Das Lächeln der Aphrodite
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Das Lächeln der Aphrodite
Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur- und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Das Lächeln der Aphrodite eine kleine Kulturgeschichte der Seefahrt Europa ist eine Gestalt der griechischen Mythologie. Sie ist die Tochter des phönizischen Königs Agenor und der Telephassa. Der oberste Gott Zeus verliebte sich in sie. Er verwandelte sich wegen seiner argwöhnischen Gattin Hera in einen Stier. Sein Bote Hermes trieb eine Kuhherde in die Nähe der am Strand von Sidon spielenden Europa, und der ZeusStier entführte sie auf seinem Rücken. Er schwamm mit ihr an einen Strand auf der Insel Kreta, wo er sich zurückverwandelte. Der Verbindung mit dem Gott entsprangen drei Kinder. Auf Grund einer Verheißung der Aphrodite wurde der fremde Erdteil nach Europa benannt. Und wahrlich: Die Geschichte Europas ist die Geschichte der Menschen auf dem europäischen Kontinent, von dessen erster Besiedlung, die zwischen 45 000 und 25 000 v. Chr. stattfand, bis zur Gegenwart. Die klassische Antike begann im antiken Griechenland, das im Allgemeinen als der Beginn der westlichen Zivilisation angesehen wird und einen immensen Einfluss auf Sprache, Politik, Erziehungssysteme, Philosophie, Naturwissenschaften und Künste ausübte. Die griechische Kultur, die sich während des Hellenismus über weite Teile der östlichen Mittelmeerwelt ausgebreitet hatte, wurde vom Römischen Reich übernommen, das sich nach der Eroberung Italiens seit dem 3. Jahrhundert v. Chr. von Italien aus nach und nach über den gesamten Mittelmeerraum ausbreitete und im frühen 2. Jahrhundert n. Chr. seine größte Ausdehnung erreichte. Damals wurden die Fundamente gebaut, auf denen der kleine Kontinent EUROPA zur führenden Macht in der Welt wurde, um nach dem 20. Jahrhundert mehr und mehr von seinem Einfluss auf der Weltbühne einzubüssen . . . INHALT Europa und der Stier Europa, die westliche Halbinsel Asiens »Mare nostrum« Weihrauch und Perlen, Bernstein und Zinn Die Seidenstrasse Marco Polos Reisen nach China Die karthographische Erfassung der Erde Die Akademie zu Sagrés Wie gross ist der Globus? Die Suche nach »Eugenia caryophyllata« Die Rückseite der Erde Freibeuter Ihrer Majestät Auf dem Weg in die moderne Welt Die Suche nach den Grenzen Sind Indianer Menschen? Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 2 Vorwort: DIE SAGE VON EUROPA UND DEM STIER Im Lande Phönikien1 wuchs die Jungfrau Europa, die Tochter des Königs Agenor, in tiefer Abgeschiedenheit des väterlichen Palastes auf. Sie war, so heißt es in einer griechischen Sage, eine unglaublich schöne Prinzessin, in die sich Göttervater Zeus verliebt hatte. So schnell wie möglich wollte er sie kennen lernen. Zeus war sich sicher, dass Europa Tiere mochte und dass er in Gestalt eines Tieres schneller mit ihr bekannt werden würde. So verwandelte er sich in den prächtigsten Stier weit und breit. Europa wurde aufmerksam auf ihn und setzte sich auf seinen Rücken. Der Stier, der ja eigentlich Zeus war, raste los und entführte sie über das Meer. Endlich gegen Abend erreichten sie ein fernes Ufer. Der Stier schwang sich ans Land, ließ das Mädchen unter einem gewölbten Baum sanft vom Rücken gleiten und erschien ihr sogleich als herrlicher, göttergleicher Mann. Er sei der Beherrscher der Insel Kreta, sagte er, und er werde sie schützen, wenn sie sich ihm hingäbe und er durch ihren Besitz beglückt würde. Europa in ihrer trostlosen Verlassenheit reichte ihm die Hand als Zeichen der Einwilligung. So hatte Zeus das Ziel seiner Wünsche erreicht. Aber auch er verschwand, wie er gekommen war. Europa erwachte aus langer Betäubung, als schon die Morgensonne am Himmel stand. Mit verirrten Blicken sah sie umher, wollte die Heimat suchen, aber sie sah nur die fremde Landschaft; unbekannte Blumen und Felsen. »Was bleibt mir übrig, als zu sterben?« Da erschien ihr die Göttin Aphrodite. Mit einem Lächeln auf den Lippen sprach die Göttin: »Vergiss’ deine Verzweiflung, schöne Europa, tröste dich! Zeus ist es, der dich geraubt hat; du bist die irdische Gattin des unbesiegten Gottes: unsterblich wird dein Name werden! Lerne so zu leben, wie es deiner hohen Stellung würdig ist. Die Hälfte der Welt wird dir ihren Namen verdanken, denn der fremde Erdteil, der dich aufgenommen hat, heißt hinfort Europa!« 2 (nach Horaz ). Der Raub der Europa (Foto: Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz) 1 Phönikien (Phönizien, ›Purpurland‹), griechischer Name der historischen Landschaft an der Mittelmeerküste etwa zwischen Syrien und Israel; in der Bibel als Kanaan bezeichnet. Die mindestens seit dem 2. Jahrtausend v.Chr. hier lebende Bevölkerung mit semitischer Sprache trieb von den wichtigsten Städten Byblos, Tyrus, Sidon und Beruta (heute Beirut) aus regen Handel. Nach Befreiung aus ägyptischer Oberhoheit dehnten die Phöniker ihre Macht ab etwa 1100 durch Gründung von Handelsfaktoreien und Kolonien im Mittelmeerraum aus. 572 unterwarf der babylonische König Nebukadnezar II. Tyrus nach 13 Jahre langer Belagerung. Während der Eroberung des persischen Reiches durch Alexander der Große wurde Tyrus 332 eingenommen. 2 Horaz (65 v.Chr. bis 8 n.Chr.), neben Vergil einer der bedeutendsten römischen Dichter und Satiriker. Horaz war stets um das Wesentliche bemüht. Zentrales Thema ist die rechte Lebensgestaltung. Die meisten Werke geißeln Laster, die sozialen Unfrieden stiften oder die menschlichen Beziehungen beeinträchtigen, wie Habgier, Ehebruch, Aberglaube, Schlemmerei. Nicht selten stellte er stellvertretend für den Normalbürger auch sich selbst und seine Schwächen dar. Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 3 Von der eurozentrischen Weltschau des Altertums bis zur kartografischen Vermessung letzter geografischer Entdeckungen von James Cook Europa ̶ westliche Halbinsel Asiens Die von Europa geprägte Geschichte war bis vor kurzem immer Weltgeschichte! Die USA mögen die stärkste Wirtschaftsmacht sein, doch Europa ist nach wie vor der Kontinent, der die Welt, wie sie sich heute darstellt, geprägt hat. Das Meer hat dazu weitaus mehr beigetragen als die Wege über Land, wie z.B. die seit dem 3. Jahrtausend v.Chr. sagenhafte Weihrauchstrasse von Südarabien nach Damaskus oder die als Seidenstrassen berühmten Karawanenwege von China durch Zentralasien bis nach Indien und an die Grenzen des römischen Reiches. Das Meer wurde zur «Strasse der Völker», auf der die Kulturen sich berührten, die den Handel belebte und europäische Staaten zur Macht führte. Die hier beginnende Serie möchte mithelfen, das Bewusstsein der Leser zum geschichtlichen Erbe aufzufrischen, was auch dem Europa von heute dienlich wäre. Am Anfang mussten sich die Menschen von angeborenen Ängsten befreien und das Tor zur Erfahrung aufstossen. Quellen, auch Flussmündungen, deren Süsswasser für die Seefahrer von jeher lebenswichtig war, waren anfangs heilige Orte, die es zu schützen galt. Sie entwickelten sich nicht selten zu Handelsplätzen, und bald war die Erlangung von Seeherrschaft ein wesentliches Sicherheitsbedürfnis dieser Häfen. Viel früher als häufig gedacht fand schon friedlicher Handel zwischen dem Mittelmeer und den Nord- und Ostseehäfen statt. Bald schufen sich die Seefahrer Hilfsmittel, um ihren Weg über die Meere zu finden: Seekarten, Kompass und Sternenhöhenmesser. Das ging nicht ohne die Mithilfe der Wissenschaft, die sich nicht selten genug von einer kirchlichdogmatischen Weltschau verfolgt sah. Fern der Rivalitäten der europäischen Staaten – allen voran Portugal, Spanien, die Niederlande, England und Frankreich – gab es aber auch eine Solidarität der Seeleute verschiedenster Länder im ständigen Kampf mit den Naturgewalten. Abendland, Welt des Westens! Im Mittelalter bildete sich dieser Begriff für jenen Teil Europas heraus, der sich – stets in Abhebung von der östlichen Welt des Orients, des «Morgenlandes» – als einheitlicher Kulturkreis formierte und, trotz Kriegen und politischen Unterschieden, bis in die Neuzeit Einheitlichkeit und Bedeutung wahrte. Antike Kultur, römisches Christentum, romanische und germanische Elemente bilden die einigenden Faktoren des Abendlandes. Selbst Kriege unter den Staaten Europas sowie die Reformation, die die kirchliche Einheit sprengte, liessen die kulturellen Gemeinsamkeiten bestehen. Doch der Begriff «Abendland» wurde zunehmend durch die geographische Grösse «Europa» abgelöst. Die Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 4 französische Revolution mit ihren Idealen «Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit» verstand sich als europäische Erneuerung; ihr Gedankengut liess eine politische Kultur entstehen, die heute unter dem Sammelbegriff Demokratie Volkssouveränität und Gleichheit vor dem Gesetz versteht. Die frühe Vorstellung der Europäer von ihrem Teil der Welt hat nicht nur ihr Bild vom «Rest» geprägt. Auch die aussereuropäischen Staaten der Welt können den Stempel der Europäisierung nicht leugnen. Das Abendland sollte während des grössten Teils der Geschichte Entdecker sein, Osten und Westen sollten von Europa aus entdeckt werden. Der Reichtum des heute allgemein zugänglichen Wissens wurde von forschenden, habgierigen und religiös beseelten Europäern zusammengetragen, sie brachten den fernen Völkern Kunde von Europa; meist zu deren Nachteil, aber fast immer zum Vorteil der Europäer. Nicht nur CocaCola, europäische Kleidung und westlicher Lebensstil finden in der Welt ihre Nachahmung. Die «europäische» Denkweise, die in der Antike ihre Ursprünge hat, die «europäische» Art zu rechnen und zu kommunizieren, befähigt heute alle Staaten, an der Welt des Handels, des Kapitals, des Verkehrs, aber auch an ihren Konflikten sowie Bemühungen um ihre Lösung rund um die Uhr teilzunehmen. Nicht alles an Wissen und Können, was heute als «europäisch» gilt, ist auch europäischen Ursprungs. So hatte China viel früher als Europa Kenntnis vom Magnetismus und davon, wie er praktisch einsetzbar ist; die Inder haben uns die Vorfahren der heutigen Zahlen geliefert, die von den Arabern auf die noch heute gebräuchliche Schreibweise 0 bis 9 weiterentwickelt wurden, woraus jede beliebige Grösse (0,012; 1,2, 12, 120, 12000 usw.) zusammengestellt werden kann. Auch die Lehre der Gleichungen, die Algebra, ist arabischen Ursprungs. Erst mit einem logisch und einfach zu begreifenden Zahlensystem konnte sich auch eine Mathematik entwickeln, die nicht nur aus Addition und Division besteht, sondern das Rechnen mit Brüchen sowie mit irrationalen, negativen und komplexen Zahlen ermöglicht. Und das ist doch noch in Europa entstanden. Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 5 Die universale Weltschau des Altertums und Mittelalters war eurozentrisch. Selbstbewusst und von ihrer Überlegenheit überzeugt, schufen Europäer eine Erdkarte, die Europa als Zentrum sah. Schon im Mittelmeerraum der Frühantike entstand der Mythos von Europa. Europa war der Name einer Meeresnymphe; während sie am Ufer des Mittelmeeres Blumen pflückte, wurde sie von Zeus, der die Gestalt eines Stieres angenommen hatte, über das Meer entführt. Die Liebesgöttin Venus tröstete die am Meeresstrand weinende Nymphe und sagte zu ihr: «Weine nicht. Lerne so zu leben, wie es deiner hohen Stellung würdig ist. Die Hälfte der Welt wird dir ihren Namen verdanken» (nach Horaz).Zwar verstanden auch die Chinesen ihr Reich als Weltmitte, doch war ihr Interesse an Expansion kaum über das Meer gerichtet und er beschränkte sich vor allem auf den Handel. Denn China war (und ist) ein ungeheuer grosser kontinentaler Block; überseeischer Handel gewann nur während der mongolischen Yüan- Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 6 Dynastie (1280-1368) und in der Ming-Zeit (1368-1644) einige Bedeutung. Im 14. Jahrhundert gelangten chinesische Handelsdschunken unter General Cheng Ho bis nach Ostafrika. Aber dann liess China den «Bambusvorhang» nieder und verschloss sich (fast) jedem westlichen Einfluss, der erst im 19. Jahrhundert von britischen Kanonenbooten im sogenannten «Opiumkrieg» wieder erzwungen wurde. Anders Europa. Die meisten Landkarten zeigen Europa bis heute als reich gegliederten, eigenständigen Kontinent (Abb. oben). Nun sind geographische Karten immer auch ein Ausdruck der jeweiligen Kultur, und weil man – wie wir noch sehen werden – bis zum Beginn der Neuzeit wenig von anderen Teilen der Welt wusste, war Europa für seine damaligen Bewohner das Zentrum der Welt, das im Zeitalter der Entdeckungen selbstverständlich Anspruch auf Weltherrschaft erheben konnte. Als die Entdecker an der Wende zum 16. Jh. Amerika erforschten, wurde nicht etwa dieser neue Kontinent im Westen zum «Abendland», sondern zur Neuen Welt. Schon verbal wurde damit gesagt, dass man unter dem Druck der Realität zwar bereit war, die Karten der Welt neu zu zeichnen, doch Europa blieb das Abendland, weil hier seit alters her der Nullmeridian (wenn auch in den Epochen an verschiedenen Orten) festgelegt war, von dem aus sich die Welt nach Osten und Westen zu dehnen hat. Aber ein Blick aus einer Weltraumkapsel verschiebt die Optik. Geographisch ist Europa eigentlich nichts anderes als eine kleine, tief gegliederte westliche Halbinsel Asiens, die seit dem Ende des 18. Jh. – recht willkürlich – vom Eismeer, durch den Gebirgszug des Ural auf 60 Grad Ost bis zum Kaspischen Meer, dann entlang der Nordküste des Schwarzen Meeres bis zum Bosporus von Asien abgegrenzt ist (Abb. unten). Herodot, der berühmte Reisende und Geschichtsschreiber des 5. vorchristlichen Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 7 Jahrhunderts, bezeichnete noch den Fluss Don ohne nähere Begründung als europäisch-asiatische Grenze. Marco Polo entschied sich um 1300 für die Wolga. Der Hauptunterschied zwischen den zusammengewachsenen Kontinenten wird wiederum durch die europäische Sicht definiert: «Der Okzident schaut zum Meer, der Orient zum Gebirge» (Paul Claudel). Meere umspülen Europa: das nördliche Eismeer, die Nordsee, die Ostsee, der Atlantik, das Mittelmeer und, schon erwähnt, das Schwarze Meer. Verweilen wir kurz bei den Dimensionen: Die gesamte Erde hat eine Fläche von 510'000'000 qkm, davon sind 71 % (361'000'000 km2) von Meeren bedeckt und nur 149'000'000 qkm (29 %) besteht aus festem Land. Asien, als grösster Kontinent, nimmt 44'400'000 km2 ein (8,7 % der gesamten Erdoberfläche oder 29,8 % des festen Landes). Auf Europa hingegen mit seinen «kümmerlichen» 10'500'000 qkm fallen nur 2,06 % der Erdoberfläche bzw. 7,1 % Land; darin ist das 2'176'000 km2 grosse, fast menschenleere Grönland eingeschlossen. Der gewöhnliche Bewohner Zentralasiens bekommt das Meer sein Leben lang nie zu Gesicht; von Nowosibirsk nach Karachi sind es 4600 km. Asien dehnt sich über 11'000 km vom Ural im Westen bis nach Kamtschatka im Osten, ebenso weit ist es von der Kara-See im Norden bis in den Süden Thailands. Aber kein Westeuropäer muss weiter als 375 km reisen, wenn er ein Meer sehen will, und selbst die Mitteleuropäer haben es knapp doppelt so weit. Dass Meere nicht unüberwindbar sind, musste England früh erfahren. Schon 43 n. Chr. wurde es von den Römern unter Tiberius Claudius erobert und in das römische Reich einbezogen. Ein Opfer der eigenen Fehleinschätzung wurde König Harold II. Godwinson von England im Jahre 1066. Weil er dem Normannenherzog Wilhelm der Eroberer die Königskrone streitig machte, die diesem zugesprochen war, überfiel Wilhelm am 28. September England. Im Frühling hatte Harold eine starke Flotte zusammengezogen, mit der er jeden Invasionsversuch abschlagen konnte und der auch Wilhelm nicht gewachsen gewesen wäre. Aber die Invasion erfolgte den ganzen Sommer nicht, sodass, auch aufgrund falscher Informationen, Harold seine Flotte im September – wie damals üblich – im Winterhafen von Sandwich «einmottete». Die Herbststürme veranlassten ihn zum Glauben, dass mit einer Invasion nicht mehr zu rechnen sei. In Wahrheit besass Wilhelm der Eroberer im Sommer noch zu wenig Schiffe für den Transport der Normannen über den Ärmelkanal. Von Mai bis Anfang September liess er Schiffe in grosser Zahl bauen, auch verbündete Fürsten brachten Schiffe in die Flotte ein, sodass Wilhelm schliesslich über 400 grosse und zirka 1000 kleinere Fahrzeuge verfügte. Die riesige Flotte versammelte sich in St.Valery, wo am 14. September 65'000 Mann bereitstanden. Starke Stürme wüteten auf dem Meer, aber nach elf Tagen flauten sie ab und am 27. September 1066 herrschte sonniges und ruhiges Wetter. Wilhelm gab den Befehl zum Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 8 Einschiffen und gelangte am Morgen des 28. September bei Pevensey an eine verlassene englische Küste in der Grafschaft Sussex. Am 14. Oktober wurde Harold in der Schlacht von Hastings vernichtend geschlagen und Wilhelm anschliessend zum König von England gekrönt. Normannen segeln gegen England (Ausschnitt aus dem Teppich von Bayeux) Kontakte und Beziehungen zwischen Zentraleuropa mit seinen an Meeren gelegenen südlichen und nördlichen Rändern sind seit der Antike bekannt. Die Legionen Cäsars benutzten den Julierpass für ihre Alpenüberquerungen, ungezählte Saumpfade gewährten Händlern mit ihren Maultieren die Überwindung der Alpenkette; mit ihren Waren brachten sie Neuigkeiten aus fernen, aber europäischen Ländern. Und die Eröffnung der Gotthardroute im Jahre 1237 hatte reiche Handelsströme in beiden Richtungen zur Folge. Paris, Augsburg und Nürnberg gehörten zu den wichtigsten Handelsplätzen Innereuropas. Im Süden lockte das Mittelmeer mit seinen warmen Gestaden, an dessen Horizonten sich das schwarze Afrika und das Morgenland mit dem Islam – dem grössten Feind der Christenheit – abzeichnete, aber auch mit seinen ungeheuren Schätzen, dem Weihrauch, den Gewürzen, den Perlen und dem Gold. Im Norden war die Welt der Wikinger mit ihren Grausamkeiten und Gefahren, aber auch die an Hering, Lachs und Wal reichen Meere mit der für ihre Konservierung so nötigen Salzgewinnung an den Küsten und dem sagenhaften Bernstein. Die enge Verbundenheit von Land und Meer in Europa entstand durch die Auffaltungen der Gebirge und dem unterschiedlichen Vordringen der Eiszeitgletscher. Der Atlantik und seine Randmeere Nord- und Ostsee umschlingen diesen Kontinent von der Barentssee am Polarkreis, um Skandinavien und die britischen Inseln herum, die Bretagne und den Golf von Biskaya hinab bis zur Strasse von Gibraltar, die als Verbindung zum eigenständigen, weil antiken Mittelmeer gesehen werden muss. Dieses Bild macht für uns verständlich, dass in der Antike und im Mittelalter die landläufige Meinung verbreitet war, die Erde sei eine kreisrunde, vom Ozean umgebene Scheibe. Und während die «Säulen des Herkules» genannte Strasse von Gibraltar in der Antike die Ein- und Ausfahrt zwischen Atlantik und Mittelmeer gestattete, übernahm die Ostsee schon sehr früh die Funktion eines «Mittelmeers des Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 9 Nordens» (Michel Mollat du Jourdin). Ähnlich wie im Mittelmeer, wo im Osten und Süden Kontakte zu den morgenländischen und nordafrikanischen Kulturen möglich waren und sehr früh auch gepflegt wurden, entwickelten sich in der Ostsee frühe Handelsbeziehungen zwischen den Häfen Jütlands und der dänischen Inseln mit Gotland, Lübeck, Danzig bis hinauf in den Bottnischen Meerbusen, nach Nowgorod und zum Ladoga-See. Der Skagerrak, der Belt und der Sund erfüllten dabei eine ähnliche Funktion wie die Strasse von Gibraltar: sie ermöglichten Kontrollen über das Wer, Wieviel und Wohin. Neben dem frühen europäischen Anspruch auf Weltherrschaft gab es auch kritische Stimmen. Eine Oronce Finé zugeschriebene, 1536 datierte Weltkarte zeigt die schon recht exakt wiedergegebenen Küsten der damals bekannten Länder herzförmig als Gesichtsfeld in einer Narrenkappe. Europa ist recht klein erkennbar. In Medaillons eingravierte Texte verspotten den Anspruch Europas auf Weltherrschaft: «Vanitas vanitatum et omnia vanitas» – Eitelkeit der Eitelkeiten, und alles ist Eitelkeit. «Mare nostrum» Das Mittelmeer als Wiege des eurozentrischen Weltbildes Karthago, die Hauptstadt des punischen Reiches an der nordafrikanischen Küste im heutigen Tunesien, herrschte bis ins 2. vorchristliche Jahrhundert über das westliche Mittelmeer und über das heutige Spanien. Seit 270 v. Chr. suchten die Punier, wie die Karthager von den Römern genannt wurden, die römischen Küsten heim. Um sich der Plage zu erwehren, bauten die Römer 120 Kriegsschiffe; sie standen unter dem Oberbefehl von Gaius Duilius. Rom hatte Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 10 wenig Erfahrungen auf dem Meer; so ersann Gaius Duilius eine Taktik, jede Seeschlacht einer Landschlacht möglichst ähnlich zu machen. Die Schiffe der römischen Flotte wurden am Bug mit einer aufziehbaren Enterbrücke ausgestattet, die drei Mann gleichzeitig begehen konnten. Am vorderen Ende der Brücke war zusätzlich ein eiserner Dorn – der «corvus», die Krähe – angebracht. 260 kam es zur ersten Seeschlacht der römischen Geschichte bei Mylae (Milazzo) vor der sizilianischen Nordostküste. 125 karthagische Galeeren standen 130 römischen Schiffen gegenüber. Die Karthager griffen an und wollten – wie damals üblich – die Römer längsschiffs kapern. Aber die römischen Kriegsschiffe machten unerwartete Kursänderungen und ruderten frontal in die feindlichen Schiffe. Die Enterbrücken fielen nieder und verbanden die gegnerischen Schiffe fest miteinander. Schon stürmten die Legionäre hinüber und das Gemetzel begann: fast alle karthagischen Schiffe wurden erobert, vierzehn wurden versenkt und über 7000 Karthager getötet. Die Römer verloren kein einziges Schiff und «nur» 332 Mann. Nicht alle Schlachten wurden zum römischen Sieg. Im Jahre 249 v. Chr. konnte Karthago Revanche üben. Vor Trapani vernichteten sie 93 römische Schiffe und 22'000 Mann. Von nun an begannen die Römer die punische Flotte zu suchen und anzugreifen, wo sie sie fanden. Seeherrschaft sollte die Macht auf dem Lande sichern, eine Strategie, die bis zum ersten Weltkrieg jeden grossen Krieg in der Geschichte beherrschte. Schliesslich besiegte Rom die karthagische Flotte im Jahre 241 endgültig; 38 Jahre später sollte der Feind auch zu Lande niedergerungen werden. Das Römische Reich zur Zeit des Kaisers Augustus (dtv-Weltatlas 1989, Bd. 1) Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 11 Im Zweiten Punischen Krieg (218 bis 201 v. Chr.) zog der karthagische Heerführer Hannibal von Spanien her über die Alpen nach Italien und brachte Rom in schwere Bedrängnis. Mit 38'000 Mann, 8000 Reitern und 37 Kriegselefanten schlug er die Römer 218 am Ticinus, vernichtete 217 das Heer des Konsuls Gajus Flaminius, bezwang 216 bei Cannae in einer grossangelegten Umfassungsschlacht das zahlenmässig weit überlegene Heer der Konsuln Licius Aemilius Paullus und Gajus Terentius Varro und schloss ein Bündnis mit König Philipp V. von Makedonien, konnte aber die Römer nicht bezwingen. Diese unterwarfen hingegen 212/211 Syrakus und Capua, worauf Hannibal vor Rom zog. Der bekannte Schreckensruf «Hannibal ante portas» – Hannibal ist vor den Toren! – wird, wie Cicero erwähnt, falsch wiedergegeben; er lautet «Hannibal ad portas» – Hannibal ist bei den Toren! Er lähmte die Römer nicht. Zwar wurde die Stadt von den Karthagern belagert, aber ein römisches Heer eroberte unterdes Spanien, und Hannibal kehrte nach Karthago zurück. Dort wurde er von Scipio Africanus (dem Älteren) im Jahre 202 bei Zama kriegsentscheidend geschlagen. Im Dritten Punischen Krieg (149-146) wurde Karthago dann restlos zerstört und Rom errichtete seine Provinz Africa. Nachdem auch das Makedonische Reich, das das heutige