aus politischen Gründen fügen – die Geldquellen für seine
kostspieligen Expeditionen würden versiegen! So verharrt der unglückliche
Prinz in der Gefangenschaft der Moslems, wo er sechs Jahre später stirbt. Sein
Bruder, König Duarte, schon seit längerer Zeit kränklich, grämt sich voller
Gewissensbisse einem frühen Tod entgegen.
Der Thronfolger ist erst sechs Jahre alt; unter der Regentschaft seiner Mutter
wird er als Affonso V. König von Portugal. Doch die unbeirrte schrittweise
Erforschung der westafrikanischen Küste geht Jahr um Jahr weiter, obwohl die
kommerziellen Prämien dürftig sind. Im Jahre 1441 ziehen von Prinz Heinrichs
Hof Nuno Tristão und Antão Gonçalves aus und stoßen weitere
zweihundertfünfzig Meilen zum Kap Blanco vor, wo sie erstmals zwei
Eingeborene gefangen nehmen können. Bald bringt Eanes aus diesem Gebiet die
erste Menschenfracht zurück – zweihundert Afrikaner, die in Lagos als Sklaven
verkauft werden. Der Augenzeugenbericht des Chronisten Gomes de Zurara
über die erste europäische Episode im Sklavenhandel ist ein schmerzlicher
Ausblick auf kommendes Elend. »Mütter umarmen ihre Säuglinge und werfen
sich auf den Boden, um sie mit ihrem Leib zu decken, und achten dabei jede
Verletzung ihrer eigenen Person gering, um so zu verhindern, dass ihre Kinder
von ihnen getrennt werden.«
Doch Zurara behauptet auch, dass »sie freundlich behandelt werden und kein
Unterschied zwischen ihnen und den freigeborenen Bediensteten in Portugal
gemacht wird.« Man lehrt sie ein Handwerk, berichtet er, bekehre sie zum
Christentum, und schließlich schließen sie sogar Ehen mit Portugiesen.
Jacôme Cresques, der Geograph, erlebt die Ankunft dieser Menschenware aus
Afrika nicht mehr; er ist vor kurzem im Alter von 77 Jahren gestorben.
Fünfunddreißig Jahre lang hat er den Schatz neuer Welterkenntnis auf immer
wieder neuen Karten für die Kapitäne Heinrichs verzeichnet. Sie dienen nicht
nur dem praktischen Gebrauch auf See, sind nicht nur für die Navigation der
Piloten und Kapitäne auf ihren langen Reisen nach Süden gedacht, sie
dokumentieren in hoher künstlerischer Qualität auch das neue erdkundliche
Wissen, das sich im Laufe der Jahre angehäuft hat. Die Küstenlinien sind
genauestens erfaßt; in zierlicher humanistischer Minuskelschrift haben die
erkundeten Orte und Handelsniederlassungen, Buchten, Flüsse und Kaps,
weithin sichtbare Berge, Untiefen, gefährliche Riffe, Sandbänke und alle für die
Orientierung der Seefahrer wichtigen Phänomene in Latein und Portugiesisch
ihren Platz gefunden; alles ist von der Küstenlinie weg ins Landesinnere
Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt
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angeschrieben, um den Überblick nicht zu stören. Kunstvolle Tierkreisfiguren,
Abbildungen von Tritonen und Windallegorien zieren die Ränder, in den
Meeren schwimmen Walfische und Tümmler, stolze Karavellen folgen dem
Kursnetz der zahlreichen Windrosen, und an besonders gefährlichen Klippen
sieht man Schiffe in Seenot. In den Tiefen Afrikas brüllen Löwen,
Elefantenherden ziehen durchs Land und im weiten unerforschten Hinterland
des Schwarzen Kontinents  weil dort am meisten Platz ist  hat Meister Jacôme
Instrumente für Astronomie und Navigation plaziert: Armillasphäre und
Quadrant, Zirkel, Lineal und Lot; daneben eine Tabelle der Sonnendeklination
für die Breitengrade der neuen Handelsplätze der Portugiesen.
Die nach Portugal gebrachten Sklaven hatten einen Wandel in der Einstellung
der Öffentlichkeit gegenüber Prinz Heinrich zur Folge. Viele haben den Prinzen
kritisiert, dass er Mittel des Staates für seine müßigen Entdeckungen vergeude.
»Doch dann wurden die still, die am lautesten geklagt hatten, und priesen mit
leiser Stimme, was sie so laut und öffentlich getadelt hatten. Und so waren sie
gezwungen, ihre Kritik in öffentliches Lob zu verwandeln; denn sie sagten, es sei
klar, dass der Infant ein zweiter Alexander sei; und ihre Begierde wurde nun
immer größer.« Nun will jedermann Teil an diesem vielversprechenden
Guineahandel haben.
Als die Portugiesen Kap Verde umrunden, die Westspitze Afrikas, sind die
unfruchtbaren Küstenstriche passiert, und der portugiesische Handel mit
Westafrika füllt von jetzt ab fünfundzwanzig Karavellen jährlich. 1457 entdeckt
Alvise da Cadamosto bei seinem Vordringen entlang der Küste im Auftrag Prinz
Heinrichs zufällig die Kapverdischen Inseln und segelt dann die Flüsse Senegal
und Gambia sechzig Meilen landeinwärts hinauf. Cadamosto ist nicht nur ein
kühner, sondern auch einer der aufmerksamsten Entdecker Prinz Heinrichs. In
einem Bericht an Prinz Enrique über seine Reisen beschreibt die ersten
Reaktionen der Westafrikaner, nachdem sie die Portugiesen zu Gesicht
bekommen hatten.
»Ihr solltet wissen, dass diese Leute bisher keine Kenntnis hatten von
irgendwelchen Christen ... Es wurde festgestellt, dass sie bei dem ersten Anblick
von Schiffsegeln, also von Schiffen auf See, die weder sie noch ihre Vorväter je
gesehen hatten, meinten, dass dies große Seevögel mit weißen Flügeln seien, die
von irgendwelchen seltsamen Orten herbeigeflogen wären. Als die Segel kurz
vor der Ankerung gestrichen und eingeholt wurden, dachten einige
Eingeborene, die diese Manöver von weitem gesehen hatten, die Schiffe wären
Fische. Andere wiederum sagten, dass es Geister seien, die bei Nacht gekommen
waren, vor denen sie sich fürchten müßten. ...
Diese Neger, Männer und Frauen, umringten mich und starrten mich als ein
Wunder an. Es schien für sie ein neuer Zauber zu sein, Christen zu sehen, die sie
vorher nicht gesehen hatten. Sie wunderten sich über meine Kleidung genauso
wie über meine weiße Haut. Meine Kleidung entsprach der spanischen Mode:
Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt
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Ein Wams aus schwarzem Damast, über dem ich einen kurzen Umhang aus
grauer Wolle trug. Die Untersuchung meiner wollenen Kleidung bereitete ihnen
ein außerordentliches Vergnügen. Sie berührten meine Hände und Füße und
wollten mit ihrem Speichel meine Hautfarbe abreiben. Als sie merkten, dass es
wirklich Fleisch sei, waren sie erstaunt ... Die Neger bestaunten unseren Besitz,
vor allem unsere Armbrüste und besonders unsere Mörser. Ich zeigte ihnen, wie
man mit ihnen schießt, und der Donner des Abschusses machte sie besonders
ängstlich. Dann erzählte ich ihnen, dass ein einziger Mörserschuß mehr als 100
Männer töten würde, worüber sie sehr erstaunt waren und sagten, das wäre ein
Teufelswerkzeug.
Einer meiner Matrosen spielte ihnen auf dem Dudelsack vor. Der Klang rief bei
ihnen Verwunderung hervor. Nachdem sie das mit Bändern verzierte Instrument
besehen hatten, dachten sie, vor sich ein lebendes Tier zu haben, das mit
verschiedenen Stimmen singt. Darüber gerieten sie in höchstes Entzücken. Als
sie dann ihren Irrtum merkten, erzählte ich ihnen, dass dieses Ding ein
Instrument sei und legte es ihnen zusammengefaltet auf ihre Hände. Sie sahen
dann, dass dieses Ding von Hand gemacht war und sagten dabei, es sei ein
göttliches Instrument, von Gott selbst mit seinen Händen hergestellt, weil es so
süß mit vielen Stimmen singe.
Sie wunderten sich auch über die brennende Kerze im Kerzenhalter, weil sie
außer dem Feuer kein anderes Licht kannten. Für sie war daher der Anblick der
bisher völlig unbekannten Kerze schön und geheimnisvoll ... Nachdem ich ihnen
eine kleine Honigwabe geschenkt hatte, zeigte ich ihnen, wie man den Honig aus
dem Wachs herausholen kann und ... wie man aus diesem dann Kerzen
herstellen und diese anzünden kann. Darüber waren sie sehr verwundert und
erklärten, dass wir Christen doch alles kennen würden.«
Zu der Zeit, als Cadamosto heimkommt, ist Heinrich beinahe 70 Jahre alt und
kränklich. Er stirbt im November 1460, ohne die Länder gesehen zu haben, zu
deren Küsten er so viele Schiffe ausgesandt hatte. Aber durch die Berichte
seiner Kapitäne und Schreiber und durch seine sorgfältigen Studien aller
bekannt gewordenen Dinge über Westafrika wußte Heinrich über diesen Teil der
Welt mehr als jeder andere Mann seiner Zeit.
Die Könige von Portugal verfolgen seinen Weg weiter. Entdeckende und
erobernde Kapitäne, getrieben von Macht und der Gier nach Reichtum, segeln
hinaus. Neben den begehrten Waren bringen sie auch neues Wissen um die
Beschaffenheit der Erde zurück. In den stillen Bereichen der Wissenschaften
werden Erkenntnisse gewonnen, welche die Erde aus dem Mittelpunkt der
Schöpfung hinausführen in die Unendlichkeit eines nach göttlichen Gesetzen
bewegten Alls.
Von steter Unrast ist diese Epoche erfüllt, die der Menschheit die Tore in eine
neue Zeit öffnet.
Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt
WIE GROSS
GLOBUS?
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IST DER
Die Berechnungen des Kolumbus
über die Breite des Atlantiks und
seine Reisen im Auftrag Spaniens
Hell schien die Sonne Andalusiens von einem klarblauen Himmel. Es war der
2. Januar 1492. Prächtig gewandet zogen Los Reyes Catolicos, die Katholischen
Könige, in Granada ein. Das Publikum neigte sich respektvoll vor dem
Königspaar und bewunderte verstohlen das goldene Zaumzeug und die
kostbaren brokatenen Decken. Nervös ob der vielen Menschen tänzelte das
arabische Vollblut König Ferdinands II. von Aragon; neben ihm - auf einem
herrlichen Zelter - Isabella I. von Kastilien. Dem Königspaar folgte das
glänzendste Ritterheer, das die Welt bisher gesehen hatte. Die Kardinäle,
Herzöge, Grossmeister, Markgrafen, Grafen und Edelleute hatten zehn Jahre
gegen die Mauren gekämpft; allein die Belagerung Granadas hatte acht Monate
gedauert. Doch nun war diese letzte Festung der Ungläubigen gefallen,
Ferdinand konnte den noch fehlenden Stein in seine Krone einfügen. Dem
prunkvollen Zug folgte eine grosse Anzahl Würdenträger und Ritter, silbern
glänzten die prächtigen Harnische, Seide und Brokat rauschte, ein Wald von
Fahnen und Standarten wehte über den Köpfen, allen voran das Goldene Kreuz
von Aragon und die Königsfahne von Kastilien.
Ferdinand und Isabella waren zwei ungewöhnlich Menschen; für Spanien war es
ein Glück, dass sie zusammengefunden und ihre beiden Königreiche durch
Heirat zu einem einzigen Reich vereinigt hatten. Vor siebenhundert Jahren
hatten die Mauren grosse Teile Spaniens erobert, siebenhundert Jahre lang
haben spanische Könige von Asturien und Navarra aus für die
Wiederherstellung der verlorenen spanischen Einheit gekämpft. Innere
Uneinigkeiten hatten das Land zerrissen und immer wieder geschwächt. Aber
nun - nach siebenhundert Jahren unverdrossenen Widerstands und schwerer
Anstrengungen - konnten die Katholischen Könige, wie der ihnen von Papst
Alexander VI. verliehene Ehrentitel lautete, Granada als letzte von den Mauren
besetzte Stadt Spaniens befreien. Der Hunger hatte die Mauren schliesslich in
die Knie gezwungen. Wie in den meisten Fällen der zehnjährigen Reconquista,
der Rückeroberung spanischen Bodens von den Mauren, durften auch die
Bewohner Granadas ihrem Glauben treu bleiben und konnten ihr Besitztum
behalten. Der König war nicht für rachedurstiges Blutvergiessen; er vertraute
mehr auf die Macht der Tinte.
Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt
Seite 90
Bunte Tücher hingen zum Schmuck an den Häusern, durch die Gassen und
Strassen drängte sich eine wogende Masse: Soldaten der königlichen Heere
mischten sich als Zuschauer unter die Bevölkerung. Die Stadt war voll des
bunten Volkes, das jedem Heer folgt: fliegende Händler mit Maiskuchen und
Schinken, Getränkeverkäufer mit Wein und Trinkwasser, Wahrsager, Dirnen,
Mönche, Handwerker, Gaukler, Taschendiebe, dazu ungezählte Pferde und
Maultiere und der Tross von Karren und Wagen. Über der Stadt erhob sich die
Festung Alhambra; auch auf ihren Mauern und Wällen wimmelte es von
Menschen: maurische Soldaten der geschlagenen Garnison, verängstigtes
Weibervolk und misstrauische arabische Händler. Sie warteten auf die traurige
Stunde, die ihre Niederlage besiegeln sollte. Inmitten seines schweigsamen und
niedergeschlagenen Gefolges ritt Boabdil Abu Abd Allah Muhammad, der letzte
König von Granada, den Hügel herab. Beim Näherkommen verbreitete sich
Stille über die Stadt, die mitteilsame Geschwätzigkeit des Volkes verstummte,
und das Gefolge der Könige harrte erwartungsvoll. Einen Schritt vor König
Ferdinand verhielt Boabdil sein Pferd und schickte sich an, abzusteigen, um - als
Unterlegener - die Hand des siegreichen Königs zu küssen. Doch Ferdinand hob
abwehrend die Hand. Boabdil schaute Ferdinand ernst in die Augen, dann
wanderte sein Blick zur Königin, schliesslich verneigte er sich gemessen und
überreichte dem König die Schlüssel von Granada.
1492 - Muhammad XII. übergibt die Stadt an Königin Isabella I. von Kastilien
und König Ferdinand II. von Aragón
Ferdinand gab den Schlüssel an den Grafen Tandilla weiter, dann machte er ein
Zeichen mit der Hand. Das Goldene Kreuz und die Fahne wurden feierlich an
die Spitze des Zuges getragen, das Königspaar nahm Boabdil in ihre Mitte, und
Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt
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der Zug setzte sich zur Alhambra, der letzten Festung des Islam auf spanischem
Boden, in Bewegung. Im Burghof mit seinen goldenen Intarsien angekommen,
nahm das Königspaar auf einem mit Purpur ausgeschlagenen, etwas erhöhten
Thron Platz, Boabdil stellte sich hinter Ferdinand, um sie herum gruppierten
sich die Kardinäle, Herzöge, Grossmeister und andere Würdenträger; alle
warteten, bis Kreuz und Fahne, die beiden Wahrzeichen, von Offizieren in
goldenen Brustpanzern auf der Plattform des Festungsturmes befestigt waren.
Keine Trompete, keine Trommel war zu hören. Die Menschen vernahmen nur
das Pochen des Herzschlags in der eigenen Brust. Endlich rief ein Herold mit
lauter Stimme: «Granada - Granada dem König Ferdinand und der Königin
Isabella!» Die Spanier brachen in Jubel aus. Nach einer Weile hob Isabella die
Hand: der Chor stimmte ein feierliches Te Deum Laudamus an und die Königin
hielt
und kulturelle Einsichten vor. Aber: »Wenn unterschiedliche
Lebenswelten aufeinan-dertreffen, kommt es unausweichlich zu
Konflikten. Ein kultureller Wandel entsteht so-wohl aus friedlichen
Begegnungen wie auch durch gewaltsame Umbrüche, etwa Kriege,
Invasionen, Versklavung, die Inquisition, Pogrome und Exil.«
Aus einer vermeintlichen Bedrohung heraus versuchten die Päpste mit
»Kreuzzügen« die Muslime zu bekämpfen anstatt von ihnen zu lernen.
Kulturvermittler wie der Staufferkaiser Friedrich II. wurden sogar
geächtet. Dabei wurden arabische Güter in Europa immer mehr gefragt
und setzten sich durch. Es ist erstaunlich, wie armselig Europas Kultur
heute wäre, wenn der mühsam die Tränen zurück. Das maurische Joch war
abgeschüttelt, Spanien war frei.
Damit waren die Araber vom europäischen Kontinent vertrieben. Aus heutiger
Sicht, müsste man das bedauern! Der Islam und die katholische Kirche
bezeichneten sich seit jeher als »auserwählt«. Dabei war im Mittelalter der Islam
durch die kulturelle Weiterentwicklung der
griechischen Wissenschaften sowie Elementen der
chinesischen Wissenschaften dem
mitteleuropäischen Kulturkreis weit voraus.
Friedrich II. mit seinem Falken. Illustration aus seinem
Buch „De arte venandi cum avibus“ („Über die Kunst,
mit Vögeln zu jagen“) Biblioteca Apostolica Vaticana, Rom
(Pal. lat. 1071, fol. 1v Sizilien 1258-1266)
Starke islamische und jüdische Denkweisen
drangen langsam, aber unausweichlich in die
christliche Weltschau
Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt
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ein und bereiteten nach und nach neue Lebensformen Kontakt zum Nahen Osten
nicht bestanden hätte. Umso schlimmer ist es einzuschätzen, dass von diesem
Kulturaustausch in Europa heutzutage kaum etwas in den Schulen und Medien
berichtet wird. Europa verdankt den Arabern manches.
Kaum einhundert Jahre nach den Offenbarungen Mohammeds, der den
Islam begründete und den Koran niederschrieb, hatten die Araber die Welt von
Indien über Nordafrika bis Iberien erobert. Europa durchlebte damals die
»Jahrhunderte der Dunkelheit«, die kaum nennens-werte Fortschritte auf den
Gebieten Kultur und Wissenschaft gebracht hatten und in denen für die Bauern
und Bürger grosse Unsicherheiten herrschten. Die Araber hingegen schufen
unvorstellbare Neuerungen auf den Bereichen Naturwissenschaft und
Philosophie, sie bauten herrliche Paläste, entwickelten Bewässerungssysteme
und beobachteten den Himmel, schufen die Astronomie, die Chirurgie und
anderes. Und das alles unter der Herrschaft des Islam.
Heute hat der Islam im Westen bei vielen Menschen keinen guten Ruf.
Fanatiker aller Seiten schotten sich ab. Islamische Fundamentalisten haben den
»Heiligen Krieg« aus-gerufen, der Westen fürchtet eine schleichende
»Islamisierung«, die sich in der Ableh-nung von Kopftüchern, der
Verschleierung der Frauen und im Widerstand gegen den Bau von Minaretten
und in der Verunglimpfung des Korans manifestiert. Viele Europäer lehnen die
Homosexualität ab, aber kaum einem kommt ein gesetzliches Verbot in den
Sinn. Doch das das Feuer der Abneigung und Ausgrenzung gegen muslimische
Mitbürger wird von politischen Scharfmachern geschürt. Niemand weiss, das in
den Fussballstadien unbewusst der Ruf des Muezzins erschallt: »Olé!
Rhythmisch wiederholt in einer bestimmten, unverkennbaren Abfolge: Olé... Olé
Olé Olé. Die meisten Fans bringen den Schlachtgesang wahrscheinlich mit
Spanien in Verbindung, assoziieren damit Toreros oder Don Juan. Welcher
Hooligan weiss schon, dass der Schlachtruf, mit dem sich die Fans gegenseitig
aufpeitschen, das arabische Wort für Gott ist? Die Fussballstadien Europas
hallen wider von ›Allah!‹-Rufen. «
Europa verdankt der arabischen Welt manche zivilisatorische und
kulturelle Errungenschaft. Während zum Beispiel die Gabel als Esswerkzeug an
italienischen Fürstenhäusern erst im 16. Jahrhundert auftaucht, benutzte man sie
bereits im 4. Jahrhundert in Istanbul. Sie brauche mehr als tausend Jahre, um auf
langen Umwegen aus Kleinasien über das islamische Andalusien zuerst ins
übrige Spanien und dann nach Westeuropa zu gelangen. Auch die Begriffe
Bibliothek, Brunnen, Garten, Kaffee, Parfüm, Teppich und Zucker sind
arabischer Herkunft – sie gelten heute aber als »europäisch«!
»Aus dem Arabischen stammen auch »zahlreiche Wörter wie Safran,
Damast, lila, scharlachrot und Musselin und zahlreiche Kulturpflanzen wie
Reis, Zuckerrohr und Zitrusfrüchte. Der Begriff Chemie ist arabischen
Ursprungs, ebenso wie Natron, Kali und Alkohol. Von den Arabern lernten die
Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt
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Europäer, wie man Windmühlen baut, mit Rädern spinnt, Papier herstellt und
Linsen schleift. Bis ins Hochmittelalter wurde an wissenschaftlichen Kongressen
Arabisch gesprochen. Davon zeugen noch Begriffe wie Azimut, Algebra, Zenit,
aber auch Razzia; die sich in europäische Sprachen tradierten. Gestützt auf
ihren wissenschaftlich-technischen Vorsprung, dominierten arabische Länder
bis ins Hochmittelalter den Handel mit hochwertigen Gütern: Gewürze, edle
Textilien, Seide, Gerbstoffe. Europa lieferte nur die Rohstoffe dazu: Silber,
Wolle, Sklaven. Bis heute ist es ein großes Geheimnis der
Geschichtswissenschaft, warum die Araber ihren Vorsprung ab dem vierzehnten
Jahrhundert verloren haben.«
(Vorstehende Zitae aus: Trojanow, Ilija, und Hoskote, Ranjit; Kampfabsage; Kulturen bekämpfen sich
nicht - sie fliessen zusammen; aus dem Englischen von Heike Schlatterer, München, 2007.)