Mazedonien, Albanien und Griechenland umfasste, sowie die Seleukidenherrschaft in der heutigen Türkei niedergerungen waren, gewann Rom die endgültige Seeherrschaft über das Mittelmeer und nannte es stolz «Mare nostrum» – unser Meer! Zur Zeit des Augustus, also um Christi Geburt, segelten und ruderten römische Galeeren nach Ägypten, Judäa, Syrien, Zypern, nach Asia (Türkei), Illyrien (Dalmatien), Sizilien, zur Cyrenaika, nach Africa (Libyen), die Balearen und Spanien – und befanden sich immer in römischem Herrschaftsbereich. Nach dem Niedergang des römischen Reiches übernahm Byzanz unter Justinian I. diesen Begriff, später benutzte ihn das aufstrebende Venedig, und auch der Stauferkaiser Friedrich II., der auch König von Sizilien und – für kurze Zeit – König von Jerusalem war, verwendete «Mare nostrum» als Bezeichnung für das Mittelmeer in seiner 1239 veröffentlichten «Capitula», die erste gesetzliche Regelung der Seefahrt. Pikanterweise sei vermerkt, dass auch der italienische Faschismus unter Mussolini das Mittelmeer so nannte, obwohl der Ausspruch den Anspruch nicht rechtfertigte. Aber schon lange vor der römischen Dominanz über das Mittelmeer fanden hier Kriege, Handel und kulturelle Kontakte zur See statt. Überhaupt ist Seefahrt viel älter. Die Meere zu befahren – das ist wohl die gewaltigste Aufgabe überhaupt, die sich die Menschheit je gestellt hat. Luftfahrt und Weltraumfahrt, so atemberaubend sie erscheinen mögen: ihre grossen Erfolge hätten sie nicht erzielen können ohne den ersten Schritt des Menschen aufs Meer. Die Fähigkeit, Schiffe mit den jeweils verfügbaren Techniken zu bauen, die ständige Weiterentwicklung der Schiffsformen, der Ruderanordnung und des Segelriggs, die Beobachtung der Himmelserscheinungen, der Winde, der Wolken, der Strömungen und der Gezeiten sowie die Fähigkeit, diese Beobachtungen Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 12 wiederum in die praktische Nutzanwendung der Navigation umzusetzen, all das ist zusammengenommen ein bestaunenswertes Zeichen der Erfindungsgabe und Zielstrebigkeit der Menschen. Man kann davon ausgehen, dass Seefahrt vor sechs- oder siebentausend Jahren zaghaft begann. Die ältesten Darstellungen von Schiffen stammen aus Ägypten: Die Abbildung A (unten) zeigt eine sogenannte «Skorpionschwanz-Galeere» mit zahlreichen Rudern, einem Krieger (Kapitän?) und zwei Hütten, darunter (B) eine Felszeichnung aus dem Wadi Hammamet, beide stammen aus der Zeit um 4000 v. Chr. Zirka 3400 v. Chr. überfielen die Ägypter unter der Herrschaft ihrer ersten Pharaonen die Küsten Syriens mit seegehenden Schiffen, primitive Fahrzeuge, die weder Kiel noch Achtersteven hatten, jedoch ein Segel und möglicherweise bis zu 24 Ruderern besassen. Um 2600 v. Chr. unter Pharao Sahurê fand eine erste Expedition ins Goldland Punt statt, das wahrscheinlich in Südostafrika in der Gegend der Sambesimündung zu vermuten ist. Seine bereits grösser gewordenen Schiffe hatten einen verstagten Mast, aber keine Spanten im Rumpf. Um der Tendenz zum Verbiegen entgegenzuwirken, spannten sich verdrillte Seile über Decksstützen vom Bug zum Heck. In Mesopotamien, dem Land zwischen Euphrat und Tigris, ist – fast gleichzeitig zum ägyptischen Reich – eine andere Hochkultur entstanden: das Reich der Akkader, aus dem das sumerische und das noch heute berühmte babylonische Reich hervorgingen. Schon 2814 v. Chr. soll bereits Baumwolle aus Indien über das Meer geholt worden sein. 2350 sandte König Sargon I. regelmässig hölzerne Schiffe nach Melukha, Tilmun und Nagan aus, um Elfenbein, Gold und (das für den Schiffbau so notwendige) Holz zu holen. Wo diese Orte liegen, ist dem Autor nicht bekannt, aber in der Keilschrift ist festgehalten, dass die Schiffe in zwölf Tagen ihre Zielhäfen erreichen konnten. Aufgrund dieser Angabe kann den Schiffen eine Distanz von 1200 bis 1500 Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 13 Meilen wohl zugetraut werden, womit Pakistan, Indien, vielleicht gar Somalia als mögliche Destinationen infrage kommen. Der Turmbau zu Babel wurde zum Symbol des menschlichen Willens, den Himmel erreichen zu wollen. In den Ebenen des Zweistromlandes war das Firmament stets beeindruckend zu sehen. Kein Wunder, dass hier die Astronomie geboren wurde, die anfangs aber mehr eine Astrologie war. Auf terrassenförmigen Türmen, den Zikkuraten, beobachteten Sterndeuter systematisch den Himmel, vor allem die Sterne. Die Kenntnis von bereits 70 Fixsternen, der Sonne, des Mondes sowie des Planeten Venus und ihre Stellung zueinander sollten herausfinden, ob eine Seereise erfolgreich verlaufen würde oder ob man das Unternehmen besser aufschieben sollte. Ohne diese Himmelsbefragung durfte kein Schiff auslaufen. Aber Babylon drang nie ins Mittelmeer vor und vernachlässigte später seine Zuwendung zum Meer. Als die Zikkurate im vierten vorchristlichen Jahrhundert zerfielen, berichtete ein Ägypter von der Überlieferung, dass diese Türme «von Riesen gebaut worden waren, die den Himmel ersteigen wollten», eine Auslegung, die sich in anderer Form auch im Alten Testament nierderschlug. Auch Ägypten spielte auf die Dauer keine bedeutsame Rolle im Mittelmeer. Für kurze Zeit gewann die minoische Kultur zwischen 2000 und 1450 v. Chr. auf Kreta eine gewisse Macht. Kreta ist als Handelszentrum ideal gelegen und war in der bronzezeitlichen Welt, da überblickbar, auch gut zu verteidigen. Die Minoer pflegten Handelsrouten nach Alexandria, Zypern, ins östliche Mittelmeer und weit in den damals noch überwiegend unbekannten westlichen Meeresteil hinein. Schwere Zerstörungen (Erdbeben?) beendeten plötzlich die Bedeutung dieser hochstehenden Zivilisation. Um 1000 v. Chr. gewannen dann die Phönizier die Seeherrschaft. Sie siedelten im heutigen Libanon und erforschten von hier aus das ganze Mittelmeer, errichteten Niederlassungen in Tunesien, Algerien, Italien, im Ägäisraum, auf Malta und Sardinien, gründeten Malaga, Palermo, Cadiz und Karthago, segelten bald durch die Strasse von Gibraltar, entdeckten die Kanarischen Inseln und kamen sogar bis nach Cornwall, wo sie Zinn tauschten. Sie waren die ersten, die Sternkarten für die Seefahrt erstellten und den Nordstern für die Orientierung benutzten. Die Phönizier waren nicht nur hervorragende Seeleute, sondern auch erfolgreiche Kaufleute. Um die Konkurrenz nicht unnötig auf den Plan zu rufen, war Geheimhaltung ihr oberstes Gesetz; sie haben darum wenig an Aufzeichnungen der Nachwelt hinterlassen. Schon um 800 v. Chr. erblühten einige phönizische Gründungen in Griechenland zu Stadtstaaten, von denen Euböa, Korinth, Athen und Sparta die bekanntesten waren. Mit Ausnahme von Sparta, das autoritär regiert wurde, entwickelte sich aus ihnen allmählich ein lockerer griechischer Staatenbund, der sich deutlich von den ersten Hochkulturen des Mittleren Ostens oder Ägyptens Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 14 unterschied. Als die Phönizier dann 572 v. Chr. von Nebukardnezar II. besiegt worden waren, stieg das antike Griechenland zur Blüte empor. Freiheit und Wissbegier Die Griechen hatten eine andere Auffassung vom Wert des Menschen und der Gemeinschaft als die feudal regierten Staaten vorher. Politische und persönliche Freiheit hiessen die neuen Werte, dem Individuum wurden mehr Rechte zugestanden und dem Staatswesen waren alle Bürger verpflichtet. Obwohl die Führungsprinzipien auch hier von einer aristokratischen Ordnung bestimmt waren, wurde das Volk doch zu Entscheidungen über seine Belange hinzugezogen, was nach und nach zu einer Rechtswahrung durch den Staat führte. Den ersten griechischen Entdeckerfahrten, vor allem nach Süditalien und Kleinasien, folgten schon bald die Ansiedlungen: Barcelona, Marseille, Nizza, Genua, Tarragona, Bastia, Syrakus, Ragusa (Dubrovnik), Kyrene in Libyen, der Heimat des berühmten Gelehrten Eratosthenes – alles griechische Gründungen -, aber auch die nördliche Ägäis, der Bosporus und die Küsten des Schwarzen Meeres wurden von Griechenland aus besiedelt. Die Griechen waren voller Wissbegier gegenüber ihrer Umwelt, entwickelten die Geographie, begannen über die Beschaffenheit der Welt nachzudenken, und machten die Sternenkunde zu dem, was sie heute noch ist: zur Astronomie. Und dafür bedurften sie der Mathematik. Damit begann eine Entwicklung, die das Abendland bis heute prägte. Anaximander gab um zirka 580 v. Chr. eine erste physikalische Erklärung der kreisförmig gedachten Mond- und Sonnenbahnen. Nur wenig später glaubte der Geheimbund der Pythagoreer – so genannt nach ihrem Gründer Pythagoras -, dass die Harmonie der Welt auf Zahlenverhältnissen beruhe und dass das Wesen aller Dinge in der Zahl bestehe. Seine Theorien wurden in ihrer Tragweite erst viel später erkannt und bilden die Grundlage der modernen Astronomie und Physik. Den Pythagoreischen Lehrsatz haben seither wohl Legionen von Gymnasiasten auswendig lernen müssen. In diese Zeit fallen auch die ersten spekulativen Überlegungen zur Kugelgestalt der Erde durch Eudoxos von Knidos. Platon (428 bis 347 v. Chr.) entwickelte daraus eine von den Gesetzen der Harmonie bestimmte mathematische Theorie der Planetenbewegungen. Diese Theorie wurde erst durch Johannes Kepler 1609 korrigiert! Aristoteles baute darauf sein physikalisches Weltsystem auf, das bis zu den Erkenntnissen des Nikolaus Kopernikus im Jahre 1616 Gültigkeit hatte. Um 250 v. Chr. entwickelte Eratosthenes ein Verfahren zur Auffindung von Primzahlen, errechnete erstmals den Erdumfang, entwarf eine Erdkarte und versah sie mit einem Koordinatennetz von Breitenparallelen und Meridianen. Der Astronom Claudius Ptolemäus übernahm einhundert Jahre später den Koordinatengedanken von Eratosthenes, machte aber den grossen Fehler, bei seinen Berechnungen des Erdumfanges (360 Grad) von zu kleinen Abständen der Meridiane auszugehen, Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 15 so dass seine Erdkugel um ein gutes Viertel kleiner wurde. Auf die Korrektur musste die Menschheit bis ins 16. Jahrhundert warten. Trotzdem war Ptolemäus ein überragender Gelehrter, der unter anderen wertvolle Bücher über Geographie, Tabellen zur Breiten- und Längenbestimmung von etwa 8000 Orten der Erde sowie Niederschriften über die Optik und Musikharmonie hinterliess. Das antike Griechenland drückte der abendländischen Kultur ihren unvergänglichen Stempel auf. Selbst die modernen olympischen Spiele sind ein Erbe, das 1894 wieder zum Leben erweckt wurde. Wie David und Goliath Die Bezeichnung Griechenland bezieht sich für die Antike auf die griechische Halbinsel ohne Makedonien, die zugehörigen griechischen Inseln, den Peloponnes und die Inseln des Ägäischen Meeres mit Kreta. Seit 540 wurde Griechenland aber immer wieder von den Persern bedroht, die nach und nach Thrakien im Norden und Makedonien im Nordwesten eroberten. Die Eroberung Griechenlands zur Abrundung des Perserreiches konnten die Griechen in der Schlacht beim 30 km nordöstlich von Athen gelegenen Marathon (490 v. Chr.) abwenden. Die zahlenmässig unterlegenen Griechen unter Miltiades siegten dank der überlegenen Taktik; die Meldung vom Sieg gelangte durch einen Läufer nach Athen, der nach seiner Ankunft vor Anstrengung (angeblich) tot zusammenbrach. Der olympische Marathonlauf entspricht mit seiner Länge in etwa der Wegstrecke Marathon-Athen. Angesichts der starken Flotte, mit der die Perser sich zurückziehen, beginnt Griechenland ein grosses Flottenbauprogramm. Im Süden der Attika genannten Halbinsel, auf der auch Athen liegt, sind damals gerade reiche Silberminen erschlossen worden. Die Einkünfte, die der Staat aus diesen Bergwerken bezog, sollten zur Finanzierung des Schiffsbaus dienen. Aber der Perserkönig Xerxes liess nicht locker. Im August 480 kommt es zur Niederlage der Griechen in der Schlacht am Thermopylenpass bei Delphi. Athen wird von den Persern geplündert, ihre Bewohner konnten sich gerade noch auf benachbarte Inseln retten. Durch die Niederlage am Thermopylenpass hatte sich die Stimmung im griechischen Heer stark verschlechtert. Die Vertreter einiger peloponnesischer Verbündeter liessen durchblicken, sie würden ihre Truppen und Flottenverbände zurückziehen. Den Griechen drohte eine Zersplitterung der Kräfte. Der griechische Admiral Themistokles erkannte, dass er handeln müsse, wenn die letzte Chance gewahrt bleiben sollte. Nun zahlte sich die Weitsicht des Flottenbaus aus. Schon im September des gleichen Jahres kam es zur berühmten Seeschlacht von Salamis, in der die Griechen die Perser entscheidend besiegten. Da Athen schon gefallen war und nun der Stadtstaat Sparta verteidigt werden Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 16 musste, führte der Spartaner Eurybiades den Oberbefehl. 