Aber damals, als das spanische Königspaar vertrauensvoll in die Zukunft
blicken konnte. stand das nächste Ziel schon fest. Die Herrschaft über die See,
die es anzustreben galt, war nicht vergessen gegangen. Besonders Isabella war
strategisch sehr begabt, und es war ihr auch während der Landkriege wichtig
gewesen, die Strasse von Gibraltar offen zu halten, auch wenn die Mauren sie
immer wieder zu sperren versuchten. Die Seekräfte Kastiliens hatten mehrmals
mit dem Landheer zusammengewirkt, beispielsweise bei der Einschliessung und
Blockade von Malaga. Man würde die Meerenge überqueren und die Mauren
auch von der nordafrikanischen Küste vertreiben, wo Portugal mit der Einnahme
von Cëuta den Anfang gemacht hatte. Neapel und Sizilen gehörte den
Katholischen Königen schon per Erbfolge, mit dem Vordringen in Nordafrika –
in Marokko, Tunis und Algier – würde man das Mittelmeer nach und nach zu
einem spanischen Meer machen.
Aber es sollte anders kommen. Unter den Zuschauern in Granada befanden sich
zwei Männer, die das Rad der Geschichte in eine andere Richtung drehen
wollten. Der eine - gross, hager und finster dreinblickend - war Tomás
Torquemada, der mächtige Grossinquisitor des «Sanctum Officium», der
Heiligen Inquisition, ein ehemaliger
Franziskanermönch. Der andere aber galt
noch nichts, doch schon bald sollte er aus
dem Dunkel der Anonymität hervortreten.
Christoph Kolumbus träumte von einem
asiatischen Land, das für Spanien zu finden
er sich auf den Weg nach Westen machen
wollte.
Französische Buchmalerei: Templer werden
auf dem Scheiterhaufen hingerichtet, um 1400
Die Inquisition betrieb seit dem Mittelalter
gerichtliche Untersuchungen gegen die
Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt
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Häretiker, die Ketzer. Der Sonderbeauftragte des Papstes, der Grossinquisitor,
ernannte in der ganzen katholischen Welt Inquisitoren (meist Dominikaner), die
für die Aufspürung Glaubensabtrünniger verantwortlich waren, wie sie die
Kirche überall im Lande vermutete. Besonders als Hexen verrufene Frauen und
getauften Juden waren gefährdet. Juden, die unter dem Druck der Kirche zum
Katholizismus übergetreten waren, galten generell als Scheinbekehrte,
sogenannte «Conversos». Schon 1215 forderte das Vierte Laterankonzil die
Auslieferung der verurteilten, in der «Casa Santa» (Haus der Inquisition)
eingekerkerten Ketzer an die weltliche Gewalt: die Kirche verurteilte, aber die
zum Handlanger degradierte Justiz vollzog! 1229 wurde auch das Verfahren und
die Bestrafung auf dem Konzil zu Toulouse «geregelt»: mit einer Aufforderung
an die Häretiker zur Selbstanzeige und an die Gläubigen zur Denunziation!
Nach der Vorladung bzw. Verhaftung wurde stets eine Untersuchung eingeleitet,
wobei die Folter als Instrument zur Erzwingung eines Schuldbekenntnisses
legales Mittel war. Den Angeklagten stand kein Verteidiger zur Seite, Namen
der Denunzianten und Zeugen blieben geheim. Die Strafen reichten von selten
ausgesprochenen harmlosen Kirchenstrafen bis zu häufigen Verurteilungen zum
Tod auf dem Scheiterhaufen.
Unter dem Grossinquisitor Thomas Torquemada war Spanien zu einem Land
fanatischer Religiosität geworden. Nachdem die Katholischen Könige Granada
erobert hatten, setzte eine organisierte Verfolgung aller Fremdgläubigen ein.
Das Versprechen nach Glaubensfreiheit galt nichts mehr, die weltliche Macht
vertrieb die Mauren, und die Inquisition verfolgte die Juden.
Torquemada war in Spanien gefürchtet. Böse Zungen raunten, sein Name leite
sich von «Torre cremata», verbrannter Turm, ab. Die «Braseros»
(Scheiterhaufen) - gleichen sie nicht brennenden Türmen? Colón hatte sie mehr
als einmal lodern gesehen, hatte von Ferne zugesehen, wenn die Verurteilten im
«Sanbenito» (Büssergewand), die «Caroza» (spitze Papiermütze) auf dem Kopf,
von den Waffenknechten herangeführt wurden. Meist herrschte fröhliches
Treiben auf dem Richtplatz. Fliegende Händler verkauften Wein und Würste an
die wartende Menge, die Verkäufer schrien sich die Seele aus dem Leib und die
Büttel mussten schon die ersten Betrunkenen fortschaffen. Hinter der
Absperrung sassen die Offiziellen und «Gäste», letztere waren meist
zwangsgeladene Angehörige, die dem Trauerspiel zur Abschreckung zuschauen
mussten. Im Spanien des ausklingenden 15. Jahrhunderts waren die meisten
Opfer der Inquisition getaufte Juden.
Die anderen Juden aber, die sich nicht taufen liessen, waren in Spanien
unerwünscht. Nur wenig Zeit hatte Thomas Torquemada den ungetauften Juden
gegeben, Spanien zu verlassen. Mit einem Dekret vom 31. März 1492 wurde die
Austreibung der Juden aus Spanien befohlen. Mitnehmen durften sie nur, was
sie tragen konnte. In der christlichen Bevölkerung fanden die Inquisitoren meist
breite Unterstützung. Den Juden waren handwerkliche und militärische Berufe
Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt
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vorenthalten; daraus ergab sich, dass viele von ihnen als Ärzte und
Wissenschaftler zu hohem Ansehen gelangten, die meisten jedoch als Händler
und Geldverleiher ihren Lebensunterhalt verdienten. Die Austreibung der Juden
war also auch eine gute Gelegenheit, sich seiner Schulden zu entledigen. Der
intellektuelle Aderlass stürzte Spanien in der Folge in eine schwere
wirtschaftliche Krise.
Unter den Glückwünschen, die nach dem Fall Granadas beim König und bei der
Königin eintrafen, befand sich auch ein Schreiben, das wie folgt begann:
«Allerchristliche, erhabene, hervorragende und mächtigste Fürsten, König und
Königin der Spanischen Lande und der Inseln im Meere, meine Gebieter: im
gegenwärtigen Jahr 1492 schlossen Eure Hoheiten den Krieg gegen die Mauren
ab, die noch in Europa regierten, und in der grossen Stadt Granada nahm der
Krieg sein Ende. Dort sah ich selbst in diesem Jahr, am zweiten Tag des Monats
Januar, wie dank dem Sieg der Waffen die königlichen Fahnen Eurer Hoheiten
auf den Türmen der Alhambra gehisst werden konnten ...» Die Unterschrift
lautete: Cristóbal Colón. Christoph Kolumbus brachte sich mit dem Brief in
Erinnerung, denn schon seit 1485 hatte er erstmals dem spanischen Königspaar
seinen Plan vorgetragen, Japan, China und Indien zu erreichen, indem er
westwärts über den Atlantik segeln wolle. Aber die Königin hatte eine
Expertenkommission eingesetzt, die nun schon sieben Jahre beriet und sich nicht
einig werden konnte.
Kolumbus ging von der schon damals wieder weitverbreiteten Theorie der Erde
als Kugel aus. Insofern war es logisch, dass man auf einer Kugel sowohl über
Osten als auch über Westen an einen bestimmten Punkt auf der anderen Seite
der Erdkugel gelangen konnte. Die Frage war nur, welches der nähere Weg war.
Und da hatte Kolumbus durchaus vernünftige Argumente, aus dem Wissen
seiner Zeit den westlichen Weg als den kürzeren anzunehmen. Seit 1488
Bartholomäus Diaz von seiner Afrikaumrundung heimgekehrt war, stand fest,
dass der schwarze Kontinent umsegelt werden konnte. Aber wie weit war es
noch nach Indien?
Namhafte Historiker, so auch Salvador de Madariaga, gehen von der
begründeten Vermutung aus, dass Kolumbus jüdischer Abstammung war, dass
er dies allerdings gut kaschiert habe. Und das aus gutem Grund: Wäre seine
jüdische Herkunft bekannt geworden, hätte auch er in die Fänge der Inquisition
geraten können. Aber seine genuesische Herkunft scheint unbestritten zu sein; in
Oberitalien war der jüdische Familienname Colombo (und Varianten davon)
verbreitet. Er kann u.a. in Genua, Turin, Casale, Modena und Livorno
nachgewiesen werden. Auch der Vorname Christoph wurde damals von vielen
bekehrten Juden gewählt. Simon Wiesenthal, Leiter der Jüdischen
Dokumentationszentrums in Wien, vertritt in einem 1992 veröffentlichten Buch
sogar die Ansicht, dass Kolumbus jenseits des Atlantik weder Gold noch
Gewürze suchte, sondern die «verlorenen Stämme Israels». Schon Marco Polo
hat von einem vorderindischen Königreich mit Namen Koulam berichtet, «in
Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt
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dem viele Juden und Christen leben, die eine eigene Sprache sprechen». Das
Wüten der Inquisition und die Vertreibung der Juden hätten Kolumbus - so
Wiesenthal - nach einem Refugium für die bedrohten Juden suchen lassen.
Kolumbus hatte seine seemännische Laufbahn in seiner Heimatstadt begonnen.
Genua pflegte seit vielen Jahren gute Handelsbeziehungen mit bedeutenden
Handelsplätzen Europas und Vorderasiens; Seefahrt war hier selbstverständlich.
1476, als der Genuese Christoph Kolumbus gerade fünfundzwanzig Jahre alt
und schon ein erfahrener Seemann war, wurde er als Steuermann mit einem
flämischen Schiff vor der portugiesischen Küste schiffbrüchig. Er konnte sich an
Land retten und ist zu seinem in Lissabon als Kartenmacher tätigen Bruder
Bartholomäus gezogen. Dort half er seinem Bruder und hatte Zugriff zum
geographischen Wissen seiner Zeit. Kolumbus hatte mit Sicherheit das berühmte
Buch von Marco Polo gelesen, in dem dieser die gewaltige Dimension Asiens
nach Osten beschreibt. Und er kannte auch die «Geographia» von Claudius
Ptolemäus. Damals bezeichnete man unter dem Begriff «Indien» nicht nur das,
was man heute Indien nennt, sondern ganz Asien. Aber niemand hatte eine
Ahnung, wie gross diese Ausdehnung wirklich sei, und von der Existenz
Amerika und des riesigen Pazifiks wusste man auch nichts. Kolumbus glaubte,
wie er selbst notiert hat, dass zwischen «dem Ende des Okzidents (Portugal) und
dem Ende Indiens (Asien) über Land (also nach Osten) eine sehr grosse
Entfernung besteht.» Kolumbus schloss daraus: «Die Entfernung von Portugal
über das Meer nach Indien (also nach Westen) ist sehr klein. Es ist
offensichtlich, dass man mit günstigem Wind dieses Meer in wenigen Tagen
durchqueren kann.»
Tatsächlich scheint schon zehn Jahre vorher von König Alfons V. von Portugal
eine Reise nach Indien über den westlichen Seeweg erwogen worden zu sein. Er
hatte den Rat des Florentiner Kosmographen und Astrologen Paolo Toscanelli
eingeholt, der in einem Brief vom 25. Juni 1474 «einen kürzeren Seeweg in die
Gewürzländer, als den, den Ihr über Guinea nehmt» vorschlug. Toscanelli hatte
sogar eine Karte beigefügt. Brief und Karte waren von den Portugiesen zum
Staatsgeheimnis erklärt worden, aber Kolumbus hatte (auf welche Art und
Weise auch immer) von diesem Brief gehört; er schrieb in heller Aufregung an
Toscanelli und bat um weitere Informationen. Toscanelli antwortete
aufmunternd und gab Kolumbus weitere Argumente und Berechnungen. Dazu
schickte er ebenfalls eine Karte, die Kolumbus später auf seine Reise mitnahm.
Warum war Kolumbus von der Kürze des westlichen Seewegs so überzeugt? Es
lag auf der Hand, dass der Westweg umso kürzer wurde, je grösser die
Ausdehnung Asiens nach Osten war. Die Wissenschaft ging - wie schon gesagt von der Kugelform der Erde aus. Auch ihre Einteilung in 360 Längengrade war
seit Eratosthenes und Claudius Ptolemäus üblich. Dazu wurde jedes Längengrad
in 60 Bogenminuten unterteilt. Die Erde hat also 360 x 60 = 21600
Bogenminuten. Und es gilt überall bis heute die Regel, eine Bogenminute am
Äquator auch einer Seemeile gleichzusetzen. Doch über zwei wesentliche
Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt
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Fragen herrschte noch Unklarheit: Erstens die Abstände von Längengrad zu
Längengrad am Äquator, die in ihrer Summe den Erdumfang ausmachen, und
zweitens die Ausdehnung Asiens nach Osten, weil im unbekannten «Rest» die
Breite des Atlantiks vermutet wurde. Woher sollten Kolumbus und seine
Zeitgenossen auch wissen, dass ein grosser, noch unentdeckter Kontinent und
der noch grössere Pazifik in ihren Kalkulationen fehlte?
Die Abstände der Längengrade - und damit die Länge einer Seemeile schwankte natürlich mit der Grösse, die man der gesamten Erde beimass. Im
Katalanischen Atlas des Abraham Cresques von 1375 werden 20’400 Meilen für
den Äquatorumfang angenommen, Fra Mauro schätzte 24’120 Meilen. Daraus
ergaben sich äquatoriale Längengrad-Abstände von 56 Meilen bis 67 Meilen.
Die richtige Zahl, 60 Meilen, sollte noch längere Zeit im Dunkeln bleiben.
Über die Ausdehnung der Landmasse von Portugal bis zur Ostspitze Chinas
existierten vielfältige Schätzungen. Kolumbus war ohne Zweifel sehr belesen
und er kannte wahrscheinlich alle wichtigen Aussagen zu diesem Thema. Sie
reichten von 116° im Katalanischen Atlas oder 125° bei Fra Mauro, von 177°
bei Ptolemäus bis zu 225°, wie Marinus von Thyros (100 Jahre v. Chr.) annahm.
Auch hier weicht die richtige Zahl erheblich ab: sie lautet 131°. Kolumbus
rechnete mit katalanischen Meilen aus dem Atlas von 1375; es schien ihm wohl
glaubwürdiger, den spanischen Hof mit einem spanischen Längenmass zu
überzeugen, aber für die Ostausdehnung Asiens legte er den Wert von Marinus
zugrunde. Ihm war bekannt, dass Ptolemäus 177° angenommen hatte, doch er
glaubte auch an einen Irrtum des Ptolemäus: man müsse noch «Indien jenseits
des Ganges», also den ganzen Fernen Osten, hinzuzählen. Damit kam er auf
282°. Kolumbus war überzeugt, dass er also nur 78 äquatoriale Längengrade zu
je 56,667 katalanischen Meilen (gleich 4420 katalanische bzw. 3530 moderne
Seemeilen) nach Westen segeln müsste, um die Ostspitze Asiens zu erreichen.
78 Grad sind auch beim wahren Erdumfang nur knapp 4700 Seemeilen, eine
Distanz, die heute von jeder seegängigen Jacht in vier bis sechs Wochen
zurückgelegt werden kann. Kuba liegt nur gut 4000 Seemeilen von der
spanischen Küste entfernt. Dass Kolumbus nach seiner Abreise zum erwarteten
Zeitpunkt Land sichtete, sollte ihn in seinem Glauben, Asien erreicht zu haben,
bestärken.
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Seite 98
Landung des Christoph Kolumbus auf San Salvador am 14. Oktober 1492
(nachempfundene Darstellung, Currier & Ives, United States Library of Congress's).
Im April 1492 weilte der Hof noch immer in Granada. Nachdem Kolumbus von
der Königin im Frühling eine abschlägige Antwort empfangen hatte, wollte er
enttäuscht sein Heil in Frankreich versuchen. Am 11. April, Kolumbus hatte
Granada gerade verlassen, wurde er zwei Meilen hinter dem Stadttor von einem
Kurierreiter der Königin eingeholt. Er solle für Spanien den Atlantik nach
Westen überqueren! Isabella forderte ihn auf, bei ihr vorzusprechen. Als er nicht
mehr an einen Auftrag der Königin glaubte, war er unversehens an sein grosses
Ziel gelangt.
Mit drei Schiffen konnte Kolumbus am 3. August 1492 westwärts in See
stechen. An Bord hatte er unter anderen einen hebräisch sprechenden
Dolmetscher! Am 2. August 1492 lief die den Juden von Torquemada gesetzte
Frist ab. Die spanische Krone hatte wenig Geld, man litt noch unter den Folgen
des Kriegs gegen die Mauren. So wurde die erste Reise ironischerweise von
Louis de Santangel finanziert, einem getauften Juden, Vermögensverwalter von
König Ferdinand und vertrauter Berater der Königin. Er war es auch, der
Isabella zugunsten Kolumbus’ Plänen umgestimmt hatte; vielleicht auch mit
dem Argument, die Welt von dem furchtbaren Vorgehen der Inquisition in
Spanien abzulenken. Denn dem spanischen Königspaar muss zugute gehalten
werden, dass es mit dem Wüten des vom Papst eingesetzten «Sanctum
Officium» im Herzen nicht einverstanden war. Es musste sich aber nach
damaliger Auffassung aus den Angelegenheiten einer hohen kirchlichen
Behörde heraushalten.
Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt
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Kolumbus’ Flaggschiff war die «Santa Maria», die er «la Não», das Schiff,
nannte. Die «Pinta» und die «Niña» bezeichnete er als «las Carabelas»
(Karavellen). Ein Chronist hat festgehalten, dass die «Santa Maria» erheblich
grösser als die beiden anderen Schiffe und damit ein Vorläufer der später
verbreiteten Galeonen gewesen sei. Am 12. Oktober sichtete ein Matrose auf der
«Pinta» als erster Land: es war Guanahani, wahrscheinlich das heutige Watling
Island, vielleicht waren es auch die Bahamas. Später entdeckten sie Kuba und
Haiti, wo die «Santa Maria» Schiffbruch erlitt. Im November gelangten die
beiden übrigen Schiffe nach Puerto Rico, fanden aber das Festland noch nicht.
Im März 1493 kehrte die Expedition nach Spanien zurück, und berichtete dort
von «Westindien», denn Kolumbus war überzeugt, einige Asien vorgelagerte
Inseln gefunden zu haben. Und wenn er auch die erhofften Schätze nicht
gefunden hatte, war seine Nachricht von den neuen Inseln eine Sensation.
Die Nachricht vom Erfolg des Kolumbus verbreitete sich in Windeseile.
Portugal, dessen König, Wissenschaftler und Kardinäle natürlich auch von der
Kugelform der Erde überzeugt waren, wurde hellhörig. Sollte Spanien, der
ewige Konkurrent, doch die bessere Politik machen und kurz vor dem grossen
Ziel stehen, Indien - und damit die Gewürzländer - zu erreichen? Die Stimmung
zwischen beiden Ländern verschlechterte sich, Krieg drohte; schliesslich rief
man den Papst als Schiedsrichter an. 1494 wurde auf Vermittlung von Papst
Alexander VI. zwischen Portugal und Spanien der Vertrag von Tordesillas
abgeschlossen, der die Besitz- und Entdeckungsansprüche beider Länder
abgrenzte. Man vereinbarte eine 400 Leguas (1200 Seemeilen) westlich der
Kapverdischen Inseln in Nord-Süd-Richtung verlaufende Demarkationslinie.
Spanien wurden die westlich, Portugal die östlich davon liegenden noch zu
entdeckenden Länder zugesprochen.
Kolumbus unternahm noch drei weitere Reisen in dieses Gebiet, erreichte 1498
auch das amerikanische Festland im heutigen Venezuela. Aber die erhofften
reichen Ländereien fand er nicht. Mächtige Neider und persönliche Feinde
sorgten dafür, dass er bald bei Hof in Ungnade fiel. Kolumbus starb 1506, arm
und sehr von Arthritis gezeichnet, ohne erfahren zu haben, dass er einen neuen
Erdteil gefunden hatte.
Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt
Seite 100
Die Suche nach «Eugenia caryophyllata»
Vor fünfhundert Jahren erreichte Vasco da Gama Indien:
Wo wächst der Gewürznelkenbaum?
Achtundzwanzig Jahre nach dem Tode Heinrich des Seefahrers
sollte endlich die Umrundung des Schwarzen Kontinents gelingen.
Eine neue Expedition, die unter dem Kommando von Bartolomëu
Diaz, Ritter am Hofe von Lissabon, nach Süden auslaufen sollte, wurde in der
Stadt streng geheim gehalten. Kein Spanier, kein Genuese, kein Venezianer
sollte von diesem entscheidenden Unternehmen etwas ahnen. Ende Juni 1487
lief die kleine Flotte aus. Die Expedition bestand aus zwei Karavellen und einem
Versorgungsschiff; sie waren mit Proviant für mehrere Jahre beladen, gut
bewaffnet, und im Rumpf führten sie einige steinerne Wappenpfeiler (Padrãos)
mit. Je tiefer sie in den Südatlantik vordrangen, desto gefährlicher wurde ihr
Unternehmen, denn das schwerfällige Versorgungsschiff musste im Golf von
Guinea zurückbleiben. Stürme und raue See nahmen zu. Nach fünf Monaten
erreichten die beiden Schiffe im Dezember 1487 eine runde Bucht vor der
trostlosen Küste Namibias. Sie nannten sie als Dank für überstandene Gefahren
nach der Gottesmutter Golfo di Santa Maria. Diaz gönnte hier seinen Leuten
eine Rast. Die Mannschaft war erschöpft und von Krankheit und Strapazen
gezeichnet, die Stimmung war nicht gut, denn das Land hier war unwirtlich und
heiss. Heute liegt an diesem einzigen Landungspunkt der Schiffe Diaz' der
grosse Seehafen Namibias: die Walfish-bay.
Nach einigen Tagen ging es weiter. Am Heiligen Abend wurde die
Lüderitzbucht erreicht. Dann hielten sie sich frei vom Land und segelten gut 150
Seemeilen von der Küste entfernt südwärts, als ein ungeheures Unwetter
losbrach, ein Sturm, wie ihn selbst die an Gefahren gewöhnten Seeleute noch
nicht erlebt hatten. Wind und Wellen verschlugen die Karavellen immer weiter
nach Süden, die Schiffe waren nicht mehr steuerbar, sondern lenzten vor Topp
und Takel (ohne Segel vor dem Wind treiben); eine Position zu bestimmen war
völlig unmöglich. Die Besatzung glaubte sich dem Ende nahe, Angst und
Entsetzen machten sich breit. Erst nach dreizehn Tagen liess der Sturm etwas
nach und Diaz konnte mit gerefften Segeln Kurs nach Osten nehmen. Er wollte
sich dem Festland wieder nähern, von dem er glaubte, es verlaufe noch immer
weiter nach Süden. Als aber nach längerer Zeit überhaupt kein Land in Sicht
kam, liess er den Kurs nach Norden ändern, als hätte er geahnt, dass der
Südverlauf der afrikanischen Küste nunmehr beendet sei.
EIN TAUSCHHANDEL
Endlich stieg aus dem Dunst des Horizonts die Silhouette von Land herauf. Bald
erkannten sie eine grüne Küste und sahen zu ihrem Erstaunen einige
Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt
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Viehherden. Diaz taufte die Küste Andra dos Vaqueros, Bucht der Viehhirten.
Ohne die Südspitze Afrikas gesehen zu haben, hatten sie sie im Unwetter
umrundet. Als erste Europäer betraten Diaz und seine Männer Südafrika. Sie
entdeckten dieses Land, haben es aber nicht in kolonialen Besitz genommen, sie
drangen nicht ins Landesinnere vor und verliessen kaum ihre Schiffe. Aber als
sie ihre Fässer mit Frischwasser füllten, hatten sie zum ersten Mal Kontakt mit
schwarzen Eingeborenen.
Plötzlich standen sie da: zuerst drei Männer, dann noch zwei, schliesslich
schauten etwa zwölf hochgewachsene, schlanke Gestalten von den Dünen zu
ihnen herüber. Sie waren spärlich bekleidet, nur einer trug ein zerschlissenes
Leopardenfell über der Schulter. Die
Portugiesen erstarrten, blieben wie angewurzelt stehen, und der diensthabende
Offizier liess Diaz Meldung machen. Der befahl, wenn es möglich sei, Kontakt
aufzunehmen. Der Offizier winkte den Schwarzen, sie sollten näherkommen.
Die Eingeborenen berieten sich leise, aber dann näherten sie sich Schritt für
Schritt, langsam und furchtlos.
Ein Matrose bemerkte, dass weitere Schwarze im Gebüsch kauerten; die j ungen
Krieger waren mit Lanzen, Steinschleudern und Keulen bewaffnet. Er meldete
seine Beobachtung dem Offizier. Der liess Armbrustschützen und Bombardiere
aufmarschieren, aber da die Eingeborenen ruhig blieben, verteilte er kleine
Schellen und rote Kap
pen. Die Eingeborenen schenkten ihnen dafür Ringe aus Elfenbein. Der grosse
Schwarze mit dem Leopardenfell, offensichtlich der Häuptling, gestikulierte,
redete guttural und zeigte auf die Geschenke. «Er will noch mehr davon!» sagte
einer der Matrosen. Da rief der Häuptling den jungen Männern im Gebüsch
etwas zu. Der Hauptmann liess die Bombarden in Anschlag bringen, und die
Soldaten beobachteten nervös den Schauplatz. Dann raschelte es im Gebüsch,
Zweige wippten und bogen sich seitwärts: zwei Knaben führten einen Ochsen
herbei! Erleichtert liessen die Männer die Waffen sinken.
Der Häuptling machte ihnen verständlich, dass er den Ochsen gegen weiteren
Tand eintauschen wollte. Lange wurde palavert und gehandelt; schliesslich
wechselte der Ochse für zehn Glöckchen, zehn Kappen, einen kleinen Spiegel
sowie ein billiges Messer für den Häuptling den Besitzer. Danach verschwanden
die Eingeborenen im Gebüsch. Sofort wurden Posten aufgestellt, die den
Landungsplatz bewachten, denn Diaz hatte den Eindruck, dass sich die
Eingeborenen den weissen Fremdlingen eher feindlich zeigten. Es kam aber zu
keiner weiteren Begegnung.
Die Portugiesen sahen hier keine besondere wirtschaftliche Bedeutung, ausser
dass man Vieh zur Verpflegung eintauschen konnte. Die weitere Geschichte
Südafrikas schrieben nicht die Portugiesen, hier blieben sie Entdecker, wurden
nicht Eroberer und Unterdrücker. Das machten später andere, die aus England
und Holland kamen.
Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt
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AUF GEGENKURS
Doch in Mossel Bay, der kleinen südafrikanischen Stadt mit 30'000
Einwohnern, wird die Erinnerung an Bartolomëu Diaz gepflegt, obwohl er hier
nur kurze Zeit vor Anker ging. Das Diaz-Denkmal am Hafen weist nach
Ostnordost; das war der Kurs, den Diaz auf seinem weiten Weg nach Indien
nahm. Doch er kam nicht mehr weit; seine Mannschaft verweigerte sich ihm:
der Sturm, die Angst sowie die Knappheit an Lebensmitteln und Trinkwasser
hatten sie mutlos gemacht. Am 12. März 1488 erreichten sie eine Felsenklippe,
wo sie wenigstens eine Quelle vorfanden. Diaz liess einen Padrão errichten.
Dort angekommen, so verzeichnete ein Schiffschronist, erfüllte das Schiffsvolk
grosse Müdigkeit und Furcht wegen der grossen Meeresgebiete, die sie hinter
sich gebracht hatten.
«Und alle fingen an sich wie ein Mann zu beklagen und zu verlangen, dass die
Fahrt nicht weiter fortgesetzt werde. Sie sagten, dass die Lebensmittel nicht
mehr ausreichen würden und dass man, falls man weitersegle, hungers werde
sterben müssen. Es sei für eine Reise genug, soviel Küste erforscht zu haben,
und sie hätten bereits die wichtigste Erkenntnis erlangt, die aus dieser
Entdeckungsfahrt zu ziehen gewesen sei; nämlich, dass sich das Festland
immerfort in östlicher Richtung erstrecke. Es scheine auch, dass ein bedeutendes
Kap hinter ihnen läge. Es sei besser umzukehren, um dieses zu erkunden.»
LIEGT DER SÜDPOL IN AFRIKA?
Diaz, der unbedingt den Durchbruch nach Indien schaffen wollte, konnte die
Fahrt noch ein paar Tage fortsetzen, als aber auch seine Offiziere zur Umkehr
rieten, musste er das Unternehmen abbrechen. Die Schiffe gingen auf Gegenkurs
und segelten der Küste entlang nach Westen. Dann sahen sie endlich jenes Kap,
das das Ende Afrikas markierte. Sie nannten es Kap der Stürme. König Johann
II. von Portugal hat es nach ihrer Rückkunft in Kap der Guten Hoffnung
umgetauft, um damit seiner Zuversicht Ausdruck zu geben, der Seeweg nach
Indien sei nun frei. Als Diaz im Dezember 1488 heimkehrte, hatte die Reise
sechzehn Monate und siebzehn Tage gedauert. Der König gab ihm eine
feierliche Audienz, an der auch Kolumbus als Zeuge anwesend war.
Kolumbus hatte König Johann vor einiger Zeit einen Seeweg nach Indien über
den Atlantik nach Westen vorgeschlagen, weil Indien - wie er überzeugt war über wesentlich kürzere Distanz zu erreichen sein müsse. Doch der König war
nun noch weniger als vorher an Kolumbus' Ideen interessiert: warum sollte man
einer ungewissen Theorie nachhängen, wenn der zwar lange, aber doch sichere
Weg um Afrika gefunden war? Die Umfahrbarkeit dieses riesigen Kontinents
war bewiesen.
Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt
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Diaz ist auf einer späteren Fahrt über den Indischen Ozean mit seinem Schiff
verschollen. Aber seither hatte die Welt ein anderes Gesicht. Allerdings hatten
sich die Träume der Herrscher und Händler von Reichtum und Gewürzen noch
nicht erfüllt. Die als Arzneipflanze begehrte Aloe gab es zwar ausreichend in
Afrika, auch konnte man den weissen Pfeffer aus Afrika nach Lissabon bringen,
aber die bessere Sorte, der grosskörnige schwarze Pfeffer, für den die höchsten
Preise erzielt wurden, wuchs in Indien.
Im Kronrat fanden sich
einflussreiche Männer, die
grosse Bedenken gegen eine
weitere
Erkundung
des
Südens vorbrachten. Woher
wolle man wissen, ob sich die
afrikanische Küste nach ein
paar tausend Meilen nicht
doch wieder nach Süden
hinziehe und vielleicht gar mit
dem Südpol verwachsen sei?
Der Vertrag von Tordesillas:
Die erste Seite des Vertrags 1493
(Biblioteca Nacional de Lisboa)
Schon jetzt überforderten die unendlich weiten Schiffahrtswege Menschen und
Material. Aber Kolumbus war 1492 im Solde der spanischen Könige über den
Atlantik gesegelt und hatte in der Zwischenzeit tatsächlich grosse Ländereien im
Westen gefunden; Inseln zwar, aber wer garantierte, dass sich dahinter nicht
doch das indische Festland befinde? So hat man unterpäpstlicher Vermittlung
1494 vorsorglich die Welt unter sich aufgeteilt: der Vertrag von Tordesillas
legte fest, dass alle neuzuentdeckenden Länder - westlich von der Mitte des
Atlantiks gemessen - zu Spanien, östlich davon aber Portugal gehören sollten.
König Manuel I. setzte die maritime Expansionspolitik seiner Vorgänger
dennoch konsequent fort. Man nannte ihn »Manuel el fortunado«, Manuel den
Glücklichen. Unter seiner 1495 beginnenden Herrschaft sollte Portugal den
glanzvollen Höhepunkt seiner Entdeckungsgeschichte erleben. Die Wahl des
Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt
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Königs für die nächste entscheidende Expedition fiel auf Vasco da Gama,
dessen Familie eine lange Seefahrertradition vorweisen konnte.
Vasco da Gama hatte eine ausgezeichnete seemännische Ausbildung genossen
und wusste dazu mit Kanonen gut umzugehen. Bei der Vorbereitung seiner
Indienreise beriet ihn Bartolomëu Diaz, der auch den Schiffbau beaufsichtigte.
Die Flotte bestand aus vier Schiffen: der St. Raphael unter Vascos Bruder Paolo,
der Berrio unter Cuelho, dem Flaggschiff St. Gabriel sowie einem
Proviantschiff, das auf Befehl des Königs in der Mossel Bay geleichtert und
verbrannt werden sollte.
Die Abfahrt des Geschwaders erfolgte am 8. Juli 1497. Am Rande Lissabons, in
Belem an der Mündung des Tejo, dort wo heute das prächtige
Hieronymitenkloster steht, gab es damals eine kleine Einsiedelei mit einer
Marienkapelle, die einst von Heinrich dem Seefahrer errichtet worden war. Dort,
so berichtet die Legende, soll Vasco da Gama in der letzten Nacht vor seiner
Abfahrt gebetet haben. Als er zwei Jahre später glücklich heimkehrte, wurde er
an genau dieser Stelle vom König empfangen.
Das Kap war umsegelt! Wie alle Expeditionen vorher verliess auch Vasco da
Gamas Flotte die Heimat am Cabo São Vincente vorbei, im Angesicht der
legendären Seefahrerschule auf dem Felsen. Die Winde waren günstig. Da
Gama folgte dem Rat von Bartolomëu Diaz und segelte nicht die
westafrikanische Küste entlang, sondern schlug einen weiten Bogen nach
Südwesten in den offenen Atlantik. Als die Schiffe anfangs November die Küste
Namibias erreichten, waren sie den starken Strömungen an der angolanischen
Küste entgangen und hatten eine sichere und angenehme Fahrt hinter sich. Hier
in der St.-Helena-Bai wurde eine kurze Rast gemacht, aber am 18. November
wurden die Segel wieder gesetzt. Vier Tage später kam das Kap der Guten
Hoffnung in Sicht, und die kleine Flotte umsegelte das Kap erstmals gewollt in
West-Ost-Richtung.
In der Mossel-Bay verbrannten sie das Versorgungsschiff, denn die alte
Karavelle war nicht mehr seetüchtig. Danach ging es hinaus in neue, den
Europäern unbekannte Gewässer. Untiefen und starke Gegenströmungen
beeinträchtigten die Fahrt entlang der Küste Ostafrikas. Am 2. April 1498
erreichten die Schiffe die ostafrikanische Hafenstadt Mombasa. Der Empfang
durch den einheimischen Sultan war nicht sehr freundlich, denn der Handel in
diesem Teil der Erde lag fest in arabischer Hand. Der Indische Ozean zwischen
den Küsten Afrikas und Indiens -– das war arabisches Meer! Die Portugiesen
waren Eindringlinge in einer Welt, die von morgenländischer Kultur geprägt
war. So fuhren sie bald weiter. Mombasa war eine strategisch wichtige
Zwischenstation, aber es gelang den Portugiesen erst knapp hundert Jahre später,
dort endgültig Fuss zu fassen. Dreimal, 1505, 1528 und 1589, wurde die Stadt
von den Portugiesen angegriffen und geplündert, doch immer wieder konnte
Mombasa sich erholen und seine Unabhängigkeit behaupten. Erst 1593 baute
Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt
Seite 105
Portugal eine mächtige Festung. Dort, im Fort Jesus, kann man noch heute
Spuren der europäischen Soldaten sehen, die aus Liebeskummer, Heimweh oder
Langeweile Kritzel und Inschriften in die Mauern ritzten. Aber auch dieses Fort
konnte den Machtanspruch Portugals auf die Dauer nicht erhalten; es fiel als die
letzte Bastion an dieser Küste zweihundert Jahre nach der Ankunft da Gamas.
Am 14. April 1498 brach Vasco da Gama zur Überquerung des Indischen
Ozeans auf. Er liess an der Küste, vor dem Handelsplatz Malindi, ein grosses
Steinkreuz errichten. Da Gama war die Rivalität zwischen den beiden Städten
Mombasa und Malindi zu Ohren gekommen. In Mombasa hatten die Europäer
ein abweisendes Verhalten der Mauren erlebt; das wusste auch der Herrscher
von Malindi. Er empfing die Portugiesen freundlich und stellte ihnen einen
Lotsen zur Verfügung, der mit den Windverhältnissen, Strömungen und
Gezeiten des Indischen Ozeans vertraut war. Vielleicht war auch etwas
Berechnung im Spiel: erstens wurde er die Fremden schneller wieder los;
zweitens war es wohl besser, freundlich zu sein, falls sie zurückkommen sollten.
Gleichwohl, für da Gama konnte die letzte und wichtigste Etappe beginnen!
INDIEN IST ERREICHT!
Unter Ausnutzung des Südwestmonsuns überquerten die Schiffe den Indischen
Ozean in dreiundzwanzig Tagen. Am 18. Mai tauchte die Küste Indiens vor
ihnen auf. Das eigentliche Ziel, die Stadt Calicut an der Malabarküste, wurde
nur um wenige Seemeilen verfehlt. Da Gama landete dort zwei Tage später;
Indien, das Land der Gewürze, war erreicht!
Vor fünfhundert Jahren, am 20. Mai 1498,
erfüllte sich der Traum Heinrichs des
Seefahrers!
Ankunft Vasco da Gamas in Calicut
(Historiengemälde des 19. Jahrhunderts)
Vor allem war es der Pfeffer, der in Europa
mit Gold aufgewogen wurde und der hier an
den Hängen des küstennahen Gebirges zuhauf
als Kletterpflanze wuchs, damals wie heute.
Der einträgliche Handel mit Pfeffer lag in den
Händen von Arabern, die ihn mit ihren
schnellen Schiffen, den Dhaus, über den
Indischen Ozean brachten, dann mit
Karawanen auf dem Landweg an das östliche
Mittelmeer transportierten und dort vor allem
an genuesische und venezianische Händler
verkauften. Als da Gama indischen Boden
Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt
Seite 106
betrat, traf er auch auf zwei Kaufleute aus Tunis; ihr Gruss an ihn lautete: »Hol'
dich der Teufel, wer hat dich hierher gebracht?« Da Gama wusste, dass er auf
die Gunst des Königs, des Samorins, angewiesen war. Er versuchte, dem
Herrscher zu schmeicheln, bat um eine Audienz und zog mit Pomp zur
Residenz. Aber seine Geschenke konnten den Samorin nicht beeindrucken. »Als
er und seine Hofleute unsere Glasperlen und bunten Kappen sahen, die wir
ihnen schenken wollten, lachten sie uns aus«, berichtete der Chronist. »Dann
sagten sie, so etwas könne man ihrem König nicht anbieten, gäbe doch jeder
fremde Kaufmann ein Vielfaches dessen.« Die überall zur Schau gestellte Pracht
machte den Portugiesen sehr schnell klar, dass sie in kein armes Land
gekommen waren. Aber anfängliche Freundlichkeit war auch hier nicht von
Dauer.
Die Einheimischen hatten durchaus nicht darauf gewartet, von den Europäern
»entdeckt« zu werden. Dass die Leistungen der indischen Kultur allemal neben
der Europas bestehen konnte, davon zeugten die glanzvollen Paläste mit den
künstlerisch angelegten Gärten und die reichen Tempelanlagen.
Ihr Bedarf an europäischen Waren war klein. Indiens Reichtum war vor allem
durch den Gewürzhandel, aber auch durch die Perltaucherei und den
Elfenbeinhandel entstanden: das goldarme Land war nur an Edelmetall im
Austausch gegen einheimische Waren interessiert. Die Prachtbauten Venedigs
und Genuas gäbe es nicht ohne den Pfeffer. Pfeffer hatte bereits die Römer
hierher gelockt, und er wurde in Europa nicht nur zum Würzen verwendet,
sondern auch als Steuerabgabe oder Lösegeld Bis heute hat sich nichts daran
geändert, dass die besten Qualitäten aus diesem Teil Indiens stammen.
Vor den Portugiesen waren schon andere Fremde nach Calicut und Cochin, dem
zweiten bedeutenden Gewürzzentrum, gekommen. Seit zweihundert Jahren
landeten hier chinesische Dschunken und tauschten Edelsteine aus Ceylon,
Stoffe aus China und Gewürznelken von den Molukken gegen den begehrten
Pfeffer. Im Gegensatz zu den Portugiesen wollten die Chinesen nicht erobern,
sondern nur friedlich Handel treiben. Sie brachten Seide und Porzellan und
segelten mit Gewürzen und Elfenbein davon.
An der Wende zum 16. Jahrhundert, als da Gama an der Malabarküste eintraf,
war der indische Subkontinent in zwei religiöse Lager, den Islam und den
Hinduismus, gespalten. Nicht die Hindus, aber die Muslime, die seit dem 11.
Jahrhundert aus Afghanistan hierher vorgedrungen waren, wurden zu Gegnern
der Portugiesen. Die muslimischen Kaufleute, als Beherrscher der
Pfeffermärkte, und die arabischen Seefahrer, als Handelspartner der
ostafrikanischen und levantinischen Häfen, befürchteten zu Recht, dass ihnen
die Portugiesen das Geschäft kaputt machen wollten. Und dagegen wehrten sie
sich.
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SCHRECKLICHE RÜCKFAHRT
Nach Handgreiflichkeiten zwischen portugiesischen Matrosen und arabischen
Kaufleuten und nachdem auch der Samorin den Europäern immer abweisender
begegnete, befürchtete da Gama kriegerische Auseinandersetzungen, denen er
mit seiner kleinen Flotte kaum gewachsen gewesen wäre. Vasco da Gama
musste das Land verlassen und die Heimreise antreten. Ein Zeitzeuge schilderte
in bewegten Worten die Geschehnisse. Es wurde eine Fahrt des Schreckens.
«Für diese Überfahrt brauchten wir lange Zeit. Es vergingen drei Monate
weniger drei Tage, bis wir wieder Land sahen. Die Ursache dafür waren häufige
Windstillen und Gegenwinde, die unser Vorkommen so behinderten, dass unsere
ganze Mannschaft krank wurde. Das Zahnfleisch wucherte ihnen so über die
Zähne, dass sie nicht mehr essen konnten; auch schwollen ihnen die Beine an,
und sie bekamen am ganzen Körper Geschwüre, die einen Mann so weit
schwächten, bis er starb, ohne an irgendeiner anderen Krankheit zu leiden. Auf
diese Weise starben uns während der Überfahrt dreissig Leute. Diejenigen, die
schliesslich auf den Schiffen noch Dienst taten, mochten sieben oder acht Mann
sein, und sie waren weit davon entfernt, gesund zu sein.»
Da Gamas Route nach Indien 1497-1499
Sie erholten sich etwas in Malindi.
Der Sultan gestattete, dass Vasco
einen Padrão in der Nähe des
Palastes aufstellte; er ist noch heute
ein steinernes Zeugnis für den
Wagemut der Kapitäne und der
unzähligen namenlosen Seeleute,
ohne den kein Entdecker dorthin
gelangt wäre. Weil da Gama nun
zuwenig Matrosen hatte, musste er
die «St. Raphael» seines Bruders
Paolo verbrennen.