380 Schiffe standen ihm zur Verfügung, Galeeren mit Doppelruderplätzen (Biremen) und Trieren, bei denen die Riemen dreifach angeordnet waren. Die persische Flotte des Königs Xerxes bestand aus 850 Schiffen. Themistokles arbeitete mit dem Oberbefehlshaber Eurybiades einen genialen Plan aus. Die Schlacht von Salamis (1): Die Aufstellung der Flotten Die griechische Flotte ankerte in der Meerenge von Salamis, einer kleinen Insel westlich von Athen. Themistoles und Eurybiades wollten die persischen Schiffe in die Enge der Durchfahrt locken, um sie an der Entfaltung ihrer überlegenen Kräfte zu hindern. Er liess das Gerücht ausstreuen, dass sich ein Teil der griechischen Flotte nach Korinth zurückziehen wolle. Xerxes, der aber die gesamte griechische Flotte zu schlagen hoffte, liess sich überlisten und sandte sofort 250 seiner Schiffe nach Süden, um den Griechen – die die Insel Salamis nördlich umfahren müssten – den erwarteten Rückzug abzuschneiden. Die restlichen Schiffe riegelten sofort den Golf von Salamis ab. Nun lagen den 380 griechischen Schiffen «nur» noch 600 persische gegenüber. Am 23. September 480 v. Chr. kam es zu der historischen Schlacht. Xerxes wollte den triumphalen Sieg seiner Flotte von einer Anhöhe herab beobachten. Als die persischen Galeeren, zuerst langsam, dann aber immer schneller auf die Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 17 griechischen Schiffe zuruderten, rückten diese, scheinbar zurückweichend, langsam in die Enge der Durchfahrt. Die persischen Schiffe folgten und fuhren immer dichter nebeneinander, bis sie die Ruder nicht mehr unbehindert bewegen konnten. Nun griffen die Griechen schnell an! Die vordersten Galeeren der Perser verkeilten sich, die hinteren erkannten die Gefahr zu spät; sie mussten seitwärts ausbrechen, um nicht auf ihre Gefährten aufzulaufen. Die Griechen fuhren mit voller Fahrt in den persischen Block, die Rammsporne bohrten beim Aufprall etliche persische Galeeren in den Grund. Auf persischer Seite brach Verwirrung aus, ihre zahlenmässige Überlegenheit brachte sie nun selber in Bedrängnis und erforderte viele zusätzliche Opfer. Während von den vorderen Schiffen der Griechen die Soldaten enterten und der Kampf Mann gegen Mann begann, entschied ein überraschender Flankenangriff der Athener die Schlacht: wieder fielen viele persische Schiffe dem Rammsporn der griechischen Trieren zum Opfer, dann begannen die Einzelkämpfe. Schon flohen einige persische Galeeren, die Panik kostete die Perser noch weitere Schiffe. Xerxes befahl der Flotte und seinem Landheer den Rückzug – das kleine Griechenland hatte die Schlacht für sich entschieden! Die Schlacht von Salamis (2): Die Griechen locken die persischen Schiffe in die Enge von Salamis. Knapp siebzig Jahre lang sollte Athen nun die Seeherrschaft innehaben. Aber die Griechen waren untereinander häufig zerstritten, besonders Athen und Sparta Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 18 kämpften kompromisslos um die Vorherrschaft auf der Halbinsel. 413 musste die Flotte Athens das gleiche Schicksal erleiden, das sie vor Salamis den Persern bereitet hatte: sie wurden von den Spartanern im Hafenbecken von Syrakus, in dem sie sich nicht entfalten konnten, vernichtend geschlagen. 338 errang der makedonische König Philipp II. die Vorherrschaft über Athen, Thrakien und Illyrien und begann einen Feldzug zur Eroberung Persiens. Die Macht Athens war gebrochen. Aber die griechische Triere, von den Römern in «Trireme» umgetauft, sollten noch lange auf dem Mittelmeer der vorherrschende Schiffstyp sein. Der Alexanderzug (dtv-Weltatlas 1989, Band 1) Alexander bekam den Beinamen «der Grosse», aber er konnte die Verwaltungsreform seines Riesenreiches nicht mehr durchführen. Schon 325 v. Chr. musste sich das Heer unter seinem General Krateros vom Indus nach Mesopotamien zurückziehen; im gleichen Jahr kehrte auch Alexanders Flotte unter Nearchos vom Indischen Ozean an die Mündung von Euphrat und Tigris heim. Völlig unerwartet starb Alexander zweiunddreissigjährig am 13. Juni 323 in Babylon, wahrscheinlich an Malaria. Sein Reich überdauerte ihn nicht lange und zerfiel bald, seine Eroberungen hatten jedoch die griechische Zivilisation weit nach Osten getragen. Nun wartete noch der Westen auf seine «Hellenisierung». Bis dahin war Rom eine unabhängige Republik. Nachdem Karthago bezwungen war, besiegte Rom Makedonien in mehreren Kriegen und erklärte 196 alle Griechen für frei, deren Kultur man bewunderte, nachahmte und übernahm. In den folgenden Jahrhunderten sollte Rom der Erbe griechischer Kultur und Geistesbildung werden, aber auch ein Reich errichten, das weit grösser war als das Alexanders. Nach und nach eroberten die Römer Helvetien, Gallien, Germanien bis an den Rhein und die Donau sowie Britannien. Sie bauten Strassen über die Alpen. 42 n. Chr. überquerte ein römisches Heer das Atlasgebirge in Nordafrika, Kaiser Nero sandte gar eine Expedition vom römischen Ägypten aus, um die Quellen des Nils zu suchen. Und wenn diese Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 19 Expedition ihr Ziel auch nicht erreichte, drang sie doch weiter ins Landesinnere vor als je ein Europäer vorher. Weihrauch und Perlen, Bernstein und Zinn Erste Begegnung des Mittelmeerraumes mit Ost und Nord Die Römer waren in der Frühzeit ihrer Staatsgründung kein Volk von Seefahrern. In Zeiten der Bedrängnis vertrauten sie auf ihr durch Disziplin gestähltes Landheer; seine Mobilität und Flexibilität war legendär! Geriet Rom in Gefahr, dann wurden die Truppen in Gewaltmärschen über große Distanzen zu den Brennpunkten verlegt und oft genug sofort in die Schlacht geschickt. Die Macht Roms wurde mit den Schwertern und Lanzen seiner Legionen errungen. Aber die Erhaltung jeder Armee verschlingt Unsummen; schon damals war es billiger, die militärische Macht in politische Macht zu überführen. Nach der Niederringung Karthagos (vgl. sm/96) setzte sich auch bei den Römern die Erkenntnis durch, dass Seeherrschaft die politische Herrschaft absichert und dass Seehandel die friedlichen Absichten der Partner stärkt. Eine römische Flotte liegt hoch am Strand und trifft Vorbereitungen zum Auslaufen, zirka 100 vor Christus. (Zeichnung: H. R. Römer.) Aber dazu war es notwendig, die Sicherheit der Seewege zu garantieren; die Bekämpfung der schon damals verbreiteten Seeräuberplage gab Rom Gelegenheit, das ganze Mittelmeer kennenzulernen und zu erforschen. Das Mare Nostrum der Römer hatte bald eine regulierende Funktion, und der Seeverkehr diente neben der Ernährung auch der Erweiterung des Weltbildes. Aus Griechenland gelangten – neben feiner Lebensart und Wissen – Wein, Öl, Salz und Getreide nach Rom. Das Christentum kam durch Paulus über das Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 20 Mittelmeer in die römische Metropole. Und bald gab es Kontakte zu den östlichen Kulturen des Orients, die weit über Palästina hinausgingen. Bereits um die Zeitenwende begannen hochseetüchtige römische Handelsschiffe vom Roten Meer nach Indien zu fahren! Die von dort herbeigeschafften selteneren und daher teuren Waren, vor allem Gewürze und Parfüme, Schildpatt und Perlen, aber auch Seide aus China, regten die Einbildungskraft des Westens über den märchenhaft reichen Osten mächtig an. Mit dem Niedergang des römischen Reiches brachen jedoch die Kontakte mit dem Orient wieder ab. Als sieben Jahrhunderte später der fränkische Kaiser Karl der Grosse mit dem abbasidischen Kalifen Harun Ar-Raschid Gesandtschaften austauschte, entfachten die Geschenke des Kalifen die fantastischen Vorstellungen der Herrscher und Händler von neuem. Ihren Appetit, diese fernen Länder zu beherrschen und auszubeuten, sollten sie bis ins Zeitalter der Entdeckungen nicht mehr verlieren. Doch der Norden war ebenso geheimnisvoll und von Gerüchten umwoben. Man wusste kaum etwas von den "nebelverhangenen Ländern und Gestaden hinter den eisbedeckten Bergen; dort hausen primitive Völker, die Kelten und Teutonen heissen» (Tacitus). Im Jahre 55 vor Christus landete Cäsar in Britannien, begann mit der Eroberung der Insel und gründete die ersten römischen Niederlassungen. Andererseits gelangten griechisch-römische Philosophie und Wissenschaft mit den Soldatenstiefeln der römische Legionen in das nördlich der Alpen gelegene Europa. Alle bedeutenden geistigen Strömungen der abendländischen Kultur haben im Mittelmeer ihren Ursprung. Das römische Reich erreichte im 2. Jahrhundert nach Christus seine grösste Ausdehnung, danach zerfiel es unter dem Ansturm der Goten, der Hunnen und Vandalen und der Langobarden. Die Silhouette Europas zwischen den Meeren im Norden und Süden trat anfangs nur langsam aus dem Nebel der Unwissenheit hervor (Abb. 2). Seit mehr als tausend Jahren übte das sonnige Mittelmeer eine fast magische Anziehungskraft auf die Völker der Nordmeere aus, doch bis ins Hochmittelalter wussten die Seeleute dieser unterschiedlichen Völkerfamilien nur wenig Konkretes voneinander. Bekannter (und spektakulärer) sind dagegen die Kontakte mit dem Osten. Schon hundert Jahre nach dem Tode Jesu sollen einige furchtlose Gläubige von Rom nach Jerusalem gepilgert sein. Nachdem Kaiser Konstantin 327 zum Christentum übergetreten war, unternahm seine Mutter, die Kaiserin Helena, eine Pilgerreise ins Heilige Land; sie fand den Kalvarienberg und angeblich Holzsplitter des Kreuzes Jesu. Kaiser Konstantin liess daraufhin die noch heute existente Grabeskirche erbauen. Im 4. Jahrhundert pilgerte eine fromme und reiche Spanierin namens Etheria nach Jerusalem, danach diktierte sie ihre Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 21 Erlebnisse, religiös verbrämt, einem Mönch. Bald darauf, 386, gründete der Heilige Hyronimus in Bethlehem ein Kloster. Damit kamen Pilgerreisen zu den heiligen Stätten des Christentums von ganz Europa nach Jerusalem in Mode, und schon im frühen 5. Jahrhundert soll es fast zweihundert Klöster im Heiligen Land gegeben haben. Angelsächsische Weltkarte aus dem 10. Jahrhundert. Der Osten galt als die vornehmere Himmelsrichtung, er liegt oben, wo nach damaliger Vorstellung «gleich hinter Asien» das Paradies zu suchen ist. Dreht man die Karte nach rechts, sind (links oben) England, Irland und Island gut zu erkennen, aber Norwegen und Schweden fehlen, obwohl den Kartographen die Heimat der Wikinger bekannt gewesen sein muss. (British Library, London.) Viele Pilgerwege sind als historische Verkehrsrouten überliefert. Viel später legte Napoleon seine gradlinigen Heerstrassen an, um die Truppen auf schnellstem Wege ans Ziel zu bringen; für die Pilgerwege kann insofern ein Vergleich hergestellt werden, als sie die Wallfahrer in eine zielgewisse Richtung führten. Das wussten auch die Händler, selbst wenn für sie der kürzeste Weg nicht unbedingt ein Weg der Frömmigkeit war. Und wie die Mönche vor der Erfindung der Uhr den Tag nach den Stundengebeten, den Horen, massen, war die Strasse für die Wallfahrer in Etappen eingeteilt: der Tagesweg war von Dorfkirchen, Kapellen, Kreuzen, Bildstöcken