Dann ging es weiter zum Kap der Guten Hoffnung. Dort erwartete sie eine
stürmische See, und sie waren froh, als sie nach langem Kreuzen gegen Wind
und Strömung wieder Kurs nach Norden nehmen konnten. Vascos Bruder
erkrankte. Deshalb trennte sich da Gama vom übriggebliebenen zweiten Schiff,
der «Berrio» unter Nicolau Cuelho, und lief mit dem «St. Gabriel» die Azoren
an, wo Paolo da Gama starb. Cuelho, der die Heimreise ohne Umweg fortgesetzt
hatte, traf am 10. Juni 1499 als erster wieder in Lissabon ein und wurde
triumphal gefeiert. Drei Monate später gelangte auch Vasco da Gama dorthin
Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt
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und empfing von seinem König grosse Ehrungen und Belohnungen. Bei seiner
Ankunft erwartete ihn der König im stillen Garten bei der Marienkapelle des
Hieronymitenklosters am Ufer des Tejo, wo Vasco vor mehr als zwei Jahren um
glückliche Heimkehr gebetet hatte.
MIT FEUER UND SCHWERT
Nach dieser bisher längsten Fahrt einer portugiesischen Expedition kehrte da
Gama – inzwischen reich geworden und zum Admiral der Indischen Meere
ernannt – noch zweimal an die Malabarküste zurück: mit grösseren Flotten, aber
auch mit Feuer, Schwert und Kanonen. Aus dem Entdecker wurde ein Eroberer,
der eine breite Blutspur von Tod und Schrecken hinter sich liess. Auf seiner
dritten Indienreise starb er Weihnachten 1524 in Cochin. Seine sterblichen
Überreste liegen heute im Hieronymitenkloster von Belem, einer nationalen
Wallfahrtsstätte der Portugiesen, dort, wo ihn König Manuel nach der Rückkehr
von seiner ersten Reise erwartet hatte. In unmittelbarer Nähe liess König Manuel
der Glückliche eine mächtige Festung zum Schutze des Hafens errichten: der
Torre de Belem. Vasco da Gamas erste Indienexpedition brachte Portugal ans
Ziel seiner achtzig Jahre dauernden Bemühungen. Der Weg nach Indien war
frei! Fortan liefen jährlich etwa zwanzig Schiffe nach Indien aus; die meisten wenn auch nicht alle - kehrten reich beladen zurück und erlaubten dem Land
eine Prachtentfaltung, wie niemals mehr in seiner späteren Geschichte.
Aber die arabischen Händler gaben nicht so schnell auf. Sie schürten bei den
indischen Radjas und Samorinen die Abneigung gegen die Europäer. Die
Herrscher waren bald überzeugt, dass die Portugiesen nicht – wie die Chinesen –
Pfeffer gegen gleichwertige Waren zu tauschen beabsichtigten. Die Portugiesen
wollten den Pfeffermarkt den Arabern entreissen! Die Lage spitzte sich zu, und
ein kriegerischer Konflikt war unausweichlich. Zehn Jahre nach der Ankunft der
Portugiesen in Indien kam es zu der entscheidenden Auseinandersetzung vor
dem Hafen von Diu. Die Flotte der Portugiesen unter dem Befehl von Francisco
d'Almeida schlug die Araber vernichtend. Der Feuerkraft der Europäer, der
Stabilität ihrer Schiffe, ihrer besseren militärischen Taktik und ihrer überlegenen
Technik waren die Orientalen nicht gewachsen. An der Schlacht nahmen zwei
Freunde teil, die später noch Geschichte machen sollten: Francisco Serräo und
Fernando Magellan. Der eine würde die Gewürzinseln finden, der andere fast
die Erde umsegeln! Doch vorher erkundeten sie 1509 im Geheimauftrag und als
Händler verkleidet den Handelsplatz Malakka an der Westküste der Halbinsel
gleichen Namens.
In der Person von d'Almeidas Nachfolger, Affonso d'Albuquerque, zeigte sich
besonders eine Veränderung vom Entdecker zum Eroberer, vom Seefahrer zum
Kriegsherrn.
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Affonso d‘Albuquerque (1453-1515),
portugiesischerAdmiral,
ab 1509 Vizekönig in Indien,
eroberte Hormuz, Goa und Malakka
(British Library, London).
D'Albuquerque fügte den Erfolgen seiner
Vorgänger weitere Siege hinzu; 1510 eroberte er
Goa an der Westküste Indiens. Goa wurde zum
Hauptstützpunkt der portugiesischen Macht
ausgebaut, es war Sitz der Vizekönige, der
Stellvertreter des portugiesischen Königs in
Asien. Auch wenn die reiche Oberschicht
durchaus angenehm zu leben wusste, so machten
doch Seuchen und Krankheiten den Europäern
das Leben in den Tropen schwer. Trotzdem blieb
Goa über Jahrhunderte hinweg Kolonie, auch als
Portugals Macht im Indischen Ozean längst
Geschichte war. Erst im Dezember 1961 fiel es
durch ein völkerrechtliches Abkommen an Indien zurück.
MANUEL DER «GLÜCKLICHE»
Portugals Behörden sahen überall Spione. Eine königliche Order von 1479
befahl, alle fremden Matrosen, die an Bord portugiesischer Schiffe auf der
Südroute entdeckt wurden, über Bord zu werfen, und neuentdecktes Land durfte
nicht mehr auf Karten festgehalten werden. Kurz vor dem Ende des 15.
Jahrhunderts gelangte Portugal an das ersehnte Ziel: am 20. Mai des Jahres 1498
landete Vasco da Gama in Indien! Das Gewürzmonopol der Araber, der Handel
mit den Gewürzen, sollte bald zusammenbrechen. König Manuel, genannt der
Glückliche, triumphierte. Er verlieh sich selbst den Titel «Herr über Guinea und
die Eroberungen, die Seewege und den Handel von Äthiopien, Arabien, Persien
und Indien». Die neuen Erkenntnisse der Entdecker wurden nach ihrer Rückkehr
in Lissabon ausgewertet und kartographiert. Diese Karten zu kopieren und
weiterzugeben war ein Staatsverbrechen.
Der Ruhm Portugals drang in alle Städte Europas. Venedig schickte Spione nach
Lissabon; sie sollten das neue nautische Wissen herausfinden, das Portugal in
die Lage versetzte, der Stadt an der Adria die wirtschaftliche Macht zu
entwinden. Neue Karten aus Portugal herauszuschmuggeln war
lebensgefährlich; wer erwischt wurde, war des Todes. Alberto Cantino war 1502
Beauftragter des mächtigen Herzogs d’Este von Ferrara. Kolumbus war vor
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zehn Jahren von den von ihm entdeckten Ländern im Westen nach Spanien
zurückgekehrt und Vespucci hatte sie als neuen Kontinent erkannt.
DER PAPST TEILT DIE WELT!
Um einen «ewigen Krieg» zwischen katholischen Ländern zu verhindern, teilte
der Papst 1494 im Vertrag von Tordesillas die Welt in eine portugiesische und
eine spanische Interessensphäre auf. Cantino gelang es, die Kopie einer Karte
heimlich von Lissabon ausser Landes zu bringen, ein Dokument des Verrats und
der Intrigen! Die Karte war auf dem neuesten Stand: Europa liegt in der Mitte,
darunter bereits sehr exakt Afrika, im Osten sieht man Indien und die zu grosse
Halbinsel von Malakka. Die grosse Überraschung aber findet sich im Westen
mit der Wiedergabe der mittel- und südamerikanischen Küste. Deutlich zu sehen
ist auch die «Linie von Tordesillas».
Cantino musste aus Lissabon fliehen; er kam nach Genua, geriet dort in Geldnot
und verpfändete die wertvolle Karte. In seiner Not wandte er sich an seinen
Auftraggeber, der Herzog löste ihn aus und erhielt seine Karte. Das
portugiesische Staatsgeheimnis war damit gebrochen, das neue geographische
Wissen allgemein zugänglich!
Planisphäre des italienischen Diplomaten Alberto Cantino, 1502. Die Planispäre dokumentiert
die portugiesische Überseebesitze in Asien, Afrika und Amerika. Besonderheit: In
derPlanisphäre ist die Demarkationslinie nach dem Vertrag von Tordesilla abgetragen. (Quelle:
Gerald Sammet (Hrsg.): Die Welt der Karten. Historische und moderne Kartografie im Dialog.
Bertelsmann Lexikon Verlag 2008, S. 10 f.)
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KINDER ALS KOPISTEN
Auch Spanien pflegte die Geheimhaltung aller Informationen seiner Entdecker. In
der «Casa de Contratación de las Indias», dem Indischen Amt zu Sevilla, wurden
Spaniens Geheimnisse der Seefahrt unter strengen Verschluss genommen. Um
besonders wichtige Dokumente zu kopieren, beschäftigte man Kinder; sie konnten
lesen und schreiben, wussten aber nicht den Sinn zu entschlüsseln. Ein Kind fing
mit einer Arbeit an, musste bald abbrechen, und ein anderes Kind setzte die Arbeit
fort. Keines wusste etwas mit den Bruchstücken anzufangen. Niemand glaubte
damals noch an die Welt als Scheibe. Es war klar, dass man auch nach Westen in
die Gewürzländer kommen musste. Für die Portugiesen sah es nicht gut aus.
Nun konnten fast alle Quellen des Reichtums in die Karten der bekannten Welt
gezeichnet werden. Land- und Seekarten blieben jedoch bis weit in die Neuzeit
hinein das, was sie von allem Anfang an waren: Symbole territorialer
Machtansprüche!
Die Rückseite der Erde
Ein neuer Erdteil und ein neuer Ozean! – Magellan findet die
Gewürzinseln und macht Portugal zum reichsten Land Europas
Weder der Vertrag von Tordesillas 1494 noch die portugiesischen
Erfolge in Ostasien hinderten Spanien daran, seine Zukunft im direkten Handel
mit den Gewürzländern zu suchen. Zu Anfang des 16. Jahrhunderts war noch
immer nicht sicher, ob die von Kolumbus entdeckten Inseln und Länder
tatsächlich zu Asien gehörten. 1499 begann Amerigo Vespucci, nach dessen
Vorname der Kontinent heute benannt ist, mit der Erforschung Mittel- und
Südamerikas. Vespucci wollte feststellen, ob er einen Landvorsprung umfahren
könne, den Ptolemäus als Südspitze des asiatischen Kontinents dargestellt und
das Kap von Catigara genannt hatte. Südlich der Gegenden, die Kolumbus in
Venezuela erreicht hatte, sichtete er Land und segelte etwa 1200 Meilen auf
Südostkurs einer Küste entlang. Er musste umkehren, weil seine Vorräte zuende
gingen und der Bohrwurm den Planken seiner beiden Schiffe schwer zugesetzt
hatten. Schon damals hegte er den Verdacht, dass «dies nicht Asien» sein könne.
1501 ging er noch einmal auf dieselbe Route, diesmal mit drei Schiffen. Der
Küstenverlauf änderte sich bald einmal von Südost nach Westsüdwest; Vespucci
segelte zweitausendvierhundert Meilen auf diesem Kurs und drang bis nach
Patagonien vor – nur etwa vierhunderfünfzig Meilen vor der Südspitze
Feuerlands. «Wir erreichten ein neues Land», notierte er ins Tagebuch, «das wir
Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt
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aus vielen Gründen, die im Folgenden aufgezählt sind, als einen Erdteil
erachten. Wir kreuzten so weit in diesen Meeren, dass wir die heisse Zone
überwanden und südlich der Linie der Tag- und Nachtgleiche und des
Wendekreises des Steinbocks kamen, bis der Südpol fünfzig Grad über meinem
Horizont stand. Wir schifften neun Monate und siebenundzwanzig Tage auf der
Südhalbkugel, wobei wir nie den Grossen oder Kleinen Bären erblickten ... Ich
war auf der Seite der Antipoden; meine Fahrt erstreckte sich über ein Viertel der
Welt.»
Nachdem Vespucci erkannt hatte, dass Kolumbus einen neuen Kontinent
gefunden hatte, wurde innerhalb weniger Jahre die Bedeutung dieser Erkenntnis
offenbar. Spanische Abenteurer brachen bald von ihren ersten Siedlungen in der
Karibik auf, die Neue Welt zu erobern. Ehrgeiz, Ruhmsucht und das Verlangen
nach Reichtum waren die Triebfedern. Die Abenteurer gingen als
Konquistadoren, als Eroberer, in die Geschichte ein, denn sie unterwarfen, was
sie entdeckten. Die Konquistadoren gewannen für Spanien nicht nur neue
Länder, sie hinterliessen meist auch eine Blutspur von Gier und Gewalt. Aber
sie konnten endlich auch die ersten Schiffe mit den Schätzen der Neuen Welt,
vor allem das Gold der Inkas und Azteken, nach Europa schicken. 1519–1521
bezwang und vernichtete Hernando Cortes mit nur dreihundert
schwerbewaffneten Männern die Hochkultur der Azteken im heutigen Mexiko,
Francisco Pizarro eroberte 1531–1534 Peru und unterwarf die dort herrschenden
Inkas. Sebastian de Benalcazar gelangte 1534 nach Quito. 1536 brach Gonzalo
Jimenez de Quesada von Santa Marta auf und kämpfte sich den Magdalenafluss
aufwärts nach Süden voran, bis er das Königreich Chibcha auf dem Hochplateau
von Bogota erreichte und eroberte. Er gründete die Stadt Santa Fé.
Francisco de Oranella, von dem keine weiteren Lebensdaten bekannt sind,
erlebte das wohl unglaublichste Abenteuer. Er drang 1541 von Quito nach Osten
vor und erreichte mit einigen Männern den Rio Napo, einen Quellfluss des
Amazonas. Er baute ein Schiff und fuhr mit der Strömung den Fluss abwärts bis
in den Amazonas. Dort war die Strömung so stark, dass an eine Rückkehr nicht
zu denken war. Er beschloss, weiterzusegeln, obwohl er keine Ahnung hatte,
wohin er mit seinen Männern gelangen würde. Sie waren oft in Gefahr, in den
riesigen Stromschnellen ihr Schiff zu verlieren; auch mussten sie in zahlreichen
Kämpfen ihr Leben gegen die Einwohner der Regenwälder verteidigen. Aber
schliesslich erreichten sie den Atlantik und konnten tatsächlich nach Spanien
zurückkehren.
1498 hatten die Portugiesen Indien erreicht, eroberten 1511 Malakka und
kontrollierten seit 1513 die Molukken. Die Gewürze waren in Indien und
Fernost billig zu haben, Portugal war am Westweg nicht mehr interessiert! Im
März 1518 trug ein portugiesische Kapitän dem jungen spanischen König Karl I.
einen grandiosen Plan vor. Er wolle im spanischen Auftrag nach Westen segeln,
um eine Passage durch Amerika zu suchen. Dahinter müsse in nicht allzu
grosser Ferne das schon von Kolumbus gesuchte Asien zu finden sein. Zwar sei
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die Nord-Süd-Position der Demarkationslinie von Tordesillas im Westen
festgelegt, aber weil der Erdumfang noch unbekannt war, war auch ihr Verlauf
auf der Rückseite der Erde völlig offen. Gemäss seinen Berechnungen zum
Erdumfang, die Ferdinand Magellan dem König vorlegte, müssten die von den
Portugiesen beherrschten Gewürzinseln der Molukken auf der spanischen Hälfte
der im Vertrag von Tordesillas geteilten Welt liegen! Er, Magellan, wolle den
Beweis erbringen.
Magellan entstammte dem niederen portugiesischen Adel. Er wurde um 1480 in
Sabrosa im gebirgigen Nordportugal geboren. Seine Heimat war unter seinen
Zeitgenossen als eine Gegend bekannt, in der «neun Monate Winter und drei
Monate Kälte herrschte».
Ferdinand Magellan. Anonymes
Porträt aus dem 16. oder 17.
Jahrhundert
(Marinemuseum,
Newport).
Schon als Knabe kam er in
die Kadettenanstalt der
Marine, wo er erzogen
wurde und sich mit
Francisco Serrão, dem
späteren Entdecker der
Gewürzinseln
angefreundete. Portugal
befand sich auf dem
Höhepunkt seiner
Entdeckungen.
Die beiden Freunde gelangten mit der Flotte Franzisco d’Almeidas, des ersten
indischen Vizekönigs Portugals, in den Osten, und waren in der Schlacht von
Diu dabei, wo die Portugiesen eine arabisch-indische Flotte vernichtend
schlugen. 1509 erkundete Magellan, als Händler verkleidet, das reiche Malakka,
das zwei Jahre später unter dem zweiten Vizekönig Affonso d’Albuquerque in
einer blutigen Schlacht erobert und anschliessend – als strategisch wichtiger
Hafen auf dem Seeweg zu den Gewürzinseln – ausgebaut wurde. Damit gewann
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Portugal die Kontrolle über den Gewürzmarkt, aber noch nicht über ihr
Herkunftsland, die Molukken.
Magellan stieg zum Offizier und Kapitän in der portugiesischen Indienflotte auf;
seine offene Art, seine Umsicht und sein Mut brachten ihm bald unter seinen
Kameraden Respekt ein – aber beim Vizekönig d’Albuquerque war er unbeliebt.
Als Magellan anlässlich einer Offiziersbesprechung bei einer wichtigen
Entscheidungssuche eine gegensätzliche Meinung als der Admiral äusserte,
verscherzte er sich dessen Gunst endgültig und wurde nach Portugal
zurückbeordert. Er mußte vorübergehend in der portugiesischen Landstreitmacht
in Nordafrika Dienst tun, wurde verwundet, behielt ein steifes Knie und wurde
aus der Armee entlassen.
In Lissabon lernte er den skurrilen Astronomen Rui Faleiro kennen, einen
obskuren und nervösen Menschen, der behauptete, das «Geheimnis der
Längenberechnung» zu besitzen. Anhand eines selbstgebauten Globus, bei dem
Faleiro das Wissen von Martin Behaim und Vespucci sowie die Berechnungen
des Regiomontanus berücksichtigt hatte, glaubte er beweisen zu können, dass
der Erdumfang grösser sei, als Kolumbus angenommen hatte, welcher noch mit
den Angaben im Katalanischen Atlas von 1375 gerechnet hatte. Die beiden
Männer begannen, einen Plan für einen Westweg zu den Gewürzinseln zu
schmieden. Magellan trug seine Ideen König Manuel von Portugal vor, der aber
– wie d’Albuquerque – eine persönliche Abneigung gegen Magellan hegte und
ihn öffentlich kränkte. Magellan konnte diese Verunglimpfung nicht verwinden
und wechselte daraufhin 1517 nach Spanien. Dort heiratete er Beatrix Barbosa,
die Tochter eines einflussreichen Spaniers portugiesischer Herkunft.
1518 konnte Magallanes König Karl I. seinen Plan unterbreiten, Amerika auf
dem Westweg zu durch- oder umfahren und die Gewürzinseln für Spanien zu
gewinnen. Karl I. folgte Magellans Argumenten, die ihm die Möglichkeit
aufzeigten, dem Vormarsch der Portugiesen im Fernen Osten Einhalt zu
gebieten und ihnen gleichzeitig die Vorherrschaft zur See in dieser Weltregion
zu entreissen. Der König rüstete fünf Schiffe aus, die am 20. September 1519 in
See gingen. Magallanes musste Ende März in der Bucht von San Julián vor dem
antarktischen Winter Schutz suchen und eine Meuterei niederschlagen. Ein
Schiff, die Santiago, ging bereits in diesem Winter verloren, ein zweites, der San
Antonio, desertierte nach der Weiterreise im Südfrühling und segelte nach
Spanien zurück. Die restlichen Schiffe durchquerten im Oktober 1520 die
Magellanstraße und gelangten in den Pazifik. Die Strecke von der Südspitze
Amerikas bis zu den Philippinen wurde für die Spanier zur Höllenfahrt! Sie
benötigten 110 Tage, um diesen grössten Ozean der Welt, der über ein Drittel
der Erdoberfläche bedeckt, zu überqueren. Die Lebensmittel waren bald
verbraucht, das Trinkwasser faulte, viele Leute starben. Aber sie hatten trotzdem
Glück, denn das Wetter war die ganze Zeit friedlich, und Magellan taufte es
deshalb «Mar Pacifico», Meer des Friedens. Am 18. März 1521 gelangten sie zu
den Philippinen, wo die Eingeborenen in großem Stil getauft und christianisiert
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wurden. Bei einem Konflikt einheimischer Häuptlinge wollte er unnötigerweise
die Macht des weißen Mannes demonstrieren und fand auf der kleinen Insel
Mactan den Tod.
Magellans Schiff Victoria (Detail aus einer
Weltkarte des Abraham Ortelius).
Ortelius)
Nur ein Schiff seiner Flotte, die
Victoria, gelangte unter dem Befehl von
Juan Sebastián Elcano um das Kap der
Guten Hoffnung herum mit achtzehn
Mann und einer Ladung Gewürznelken
an Bord nach Spanien zurück. Seine
Heimfahrt war von ebenso schlimmen
Strapazen gekennzeichnet wie die
Überquerung des Pazifischen Ozeans.
Aber Elcano vollendete, was Magellan begonnen hatte: die Kugelgestalt der
Erde zu beweisen! So demütigte Magellan über seinen Tod hinaus König
Manuel von Portugal, den mächtigsten
mächtigsten König seiner Zeit! Auch Spanien war
zufrieden: Elcano hatte die Nachricht gebracht, die Molukken lägen auf der
spanischen Hälfte der im Vertrag von Tordesillas festgelegten Teilung der Welt.
Und die Ladung Gewürznelken, welche die «Victoria» an Bord
Bord hatte, deckte die
Kosten der gesamten Magellan’schen Expedition und warf sogar noch Gewinn
ab!
Es mutet merkwürdig an, dass fast zur gleichen Zeit, in der Magellan den Tod
fand, auch sein Freund Francisco Serrão starb. Serrão, der frühere portugiesisch
portugiesische
Kapitän, war auf einer anderen Molukkeninsel, Ternate, zum vertrauten Berater
des Sultans emporgestiegen. Als Magellan die Philippinen erreicht hatte und es
nur noch eine Frage der Zeit war, dass Magellan die Molukken erreichen würde,
ist Serrão unter geheimnisvollen
heimnisvollen Umständen vergiftet worden. Wahrscheinlich
hatte der Königs von Portugal seine Hand im Spiel, weil er fürchtete, Portugal
könne durch die Freundschaft der beiden Männer seinen Einfluss auf den
Gewürzmarkt an Spanien verlieren.
Elcano und seinee Männer waren die ersten Menschen, die die Erde vollständig
umrundet hatten. Er wurde vom König zum Ritter geschlagen und erhielt ein
prunkvolles Wappen mit einem goldenen Schloss auf rotem Feld, mit den
Emblemen der Gewürze und den Abbildern der Könige von
von Ternate und Tidore,
die ein Schild tragen; darunter als Zeichen seiner Würde ein Spruchband, das
sich um den Globus schlingt, mit der Inschrift: «Primus Circumdedisti Me» –
Du hast mich als erster umrundet! 1525 schloss sich Elcano einem Geschwader
an, das auf Magallanes Weg zu den Molukken wollte. Noch einmal passierte er
die Strasse, welche den Namen ihres Entdeckers trägt. Nach der Einfahrt in den
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Pazifik wurde die Flotte in einem Sturm auseinandergerissen; der Kapitän Juan
Sebastián Elcano ging mit seinem
s
Schiff am 4. August 1526 im Stillen Ozean
unter.
Route der ersten Weltumsegelung von Ferdinand Magellan und Sebastian Elcano
König Karl, inzwischen auch zum Kaiser Karl V. gewählt, hatte genug mit den
Angelegenheiten seines Reiches zu tun. Hernando
Hernando Cortes war nach Mexiko
vorgestossen und schickte die ersten mit Gold beladenen Galeonen nach
Spanien. In der Hoffnung auf weitere reiche Goldfunde hatte man auch
begonnen, die Länder Mittelamerikas – Costa Rica, Nicaragua, Honduras und
Guatemala – in Besitz
sitz zu nehmen, deren Küsten schon Christobál Colón
entdeckt hat. Und schon plante man auch südwärts vorzustossen, wo man in
Kolumbien, Ecuador und Peru das sagenhafte Goldland zu finden vermutete. In
Kuba begann die Zuckerwirtschaft Ertrag abzuwerfen, doc
doch fehlte es an
Arbeitskräften, denn die Indianer waren für körperliche Arbeit nicht zu
gebrauchen: sie legten sich einfach hin und starben. Kastilien hatte daher
begonnen, zunehmend Neger in Afrika zu fangen und als Sklaven nach Kuba zu
transportieren. Und in Europa drohte wieder Krieg gegen Frankreich. Das alles
verschlang riesige Summen, aber die Staatskasse war leer und Karl musste die
amerikanische Politik mit Anleihen beim mächtigen Handelshaus der Fugger in
Augsburg finanzieren – selbstverständlich gegen
gegen saftige Beteiligungen künftiger
Gewinne. Spanien hatte die halbe Welt in Besitz, doch es war nicht stark genug,
seine Entdeckungen zu behalten. Der spanische Herrscher hatte Probleme
genug; er war klug, sich nicht auch noch in einen Kampf mit Portugal
einzulassen. So wartete er nicht länger, sondern überliess König Manuel 1529
im Vertrag von Saragossa die Molukken; Portugal zahlt eine Abstandssumme
von 700’000 Escudos.
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Auch wenn vier von den fünf Schiffen Magellans auf See geblieben sind, die
Menschen des 16. Jahrhunderts werteten die Rückkehr der Victoria als Erfolg;
daran änderte selbst der herbe Verlust an Menschenleben, die die Reise
gefordert hatte, nichts. Die Folgen reichten weit in die Zukunft! Neue Länder –
das bedeutete neue Kolonien und neue Handelsgebiete. Der Handel über die
Weltmeere Atlantik, Indischer und Stiller Ozean verdrängte das Primat der
Binnenmeere Mittelmeer, Nord- und Ostsee. Lissabon, Sevilla, Rotterdam und
London lösten die bisher führenden Seestädte wie Lübeck, Brügge, Venedig und
Genua ab. Neue Kolonialprodukte – Gewürze, Kaffee, Tabak, Kartoffel und
Mais – brachten eine gewaltige Steigerung des Welthandels. Der erhöhte
Geldbedarf
begünstigte
grosskapitalistische
Fürstentümer
und
grosskaufmännische Unternehmen, die auch politisch Bedeutung erlangten: so
die Medici in Florenz und die Fugger in Augsburg. Die Verschärfung der
Gegensätze zwischen arm und reich führte zu Krisen und Erschütterungen; im
Gefolge von Seuchen und Epidemien brachen sozial-religiöse Unruhen der
verarmenden Bauern und Zunfthandwerker aus, die meist mit Gewalt
unterdrückt wurden.
Die Expansion über die Meere weckte die Rivalitäten unter den europäischen
Nationen. Neben Portugal und Spanien regte sich England und wurde in
Nordamerika aktiv; der Franzose Jacques Cartier überquerte den Atlantik und
öffnete Frankreich über den St.-Lorenz-Strom den Weg nach Kanada; die
holländische «Vereenigde Oostindische Compagnie» setzte sich in Indonesien
fest, baute Batavia zu seinem ostindischen Handelszentrum aus und vertrieb
1602 die Portugiesen von den Molukken; Spanien verlegte indessen sein
Hauptinteresse nach Mittel- und Südamerika, aber auch auf die Philippinen, wo
es bis 1898 Kolonialmacht blieb.
Kleinmünze der Niederländischen Ostindien Kompanie, 1744
Während die führenden europäischen Seestaaten mit
sich selbst und ihren Rivalitäten beschäftigt waren,
versuchten die Türken, wieder ins westliche Mittelmeer
vorzudringen. Die Niederlage des Islam nach der Reconquista in Spanien und
Portugal schmerzte noch immer. Schon 1453 hatten die Türken unter
Muhammad II. Konstantinopel erobert und zur Hauptstadt des Osmanischen
Reiches gemacht. Zwei Jahre später konnten sie Serbien in ihr Reich
einverleiben, 1463 Bosnien annektieren und 1479 Albanien und den Peloponnes
erobern. 1516/17 wurden Syrien und Ägypten besetzt und der Sultan zum
Schutzherrn der heiligen Stätten in Mekka und Medina ausgerufen. Suleiman
«der Prächtige» vertrieb 1522 die Johanniter aus Rhodos, besetzte Belgrad und
drang 1529 bis vor Wien. 1565 belagerte eine türkische Flotte den Stützpunkt
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der christlichen Malteserritter auf Malta. Der viermonatigen Belagerung war
kein Erfolg beschieden, doch die christliche Welt wurde durch dieses Ereignis
alarmiert. Papst Pius V. beschwor das christlich regierte Europa, eine «Heilige
Liga» gegen die Türken zu gründen, aber die Angesprochenen zögerten. Da
beanspruchte Sultan Salim II. Zypern und belagerte Famagusta. Als im Juni
1571 die Türken das Versprechen abgaben, die Verteidiger zu schonen, ergab
sich die Stadt, doch alle Unterlegenen wurden hingerichtet. Die von den Türken
in Zypern begangenen Greueltaten bewirkten, dass die Heilige Liga nun schnell
zustande kam.
Der Oberbefehlshaber, Don Juan d’Austria, sammelte im August 1571 die
Vereinigte Flotte der Liga bei Messina. Den Türken waren die Vorbereitungen
nicht verborgen geblieben. Spione hatten an Ali Pascha, den türkischen Admiral,
zweihundert Kriegsgaleeren und sechs Galeassen (mit Kanonen bestückte grosse
Segelgaleeren) gemeldet; hundert weitere Segelschiffe ohne Riemen, die die
Nachhut bildeten, waren ihrer Aufmerksamkeit entgangen. Die Christen
glaubten sich ihrerseits zweihundert türkischen Schiffen gegenüber; tatsächlich
waren es zweihundertfünfzig. Und weil sich beide Seiten ihrem Gegner
überlegen glaubten, kam es am 7. Oktober 1571 im Golf von Lepanto (heute
Naupaktos im Golf von Korinth). zur berühmten Schlacht. Das Kriegsglück
überwog anfänglich auf türkischer Seite; Don Juans Schiff wurde von Ali
Pascha geentert, der Kampf Mann gegen Mann wogte hin und her, erst als eine
weitere christliche Galeere Hilfe brachte, konnte Ali Pascha in die Enge
getrieben werden. Um nicht in die Hände der Christen zu fallen, beging er
Selbstmord. Sein Haupt wurde abgeschlagen und auf einer Lanze zur Schau
gestellt. Nur mit knapper Not können die Alliierten nach stundenlangem Kampf
das Blatt wenden, als eine Nachhutflotte Verstärkung und den Sieg brachte.
Seeschlacht von Lepanto
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Die Seeschlacht von Lepanto war ein gewaltiges Blutbad. Die osmanischen
Verluste bezifferten sich zwischen 25 000 und 30 000 Mann, dazu 30 versenkte
Galeeren; hundertzehn Schiffe wurden erobert und 12 000 christliche Sklaven
befreit. Auf christlicher Seite wird der Tod von 7656 Christen angegeben, aber
wahrscheinlich hatte man die Zahlen „geschönt“. Doch die Beute war reichlich:
der Papst bekam 20 Schiffe und 881 Sklaven, der König von Spanien 51 Schiffe
und 1703 Sklaven, Venedig schließlich erhielt 39 Schiffe und 1262 Sklaven. Die
Schlacht von Lepanto das letzte grosse Gefecht unter Galeeren, der von Don
Juan d’Austria errungenen Sieg hat ein weiteres Vordringen der Osmanen
verhindert und Europa dem Christentum erhalten.
Galeone
Aus der Karavelle entwickelten sich Galeone und Fregatte; das Vorderkastell
wurde abgeschafft, an ihre Stelle trat ein schmal hervorragender Bug, meist mit
einer symbolischen Figur geschmückt und vom mächtigen Klüverbaum überragt
Stückpforten, hinter denen Kanonen lauerten, gaben den Schiffen ein neues
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Aussehen. Diese Schiffe waren imstande, überall hinzufahren. Sie waren die
Vehikel der Kolonisation, der Sklaventransporte, aber auch der Erweiterung des
geistigen Gesichtskreises und der Wissenschaften. Die Europäisierung der Welt
konnte beginnen.
DER FREIBEUTER IHRER MAJESTÄT
Francis Drake und der Untergang der spanischen Armada
Ein kühler Oktobertag des Jahres 1577 wich der Nacht. Der Wächter rief die
neunte Stunde. Die Königin hörte seinen Singsang von Ferne. Sie wusste, dass
er – mit dem Kurzschwert gegürtet und die Hellebarde geschultert – auf seinem
Rundgang nun von den Arkadenbögen über
die Seitentreppe zur großen Halle hinunter
und über den Innenhof zu den
Wirtschaftsgebäuden hinüber schritt, dabei
alles kontrollierte und nachsah, dass die Türe
zu den Stallungen, den Futterkammern und
den Gesindehäusern geschlossen waren,
auch dass alle Fackeln, die in den dazu
vorgesehenen Wandhaltern steckten, der
Vorschrift gemäß brannten. Dann würde er
durch den breiten Bogengang unter der Front
des Palastes zum Hauptportal gehen, wo er
dem wachhabenden Offizier Meldung über
seine Beobachtungen machen wird, um
danach seinen Rundgang bis zur Ablösung
wieder von vorne zu beginnen. Und so wie
er, sind zur gleichen Zeit vierundzwanzig
weitere Wächter auf den ihnen zugeteilten
Palastabschnitten unterwegs.
Sir Francis Drake als Ritter auf einem lateinisch
abgefassten Flugblatt. (John Carter Brown Library.)
Elizabeth I. legte seufzend die Schreibfeder zur Seite. Am Vormittag hatte sie
mit dem Lordkanzler die Lage beraten, und die war alles andere als gut. Seit ihr
Großvater, der schottische König Jakob IV., Margarete Tudor, Elizabeths
Großmutter, geheiratet hatte, beanspruchen die Stuarts auch den englischen
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Thron. Aber der schottische Adel war für die Reformation. So war die
katholische Politik der Maria Stuart in deren eigenem Land gescheitert. Maria ist
darauf nach England geflohen und von Elizabeth festgesetzt worden. Das war
1568. Doch nun drohte die katholische Opposition in Schottland mit offenem
Aufruhr, weil die Stuart seit neun Jahren im Tower einsaß. Der Lordkanzler hat
ihr in den Ohren gelegen, die Stuart
zum Tode verurteilen zu lassen, aber
Elizabeth schreckte noch immer
davor zurück; sie konnte keinen
Krieg in England gebrauchen. Sie
vertraute der „Suprematsakte“,
wonach die Königin des Landes
geistiges und weltliches Oberhaupt
zugleich ist. Alle Earls, Lords und
die Mitglieder des Parlaments hatten
darauf geschworen!
Königin Elisabeth I. von England mit den Insignien
ihrer Macht. Die rechte Hand ruht auf der Weltkugel,
oben links sieht man die siegreichen Schiffe ihrer Flotte.
(Privatsammlung Marquess of Tavistock.)
Aber das war nicht Elizabeths einzige Sorge. Seit Jahren versuchte sie schon,
eine Konsolidierung des religiös und innenpolitisch gespaltenen Landes
herbeizuführen. Damit trat sie dem Universalanspruch Spaniens entgegen, dass
sich unter Philipp II. als Hüter und Bewahrer katholischer Weltgeltung sah.
Natürlich unterstützte er die katholische Opposition in Schottland, ja er hat
seinen Anspruch auf den englischen Thron selbst wohl noch nicht ganz
aufgegeben. Dass er sich keine Hoffnungen machen kann, hat er selbst
verschuldet. Elizabeth dachte an ihre Vorgängerin und Halbschwester, Maria I.
Tudor, „die Katholische“. Philipp hatte sie 1554 geheiratet, zwei Jahre bevor er
seinem Vater Karl V. auf den spanischen Thron folgte. Aber Philipp hatte das
Land, den englischen Boden nie betreten und deshalb nach geltendem Recht
keinen Anspruch auf den englischen Thron; Maria war Königin von England!
Sie hat den Katholizismus wieder eingeführt, den ihr Vater Heinrich VIII. vor 46
Jahren aus England vertrieben und durch die anglikanische Kirche ersetzt hatte.
Die Grausamkeit, mit der Maria die Rekatholisierung durchzusetzen trachtete,
hatte ihr im Volk auch den Beinamen „die Blutige“ eingetragen. 1556 war
Philipp II. dann seinem Vater auf den spanischen Thron gefolgt, ein düsterer und
ernster, misstrauischer und pedantischer Herrscher, der sein Erbe zurückgezogen
— nur durch schriftliche Befehle — regierte. Als Maria I. 1558 starb, wurde sie,
Elizabeth I., Königin von England, aber sie war eine überzeugte Protestantin.
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Das schien Philipp anfangs nicht zu stören, denn er warb um Elizabeths Hand,
damit die Allianz zwischen den beiden Mächten erhalten blieb, doch Elizabeth
schlug sie nach einigem Zögern aus. Viele englische Katholiken waren über
Elisabeths Thronbesteigung empört. Als rechtmäßige Herrscherin galt die streng
katholische Maria Stuart, Königin von Schottland.
Aber die neue, kaum 25 Jahre alte Herrscherin hatte das Ruder mit einem
derartigen Geschick in die Hand genommen, dass jedermann erstaunt war.
„Wenn ich auch keine Löwin bin“, hatte sie in Anspielung auf ihren Vater
Heinrich VIII. bei der Inthronisation gesagt, „so bin ich doch das Kind eines
Löwen und trage sein Herz in der Brust!“ Sie hatte den Krieg mit Frankreich
beendet und die anglikanische Kirche wieder eingesetzt. Nun ging sie daran, die
Flotte zu erneuern und die Staatskasse zu sanieren.
Fröstelnd verschränkte die Königin die Arme und zog das brokatene Brusttuch
fester zusammen. Dann klingelte sie nach Gladys, der Kammerfrau. „Schau
nach dem Feuer, leg Holz nach“, befahl sie der knicksenden Zofe. „Und bring
mir etwas Warmes zu trinken.“
Philipp hat dann Isabella von Frankreich geheiratet, die aber 1568 schon
gestorben ist, im gleichen Jahr, in dem Maria Stuart in den Tower geworfen
wurde. Seither sitzt er wie ein asketischer Mönch in einem Kloster in Madrid,
aber die Zurückweisung durch Elizabeth wurmt ihn wohl heute noch. Er hat
noch nicht gemerkt, dass die Reformation und die überall angestrebte nationale
Staatenbildung seinen katholischen Absolutheitsanspruch beschneidet, dachte
die Königin, überall setzt der Wandel ein, der Handel erringt bedeutende
Monopole und die Privilegien des Adels werden beschnitten. Elizabeth stutzte.
„Auch die der Herrscher!“ sagte sie laut. „Wohlan, versichern wir Uns des
Parlaments!“
Die Kammerfrau kam mit dem dampfenden Becher. Elizabeth sog genussvoll
den Duft ein. Warmer Rotwein mit Zimt, Nelken und Ingwer. Sie nahm
vorsichtig einen Schluck. Ja, Gladys wusste, was ihr um diese Abendstunde
wohl tat. Ein spanisches Rezept zwar, aber trotzdem gut tuend. Gladys war halb
hinter der Königin stehen geblieben.
„Was ist?“ Elizabeth schaute zur Zofe auf. „Majestät, Lord Burghley wartet seit
einer Stunde.“ Sie hatte ihn ganz vergessen. „Lass ihn ein!“
Lord Cecil William Burghley, Lord Treasurer, Prime Minister, Elisabeths
Staatssekretär und Berater in einem, eilte mit Trippelschrittchen herbei. Er war
bereits 57 Jahre alt, ging etwas gekrümmt, bewegte sich aber behände, und sein
Geist war lebendig wie damals vor zwanzig Jahren, als Elisabeth zur Königin
gekrönt wurde. Burghley wollte vor der Königin das Knie beugen, aber
Elizabeth wehrte mit kurzen Bewegungen beider Hände ab. „Entschuldigt, dass
Ihr warten musstet, Mylord, aber ich hatte dringende Briefe zu schreiben. Ihr
wisst schon, die Niederlande ...“ Die burgundischen Niederlande waren eines
der entwickeltsten Gebiete Europas; sie waren seit dem Tode Karls des Kühnen
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1477 habsburgisch und damit spanisch. Um Spanien zu schwächen, unterstützte
Elizabeth mehr oder weniger verdeckt die Freiheitsbewegung in den
Niederlanden und duldete Kaperkriege der Merchant Adventurers, privater
englischer Kapitäne, gegen Spanien.
Elizabeth wies einladend auf den Sessel vor ihrem Schreibtisch, lehnte sich
zurück und nahm genießerisch einen Schluck. Mit beiden Händen umklammerte
sie den Becher und sah Lord Burghley erwartungsvoll an.
„Ich wollte Eure Majestät just zu einer wichtigen Zustimmung bedrängen, in
einer Sache, die Eure Majestät gerade erwähnten.“
„Die Niederlande?“
„Ja, Eure Majestät, ich habe leider schlechte Nachrichten.“
Die Königin zog die Brauen zusammen. Nach dem Tode des spanischen
Statthalters vor einem Jahr hatten sich alle Provinzen, auch die spanientreuen, in
der „Genter Pazifikation“ vereinigt, um den seit 1568 wütenden Bürgerkrieg zu
beenden. Seit 1555 Karl V. seinem Sohn Philipp die Herrschaft über die
Niederlande übertragen hatte, hat sich die politische und religiöse Repression
dort ständig verschärft. Der Handel, die Manufaktur und der Schiffbau waren
aufeinander angewiesen, die Interessen der Hersteller und Händler lief den
Interessen der Spanier bald einmal zuwider. Dies und die militärischen Lasten,
drakonische Ketzeredikte und die ständige Schmälerung der Freiheiten haben
den Adel und die Städte zunächst in die Opposition getrieben. Als dann Philipp
zum König von Spanien aufstieg, schickte er den Herzog von Alba mit einem
Heer in die Niederlande. Dieser Bluthund brachte es dann fertig, dass sich das
Volk unter Wilhelm von Oranien erhob.
Die Königin gibt sich einen Ruck. „Also, was gibt es?“
„Der Generalstatthalter Don Juan d’Austria hat die Provinzregierungen unter
Druck gesetzt, die ,Genter Pazifikation’ rückgängig zu machen. Er hat mit einem
,Ewigen Edikt’ den Protestantismus generell verboten. Die Provinzen Holland
und Seeland wollten sich nicht anschließen, sie sind im Aufruhr und haben sich
in Utrecht zu einer Union zusammengeschlossen!“
Elizabeth sprang auf, schlug mit der Hand auf den Tisch, Papiere flatterten zu
Boden. „Das soll Spanien büssen!“ Doch sie besann sich wieder, setzte sich,
atmete tief durch und schaute Burghley an. „Ist das alles?“
Wilhelm von Oranien erbittet unsere Unterstützung.“
Elizabeth nahm wieder Platz, lehnt sich zurück. „Was ratet Ihr, Mylord?“
„Eure Majestät sind als eine Herrscherin bekannt, die der Wirklichkeit ins Auge
zu schauen gewohnt sind. Eure Majestät werden mir zustimmen ...“. Der Lord
zögerte.
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Elisabeth schaute ihn belustigt an. Sie mochte den kleinen Mann; er hat ihr stets
gut und im Sinne der Krone geraten. „... dass wir nichts tun können!“, vollendete
sie seinen angefangenen Satz.
„So ist es Majestät. Zumindest nicht jetzt ...“, wieder zögerte der Lord, sprach
dann aber weiter: „... und nicht in den Niederlanden.“
Die Königin war es gewohnt, auf seine Zwischentöne zu achten. „So, wo
denn?“, fragte sie.