und Wirtshäusern markiert. Anfangs waren Pilgerfahrten reine Fussmärsche; eine Kette von sicheren Herbergen auf dem ganzen Weg gab den Pilgern die Gewissheit von Obdach und Schutz. Waffenlos, mit breitrandigem Pilgerhut, in der Hand den Pilgerstab, die Pilgertasche geschultert, am Gurt die Muschel (als Trinkgefäss): die Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 22 «Fremden» (das Wort Pilger leitet sich aus dem lateinischen «peregrinus» = Fremder ab) waren die farbigen Gestalten des frühen Mittelalters, die überall Schutz genossen. Erst der Untergang des Weströmischen Reiches und die starke Zunahme des Räuberwesens machten die Strassen unsicher, so dass die Pilger allmählich den Seeweg benutzten. Aber zunehmender Widerstand der türkischen Seldschuken gegen die christlichen Pilgerreisen und die bald darauf einsetzenden Eroberungen der Araber im Mittelmeer gefährdeten die Pilgerfahrten erneut. Mohammed war gemäss islamischem Glauben von den Felsen am Tempelberg gen Himmel gefahren. Damit kam Konkurrenz um die heiligen Stätten auf. 638, sechs Jahre nach dem Tode des Propheten, zog Kalif Omar als Sieger in Jerusalem ein: ein tausendjähriger Kampf um den Einfluss in Palästina begann. Im Jahre 610 hat Mohammed die Lehre des Islam als «Ergebung in den Willen Gottes» verkündet. Der Islam ist neben dem Judentum und dem Christentum die dritte grosse momotheistische Religion der Menschheit. Er fiel im arabischen Raum auf fruchtbaren Boden und weitete sich im 7. und 8. Jahrhundert mit unvorstellbarer Geschwindigkeit nach Norden, Westen und Osten aus und griff ab 638 auf Jerusalem, Syrien, die Türkei und den Irak über (Abb. 3). Arabische Reiterheere eroberten 640 Kairo, 642 Libyen und 698 Karthago, drangen 711 bis Samarkand, Afghanistan und Pakistan vor, setzten im gleichen Jahr über die «Dschebel al Tarik» (Berg des Tarik) genannte Strasse von Gibraltar und eroberten ganz Spanien und Portugal. Erst 732 konnte in der Schlacht zwischen Tours und Poitiers das weitere Vordringen der Araber nach Mitteleuropa verhindert werden. Danach stand Europas iberische Teil 750 Jahre lang unter «maurischer» Herrschaft. Der Name Mauren oder Moren (spanisch: los moros) leitete sich von der in Nordafrika lebenden arabisch-berberischen negroiden Mischbevölkerung ab und sollte bald als Pauschalbezeichnung für alle Muslime im «christlichen» Wortschatz Eingang finden. Die Ausbreitung des Islam bis 750 (dtv-Weltatlas 1989, Band 1) Als im 11. Jahrhundert die türkischen Seldschuken nach Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 23 Westen vorzudringen versuchten, aber auch als Folge der allgemeinen religiösen Verinnerlichung, verbreitete sich unter den Rittern des christlichen Westens immer mehr der Gedanke eines als notwendig und berechtigt empfundenen Krieges gegen den Islam, um Jerusalem von der islamischen Herrschaft zu befreien. Es entstand die Idee der Kreuzzüge! Die als Befreiungskriege gedachten Feldzüge nahmen in der Folgezeit immer mehr die Form von Beutezügen an, denn die Heimgekehrten erzählten vom unvorstellbaren Reichtum und vom bequemen Leben im Orient. Der Bussgehalt eines Kreuzzugs zu Schiff kam allen Ernstes vor allem dadurch zum Ausdruck, dass man sich während einer langen Reise einem zu fürchtenden Element aussetzen musste, was der Selbstverleugnung und der Überwindung von Angst gleichkam. Aber alle – Pilger und Kreuzfahrer – brachten wertvolle Waren, vor allem Seide, Damast, wohlriechende Gewürze und viele geheimnisvolle Neuigkeiten aus dem Morgenland mit nach Hause. Jerusalem war im Mittelalter das ersehnte Ziel der Christenheit. Nicht alle Kreuzfahrer kamen in ihre Heimat zurück. Die zur gleichen Zeit gegründeten Ritterorden bauten Burgen und gründeten Niederlassungen zum Schutze und zur Verteidigung eroberter Landstriche und Orte. Die Ritterorden vereinigten das ritterliche Ideal des Mittelalters mit den mönchisch-asketischen Lebensregeln: Armut, Keuschheit, Gehorsam und Schutz der Bedrängten. Der berühmteste war seit 1113 der Johanniterorden, der aus der Bruderschaft des Spitals in Jerusalem hervorgegangen ist. Seine Hauptaufgaben waren Krankenpflege und Waffendienst. Die Ordenstracht, ein schwarzer Mantel mit weissem Kreuz, wurde im Krieg gegen einen roten Waffenrock getauscht. 1291, nach der Eroberung Jerusalems durch den Islam, wird der Orden unter dem Druck des muslimischen Vordringens zuerst nach Zypern verlegt, 1309 nach Rhodos und 1530 schliesslich nach Malta. Seither heissen sie «Malteser». Die Reformatoren der Kirche – Luther, Erasmus von Rotterdam, Melanchthon, Zwingli und Calvin – lehnten Wallfahrten ab und verurteilten rückwirkend die Kreuzzüge. «Kindische und nutzlose Werke» seien sie; aber im Nachhinein erwiesen sich die Kreuzzüge der kämpferischen Pilger als bedeutende Erweckungsmittel. Während der sieben Kreuzzüge zwischen 1096 und 1270 wogte das Kriegsglück hin und her, die Feldzüge führten aber nicht zu bleibenden Erfolgen für die Christenheit. Die Kreuzzüge scheiterten, weil sich die nationalen Interessen der beteiligten Parteien nicht mit einer universalen Idee, wie sie dem Islam innewohnt, vereinigen liessen. Aber für die Entwicklung von Handel und Wandel erwiesen sich die Kreuzzüge als Katalysator; die Kreuzritter nahmen in den friedlichen Phasen Handelsbeziehungen mit der moslemischen Welt auf, von denen besonders die oberitalienischen und südfranzösischen Städte profitierten. Dank den Erzählungen zurückkehrender Kreuzritter über die orientalische Pracht nahmen der Orienthandel allgemein einen starken Aufschwung. Der steigende Lebensstandard führte zu einer Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 24 grossen Nachfrage nach Orientwaren; die Geldwirtschaft florierte und ein reiches Bürgertum entstand. Der Kontakt zu den überlegenen byzantinischen und arabischen Geisteswelten verstärkte darüber hinaus das kulturelle Niveau. Vor dem Hintergrund dieser spektakulären Ereignisse wird heute allzu leicht vergessen, dass der frühe Welthandel nicht nur aus Seiden und Gewürzen, Perlen und Edelsteinen des Ostens bestand. Es gab auch schon sehr früh Handelswege nach Norden. Im 1. Jahrhundert vor Christus wurde Venedig auf dem Festland gegründete. Die aufblühende Stadt an handelspolitisch strategischer Lage wurde von den «Barbaren», zuerst von den Hunnen, später von den Langobarden, überfallen und verwüstet, so dass die Menschen auf die sicheren Laguneninseln auswichen. Nordeuropäische Land- und Seerouten Von Zeit zu Zeit gelangten «barbarische» Händler aus dem Norden auf dem Landweg von der Ostsee über Polen, Böhmen und die Steiermark nach Venedig. Neben Honig, Wachs und Pelzen hatten sie auch ein fossiles, organisches Material unter ihren Waren, eine Art goldgelbes Harz, das an den Stränden der nordlichen Meere gesammelt wurde. Sie nannten es Bernstein. Manchmal waren kleine Insekten, Ameisen oder Fliegen, darin eingeschlossen, und die reichen Damen der Gesellschaft lechzten danach. Die Händler erzählten von seefahrenden Völkern des Nordens, von den Wikingern, die – furchtverbreitend Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 25 – die Meere dort beherrschten. Von ihnen stammten die Walrosszähne, die im frühen Mittelalter noch die Funktion des Elfenbeins hatten. Venedig konnte von Anfang an rege Handelsbeziehungen nicht nur entlang der illyrischen (dalmatischen) Küste aufbauen, auch aus den Alpentälern und sogar aus Süddeutschland gelangten Metalle aller Art, Wolle und Leinen sowie das für den Schiffbau notwendige Holz nach Venedig. Auch Zinn war ein begehrtes Handelgut aus dem Norden. Schon lange vorher hatte Herodot behauptet, dass Zinn «vom Ende der Welt komme», und Pytheas von Marseille segelte (wahrscheinlich im Auftrag Alexander des Grossen) um 325 vor Christus in die Nordsee und nach Britannien, um die Herkunft von Zinn und Bernstein zu erkunden. Die Scilly-Inseln wurden deshalb auch Zinn-Inseln genannt. Später kauften muslimische Händler in Venedig die Sklaven ein, die die schwedischen Wikinger in den russischen Wäldern gefangen hatten. Orientalische Seide und Gewürze verliessen die Lagunenstadt in die Gegenrichtung. So ergab sich doch schon sehr früh eine gegenseitige Abhängigkeit zwischen Land und Meer; eine Entwicklung, die sich im 13. Jahrhundert durch das Auftauchen der ersten brauchbaren Seekarten, des Kompasses, aber auch immer besserer Schiffsbautechniken mehr und mehr zugunsten der Schiffahrt verschob. Doch bis dahin verweilten die Seefahrer des Südens und Nordens überwiegend in ihren angestammten Revieren. Die Brendansage aus dem 6. Jahrhundert erzählt von der Reise irischer Mönche, die unter der Führung des Abtes Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 26 Brendanus über das Meer nach Westen segelten. Sie erlebten für die damalige Zeit allerlei unglaubliche Abenteuer und gelangten schliesslich in ein Land im Westen, das sie als Kontinent erkannten. Sie glaubten, das Paradies gefunden zu haben, kehrten aber nach Irland zurück, um davon zu berichten. Realistischer, weil verbürgt, ist dagegen die weitverzweigte Handelstätigkeit eines seit Urzeiten an der Nordseeküste ansässigen Volksstammes, der Friesen. Die Friesen lebten zwischen der Scheldemündung und Schleswig. Sie waren ein freiheitsliebendes Volk, das seine Häuptlinge unter dem Upstallsboom, einer heiligen Eiche, auf Zeit wählte und ihnen Treue und Beistand schworen. Sie hatten untereinander strenge Gesetze, die Eigentum und Freiheit des Einzelnen sowie seinen Dienst an der Gemeinschaft regelten. Männer und Frauen waren vor dem Gesetz gleich! Die geographische Lage ihrer Heimat sorgte bereits im 6. Jahrhundert für günstige Voraussetzungen eines regen Handels zur See; friesische Seefahrer waren neben den Wikingern offenbar die ersten, die mit ihren Schiffen bis Island, Spanien und nach Mallorca gelangten. Ihre topographische Situation liess ihnen auch keine andere Wahl, denn sie wohnten auf künstlich erbauten Hügeln, die mit dem Festland durch Dämme verbunden waren. Die Friesen waren die ersten, die Deiche zum Schutz vor Sturmfluten bauten. Ihre Einkommensquelle war anfangs das für die Fischkonservierung unentbehrliche Salz, das sie dem Meer entzogen, sowie der Fischreichtum der Küstengewässer. Ihr Haupthafen war Dorestad (heute Duurstede) an der Verzweigung von Altem Rhein und Lek (Abb. vorherige Seite). Die Friesen waren gute Kaufleute, und wie die Griechen und Römer gründeten sie auch Handelsniederlassungen in ihren Partnerhäfen. Schon zur Bronzezeit, also um 200 vor Christus, bestanden nachgewiesene Schiffsverbindungen vom Rhein bis zur Ems und Weser sowie ein Schiffahrtsweg entlang der ostfriesischen Küste. Doch mehr ist aus der Frühzeit nicht bekannt. Im 8. Jahrhundert fuhren friesische Kähne die Schelde, die Maas, den Rhein und andere Flüsse stromaufwärts zu den Siedlungsgebieten des benachbarten karolingischen Reiches; friesische Häfen wurden immer mehr zu Drehscheiben einer nach allen Seiten sich anbahnenden Beziehung mit anderen Ländern. Ihre nautischen Fähigkeiten setzten sie in die Lage, schon in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts durch das Skagerrak in die Ostsee zu gelangen und dort Handel zu treiben. Bald segelten und ruderten friesische Schiffe über Jütland nach Bornholm, Gotland und zum Baltikum. Um 1200 tauchten sie in England auf und luden zur gleichen Zeit Tuffstein in Andernach am Rhein, den sie für den Bau ihrer Kirchen benötigten. Auch mit der Hanse fand zeitweise ein namhafter Warenaustausch statt: das hamburgische «Pfundzollbuch» von 1369 erwähnt einen regen «Localverkehr» zwischen Hamburg un der ostfriesischen Küste. Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 27 Aber der Aufschwung der Hanse hat die friesische Schiffahrt nicht begünstigt. Die Häfen verödeten und es setzte eine allgemeine Verarmung ein. So traten in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts friesische Freibeuter auf den Plan, die als «Vitalier» oder «Vitalienbrüder» in die Geschichte der Freibeuterei eingingen. Da sie untereinander alles zu gleichen Teilen aufteilten, nannte man sie auch «Likendeeler» (lik: Plattdeutsch für gleich). Sie hatten ab 1395 ihre Schlupfwinkel in den Flachwasserhäfen Ostfrieslands, die sie vor der Verfolgung durch bewaffnete hansische Koggen mit grösserem Tiefgang bewahrten. Doch im Mai 1400 gelang der vereinigten Flotte Bremens und Hamburgs ein entscheidender Sieg über die Freibeuter. Die legendäre Gestalt Klaus Störtebekers, der sein Hauptquartier im ostfriesischen Marienhafe hatte, ist bis heute populär. Über die Bauart ihrer frühen Schiffe wissen wir nicht viel, aber die ab 1200 vorkommenden Schiffstypen sind bekannt. Die friesische Kogge, der bekannteste Schiffstyp des 13. Jahrhunderts, lässt sich bis ins 9. Jahrhundert zurückverfolgen. Man kann davon ausgehen, dass die rundliche Bauform seit jeher das Charakteristikum der friesischen Schiffe war. Das Wort Kogge ist mit dem altgermanischen «kuggon» (krümmen, sich wölben) verwandt, die Bezeichnung Kogge bezieht sich auf die breite, gerundete Schiffsbauweise. Ein Nachfolger der Kogge war die Kuff, eine Bezeichnung, die sich aus «kopfardie», dem späteren «Kauffahrtei» (Kauffahrerschiff), herleitet. Kuffen besassen einen breiten Rumpf mit ziemlich flachem Boden, auffallend breitem Vorschiff und fast senkrechtem Achtersteven. Wegen ihres kurzen Kiels hatten sie anfangs Seitenschwerter zur Verringerung der Abdrift und der Kentergefahr, wie sie die holländischen Flachwassersegler noch heute tragen. Sie waren 16 bis 24 Meter lang, 4 bis 6 Meter breit und hatten eine Verdrängung von 40 bis 125 BRT. Sie waren zweimastig als Ketch oder Schoner getakelt. Kuff Der vordere Grossmast war mit Rahsegeln bestückt, am Achtermast wurde ein Gaffelsegel gesetzt. Am grossen Bugspriet konnten zwei Vorsegel (Fock und Klüver) gesetzt werden. Andere Schiffe hiessen Tjalk, Schmack, Schnigge, Aak, Schute und Mutte. Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 28 Tjalk Das bekannteste ist begreiflich, denn ihre schärfere Modell aber wurde die Schaluppe. Ihr Name leitet sich von «sloep» oder «slup» (gleiten, schlüpfen) ab. Das Bauform hebt sie deutlich von der plumperen Kuff und der Tjalk ab. Schaluppen hatten ebenfalls Seitenschwerter, waren aber schmaler gebaut und an beiden Masten als Gaffelsegler getakelt. Wegen ihrer guten Segeleigenschaft wurden schwertlose, kleine Formen der Schaluppen später von der britischen Marine als Beiboote zur Erforschung unbekannter Ankergründe und Buchten mitgeführt. Schaluppe «Elbe» Seit 834 wandten sich dänische Wikinger dem Kontinent zu, besetzten Friesland und setzten sich dort fest. Da sie sich mit der angestammten Bevölkerung mischten und die Friesen eine ähnlich stolze Vorstellung von Freiheit hatten wie die Wikinger, blieb die Bezeichnung Friesen für die Bewohner der Nordseeküsten erhalten. Das Wort Wiking bedeutet «Bewohner der Buchten und Fjorde», ein Hinweis auf die zerrissenen Küsten ihrer angestammten Heimat in Skandinavien. Sie waren hervorragende Seeleute. Ihre hölzerner Schiffe waren lang und schmal, Bug und Heck von gleicher hochgezogener Form, oft in einen Drachenkopf oder eine Rosette auslaufend. Die Handelsfahrzeuge waren kürzer und breiter als die für den Kampf gedachten Langschiffe, die gut 40 Meter lang sein konnten. 30 Paar Riemen und ein in Schiffsmitte errichteter Mast mit Rahbesegelung brachten das Schiff auf erstaunliche Geschwindigkeiten. Das farbige Leinwandsegel, gestreift oder gemustert, wurde von kräftigen Seilen verstagt, damit es den stürmischen Winden der Nordmeere gewachsen war. Während Regierungszeit Karl des Grossen hatten die Wikinger bereits überall Angst und Schrecken verbreitet. Mit ihren langen und schmalen Schiffen waren sie zweihundert Jahre früher aus dem hohen Norden, aus Dänemark, Schweden und Norwegen aufgetaucht, weshalb man sie «Nordmänner» – Normannen – Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 29 nannte. Der geringe Tiefgang ihrer Schiffe liess es zu, dass sie auch kleinere Flüsse stromaufwärts rudern konnten, wo man sie kaum erwartete. Schnell waren die Masten gelegt, die Pferde an Land gebracht: Wie ein Wirbelsturm fielen die Wikinger über Klöster, Städte und Dörfer her. Bald hatten die norwegischen Wikinger die Britischen Inseln erreicht, gelangten um 860 nach Island, entdeckten 982 unter Erik dem Roten Grönland und unter Leif Eriksson im Jahre 1000 Nordamerika. Die Dänen eroberten die Nordseeküsten und überfielen immer wieder England, konnten sich aber dort vorerst nicht halten. 911 setzten sie sich unter Führung Rollos in der Normandie fest und drangen später bis ins Mittelmeer vor. Schwedische Wikinger waren seit dem 9. Jahrhundert im Ostseeraum aktiv; sie gelangten über Nowgorod bis nach Kiew und zur Wolga und zum Schwarzen Meer. Im Jahre 862 griffen sie gar die Stadt Konstantinopel an, wurden zwar abgeschlagen, kamen aber 907 wieder und konnten erst 941 wieder verjagt werde. Einflussbereich der Wikinger Bisher waren die Meere des Nordens fast ausschliesslich als Eroberungswege genutzt worden. Die schon erzählte Eroberung Englands durch die Normannen hingegen gelang erst im Jahre 1066; sie beendete die Raubzüge der Wikinger, aus den Plünderern wurden Siedler und Händler. Ihre Schiffe wurden breiter, hatten einen grösseren Tiefgang und konnten wesentlich mehr laden. Getreide, Bauholz, Stoff, Fisch und Mauersteine fanden den Weg über das Meer zu fremden Häfen. Was die Hinwendung zur Seefahrt ausmacht, blieb Nordeuropa kaum hinter dem Süden zurück. Nur der arktische Teil verharrte noch lange im Dunkel der Unwissenheit. Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 30 Die Gefahren der Landwege (I) Die Seidenstraße «Die Pax Romana». Der Zerfall des Römischen Reiches hatte mehr als nur den Wegfall einer zentralen Regierungsgewalt und den Verlust der ordnenden Rechtsprechung und Verwaltungsstruktur zur Folge. Schlägt man das Buch der geschichtlichen Daten auf, könnte man glauben, dass auch unter der Römerherrschaft ein Krieg den anderen ablöste und kein Ende der unruhigen Zeiten auszumachen sei. Aber das stimmt nur bedingt. Zwar fanden im römischen Riesenreich immer wieder kriegerische Auseinandersetzungen mit den unterworfenen Völkern statt; immer wieder gab es Versuche der Unterlegenen, das Joch der Fremdherrschaft abzuschütteln. Auch zettelten häufig konkurrenzierende Generäle oder Konsule, die die Macht im Staate erringen wollten, blutige Aufständen oder Revolutionen an, und nicht selten hatten derlei Auseinandersetzungen einen Umsturz der Regierung zur Folge. Aber meist waren nur einige Landstriche von diesen Unruhen betroffen; im grössten Teil des römischen Herrschaftsbereiches blieb der Friede erhalten. Die seit Kaiser Augustus um die Zeitenwende geltende Pax Romana – eine Gesetzessammlung, welches die Rechtsnormen für jeden einzelnen Bürger enthielt – garantierte weitgehende Rechtsgleichheit und Schutz der von den Griechen übernommenen Zivilisation. Die Sicherheit der See- und Landwege im römischen Herrschaftsbereich war dadurch über mehrere Jahrhunderte weitgehend gegeben, was die Wirtschaft stabilisierte und dem Verkehr und Handel grosse Konstanz verlieh. West- und Ostrom. Im Jahre 330 machte Kaiser Konstantin I. die am Bosporus gelegene Stadt Byzanz, vorwiegend aus aussenpolitischen Gründen, zur Hauptstadt des römischen Reiches und taufte es in Konstantinopolis um. Das heutige Istanbul trug diesen Namen bis 1930. Konstantin und seine Nachfolger tolerierten das Christentum, Kaiser Theodosius I. machte es im Jahre 381 für alle Reichsangehörigen verbindlich und erhielt dafür von der Geschichtsschreibung das Attribut «der Grosse». 395 wurde das Reich unter die beiden Söhne des Theodosius, Honorius und Arcadius, in eine West- und eine Osthälfte geteilt. Im Oströmischen Reich entwickelten sich nach und nach die christlich-orientalischen Kirchen, die wir heute unter dem Sammelbegriff Orthodoxe Kirche kennen. Kaiser Konstantin der Große, 272–337. (Fresco von 1245) Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 31 Diese hatte aus ihren Anfängen an ein anderes Christus-Verständnis als die Römische (katholische) Kirche; vor allem lehnte sie auch den Jurisdiktionsprimat ab, der dem Papst die oberste und unfehlbare Entscheidungsgewalt in Fragen des Glaubens einräumt. Das Byzantinische Reich übernahm bruchlos eine aus der Spätantike stammende Kunst, deren Einfluss auch nach Westeuropa vordrang (z.B. die Mosaiken in Ravenna). Es musste sich aber auch Jahrhunderte hindurch gegen Vandalen, Ostgoten, Awaren, Slawen, Araber und Seldschuken verteidigen. Trotzdem hatte es bis zur Eroberung Konstantinopels 1453 durch die Osmanen Bestand. Die christlichorientalischen Kirchen haben den Kalten Krieg unseres Jahrhunderts überlebt und erfahren gegenwärtig eine Renaissance in Bulgarien, Serbien und Russland wie in Griechenland. Das Weströmische Reich hingegen zerfiel: wegen der Einfälle der Germanen, die 410 (Westgoten) und 455 (Vandalen) Rom plünderten, löste sich das Reich unter wechselnden Kaisern rasch auf und endete 476 mit der Entthronung des Romulus Augustus durch den germanischen Söldnerführer Odoaker. «Jahrhunderte der Verdüsterung». Nach dem Fall Roms begannen die «Jahrhunderte der Verdüsterung». Wegelagerer bedrohten die Sicherheit der Reisenden, die wissenschaftliche Neugier erstarb, und der Forschergeist, der einst zur einigenden Kraft der Antike gehört hatte, verödete. In dieses Vakuum strömte ein anderer, neuer Geist der «Welterforschung». Er ging von einer neuen, immer mächtiger werdenden Institution aus und trieb die geistige Entwicklung des Abendlandes in eine andere Richtung. Das geistige Zentrum der mittelalterlichen Welt war die Römische Kirche. Sie sah ihre Hauptaufgabe im Auftrage Christi. Dem Evangelium gehorchend («Gehet hinaus in alle Welt und lehret alle Völker»), sandte sie Missionare in die entlegensten Gegenden der Welt, bekehrte Heiden zum Christentum und machte Rom zum Sitz der Nachfolger Christi, der Päpste. Die Ewige Stadt wurde zu einem neuen, anderen Zentrum der Welt! Aber für die Erweiterung des geographischen Wissens war sie eher ein Hindernis. Die Vorstellung der Kirche vom Antlitz der Erde wurde von der Bibel vorgegeben, daher wurden Neuentdeckungen, die sakrosankte Glaubensgrundsätze in Frage stellten, ignoriert. Besonders Harz. Doch die Kirche brauchte Weihrauch für ihre kultischen Zeremonien. Venedig schaffte ihn aus Rhodos, Antiochia und Tyros herbei, Genuas Handelsschiffe luden ihn in Famagusta auf Zypern, in Beirut und Alexandria, Segelschiffe aus Venedig und Genua brachten ihn aus dem östlichen Mittelmeer und den Handelsplätzen Nordafrikas in die Häfen Europas. Mit Karawanen war er aus der Tiefe Arabiens dorthin gelangt; dort wuchs, dornig und verkrüppelt, die Boswellia, der Weihrauchstrauch, dessen brennendes Harz Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 32 den betörenden Duft verbreitet. Man wusste von der «Weihrauchstrasse», dem alten Handelsweg, der seit Menschengedenken vom Süden der arabischen Halbinsel über mehrere Verzweigungen an die Küsten des Mittelmeeres führte. Festhalten am alten Weltbild. Eine dogmatische Weltschau, die sich auf die Bibel berief, machte die in der Antike bereits als Kugel erkannte Erde nun wieder zur Scheibe: im Alten Testament, aber auch in den Briefen des Apostel Paulus, findet man Textstellen, die auf die Vorstellungen und Lehren der alten Sumerer und Babylonier zurückgehen. Danach war die Erde eine Scheibe, die auf dem Abgrund ruht und vom Urmeer umflossen ist. Auf dem Abgrund stehen Säulen, die das Himmelsgewölbe tragen. Auf der Unterseite dieses Gewölbes sind die Fixsterne befestigt; dort