„Majestät. Der Aufbau unserer Flotte geht gut voran, in einigen Jahren wird
England eine Macht auf den Meeren sein, dann wird England Spanien in die
Schranken weisen. Noch gestern hat die Partei Eurer Majestät, wie Eure
Majestät wissen, den Antrag der Opposition im Parlament abgewehrt, die
Ausgaben für den Flottenbau zu reduzieren. Wir konnten im Gegenteil eine
Erhöhung und Forcierung erreichen. Diese Aufgabe hat absoluten Vorrang.
Deshalb können wir im gegebenen Zeitpunkt keine Mittel für die
niederländischen Rebellen abzweigen. Jedoch ...“. Wieder zögerte der alte
Mann.
Im 16. Jahrhundert mischten sich viele
Interessenten in die holländischen
Angelegenheiten ein. Auf diesem
Spottbild sitzt der spanische König
Philipp II. auf den Niederlanden, hier als
Kuh dargestellt. Der Herzog von Alba
melkt sie, der französische Repräsentant
zieht sie am Schwanz, Königin Elisabeth
gibt ihr Heu zu fressen und der Führer
der niederländischen Aufständischen,
Wilhelm von Oranien, hält sie bei den
Hörnern. (Nicolson Archives, London.)
„Nun?“
„Wir könnten den Drake losschicken. Seit drei Monaten wartet er auf Antwort.“
Ja, der Drake, dachte die Königin. Dieser Teufelskerl und Tausendsassa, dieser
Kaperkapitän, der seit einiger Zeit alles Spanische auf den Meeren angreift.
1571 bis 1573 hatte er die spanischen Küsten in Südamerika unsicher gemacht.
In Panama, wo die Schiffe von Peru heraufkommen und ihre Waren umladen,
um mit Maultieren auf die atlantische Seite der Landenge gebracht zu werden,
hatte er Kisten und Säcke mit Silber, Gold, Edelsteinen und Perlen im Wert von
einer Million Pfund für die Staatskasse erbeutet. Aber es hat auch schon
Beschwerden gegeben, dass er - wenn man es ihm nicht nachweisen kann - auch
schon ‘mal ein englisches Schiff auf einsamer See ausgenommen und verbrannt
hat. Sie hatte ihn einmal kurz zu Gesicht bekommen, bei einer Massenaudienz.
Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt
Seite 125
In ihrer Erinnerung war er nicht unsympathisch: ein schlanker Mann, von der
Sonne gebräunt. „Hat er seine Flotte beisammen?“
„Jawohl, Majestät. Insgesamt fünf Schiffe. Es ist alles fertig!“ Drake hatte bei
der Admiralität den Antrag auf einen Kaperbrief gestellt. Mit ihm könnte er auf
eigene Faust, aber mit Billigung der Krone, spanische Schiffe angreifen,
ausplündern und versenken.
„Was kostet Uns das?“, fragte die Königin.
„Nichts, außer dem Kaperbrief.“
„Und was bringt Uns das?“
„Das Übliche: zehn Prozent der Beute.“
„Gut“, entschied die Königin, „schreibt ,ein Drittel’ und gebt ihm das
Freipapier.“
Lord Burghley verbeugte sich tief und ging zur Tür.
„Wartet!“, rief ihm die Königin nach. Der Staatssekretär blieb stehen, drehte
sich um und verharrte. „Majestät?“
„Sagt dem Drake, dass Wir nichts von seinen Aktionen wissen. Falls er von den
Spaniern geschnappt wird, hat er den Kaperbrief zu vernichten! Er darf Uns
nicht diskreditieren. Der Gentleman darf es Uns nicht übel nehmen, wenn ich
ihn verleugne.“
„Sehr wohl, Majestät, das weiß er schon, und er hat es akzeptiert. Er ist ein
kluger Mann und Euer Majestät ergebener Diener.“
Elizabeth lächelte und entließ Burghley mit einem Kopfnicken.
Die großen Erfolge der Überseeexpeditionen Portugals und Spaniens mit den
weltbildwandelnden Entdeckungen zeigte den anderen seefahrenden Staaten,
wie sehr sich das Meer als Quelle der Machterweiterung und des
wirtschaftlichen Gewinns erwies. Andere expansionshungrige Territorialherrn
dehnten ohne Zögern mit Hilfe risikofreudiger Kapitäne ihr Aktionsfeld über
den Atlantik aus. Dadurch wurden die aus früheren Jahrhunderten ererbten
Rivalitäten und alte Gegensätze neu entfacht. Nach dem Ende der Kreuzzüge
hatte das Zurückdrängen der Moslems mit der „Reconquista“ sowie die
Entmachtung der Türken durch die Seeschlacht von Lepanto das Mittelmeer zu
einem von christlichen Staaten beherrschen Meer gemacht; die Öffnung der
Strasse von Gibraltar für die Beziehungen zwischen dem Mittelmeer und dem
Atlantik leitete eine Wendung Europas nach Westen ein.
Seit dem Ende des 13. Jahrhunderts haben besonders die Italiener die Schifffahrt
auf dem Atlantik energisch vorangetrieben; italienische Portolankarten waren
die genauesten Seekarten der Zeit. Nach Lepanto pflegten bald alle europäischen
Seefahrernationen rege Handelbeziehungen untereinander. Im Norden gelangten
nach Brügge vor allem Amsterdam, Southampton und Bristol zu großer
Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt
Seite 126
Bedeutung; im Süden waren es Lissabon, Sevilla, Malaga, Valencia, Barcelona,
Marseille, Genua und Livorno. Aber Häfen, die an großen Flussmündungen
lagen und gute Verbindungen zu einem weiten Hinterland besaßen, wurden zu
den eigentlichen machtpolitischen Zentren: London, Hamburg, Antwerpen,
Rouen, Nantes, Bordeaux, Lissabon und Sevilla. Die gegenseitige Abhängigkeit
von Meer und Land wurde hier besonders deutlich durch das Heranbringen von
Waren und ihr Absatz in beiden Richtungen. Die Bereitstellung von Kapital
förderte die Entwicklung der genannten Orte auch als Kapitalmärkte, als
Börsen- und Bankzentren. Fracht- und Prämienversicherungen kamen auf.
In Westeuropa entstand ein internationaler Markt. Der Bedarf wurde um ein
Vielfaches gesteigert, immer größere Schiffe wurden in immer größeren
Mengen benötigt; die Entwicklung schlug sich in den Schiffstypen nieder:
zwischen der ursprünglichen Karavelle und dem „Kauffahrer“ genannten
Großsegler gab es ein ganzes Spektrum von Nãos, Schaluppen, Karacken,
Koggen, Hulks, Fleuten, Brigantinen, Galeonen, Fregatten, Korvetten und
Linienschiffen. Meist war genügend Holz für den Schiffsrumpf vorhanden, aber
häufig mussten Mastholz, Teer und Pech aus Nordeuropa importiert werden,
einem Spezialmarkt der Hanse. Schweden lieferte Eisen für die Beschläge und
die Anker, die Bretagne Segeltuch und Seile.
Die Zeichnung aus dem
16. Jh., vermutlich von
Matthew Baker, dem
Schiffsbaumeister der
königlichen Werft, zeigt
die Breitenansicht einer
schnellen Galeone und
ihren Segelplan.
(Master and Fellows of
Magdalene College,
Cambridge.)
Noch immer
waren Portugal
und Spanien die
mächtigsten
Königreiche. Aber
andere Länder
versuchten schon
bald, ihren
Einfluss
auszudehnen;
allen voran England und Frankreich. Sie machten große Anstrengungen, ihre
Flotten auf- und auszubauen. König Franz I. von Frankreich war bei der
Kaiserwahl Karl von Spanien unterlegen und daher schon ein persönlicher
Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt
Seite 127
Rivale des spanischen Herrschers. England jedoch hatte weitsichtigere politische
Ziele im Auge.
Schon 1497 war John Cabott mit seinem Sohn Sebastian im Auftrage des
englischen Königs Heinrich VII. in den nordwestlichen Atlantik vorgestoßen.
Sein Schiff, die Nussschale „Matthew“, hatte nur 18 Mann an Bord, aber die
Cabotts hatten bereits Erfahrung mit nördlichen Gewässern durch ihre
Erkundung der Nordwestpassage, die sie als unpassierbar erkannten. Am
24. Juni 1497 sichteten sie Land, das sie „Neufundland“ nannten, den Ort der
Landung „St. John“, weil es der Johannistag war. Sie erkundeten noch Labrador
und kehrten nach England zurück. Diese Reise hatte für England eine zumindest
gleich große Bedeutung wie diejenige für Spanien fünf Jahre vorher durch
Kolumbus, denn nun begann - erst zaghaft, später gezielter - die englische
Besiedelung der nordamerikanischen Territorien, dem heutigen Kanada.
Aber die politische Entwicklung trieb auf einen Konflikt mit Spanien zu. Mit
seinem Flaggschiff „Golden Hind“ und vier weiteren Schiffen lief Drake am
15. November 1577, versehen mit einem Kaperbrief der Königin, aus dem
englischen Kanal in die
Nordsee aus. Er folgte der
Route Magellans, und einige
wichtige Vorkommnisse seiner
Reise sollten denjenigen auf
Magellans Fahrt fatal ähneln.
Drake überquerte zuerst den
Atlantik in der Passatzone,
wandte sich dann südwärts
und fuhr die Küste Südamerikas hinunter. Südlich der La-Plata-Mündung
desertierte eines seiner Schiffe, es konnte aber verfolgt und wieder aufgebracht
werden. Tom Doughty, der flüchtige Kapitän, wurde angeklagt, schuldig
gesprochen und in Port Julian hingerichtet, am gleichen Ort, wo Magellan
50 Jahre früher mit seinen Meuterern ähnlich verfahren war. Auf der Weiterfahrt
bogen die Schiffe nicht in die Magellanstrasse ein, sondern suchten sich
südwärts einen Weg; dabei entdeckten sie Kap Hoorn. In sehr stürmischer Fahrt
verloren sie ein Schiff, die „Marygold“; die übrigen Schiffe hatten sich aus den
Augen verloren. Kapitän Winter von der „Elizabeth“ entschied sich für die
Umkehr und Heimreise, wieder wie seinerzeit Kapitän Gomez von der
Expedition Magellan. Die anderen gelangten aber alle um das Kap.
Zu dieser Zeit segelten schon viele spanische Galeonen mit dem Gold der
Azteken und Inkas von Mexiko, Panama und Peru auf der Westroute nach
Spanien. Drake folgte deshalb der Pazifikküste Südamerikas, wobei er spanische
Schiffe kaperte und ihre Ladung konfiszierte. Der Ballast der „Cacafuego“,
eines dieser Schiffe, bestand aus Silberbarren, während die Ladung aus Gold
und Kisten voller Smaragden bestand. Auf seiner weiteren Fahrt nordwärts
suchte Drake eine Passage in den Atlantik, hatte aber wie Vespucci und
Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt
Seite 128
Magellan kein Glück. Er erreichte Kalifornien und entschloss sich zur Heimkehr
über Ostindien und das Kap der Guten Hoffnung.
In Celebes ließ er die „Golden Hind“ kielholen und ausbessern, nahm in
Freetown Wasser und machte am 26. September 1580 in Plymouth fest. Er hatte
als zweiter Kapitän und erster Engländer die Welt auf einer einzigen Fahrt
umrundet. England bereitete Drake einen begeisterten Empfang und die Königin
erhob ihn als Lohn für seine lukrative Kaperfahrt in den Adelsstand. Dies war
ein Affront gegen das katholische Spanien. Die Spanier waren darüber erbost,
dass man Drakes Freibeuterei offenbar guthieß, und als bekannt wurde, dass ein
Teil der Beute an die englische Krone ging, verschlechterten sich die
Beziehungen zwischen England und Spanien weiter.
Im gleichen Jahr 1580 besetzte Spanien ganz Portugal, es sollte bis 1640 von
spanischen Königen regiert werden. In England wurde Maria Stuart zum Tode
verurteilt worden; sie hatte aus dem Gefängnis heraus die Verschwörung einer
katholischen Gruppe unter Antony Babington anzetteln können, die die
Ermordung Elizabeths und die Befreiung Marias mit spanischer Hilfe plante. Es
war Hochverrat, und die Hinrichtung Marias fand am 18. Februar 1587 statt.
Nun flutete Empörung durch das katholische Europa und es erwartete
Gegenmaßnahmen von Philipp II., denn die Schotten zählten zu den
katholischen Nationen. England hatte nicht nur mit den Katholiken gebrochen,
sondern half auch den holländischen Protestanten bei ihrem Aufstand gegen die
spanische Herrschaft. Nach einigem Zögern verkündete Philipp die „Empresa“
(das Unternehmen) gegen England. Don Alvaro de Bazan, Marquis von Santa
Cruz und Held von Lepanto, der Grossadmiral der Spanier, schlug eine
grossangelegte Invasion über See vor. Sein heimlicher Rivale, Alexander
Farnese, Herzog von Parma und Oberbefehlshaber der spanischen Truppen in
den Niederlanden, war für eine Invasion über den Kanal. Philipp sprach sich für
einen Kompromiss aus: in den
Niederlanden wurde eine Armee
aufgestellt, die sich mit den über See
herangeführten Kräften vereinigen sollte.
Doch noch 1587 starb der Marquis von
Santa Cruz; das Oberkommando ging an
Alonzo, Herzog von Medina-Sidonia.
Der Oberkommandierende der spanischen Armada,
Don Alonso Herzog von Medina Sidonia.
(Rare Book Division.)
Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt
Seite 129
Für Spanien stand sein Kolonialbesitz auf dem Spiel, für Britannien hingegen
das nackte Leben. König Philipp war stolz darauf, die Christenkoalition
zustandegebracht zu haben, die 1577 das Vordringen der Türken bei Lepanto
stoppte. Das gab ihm ein grenzenloses Vertrauen in seine See- und
Landstreitkräfte. Aber das übrige Europa war sich über den Ausgang durchaus
nicht so sicher. Der Gesandt Venedigs am französischen Hof, Andrea Mocenico,
beeilte sich, seiner Regierung seine Zweifel mitzuteilen: „Es ist fraglich, ob
König Philipp II. sich der Macht der englischen Flotte bewusst ist, sowohl was
die Anzahl als was ihre Fähigkeiten betrifft. Denn die Engländer sind von einem
ganz anderen Schlage als die Spanier und unter den westlichen Völkern für ihre
Geschicklichkeit und ihren Mut bei allen Seeoperationen bekannt.“
Schiffsgeschütz aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Auf Befehl des Richtkanoniers wurde das
Zündloch des Vorderladers gesäubert und etwas Pulver aus einem Horn oder einer Flasche
aufgeschüttet. Dann wurde die Waffe mit einem Richthebel, der am hinteren Ende der Lafette angesetzt
wurde, nach links oder rechts gerichtet. Das Geschütz ließ sich mittels eines Richtkeils etwa 20 Grad
heben oder senken. Zuletzt führte der Kanonier einen brennenden Luntenstock an das Zündloch, und die
Kanone ging los. Der Rückstoss wurde von Seilen aufgefangen, die von den Bordwänden zu den
Zurringen liefen. Zahllose aus Schmiedeeisen gefertigte Kanonen explodierten beim Abfeuern und
forderten furchtbare Opfer. Gegen Ende des 16. Jahrhunderts kam die Gussbronze in Gebrauch und
wurde schließlich für die großen Schiffsgeschütze allgemein verwendet.
Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt
Seite 130
Nach einem feierlichen Gottesdienst lief am 30. Mai 1588 die Armada, der Stolz
Spaniens, aus dem Hafen von Lissabon. Die 131 Schiffe aller Größe, waren mit
insgesamt 8776 Seeleuten, 2088 Galeerensklaven, 21’855 Soldaten, 150
Artilleristen, 85 Ärzten und 180 Priestern besetzt. Die Feuerkraft der Armada
bestand aus 3165 Stück Artillerie. Die Flotte galt als unbesiegbar. Sie wurde am
19. Juli von der Küstenwache in Cornwall gesichtet. Man schlug Alarm, und die
britische Flotte lief sogleich aus.
Königin Elizabeth hatte das Kommando über ihre Seemacht dem ersten Lord der
Admiralität, Charles Howard, übertragen. Sein Flaggschiff war die „Arc Royal“;
die Geschwader wurden von erfahrenen Kaperkapitänen, wie Frobisher,
Hawkins und Drake, befehligt. Es war eine bunt zusammengewürfelte Flotte, die
sich da aufmachte, um die stärkste Seemacht der damaligen Welt zu bezwingen.
Die Royal Navy besaß nur 34 Schiffe, Drake steuerte eine Vielzahl von
Handelsschiffen bei, die eiligst bewaffnet worden waren. Die Stadt London und
einige private Eigner rüsteten auch noch einige Schiffe aller Typen aus,
insgesamt waren es 102 Einheiten: ein zusammengewürfelter Haufen, aber ihre
Namen - „Victory“, „Lion“, „Tiger“, „Revenge“ und „Dreadnought“ wurden zu
Traditionsnamen in der britischen Marine.
Admiral Howard sagte später, dass er beim Anblick der spanischen Armada Zeit
seines Lebens noch nie eine derart große Schiffsansammlung auf einmal
gesehen habe. Medina-Sidonia, der spanische Oberkommandierende, hielt seine
Schiffe in enger Halbmondform, um das bei Lepanto erfolgreiche Manöver
wiederholen zu können. Aber Lepanto war eine Schlacht nach „alter Art“; in der
noch der Rammsporn dominierte und der Kampf durch Soldaten - Mann gegen
Mann - nach dem Entern entschieden wurde. Vor der britischen Küste waren
„nur“ 29’000 Männer beteiligt und die Schiffe hatten Tonnagen zwischen 500
und 1000; in Lepanto waren es über 100’000 Mann und die Schiffstonnagen
lagen zwischen 80 und 300! Die Schiffe waren also inzwischen wesentlich
größer geworden. Die Spanier vertrauten vor allem ihren leichten Feuerwaffen;
sie wollten den Gegner mit einem Hagel kleiner Geschosse überdecken. Aber
die Engländer vermieden den Nahkampf, gingen in sichere Distanz und setzten
erstmals Artillerie in großem Stil ein. Die Feuergeschwindigkeit der Kanonen
war niedrig und die Engländer griffen den Gegner abwechselnd vom Bug, über
Heck oder mit den Breitseiten an. Das bedurfte großer Manövrierfähigkeit der
Schiffe und hohes seemännisches Können der Matrosen und Offiziere.
Am 21. Juli kam es zu einem ersten Zusammenstoss. Drake näherte sich von
Plymouth aus den Spaniern, umsegelte den Feind, griff von hinten an und
drängte die Spanier nach Südosten ab. Die „Nuestra Señora del Rosario“, die
größte spanische Galeone mit 64 Kanonen, ergab sich am anderen Morgen.
Danach segelte die spanische Flotte langsam in den englischen Kanal ostwärts.
Es gab wieder viele Kanonaden, die die Spanier große Vorräte an Munition und
Matrosen kosteten. Bald machte sich bemerkbar, dass sie zu weit von ihrem
Mutterland operierten und keinen Nachschub aufnehmen konnten, während sich
Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt
Seite 131
die Engländer nie weit von ihren Nachschubhäfen entfernten. Am 23. Juli war
die Armada schon stark angeschlagen, aber noch immer kampffähig. Sie ankerte
in den Flachwassern 2 Seemeilen vor Calais und wollte die Armee des Herzogs
von Parma aufnehmen. Aber der Herzog weigerte sich, seine flachgehenden
Boote mit den wehrlosen Soldaten darauf dem Feuer der britischen Flotte
auszusetzen.
Im Juli 1588 treffen die Flotten der
Engländer (Flaggen mit rotem Kreuz
auf weißem Grund) und der Spanier
aufeinander. (National Maritime
Museum, London.)
Dort wurden die Spanier in der Nacht auf den 29. Juli von brennenden Hulks
angegriffen, die die Engländer auf die Spanier zutreiben ließen. Die Brander
waren voller Pulver und richteten unter dem spanischen Geschwader großen
Schaden an; Panik brach aus. Wieder versuchte Medina-Sidonia mit der
Landarmee Alexander Farnese, Herzog von Parma, Kontakt aufzunehmen, aber
der wurde inzwischen von Aufständischen, die eine Chance für ihren
Freiheitskampf sahen, bedrängt. Da entschloss sich der spanische
Oberbefehlshaber zum Rückzug. Die Armada segelte nach Norden um
Schottland und Irland herum nach Spanien zurück. Der Verlust Spaniens
bezifferte sich auf 64 Schiffe, 10’000 Mann und die Vormachtstellung auf dem
Meer.
Obwohl keine eigentliche Seeschlacht stattgefunden hatte, war der Welt gezeigt
worden, dass die „unüberwindliche Armada“ durchaus nicht unbesiegbar war.
Eine neue Taktik der Seekriegsführung trug den Sieg davon. Das
Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt
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Kräfteverhältnis in Europa begann sich zu verschieben; von nun an war
Britannien eine Macht, mit der auf dem Meer zu rechnen war!
Im Jahre 1600 gründeten die Londoner Kaufleute unter dem Patronat Königin
Elizabeths die „East India Company“ und begann auf Java, Sumatra und den
Molukken Handelsplätze einzurichten. 1613 dehnte die Gesellschaft ihren
Einflussbereich auf Indien aus, wo eine Handelsniederlassung im Hafen von
Surat eingerichtet wurde. Als der nominelle Herrscher Indiens, der Großmogul,
auch den Handel mit dem Landesinneren gestattete, wurden die bisherigen
Beherrscher des indischen Marktes,
Marktes, die Portugiesen, langsam verdrängt.
Die „East India Company“ besaß bald eine eigene Armee mit einer Kriegs
Kriegs- und
Handelsflotte, sie hatte eigene Behörden, eine eigene Gerichtsbarkeit und ließ
sogar eigene Münzen schlagen. Ihr großer Haupthafen, das „Eas
„East India Dock“ in
London, wurde bald weltberühmt.