wandern auch die Sonne, der Mond sowie die Planeten auf von Gott vorgegebenen Bahnen. Besondere Kammern im Himmelsgewölbe enthalten Vorräte von Regenwasser, Schnee, Hagel und Tau, die von Zeit zu Zeit durch spezielle Öffnungen auf die Erde herabfallen. Hohe Berge stossen gar am Himmel an, wo sie dann das Quellwasser für die Flüsse anzapfen. Das heliozentrische Weltsystem des Nikolaus Kopernikus, bei dem die Sonne den Mittelpunkt des Universums bildet Dieses Weltbild wurde nun für die Kirche als göttliche Offenbarung zur Lehrmeinung und durfte nicht angezweifelt werden. Aber die unstillbare Neugier, der Drang zu forschen, zu wissen und darum zu entdecken, war zwar mitunter gefährlich, schlief aber in Europa nie ganz ein. Selbst die Kirche trieb die Erkundung nach Handelsmöglichkeiten mit fernen, fremden Ländern oft genug selbst voran; aber das geschah mit grosser Verschwiegenheit, um das gewöhnliche Volk nicht in Glaubenszweifel zu stürzen. Die Suche führte zunächst über Land. Das war mühselig und reich an Gefahren. Nach dem Scheitern der Kreuzzüge richtete sich die Neugier der forschenden Geister allmählich nach Osten. Mönche bildeten die Vorhut für die Entdeckung Asiens durch Europa. Die Pioniere der Entdeckungen, die zu Lande gegen Osten zogen, mussten anpassungsfähig, sprachbegabt und freundlich sein. Zu zweit Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 33 oder zu dritt wanderten sie zu Fuss den grossen Handelsstrassen entlang, die sie zu ihrem Erstaunen überall antrafen. Sie schlossen sich den Karawanen an oder wanderten einsam, ernährten sich aus dem Land, das sie gerade durchquerten, und hatten viele zufällige Begegnungen. Freund oder Feind? Die Schwierigkeit ihrer Lebensweise lag darin, jede Situation richtig abschätzen zu müssen. Lauerten in diesem Wald Räuber? Ist dieser Gasthof sicher? Kann man das fremde Essen vertragen? Wird man von den berittenen Patrouillen der fremden Herrscher als feindlich oder friedlich eingestuft? Soll man sich wie die Einheimischen kleiden und sich auf diese Weise tarnen oder sollte man sich durch die eigene Kleidung von vornherein als Fremdling zu erkennen geben? Wie schnell kann man die fremde Sprache erlernen und wann redet man akzentfrei wie die Eingeborenen? Werden wir ins Stadttor eingelassen? Ob wir wohl jedermann von unserer friedlichen Absicht überzeugen können? Das Reisen über Land war ein mühsames und gefahrvolles Unterfangen. Es konnte Jahre dauern. Die Mönche oder Kaufleute mussten unterwegs oftmals einen Beruf ausüben, um an das landesübliche Zahlungsmittel zu kommen und die Sprache zu erlernen. Der Reisende konnte reiten oder ein Maultier oder Kamel als Lasttier mitführen; er konnte eine Strecke als Passagier zu Schiff zurücklegen: aber immer war er ein Fremder. Nicht zufällig leitet sich das englische Wort «travel» für Reise von «travail» für Arbeit ab. Für die einfachen Leute – auch die einfachen Pfarrer und «Leutpriester» – war die Erde nach wie vor eine Scheibe. Aber in den Archiven des Vatikans lagerten die aus der Antike und Frühzeit geretteten Schriften und wissenschaftlichen Werke; die Päpste, Kardinäle, ihre geistlich-wissenschaftlichen Berater, aber auch manch weltlicher Herrscher (wie die Dogen von Venedig oder die Herzöge von Florenz) liessen nicht nach, die Welt zu erforschen. Die Kunde von «Cathay», dem geheimnisvollen Land im fernen Osten, war mit den Luxusgütern nach Venedig, Genua und in den Vatikan gelangt; die reichen Kaufleute haben von ihren maurischen (muslimischen) Handelspartnern der Levante erfahren, dass diese kostbaren Waren – erotisch knisternde Seide, kostbare Teppiche, verheissungsvoll glitzernde Diamanten und betörend duftende Gewürze – auf zwei Haupthandelsstrassen ins Mittelmeer gelangten. Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 34 Der Verlauf der Seidenstrasse Die erste begann in China und führte über Land durch Zentralasien nach Indien und weiter bis nach Syrien und in den Libanon; das war die Seidenstrasse. Die andere führte zuerst über Wasser, und zwar über das Südchinesische Meer und den Indischen Ozean zur Arabischen See, dann entweder durch den Persischen Golf nach Basra oder durch das Rote Meer nach Suez. Dann mussten die Waren über Land transportiert werden, nach Palästina und Syrien, nach Antiochia, Sidon und Beirut oder durch Ägypten nach Alexandria, Tripolis, Tunis oder Cëuta. Und dieser zweite Weg war – wie die Weihrauchstrasse – eine Domäne der maurischen Händler. Die Weihrauchstrasse Verkannte Mongolen. Im Fernen Osten hatte in der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts – unbemerkt von den Europäern – der Mongolenfürst Dschingis Khan mit seinen Reiterhorden Peking erobert und die YuanDynastie errichtet. Die Mongolen eroberten in der Folge ganz Ostasien, wandten sich Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 35 dann nach Westen und drangen durch Russland bis nach Polen und Ungarn vor. Als Kublai Khan 1259 den Mongolenthron bestieg, dehnte sich sein Herrschaftsraum von China bis an die Donau, von Sibirien bis an den Persischen Golf. Einhundert Jahre hatte dieses Reich Bestand, und in dieser Zeit hiessen die Khane westliche Kaufleute willkommen, hielten die Zölle niedrig und sicherten die Karawanenstrassen vor Räubern. Weil sich das christliche Abendland aber von den Mongolen bedroht fühlte, haben die Mongolenherrscher bei uns (und in China) bis heute keinen guten Ruf; in Wahrheit waren sie fähige Regenten, hatten militärisches Genie, persönlichen Mut und entwickelten neben administrativer Vielseitigkeit eine grosse kulturelle Toleranz. Der tatkräftige Papst Innozenz IV., der 1243 den Stuhl Petri bestiegen hatte, organisierte bald darauf die Christenheit gegen die Gefahr eines weiteren Tatarenvorstosses nach Mitteleuropa. Er berief das Konzil zu Lyon ein, um «Mittel gegen die Tataren und andere Verächter des Glaubens Christi» zu finden. Man beschloss, ein Verteidigungsheer aufzustellen, Mauern zu bauen, Gräben auszuheben und Barrikaden zu errichten; zur Finanzierung wurden Kontributionen erhoben. Anderseits war dem Papst auch die verhältnismässig grosse Neugier des Khans gegenüber dem Westen zu Ohren gekommen. Aber seinen richtigen Namen kannte er nicht; man nannte ihn den «Grossen Khan». Weil die Mongolen auch den grössten Feind der Christenheit, die Türken, niedergeworfen hatten, glaubte Innozenz, die Mongolen vielleicht auf andere Art von einem Vorstoss nach Westen abhalten zu können. Er wagte den Versuch, Kontakt zu dem Mongolenherrscher aufzunehmen, vielleicht in der vagen Hoffnung, ihn gar zum Christentum bekehren zu können. Am Hof des Khan. Noch nie war ein Europäer in die Tatarenhauptstadt gelangt und zurückgekehrt, aber der Papst hatte eine sehr glückliche Hand bei der Auswahl seines Gesandten: der Franziskaner Johannes von Pian de Carpine (1180-1252), ein Gefährte des heiligen Franz von Assisi, erwies sich als der beste Mann für diesen Auftrag. Johannes wurde von einem weiteren Franziskaner begleitet, Bruder Benedikt der Pole. Die beiden reisten zu Fuss und zu Pferd quer durch Osteuropa und Mittelasien, trotzten den eisigen Stürmen und der Kälte der Hochsteppen, quälten sich durch den Tiefschnee des Altaigebirges und dürsteten in der Hitze der Wüste Gobi. Der dreissigseitige Bericht des Johannes von Pian über die zwei Jahre dauernde Reise ist noch heute eine gut beobachtete Beschreibung des Tatarenreiches: «Und dann kamen wir, nachdem wir durch die Gnade Gottes vor den Feinden des Kreuzes Christi gerettet worden waren, nach Kiew, der Hauptstadt von Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 36 Russland. Nach unserem Eintreffen holten wir uns dort Rat über unseren Reiseweg. Man sagte uns, dass unsere Pferde auf dem Weg in die Tatarei alle verenden würden, weil der Schnee hoch lag, denn sie wüssten nicht das Gras unter dem Schnee auszugraben, wie die Tatarenpferde. Etwas anderes würden wir unterwegs nicht für unsere Tiere zu fressen finden, und die Tataren hätten weder Stroh noch Heu noch Futter. So beschlossen wir, unsere Pferde dazulassen. (...) Ich war krank und dem Tode nahe; wir konnten uns ein Stück weit noch einer Karawane anschliessen, und um der Sache der Christenheit nicht zu schaden, liess ich mich in der starken Kälte durch den tiefen Schnee in einem Schlitten mitschleppen.» Johannes verhehlte nirgends das Ziel seiner Reise; oft schmeichelte er seinen manchmal widerwilligen Gastgebern Führer und Pferde ab, um schneller voranzukommen. Sie vernahmen, dass der Mongolenkaiser gestorben war und ein neuer gewählt werden sollte. Dann hörten sie von einem Stammesfürsten mit Namen Kuyuk Khan, dessen Hauptlager damals im Karakorum im Zentrum der Mongolei gelegen war. Johannes und Benedikt trafen eine geschichtlich richtige Entscheidung: sie würden Kuyuk Khan aufsuchen! Ihr Besuch bei diesem Mongolenfürsten sollte das Bild, das sich die westliche Welt vom Osten machte, geraderücken. Den Weg von der Wolga bis zu Kuyuk Khans Quartier schafften die mutigen Brüder in dreieinhalb Monaten. Als sie dort im August ankamen, waren gerade zweitausend Häuptlinge versammelt, die ihren neuen Kaiser gewählt hatten. In einem Zelt «mit Goldplatten und goldenen Nägeln beschlagen» hielt Kuyuk Khan, der neue Herrscher, seine erste Audienz: «Sie fragten uns, ob wir unsere Geschenke übergeben wollten; aber wir hatten bereits alles verbraucht und konnten dem Kaiser nichts geben. Da liess uns der Khan warten. Auf einem Hügel in der Nähe standen wohl fünfhundert Karren, alle voller Gold, Silber und Seidengewänder. Das alles wurde zwischen dem Kaiser und den Häuptlingen aufgeteilt, und die Häuptlinge gaben auch ihren Männern einen reichen Anteil. Dann wurden wir wieder vorgelassen, um die Botschaft unseres Heiligen Vaters zu überbringen, die da lautete: Alle Christen sind Freunde der Tataren. Damit die Tataren mit der Macht Gottes im Bunde seien, müssten sie den christlichen Glauben unseres Herrn Jesu Christi annehmen. Der Papst sei betrübt, dass die Tataren so viel Christen erschlagen haben, die ihnen nichts getan haben, und er dränge sie zur Busse und bat sie, ihm zu schreiben, was sie in diesen Dingen tun wollen.» Die Naivität des Papstes liess den Grosskhan unwillig werden, doch die beiden sonderbaren Reisenden genossen seine Gastfreundschaft, und die war heilig. So blieb Kuyuk Khan gnädig und gab Bruder Johannes zwei Briefe an den Papst mit, in denen er erklärte, dass er und seine Leute nicht bereit seien, den Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 37 christlichen Glauben anzunehmen. Dann schlug er vor, den Franziskanern einen eigenen Botschafter für den Papst mitzugeben, «aber wir fürchteten, dass sie unsere Kräfte erkundigen wollten, was sie ermutigen könne, gegen uns zu marschieren. Nur mit grosser List konnten wir den Khan von diesem Plane abhalten.» So gab Kuyuk Khan am 13. November 1246 Bruder Johannes und seinem Gefährten die Erlaubnis zur Abreise. Er hatte sie mit Schutzbriefen ausgestattet, und so gelangten sie im Herbst 1247, ein Jahr nach ihrer Abreise aus dem Karakorum, wohlbehalten wieder in Rom ein. Johannes erstattete Papst Innozenz IV. persönlich Bericht und verfasste danach seine schriftlichen Aufzeichnungen. Die beiden Ordensmänner waren die ersten Augenzeugen mongolischer Wesensart. Die Gefahren der Landwege (II) Marco Polos Reise nach China Enttäuschungen … 1248 überwinterte der französische König Ludwig IX. während des siebenten (letzten) Kreuzzugs auf Zypern. Dort traf fast gleichzeitig ein asiatisch aussehender Mann ein, der sich als Botschafter des Khans ausgab. Er berichtete, der Grosskhan sei zum Christentum übergetreten und begierig auf ein Bündnis gegen den Islam. Der König entsandte aufgrund dieser frohen Botschaft sofort den Dominikanerbruder Andreas von Longumeau zum Khan, der das Hauptlager nach langer Reise auch wohlbehalten