Das gefiel den Holländern gar nicht, denn sie wollten auch zu einem
weltpolitischen Faktor heranwachsen. 1581 waren die niederländischen
Provinzen der „Utrechter Union“ endgültig von Spanien abgefallen. Unte
Unter der
Statthalterschaft Wilhelms von Oranien wurden die Generalstaaten mit
republikanischer Verfassung konstituiert, aber Wilhelm wurde 1584 ermordet.
Der Nordteil blieb zwar „holländisch“ und frei, doch in Flandern, Brabant und
Geldern mussten sich die Niederlande
Niederlande noch bis zum Ende des Dreißigjährigen
Krieges 1648 der Spanier erwehren, bevor sie endgültig als Republik anerkannt
wurden. Aber das hat Holland nicht daran gehindert, große Schiffe zu bauen und
schon vor 1600 spanisch-portugiesische
spanisch
Faktoreien inn Südafrika, Indien und
Südostasien anzugreifen. Sie errichteten dort Stützpunkte vertrieben zwischen
1599 und 1605 sogar die Portugiesen und Engländer von den Gewürzinseln, den
Molukken, und legten so den Grundstein für ein großes überseeisches
Kolonialreich.
1602 gründeten sie nach englischem Vorbild die „Vereenigte Ostindische
Compagnie“. Auch die V.O.C. verfügt über eine eigene Flotte und eine Armee
zu deren Schutz. Derartige Kompanien schossen im
17. Jahrhundert wie Pilze aus dem Boden, aber keine
erlangt je die Bedeutung wie die englische und die
holländische „Vereenigte Ostindische Compagnie“.
Signet der „Vereenigden Ostindischen Compagnie“ (VOC)
Die VOC entwickelt sich zur bedeutendsten Handelsgesellschaft überhaupt, die
von Anfang an regelmäßig riesige Gewinne erwirtschaftete. Sie wird von den
„Heeren Sevetien“ (siebzehn Herren) aufmerksam kontrolliert, Aktionäre, die
Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt
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auch über den größten Teil des eingesetzten Kapitals verfügen. Ihre gedeihliche
Entwicklung beruht zunächst auf dem Handel mit Gewürzen, doch bald sichern
bunte, handbemalte Baumwollstoffe, so genannte „Indiennes“, wegen der rasch
zurückgehenden Preise der Gesellschaft einen breiten Markt in Europa. Hinzu
kommen Seiden, Porzellan und wertvolle Lacke aus Fernost, besonders aus
China.
Wichtige holländische Handelsniederlassungen befanden sich an der
Koromandelküste mit ihren Pfefferplantagen und an der Küste Bengalens, wo
die erwähnten „Indiennes“ hergestellt wurden. Das Zentrum holländischer
Kolonialisierung befand sich hingegen im Sunda-Archipel, ihre Hauptstadt war
Batavia, das heutige Jakarta auf der Insel Java (Indonesien). In dieser von
Sümpfen umgebenen, fieberversuchten Gegend herrschte die „Vereenigte
Ostindische Compagnie“ mit rücksichtloser Gewalt, die sie, ähnlich wie das
kleine Portugal hundert Jahre vorher, auf eine Kette von Seebefestigungen
gründete. Eine Kontrolle des Hinterlandes war kaum möglich, denn Holland
hatte, auch wie Portugal, zu wenig Menschen: seine Gesamtbevölkerungszahl
betrug damals knapp 2 Millionen.
Auf dem Weg in die moderne Welt
Captain James Cook
James Cook (1728–1779) erforschte den Pazifik und widerlegte den
Mythos vom Südkontinent «Terra Australis Incognita». (National
Maritime Museum, London.)
In den Portolanen aus der Zeit vor Magellans
Entdeckungen
stellten
sich
die
europäischen
Kartographen den Südpazifik viel kleiner vor, als er
tatsächlich ist, weil sie davon ausgingen, dass das entsprechende Gebiet von
einer großen Landmasse bedeckt wird. Sie nannten sie »Terra Australis
Incognita« (das unbekannte südliche Land. Sogar Magellan hielt bei der Fahrt
durch die Wasserstraße vom Atlantik in den Pazifik die Landmasse auf der
Backbordseite seines Schiffes für diesen sagenhaften Kontinent. Erst Drake
sollte entdecken, dass dieses Land tatsächlich die später »Feuerland« getaufte
Insel ist.
Der große englische Seefahrer James Cook sollte den Mythos der »Terra
Australis Incognita« endgültig zerstören. Bevor Cooks Informationen Eingang
Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt
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in Karten fanden, boten die Portolane häufig die unterschiedlichsten
künstlerischen Interpretationen dieses imaginären Kontinents. Schon vor Cook
hatten mehrere Seefahrer belegt, dass dieser Kontinent kleiner als angenommen
sein musste, denn sie waren durch Gebiete gesegelt, in denen man eigentlich
Land vermutet hatte. Zunächst tat Cook das Gleiche und zwar auf seinem Weg
nach Tahiti im Jahr 1769. Seine realistische Einschätzung der Größe der
Antarktis, des tatsächlichen südlichen Kontinents, war für seine Zeit einzigartig.
Viele seiner Zeitgenossen vermuteten dort, wo sich tatsächlich der Südpazifik
befindet, den größten Kontinent der Erde. Von der immensen Größe dieses
Landes überzeugte Herrscher trieben ihre Seefahrer an, dieses Land zu finden
und es für sie in Besitz zu nehmen, weil sie vermuteten, es würde ebensolche
Reichtümer wie die anderen entdeckten Länder bergen.
Östliche Hälfte einer Weltkarte von
Rumold Mercator aus dem Jahr
1587
mit
dem
vermuteten
Südkontinent
«Terra
Australis
Incognita». (British Museum, Aldus
Books.)
James Cook wurde im Jahr
1728 geboren − zufällig
genau das Jahr, in dem Vitus
Bering die nach ihm
benannte Beringstraße
entdeckte. Fünfzig Jahre
später würde Cook dieses
Gebiet ebenfalls aufsuchen.
Vor den seinen Ruhm begründenden großen Reisen segelte Cook als
unbedeutender Seemann nach Kanada. Während des Siebenjährigen Krieges
nahm er hier auch an den Kämpfen gegen England teil und wirkte an der
Vermessung des St.-Lorenz-Stroms mit. Seine Vorgesetzten wurden auf ihn
aufmerksam, weil er sich durch besondere Genauigkeit auszeichnete. Das und
sein Interesse für Geographie und Mathematik machte ihn für die
Landvermessung geeignet. So musste er nach dem Ende des Krieges in Kanada
verbleiben, um das Gebiet um die Küsten Labradors, Neufundlands und
Neuschottlands zu vermessen. Im Gegensatz zu den meisten Karten sowohl
früherer Zeiten als auch seiner eigenen Zeit beruhten Cooks Karten auf
Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt
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wissenschaftlichen Erkenntnissen und Methoden. Sie übertrafen in ihrer
Genauigkeit alle früher angefertigten Land- und Seekarten.
Cook war ein seriöser, königstreuer Entdecker, aber er hatte auch eine poetische
Seele, die staunen konnte über die Wunder der Südsee. Dort suchte er, ganz der
subjektiven Innerlichkeit eines Rousseau verfallen, einen glücklich naturhaften
Urzustand der Menschheit. Obwohl er in wesentlichen Punkten die Positionen
der Aufklärung vertrat, waren ihm starke Zweifel gegenüber Fortschritt und
Zivilisation eigen; der klar denkende Forscher leistete sich quasi privat Gefühle,
die ihn zu einem Vorläufer der Romatik machen. Das Bild vom guten Wilden
war im 18. Jahrhundert weit verbreitet, und Bücher wie Robinson Crusoe von
Daniel Defoe oder Gullivers Reisen von Jonathan Swift lagen genau auf der
Linie der allgemeinen Empfindungen. Man träumte immer wieder vom irdischen
Paradies. Und manchmal glaubte man, es tatsächlich auch gefunden zu haben.
Das Paradies war auch das Reiseziel von Kapitän James Cook, und nicht nur die
Wissenschaft, das Abenteuer oder die Macht des britischen Empires. Cook war
überzeugt, in der Südsee den einzigen Ort auf der Welt gefunden zu haben, wo
die Menschen ohne Laster leben. Geboren unter dem schönsten Himmel,
brauchen sie nichts, was die Natur ihnen nicht gäbe.
Robinson Crusoe ist ein Roman von Daniel Defoe,
der die Geschichte eines Seemannes erzählt, der
mehrere Jahre auf einer Insel als Schiffbrüchiger
verbringt. Ein vor Kanibalen geflohener Wilder, der
später sein Freund und Diener wird, nennt Robinson
Freitag zur Erinnerung an den Tag, an dem er ihn
kennengelernt hat
Es mögen auch archaische Wurzeln
gewesen sein, die Cook das Paradies suchen
ließen. Die Hoffnung auf eine bessere Welt,
notierte er, »findet sich bezeichnenderweise
bei allen Seevölkern [...], nämlich der
Mythos von den Inseln der Glückseligkeit.
Dieser Traum existiert bereits seit den
frühesten Tagen der europäischen
Geschichte. [...] Diese Inseln können für
Asketen das Fegefeuer sein, für andere aber das Paradies aller Genüsse, ein
Reich der uneingeschränkten Liebe und de Reichtums, [...] Ort des mühelosen
Lebens ohne Anstrengung und Arbeit, weil die Natur alles liefert.« Ihre
Bewohner sind »glücklich, von Natur aus gut und zum Teilen bereit.« Für
Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt
Seite 136
Captain Cook, wie man ihn allgemein respektvoll nannte, hat dieser Glaube
jedoch schlecht geendet. Die Polynesier, bei denen sich Cook sehr um
freundschaftliche Beziehungen bemüht hatte, stahlen mit Leidenschaft,
besonders eiserne Gegenstände. Als am 14. Februar 1779 eines von Cooks
Beibooten entwendet wurde, ging er mit Bewaffneten an Land, um das Boot von
den Eingeborenen zurückzufordern. Aber die Hawaiianer fielen über die Weißen
her und Cook wurde am Strand von Hawaii ermordet und zerstückelt. Manche
sagen, weil die edlen Wilden doch wohl nicht so edel waren, andere glauben,
dass er sein Leben aufgrund eines Mißverständnisses verlor. Wie es auch
gewesen sein mag; für Cook nahm die Suche nach dem Paradies ein böses Ende.
Während seiner ersten Weltumsegelung führte Cook im Jahr 1769 unter
anderem den Auftrag aus, eine außergewöhnliche astrologische Erscheinung
erdnahen Durchgangs der Venus zu beobachten. Dieses Ereignis hatte
Weltbedeutung, da Astronomen in aller Welt auf neue Erkenntnisse hofften. Der
deutsche Forscher Peter Simon Pallas war eigens durch Russland an die
chinesische Grenze gereist, um das Phänomen zu beobachten. Astronomen
zufolge sollte die erst kürzlich von dem Engländer Samuel Wallis entdeckte
Insel Tahiti den besten Blick auf dieses Schauspiel bieten.
Peter Simon Pallas (1741−181), deutscher
Naturforscher und Geograph, wurde 1767 zum
ordentlichen
Mitglied
der
Akademie
der
Wissenschaften
in
Sankt
Petersburg
und
unternahm 1768-74 und 1793/94, gefördert durch
die Zarin Katharina II., Expeditionen durch Sibirien
und das südliche Russische Reich.
Man hoffte, mit Hilfe neuer Daten die
Entfernung zwischen Erde und Sonne
exakter bestimmen zu können. Dies
wiederum sollte ihnen bei der genaueren
Bestimmung der Längen- und Breitengrade
helfen, was der Navigation sehr zu Gute
kommen würde. Die Royal Society wusste, dass Cook in der Lage war, die
entsprechenden Berechnungen durchzuführen, da es ihm im Jahr 1766 durch die
Beobachtung einer Sonnenfinsternis gelungen war, den Längengrad von
Neufundland zu bestimmen.
Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt
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Cooks erste Reise
Neben der Beschreibung des Lebens in den seltsamen, neu entdeckten Ländern
diente Cooks erste Reise noch weiteren wichtigen Zielen. Wesentliche
Bedeutung kam dabei der Entdeckung von vorbeugenden Maßnahmen gegen
den Skorbut zu, jener schlimmen Krankheit, die fast jede Schiffsbesatzung vor
Cooks Entdeckung heimsuchte. Üblicherweise starb auf einer längeren
Expedition etwa ein Drittel der Besatzung an Skorbut. Cook erkannte als
Ursache den Mangel an Vitamin C. Deshalb bunkerte er Zitrusfrüchte,
Frischfleisch und frisches Gemüse – und damit eine wesentlich bessere
Versorgung der Mannschaft als sie bis dahin üblich war – mit dem Ergebnis,
dass von Cooks 112 Männern auf der dreijährigen Reise nur ein einziger an
einer Krankheit, bei der es sich aber nicht um Skorbut handelte, starb.
Schließlich gingen die Briten dazu über, ihre Seeleute und Soldaten
grundsätzlich mit den dieses lebenswichtige Vitamin enthaltenden
Lebensmitteln zu versorgen, zum Beispiel mit Limonensaft. Das Jahr 1642
nimmt in der Geschichte der Wissenschaft eine Schlüsselposition ein: Galileo
Galilei starb, Isaak Newton wurde geboren und Abel Tasman erreichte
Neuseeland, auch wenn er glaubte, die lediglich von einer Bucht unterbrochene
Küste des legendären großen südlichen Kontinents vor sich zu haben.
Über hundert Jahre später erforschte Cook als nächster Europäer diese Gegend.
Er fand heraus, dass das, was sein Vorgänger für die von einer tiefen Bucht
eingeschnittene Küste eine Kontinents gehalten hatte, tatsächlich zwei von einer
Wasserstraße, der heutigen Cookstraße, voneinander getrennte Inseln sind. Die
Inseln sollten später Neuseeland genannt werden.
Ureinwohner
Neuseelands;
Zeichnung von
Abel Tasman
1643. (Algemeen
Rijksarchief, Den
Haag.)
Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt
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Nach der Erfüllung seiner Aufträge hätte Cook nach Europa zurückkehren
können. Stattdessen aber segelte er nach Neuholland, das später Australien
getauft wurde. Er wusste zwar von Tasmans etwa hundert Jahre zurückliegender
Entdeckung, aber die Kartographen waren sich nicht sicher, ob Tasmanien eine
Insel oder etwa eine zu Australien gehörende Halbinsel war. Unglücklicherweise
hinderte schlechtes Wetter Cook an der Beantwortung dieser Frage und sie blieb
deswegen noch für mindestens zwanzig weitere Jahre offen.
Cook fuhr weite: Als erster Europäer segelte er seit einem Jahrhundert wieder
durch die Torresstraße und bewies, dass es sich bei ihr um einen Weg zwischen
Australien und Neuguinea handelt. Aber in Batavia auf Java raffte die Malaria
und die Ruhr mehr als 30 seiner Männer dahin. So fand seine Expedition neben
großen Erfolgen und großen Enttäuschungen auch noch ein tragisches Ende.
Cook kehrte im Jahr 1771, zwei Jahre nach dem erdnahen Durchgang der
Venus, nach England zurück und erstattete der Royal Society Bericht. Er trug
allerdings nur wenig von wirklichem wissenschaftlichem Wert bei. Außerdem
hatten sich viele»Lehnstuhlentdecker« bis zu dieser Zeit bereits daran gewöhnt,
nur noch das Außergewöhnliche zu erwarten. Da mittlerweile beinahe jeden
zweiten Tag große Entdeckungen gemacht wurden, empfand man sie nun als
etwas völlig Normales. Schließlich hatte James Bruce im Jahr zuvor die Quellen
des Blauen Nils entdeckt und im Jahr nach Cooks Bericht verfolgte er den
Blauen Nil bis zu seinem Zusammenfluss mit dem Weißen Nil.
Aber immerhin war nach Cooks erster Reise
nun bekannt, dass Neuseeland und
Australien von Wasser umgeben waren und
dem britischen Empire hinzugefügt werden
konnten. Allerdings gab es immer noch
keinen Beweis für die Existenz des großen
südlichen Kontinents.
Karte von Australien und Neuseeland
(Wikipedia Maps)
Deshalb erteilte die Royal Siciety in der
Hoffnung, dass bei dieser Gelegenheit die
südlichen Breitengrade vollständig erforscht
werden könnten, den Auftrag für eine
zweite Weltumseglung.
Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt
Seite 139
Cooks zweite Reise
Auf Cooks zweiter Reise waren seine Männer im Jahr 1772 die Ersten, die
nachweislich den Südlichen Polarkreis überquerten. Sie stießen so weit vor wie
es das Eis erlaubte, aber der große südliche Kontinent war noch immer nicht in
Sicht. Die Männer verbrachten den Winter in Neuseeland und besuchten noch
einmal Tahiti. Bei dieser Gelegenheit wurden die in der Nähe gelegenen und
von Cook auf Grund des freundlichen Empfangs durch die Einheimischen »Die
Freundlichen Inseln« genannten Inseln kartographisch erfasst.
Karte von Tahiti (Wikipedia Maps)
Eines seiner beiden Schiffe
musste
auf
Grund
von
Sturmschäden nach England
zurückkehren und wurde so das
erste Schiff, das die Welt von
Westen nach Osten umsegelt
hatte. Unterdessen stieß Cook
zum zweiten Mal in den
Südlichen Polarkreis vor. Er
kam weiter nach Süden, als
irgend jemand vor ihm; erst fünfzig Jahre danach sollte das wieder gelingen.
Cook stellte fest, dass »... in diesem Ozean kein Kontinent zu finden ist«. Da
sowohl die Vorräte als auch die Kraft seiner Mannschaft zur Neige gingen,
beschloß er die Heimreise.
Kurz nach dem Vorstoß in die Antarktis stellte der Schiffsarzt fest, dass der an
Gallenkoliken leidende Cook frisches Fleisch brauchte. Offensichtlich gab es zu
dieser Zeit bestenfalls noch gesalzenes Fleisch an Bord. Also wurde ein
Bordhund für den Kapitän geschlachtet, der sich darauf rasch erholte.
Cook erforschte noch die Osterinseln und die Tongas in Neukaledonien, die
Neuen Hebriden und die Marquesas-Inseln und sammelte dabei wichtige
Informationen für Kartographen. Auf seinem Rückweg nach England umsegelte
er Südgeorgia und war damit der Erste, der eine antarktische Insel umschiffte.
Cooks zweite ist die berühmteste seiner drei Reisen und nicht zuletzt darum so
bemerkenswert, weil er nicht nur zum zweiten Mal die gesamte Welt umsegelte,
Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt
Seite 140
sondern insgesamt über 96 000 Kilometer (oder fast 52 000 Seemeilen),
zurücklegte − mehr als der zweifache Erdumfang.
Während eines in England verbrachten Jahres lernte Cook die neuesten
Navigationsinstrumente kennen, vor allem einen äußerst genauen Chronometer
zum Gebrauch mit neuen nautischen Tabellen zur Bestimmung des
Längengrades. Es ist deswegen um so bemerkenswerter, was Cook auf seinen
ersten beiden Reisen leistete, ohne dass ihm schon diese wesentlich verbesserten
Instrumente zur Verfügung standen.
Cooks dritte Reise
Cook war nun bereit für den Auftrag der Admiralität, noch einmal in britischem
Namen nach einer befahrbaren Wasserstraße zwischen den beiden größten
Ozeanen der Welt zu suchen, aber dieses Mal vom Pazifik aus. Zu dieser Zeit
glaubte man, dass diese Wasserstraße in irgendeiner Weise, wenn es vom Osten
aus nicht gelingen wollte, von Westen aus zugänglich sein müsste. Ein weiterer
Auftrag bestand darin, als Geschenk König Georgs III. Zuchtvieh zu den Bauern
in einigen der Kolonien im Pazifik zu bringen. In England nannte man den
König liebevoll, aber ein wenig respektlos »Bauer Georg«, weil er sich stark für
die neuen landwirtschaftlichen Errungenschaften interessierte, denn die
Bevölkerung Englands wuchs dramatisch an. Zu seiner Beliebtheit trug auch bei,
dass er treu zu seiner Ehefrau hielt und im Gegensatz zu seinen beiden
hannoverschen Vorgängern keine Mätressen hatte. Aber
der König war nicht gesund; er litt an einer
Geisteskrankheit, nach heutigen Erkenntnissen Symptome
einer Stoffwechselstörung. Damals wurde bei Hofe sehr
oft das Medikament Brechweinstein verschrieben,
welches einen hohen Anteil an Antimon enthält. Da in der
Natur Antimon und Arsen häufig zusammen vorkommen,
könnte Georg III. möglicherweise durch Arsen nach und
nach unwissentlich vergiftet worden sein.
König Georg III. im Krönungsornat 1760;
der König war damals 22 Jahre alt
Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt
Seite 141
Doch in den amerikanischen Kolonien war der Ruf Georges III. alles andere als
gut. Tatsächlich erklärten die Amerikaner wenige Tage, bevor Cook am 12. Juli
1776 zu seiner letzten Reise aufbrach, in aller Form ihre Unabhängigkeit von
England. Das Zeitalter der Entdeckungen ging seinem Ende entgegen und glitt
in ein neues Zeitalter der Revolutionen über. Die Franzosen sollten mit ihrer
historischen Revolution des Jahres 1789 die ersten sein. Die Russen, Chinesen
und Kubaner würden später folgen.
Viereinhalb Monate nach dem Beginn seiner Reise entdeckte Cook am 25.
Dezember die Weihnachtsinsel, das größte Pazifikatoll, die erst 1888 von
Großbritannien annektiert wurde (die Briten sollten hier in den Jahren 1957 und
1958 Nuklearwaffentests vornehmen, die USA sollten dies von 1962 an
fortsetzen).
Anschließend entdeckte Cook die von ihm nach dem berüchtigten Ersten Lord
der britischen Admiralität, Graf von Sandwich, genannten Sandwichinseln, die
aber später in Hawaii-Inseln umgetauft werden sollten. Es ist jedoch durchaus
möglich, dass Cook nicht als erster Europäer diese Inseln entdeckt hat.
Die Sandwich-Inseln (später in Hawaii-Inseln umbenannt), aus dem Weltatlas, Rom, 1798
Nachdem er das Vieh bei den Bauern abgeliefert hatte, wandte er sich dem
wichtigeren und anspruchsvolleren Teil seines Auftrags zu, der Suche nach einer
Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt
Seite 142
nördlichen Passage vom Pazifik zum Atlantik. Er segelte in östlicher Richtung
nach Nordamerika, landete zunächst im Nootkakasund in der Nähe von
Vancouver, um dann von dort aus weiter die Westküste Amerikas hinauf zu
segeln bis er schließlich, bevor ihn Eisberge am weiteren Vordringen hinderten,
die Beringstraße passierte. Aber immerhin vervollständigte er, nachdem der
dänische Kapitän Vitus Bering fast 50 Jahre vor ihm in dieser Gegend gewesen
war, die Informationen über die Beringstraße in der ersten neuen Karte.
Das Schicksal eines anderen, mit dem man die Theorie von der zutraulichen
Gemütsart der Südseeinsulaner beweisen wollte, verliert sich in ungewisser
Dunkelheit. Das Experiment Omai entwickelte sich anders, als man damals im
Glauben an die edlen Wilden erwartete. Bei der Abreise zu Cooks dritten
Entdeckungsfahrt 1776 befand sich ein Eingeborener von der Südseeinsel
Ulietea, Omai mit Namen, an Bord. Dieser Naturbursche hat 1772 sein
Vaterland verlassen, ist mit Cook mitgereist und war 1775 in England
eingetroffen; nun sollte er in seine Heimat zurückkehren. Es war ein einfacher
Mann, und Cook hatte den Narren an ihm gefressen. In London hatte man Omai
in die beste Gesellschaft eingeführt, und er besaß wohl genug common sense,
schnell zu begreifen, dass diese Leute der high society angehörten und was sie
von ihm erwarteten. Er benahm sich ungezwungen, und da er noch jung an
Jahren war, äußerten sich seine Vorlieben gleich denen anderer junger Leute. Zu
seinem Glück war er ein guter Beobachter, denn da er die Sitten und das
Betragen der Personen von Rang und Stand, die ihn ihres Schutzes würdigten,
sehr sorgfältig beobachtete, ahmte er sie fleißig nach, blieb aber mäßig und
bescheiden. Bald nach seiner Ankunft in London stellte ihn der Graf von
Sandwich dem König Georg III. vor, was Omai stark beeindruckte, aber seine
vornehmsten Gönner waren der Graf von Sandwich sowie die Botaniker Banks
und Solander. Das Glück hatte Omai folglich begünstigt, er lebte in Luxus und
war häufig von vielerlei Vergnügungen
umgeben. Und weil er im Schachspiel eine
gewisse Fähigkeit entwickelt hatte, hielt man
ihn für sehr begabt.
Omai, ein Eingeborener von einer der
Gesellschaftsinseln, war in England «zivilisiert»
worden. Nach seiner Heimkehr erwartete ihn ein
ungewisses Schicksal
Doch er vergaß seine Heimat nicht und wollte
in sein Vaterland zurückzukehren. Er
sammelte mit Eifer alle möglichen Dinge, um
sie in seine Heimat mitzunehmen. Die Vielfalt
Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt
Seite 143
der in Europa gebräuchlichen Gegenstände hinderte ihn allerdings daran, im
einzelnen Objekt einen Nutzen zu erkennen, wie er überhaupt nicht in der Lage
war, eine allgemeine Vorstellung des damals gültigen gesellschaftlichen
Systems zu entwickeln und neue Erkenntnisse zum Nutzen und zur
Verbesserung seines heimatlichen Insellandes anzuwenden. Die jeden Tag auf
ihn einwirkenden Genüsse ließen ihm auch keinen Augenblick Zeit, an
Derartiges zu denken. Bald besaß er Beile, Sägen, Meißel und
Zimmerwerkzeuge, Flinten, Pistolen, Säbel, Pulver und Munition, Nähnadeln,
Stecknadeln, Angeln und verschiedene Werkzeuge für die Jagd, Netze aller Art,
eine vollständige Drehbank, farbige Kleider nach englischer Mode, eine
Drehorgel, eine Elektrisiermaschine, ein Panzerhemd und eine Ritterrüstung.
In der Südsee angekommen, setzte man Omai im Oktober 1777 auf eigenen
Wunsch mit seinen Habseligkeiten, dazu zwei Pferden, zwei Kühe und ein Stier,
einige Schafe und Ziegen sowie Gänse und Hühner auf der kleinen Insel
Huaheine, einem zu den Gesellschaftsinseln gehörenden Eiland, ab. Auf Befehl
Cooks bauten ihm die Schiffszimmerer ein Haus nebst Stall und Scheune. Cook
ermöglichte es auch, dass Omai sich ein Stück Land vom Inselherrscher kaufen
konnte. Diese Ereignisse verbreiteten sich in Windeseile in der Umgebung, so
dass von Nah und Fern Eingeborene herbeiströmten, um diesen Günstling der
Weißen zu sehen. Omai genoß anfangs die Aufmerksamkeit mit Stolz und
Eitelkeit, aber bald wurde er zaghafter, denn er spürte (oder vernahm) den Neid
der Eingeborenen.
Diese klauten den Europäern die Werkzeuge, Nägel, Beile und Sägen, so
dass Cook Wachen ausstellen lassen mußte. Den Einwohnern war es kein
Verbrechen, sich zu nehmen, was andere augenscheinlich in Fülle besassen, aber
als man einen Dieb erwischte, legte man ihn auf einem Schiff in Ketten. Die
Angehörigen schickten Schweine und Geflügel an Bord, um den Gefangenen
loszukaufen, doch es half nichts, die Engländer stellten ihn »vor Gericht« und
verurteilten ihn nach ihrem Rechtsempfinden: er verlor beide Ohren und bekam
den Schädel geschoren. Dann schickte man ihn blutend an Land. Die entsetzten
Eingeborenen erfuhren erst jetzt, dass das Wegnehmen von Gegenständen den
Weißen als Verbrechen gelte. Kurz darauf wurden eines nachts Omais
Pflanzungen verwüstet, die er angelegt hatte. Er ahnte Schlimmes, und er sagte
dies auch seinem Gönner. So warnte Cook die Einheimischen, »dass wenn man
Gewalt gegen Omai gebrauchen sollte, oder ihn in dem freien Genusse seines
Eigenthums störte, so würde er [Cook] bei der Zurückkunft unserer Schiffe die
ganze Insel verwüsten und jedes menschliche Geschöpf vertilgen, das auf
irgendeine Art zu seinem [Omais] Schaden etwas beigetragen hätte. [...] Captain
Cook ließ es an nichts mangeln, um den Einwohnern eine hohe Meinung von
Omai einzuprägen.«
Es kam zu einem rührenden Abschied; Cook hatte zu Omai väterliche
Gefühle entwickelt, und als Omai unter Tränen bat, ihn wieder mit nach England
zu nehmen, konnte auch er sich nicht gegen die Rührung wehren, die ihn dabei
Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt
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befiel. Aber er sagte auch, dass das unmöglich sei und »er erinnerte ihn, wie
ängstlich besorgt er [Omai] in England war, dass man ihn nicht nach Hause
schicken möchte; und sagte ihm, nun er auf große Unkosten seines Königs in
sein Vaterland, zu seinen Freunden zurückgebracht worden wäre, sei es kindisch
zu hoffen, dass man ihn wieder mitnehmen sollte.« Cook schenkte ihm noch
sechs große Beile und einige Meissel, dann segelten die Engländer davon.
Sie kamen nie zurück, um Nachschau zu halten. Cook starb auf Hawaii und
seine Nachfolger wählten eine andere Rückreiseroute nach England. Was aus
Omai geworden ist, kann man nur ahnen.
Huahine, die Insel Omais, ein Atoll
im Pazifischen Ozean. Sie gehört
zu den Gesellschaftsinseln.
Bei Cooks Rückkehr nach Hawaii waren die Eingeborenen plötzlich der
Meinung, er sei eine Reinkarnation einer ihrer Götter. (Man fühlt sich an den
von den Azteken um 1520 als Heilsbringer verehrten Cortés erinnert, allerdings
mit dem Unterschied, dass Cook diesen Aberglauben der Einheimischen weder
ermutigen noch ausnutzen wollte.) Dann allerdings stahlen die Eingeborenen aus
unerfindlichen Gründen eines von Cooks kleinen Booten. Cook nahm daraufhin
einen der Stammeshäuptlinge gefangen, um ihn gegen das Boot einzutauschen.
Aber das beschwor einen Aufstand der Eingeborenen herauf, in dessen Verlauf
Cook tötet wurde.
Impression des Todes von Captain
Cook in der Kelakekua Bay
(Hawaii),
gezeichnet von John Webber.
Dies war das ruhmlose Ende
eines Entdeckers, der selber
nie gewalttätig gewesen war.
Es war gleichzeitig »eine
unheimliche
Wiederholung
des Todes Magellans vor 258
Jahren«.
Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt
Seite 145
Lt. Charles Clerke übernahm das Kommando der Expedition und setzte die nach
Norden fort, um noch einmal nach der legendären nördlichen Passage zu suchen.
Aber erneut wurde sie durch das Eis gestoppt und wandte sich nach Süden ud
folgte dieses Mal der Küstenlinie Asiens Sie segelten nordwärts nach
Petropawlowsk, wo sie von den Russen freundlich aufgenommen wurden. Die
Nachricht von Cooks Tod ging auf dem Landweg weg und erreichte England ein
halbes Jahr vor der Heimkehr der Schiffe. Lt. Clerke versuchte, den Auftrag
weiterzuführen, scheiterte aber auf 70° 33' N am Packeis, das noch stärker
schien als im Vorjahr. Als sein Schiff nach Petropawlowsk zurückkehrte, war
der 38-Jährige bereits gestorben. Der Amerikaner Lt. John Gore, der auch Cooks
erste Pazifikreise mitgemacht hatte, führte die Expedition nach England zurück,
wo sie am 6. Oktober 1780 eintraf.
Einige Forscher dieses Zeitalters waren bei ihren Entdeckungen noch nicht
einmal dreißig Jahre alt waren. Im Gegensatz
dazu war Cook schon fast vierzig Jahre alt, als er
sich den ungeheuren Herausforderungen seiner
drei
bewundernswertesten
Reisen
stellte.
Spätestens in diesem Alter hatten die meisten
Männer seiner Zeit den Zenit ihrer körperlichen
Leistungsfähigkeit bereits überschritten. Doch
Cook verbrachte in den letzten zehn Jahren seines
Lebens Dinge, die wenige jüngere vollbracht
hatten.
Karte der Neuen Hebriden (heute Vanuatu genannt) und
Neukaledoniens, aus dem Weltatlas, Rom, 1798
Die
Schiffe
Resolution
und
Adventure in der Matavai-Bucht von
Tahiti, auf ihrer zweiten Reise
Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt
Seite 146
Die Suche nach den Grenzen
Die Welt ist »entdeckt«
Am Ende des 18. Jahrhunderts waren von vier Fünfteln der Erdoberfläche die
Formen der Kontinente und Ozeane mit einiger Genauigkeit bekannt; nur die
Pole blieben noch ein Rätsel. Die Erforschung dieser fernsten Winkel der Welt
warf besondere Probleme auf.
Die Antarktis ist ein Kontinent, der stellenweise von eisfreiem Ozean umringt
ist, und dieser ist seinerseits wiederum von einem Eisgürtel umringt - wie eine
Koralleninsel, die zuerst von ihrer Lagune und dann von ihrem Riff
eingeschlossen ist. Im Süden bestand daher das Problem darin, wie man den
Gürtel aus festem Packeis, der im großen und ganzen um den 60. Breitengrad
herum konstant blieb, durchdringen könnte. Erst als ein Schiff konstruiert war,
das widerstandsfähig genug war, um sich den Weg durch dieses Eis zu
erzwingen, konnte der Schleier vor dem letzten der Kontinente im Jahre 1843
durch James Clark Ross gelüftet werden.
Die Arktis dagegen ist ein vom Land umringter Ozean, aber eine Reihe von
Meerengen verbindet sie mit den schiffbaren südlicheren Gewässern. Das
Problem war hier schwieriger. In manchen Gebieten reichte das Eis südlich bis
zum 60. Breitengrad, in anderen wich es zurück bis zum 85.; seine Ausdehnung
und sein Verhalten schwankten von Jahr zu Jahr beträchtlich. Viele Seewege,
die höchst vielversprechend nordwärts zu führen schienen, wurden irgendwo
durch herausströmendes Eis blockiert. Jahrhundertelang konzentrierten die
Entdecker ihre Bemühungen vor allem auf die Davisstraße zwischen Grönland
und Nordamerika und machten höchstens gelegentlich Ausfälle in die nach
Osten führende Barents-See; aber diese Zugänge waren unwiderruflich
blockiert. Erst als der Amerikaner de Long 1881 durch die Beringstraße nach
Norden vorstieß, dort unfreiwillig in die Eisdrift des großen Polarstroms geriet
und nach unsäglichen Strapazen Schiff und Leben verlor, kam man dem letzten
der Ozeane näher - aber erforscht war er noch nicht.
Und diese Schlussphase der Erforschung war von einer Selbstlosigkeit getragen,
die man bei vielen der früheren Entdeckungsreisen nicht fand. Die Männer, die
mit ihren Schiffen immer wieder und wieder in die erbarmungslosen Eisfelder
vorstießen, die in den Einöden der Polargebiete Kälte, Eintönigkeit, Hunger,
körperliche Erschöpfung ertrugen und allzu oft auch den Tod erlitten, hatten
wenig Hoffnung auf materiellen Gewinn; sie waren von Wissensdurst erfüllt,
der Köder, der sie lockte, war das Unbekannte. Der Schwede A. E. Nordenskiöld
fand 1880 mit seinem Stahlschiff Vega ohne Schwierigkeit die Nordostpassage,
den Seeweg zwischen dem Atlantik und dem Pazifik längs der 6500 km langen
Nordküste Eurasiens, an der Barents 1597 gescheitert war. Aber dieser kürzeste
Weg von Europa zur Beringstraße ist fast immer vereist und für die Schifffahrt
Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt
Seite 147
wenig nützlich. Die Nordwestpassage* hingegen, die Durchfahrt vom Atlantik
zum Pazifik nördlich des nordamerikanischen Festlandes durch den KanadischArktischen Archipel, wurde bis zum 19. Jahrhundert immer wider vergeblich
gesucht und kann 1906 von Roald Amundsen gefunden werden. 1896 beweist
der Norweger Fridjof Nansen das Vorhandensein einer Nordpolarströmung,
indem er sich mit seiner eisfesten legendären Fram mit den Eismassen über die
Polarzone driften läßt.
Die Anderen und die Grenzen, das sind zwei Begriffe, um die herum
Europa seit alters her seine Identität errichtet hat. Vor der Entdeckung der
Neuen Welt schaute Europa stets nach Osten, nach Asien. Schon Hippokrates
gab für die Unterschiede zu den dort Beheimateten das Klima an. Aristoteles
bezeichnete die Europäer wegen des rauen Klimas als tapfere, aber nicht
besonders weise Menschen. Die Asiaten hingegen erschienen ihm talentiert,
doch fehle es ihnen an Mut und Willensstärke. Und irgendwie bestätigte der
Lauf der Entwicklungen diese Beurteilungen. Die Europäer werden erobern,
aber sich dabei nicht sehr klug verhalten, die anderen steuerten verfeinerte
Lebensart bei, sollten aber Lakeien sein und für den Wohlstand der Sieger
sorgen.
Wer macht Geschichte? Die Machthaber, die politisch-ökonomische Struktur
oder das Individuum? Der Lauf der Dinge ist vernunftmäßig häufig nicht zu
begreifen, weil die überraschende Komponente des Zufalls oft eine Rolle spielt.
So wurde Kolumbus bei seiner Ankunft auf den Westindischen Inseln von den
Indianern mit Respekt und Freundschaft empfangen, weil die Eingeborenen
einer Weissagung gemäß weiße Väter mit langen Bärten erwarteten. Reiter –
Pferde waren im Amerika unbekannt – erschienen ihnen wie göttliche Wesen,
und die metallenen Waffen der Spanier galten als Zeichen unüberwindlicher
Stärke. Auch Portugal profitierte von einem Zufall. Mehr als fünfzig Jahre
benötigten die Portugiesen, um von Kap Bojador an der afrikanischen Küste von
Kap zu Kap nach Süden zu gelangen. Und als die Zweifel wieder stärker
wurden, ob Afrika überhaupt zu umsegeln sei, trieb ein Sturm die Karavelle des
Bartholomëu Diaz um das Kap der Guten Hoffnung und öffnete den Seeweg
nach Indien.
Sind Indianer Menschen?
Die Entdeckung Amerikas konfrontierte die Europäer mit der Vielfalt der
Menschheit. Zunächst hatten sie sagenhafte Rassen von »Ungeheuern« erwartet,
wie sie in den mappae mundi des Mittelalters umständlich beschrieben waren
und die Menschen seither fasziniert hatten, ohne dass sie sie jemals gesichtet
worden wären. Als die Europäer die Neue Welt betraten, erwarteten sie,
fantastische Lebewesen zu finden. Aber Kolumbus berichtet überrascht und ein
Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt
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wenig enttäuscht, dass er auf diesen Inseln keine menschlichen Mißbildungen
gefunden habe. Die Indianer, beruhigte er das spanische Königshaus, seien »sehr
gut gebaut, mit sehr schönen Körpern und gut geschnittenen Gesichtern«. Mit
der Entdeckung neuer Rassen begann eine Umwälzung im abendländischen
Denken. Die Entdeckung unerwarteter Erdteile, die dann als Neue Welt
bezeichnet wurden, hatte als Nebenprodukte ein ›Zur-Kenntnis-Nehmen‹
unbekannter anthropologischer Formen im Gefolge. Die Europäer betrachteten
ihre eigene Hautfarbe als die normale. Die dunkle Haut der Afrikaner wurde
durch die Sonne in heißen Klimazonen erklärt, und damit war natürlich
bestätigt, dass die afrikanischen Völker Menschen waren. Die Bibel äußerte sich
eindeutig zur gemeinsamen Herkunft und homogenen Abstammung der
gesamten Menschheit. Da alle Menschen von Adam und Eva abstammten, gab
es keinen Raum für Minderwertigkeit der Erbmasse. Die interessanten
Unterschiede waren die der Sprache und Religion.
Die Entdeckung Amerikas eröffnete der katholischen Kirche eine reizvolle neue
Möglichkeit. Um die Mitte des sechzehnten Jahrhunderts verlor sie in Europa
Millionen Seelen an die immer zahlreicher werdenden protestantischen Ketzer.
Gleichzeitig lieferte die Neue Welt durch göttliche Vorsehung plötzlich
unzählige Heiden, die als neue Gläubige gewonnen werden konnten. Eine
optimistische Schätzung von 1540 gab die Zahl der getauften Indianer mit etwa
sechs Millionen an. Dennoch wurde der Menschenstatus des Indianers - seine
mögliche Gleichheit vor den Augen Gottes - zunehmend bestritten. Die
spanischen Konquistadoren hatten ihre eigenen Gründe für die Behauptung, die
Indianer seien minderwertig, denn damit hatte sie Gott praktischerweise zu ihren
Sklaven bestimmt. Es gab lebhafte Debatten dafür und dawider. Bartolomé de
Las Casas, als Stimme des Gewissens, die nie ganz unterdrückt wurde, blieb
Sprecher der anerkannten Lehre der Römischen Kirche. Natürlich konnte er die
Konquistadoren nicht zu Pazifisten bekehren. Doch hatte er mit dem Siegel der
Kirche bekräftigt, dass die Indianer Menschen waren. Im Jahre 1566, als König
Philipp II. erneut Lizenzen zur Entdeckung und Eroberung gewährte, fühlte er
sich bemüßigt, alle aufzufordern, sich an die Gesetze eines gerechten Krieges zu
halten. Die relativ friedliche Eroberung der Philippinen nach 1570 wird
bisweilen dem Fortleben von Las Casas' Geist zugeschrieben.
Der Beginn des Kolonialismus
Mit den großen Entdeckungsreisen im 15. und 16. Jahrhundert fing für die
Menschen ein neues Zeitalter an. Sie begannen, neue Fragen zu stellen. Dass die
Welt eine Kugel ist, war nach der Rückkehr von Magellans Victoria bewiesen!
Die Schiffe fuhren nach Osten und Westen; sie kehrten mit Waren von
unvorstellbaren Werten nach Europa zurück. Tausch und Handel machten das
Messen, Wägen, Zählen und Vorausberechnen nötig. Aber es begann auch die
Tragödie der Europäisierung des Erdballs. Eine überlegene Technik, intolerante
Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt
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Machtansprüche von Kirche und Krone sowie die Unkenntnis oder Missachtung
der Werte fremder Kulturen vernichteten bedeutende Zivilisationen in Asien
sowie in Nord- und Südamerika. Man schätzt heute, dass damals zwischen 70
und 100 Millionen Menschen niedergemetzelt oder versklavt wurden. Keine
Kolonialmacht war hier unbeteiligt: Spanien, Portugal, die Niederlande,
England, Frankreich; alle wollten teilhaben an der Beherrschung der Welt.
Wie erlebten die Indios die Spanier? Sie entdeckten in Kolumbus den typischen
Konquistador. Der Entdecker eines neuen Kontinents zeigte sich als schlechter
Ethnograph, weil ihn mehr das Land und seine Reichtümer, das Gold und der
Handel interessierte als die Menschen, die Indios. Eine echte Kommunikation
mit den Eingeborenen fand nicht statt. Durch dieses Nichtverstehen wurde die
Entdeckung Amerikas durch die Weißen für die Indios eine böse Entdeckung
mit schlimmen Folgen …
Aphrodite hatte für Europa gelächelt,
von den anderen Kontinenten war keine Rede!