erreichte, aber eine herbe Enttäuschung erlebte: Kuyuk Khan war gestorben, die Regentin Ogul Gaimish behandelte ihn hochmütig und schickte ihn schliesslich mit einem unhöflichen Brief nach Europa zurück. Darin drohte sie, ihre Krieger wieder westwärts reiten zu lassen, aber weder sie noch der Papst noch König Ludwig wussten damals, dass die mongolische Expansion bereits ihren äussersten westlichen Punkt erreicht hatte. Bruder Andreas hatte in Erfahrung gebracht, dass die Mongolen ursprünglich vom entgegengesetzten Ende einer grossen Sandwüste stammten, die am östlichen Ende der Welt beginne und von einer Mauer (der Grossen Mauer?) abgeschlossen sei. Fünf Jahre später starb Ogul Gaimish am Fieber; die folgenden Machtkämpfe scheinen Europa abermals gerettet zu haben. Es dauerte fünf Jahre, bis sich Kublai Khan, der Enkel Dschingis Khans, als Grosskhan durchsetzen konnte, doch dann hatte er die mongolische Herrschaft auf ganz China und auf Hinterindien ausgedehnt. Kublai Khan verlegte die Hauptstadt nach Peking und nannte die Stadt Kambaluk, «Stadt des Herrn». Er selbst nahm als chinesischer Kaiser den namen Shi Tsu an. Sein Hof und das gewaltige Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 38 Reich, das er von dort aus regierte, sollte von einem der grössten Entdeckungsreisenden des Mittelalters beschrieben werden, von Marco Polo. «Kein Mensch» ... so beginnt Marco Polos Bericht stolz, «weder Christ noch Heide, weder Tatar noch Inder, noch Angehöriger irgendeiner anderen Rasse (...) hat so viele Erdteile besucht und erkundet, und das ist gewisslich wahr.» Marco Polo reiste auf dem Landwege nach China und kehrte auf dem Seewege nach Europa zurück. Siebzehn Jahre verbrachte er dazwischen am Mongolenhof und reiste in dieser Zeit, meist im Auftrage des Kaisers, ausgiebig in Kublai Khans Reich umher. 1298, drei Jahre nach seiner Heimkehr, geriet Polo bei kriegerischen Auseinandersetzungen seiner Heimatstadt Venedig mit Genua in genuesische Gefangenschaft. Hier diktierte er einem Mitgefangenen, dem Schriftsteller Rustichello aus Pisa, sein berühmtes und noch heute unterhaltsames Buch. Dabei hat wohl Marco Polo die Informationen und Rustichello die schriftstellerische Phantasie beigesteuert. Einige Angaben von der Reise, die Marco Polo von anderen erhielt, sind nicht immer genau, andere gar falsch. Marco Polo hat auch vieles aufgeschrieben, was man ihm berichtet hat. Deshalb hat man ihn oft der Unwahrheit beschuldigt. Aber Marco Polo war ein scharfer Beobachter; heute weiss man, dass das, was er sah und selber erlebte, sachlich und genau beschrieben ist. Obwohl einzelne Historiker aufgrund von falschen Angaben und vermeintlichen Ungereimtheiten in den Reiseberichten immer wieder Zweifel geäußert haben, ob die Reise überhaupt stattgefunden hat, wird diese von den meisten Geschichtskennern als erwiesen angesehen. Das Buch war wohl der erste Bestseller überhaupt; wenige Jahre nach seinem Erscheinen war es in ganz Europa bekannt und eröffnete dem europäischen Publikum des 14. Jahrhunderts eine völlig neue Welt. Europa, das seit der Spätantike durch die unüberwindliche Schranke der islamischen Reiche von China abgeschnitten war, trat erstmals wieder in Kontakt mit der Zivilisation des Ferner Ostens. Zufälle. Marco Polo wurde um 1254 in Venedig geboren (Abb.). Andere Quellen behaupten, er stamme von der Insel Korcula in Dalmatien, die damals im Besitz Venedigs war. Er war noch ein Kind, als sein Vater Nicolo und sein Onkel Maffeo eine Handelsreise nach Konstantinopel und zum Schwarzmeerhafen Sudak beschlossen. Dort gab es eine kleine venezianische Kolonie, wo sie von einem Mongolenfürsten namens Barka Khan in der Stadt Sarai an der Wolga hörten, der dem Handel mit westlichen Kaufleuten nicht abgeneigt sei. Nicolo und Maffeo Polo reisten also dort hin und wurden wohlwollend und Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 39 ehrenvoll aufgenommen. Barkai Khan war ein Sohn des verstorbenen Dschingis Khan! Da brach zwischen Barkai Khan und einem rivalisierenden Mongolenfürst ein Krieg aus; den Polos war der Rückweg nach Venedig abgeschnitten. Sie beschlossen, auf Umwegen zurückzukehren. So reisten sie zunächst nach Buchara, wo sich gerade ein Gesandter des Grosskhans aufhielt. Er lud Nicolo und Maffeo ein, ihn zu begleiten und dem regierenden Herrscher Kublai Khan einen Besuch abzustatten; er werde die Kaufleute aus dem Westen schützen. Die Polo nahmen die Einladung an und erreichten nach einer einjährigen Reise, «auf der sie viele Wunder verschiedener und merkwürdiger Art» erlebten, den Hof von Kublai Khan. Öl aus Jerusalem. Der Grosskhan erwies sich als ein sehr aufgeschlossener und umfassend neugieriger Mann, der begierig alles über das Abendland erfahren wollte. Kublai Khan war von konfuzianischen Gelehrten erzogen worden und vereinigte in sich die besten Traditionen chinesischer Kultur. Bevor die Mongolen China erobert hatten, galten sie bei den Chinesen als Barbaren, aber ihre Herrscher waren einsichtig genug, die Jahrtausende alte Kultur Chinas anzuerkennen. Sie waren wohl die einzigen Eroberer, die dem militärisch unterlegenen, aber kulturell überlegenen Gegner nicht ihre eigene Lebensart aufzwangen, sondern im Gegenteil die eher unzivilisierten nomadisierenden Mongolen dem Einfluss Chinas aussetzten und nacheiferten. Schliesslich bat er die beiden Brüder, als seine Gesandten an den Papst zurückzureisen. In einem Schreiben bat er um einhundert Missionare, die in den Sieben Künsten (Grammatik, Rhetorik, Dialektik, Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Musik) geschult sein sollten, um seine Gelehrten über das Christentum und das Abendland in Kenntnis zu setzen. Hier zeigt sich die wissenschaftliche Neugier des Herrschers, denn von einer Bekehrung war wohlgemerkt nicht die Rede. Auch wolle er etwas Öl aus der Lampe vom Heiligen Grabe in Jerusalem. Als die Polo abreisten, hatten sie die «Goldenen Tafeln des Khans» bei sich, Urkunden, die für sicheres Geleit sorgten (Abb.). Aber als sie 1269 Venedig wieder wohlbehalten erreichten, erfuhren sie, dass Papst Clemens IV. gestorben war. Die Wahl eines neuen Papstes zog sich endlos hin; die Christenheit verpasste dadurch vielleicht eine grosse Chance! Als zwei Jahre später noch immer kein neuer Papst gewählt war, beschlossen die Brüder, unverzüglich nach Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 40 China zurückzukehren. Diesmal nahmen sie Nicolos Sohn Marco mit. In Palästina erfuhren sie, dass der päpstliche Legat Tedaldo, der sich auch gerade in Palästina aufhielt, als Gregor X. zum Papst gewählt worden war. Der neue Papst erteilte ihnen den Segen und kam Kublais Wunsch nach hundert christlichen Gelehrten durch die Delegation von zwei Klosterbrüdern entgegen. Keiner der beiden überlebte die Strapazen der Reise, doch konnten die Polo wenigstens das heilige Öl überbringen. Reise auf das «Dach der Welt» Marco Polo war bei der Abreise vierzehn Jahre alt. Von Palästina ging die Reise zunächst nach Hormus am Persischen Golf. Sein Bericht hält schon hier die erste Verlockung fest, die noch einhundertvierzig Jahre später Prinz Heinrich den Seefahrer zu seinen grossen Entdeckungsplänen beflügelt haben mochten: «Der Hafen wird von Händlern aus allen Gegenden Indiens aufgesucht, die Gewürze und Spezereien, edle Steine, Perlen, Gold und Seide, Elfenbein und viele andere Waren aus den entfernten Ländern des Ostens mitbringen. Von hier aus nehmen sie auch den Weg nach Europa.» Die Reisenden wandten sich dann nordwärts durch die persische Kerman-Wüste und in die kalten Berge von Badakhshan. Sie blieben dort ein Jahr, damit sich Marco in der reinen Bergluft von einer Krankheit erholen konnte, und handelten Rubine und Lapislazuli ein. «Es tummeln sich dort wilde Pferde», berichtet Marco Polo, «die von Alexanders berühmten ,Bukephalas' (seinem Lieblingspferd) abstammen; alle tragen sie ein Mal auf der Stirn.» Dann ging es noch höher, durch ein Land mit Gletschern und vielen Gipfeln von mehr als siebentausend Metern Höhe: das Hochland von Pamir, von den Einheimischen als «Dach der Welt» bezeichnet. «So gross ist die Höhe der Berge, dass keine Vögel in der Nähe ihrer Gipfel zu sehen sind, und uns wurde versichert, dass wegen der Schärfe der Luft Feuer, die angezündet werden, nicht dieselbe Hitze geben wie in niedrigeren Gegenden und auch nicht so kräftig bei der Zubereitung der Speisen wirken.» – Marco Polos Bericht geht unterwegs auf viele Einzelheiten ein, zum Beispiel die Naturprodukte der Regionen und die Grundlagen des Lebensunterhaltes der Einwohner, ihre Sitten, Religion und Gebräuche. Sie zogen weiter auf der alten südlichen Karawanenstrasse durch Kaschmir, wohin bis zum 19. Jahrhundert kein Europäer mehr gelangen sollte (Abb. nächste Seite), dann nach Osten nach Lop am Rande der Wüste Gobi. Gesandter des Khans. Sie ruhten eine Woche aus und kauften, bevor sie die Wüste durchquerten, Vorräte ein, denn «auf diesem Wege trifft man keine vierfüssigen Tiere und keinen Vogel, weil kein Futter zu finden Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 41 ist». Nach der Wüstendurchquerung erreichten sie Tangut an der Nordwestspitze Chinas, reisten – von Kurieren des Kaisers beschützt – sicher durch die mongolischen Steppen und gelangten nach dreieinhalb Jahren an den Hof des Grosskhans. Marco staunte über die Grösse des kaiserlichen Palastes, der von 7½ Meter hohen weissen Steinmauern umgeben war, über die grünen Palastgärten und die prachtvoll gekleideten Adligen. Kublai Khan empfing die Europäer herzlich und wiederum mit grossen Ehren. Nicolo stellte den inzwischen achtzehnjährigen Marco mit den Worten «Mein Sohn und Euer Gefolgsmann» vor. Kublai Khan unterhielt sich mit Hilfe eines Dolmetschers mit dem jungen Marco; er spürte dessen Begabung, teilte ihm einen Sprachlehrer zu und prüfte ihn, indem er ihm verzwickte Aufgaben stellte. Marco Polo gewann bald das Vertrauen des Herrschers, besonders durch sein diplomatisches Geschick und seine Art, die Welt zu sehen und zu beschreiben. Der Khan sagte einmal zu einem seiner mächtigen Berater, es scheine ihm, dass nur Marco Polo gelernt habe, seine Augen zu gebrauchen. Marco hingegen verehrte den Khan und wurde sein treuer Diener. Marco wurde bald als Botschafter in die entfernteren Provinzen gesandt, wo er diplomatische – und wie es scheint auch delikate – Aufgaben zur Zufriedenheit des Khans erledigte. Manchmal reiste er auch in eigenen Angelegenheiten, aber immer mit der Zustimmung des Grosskhans. Er lernte die unterschiedlichen Sitten und Gebräuche kennen. Die Mongolen tolerierten, wie schon gesagt, die Traditionen der unterworfenen Völker; Marco Polo hatte nun Gelegenheit, diese Völker selbst zu besuchen und zu beschreiben. Auf seinen Reisen gelangte er südwärts bis nach Hang-Tschou und weit landeinwärts nach Burma und Indien. HangTschou war nach Marco Polos Worten «die prächtigste und schönste Stadt der Welt», ein aufstrebendes Handelszentrum, auf dessen Märkten alles verkauft wurde, «was das Herz sich nur wünschen konnte». In Maabar an der Koromandelküste im Osten Indiens befindet sich «die Heimat der Yogis, einer Glaubensgemeinschaft, die sehr enthaltsam leben, das Jahr herum fasten und nie etwas anderes als Wasser trinken»; nachts schliefen sie nackt ohne Decke auf dem Boden! In Tibet wiederum benutzten die Reisenden nachts das hochgewachsene Rohrholz zur Feuerung, weil es beim Verbrennen knallende Laute abgab, die geeignet waren, wilde Tiere zu erschrecken und abzuhalten. Die Tibeter haben die Sitte, keine Jungfrau zur Frau zu nehmen; im Gegenteil, der Wert der Frau steige mit ihrer Anzahl Liebhaber. «Ein herrliches Land für einen Vierundzwanzigjährigen» fügte Marco Polo vielsagend an. An anderer Stelle seines Berichts beschreibt er die Verwendung der Steinkohle: «An vielen Orten im Lande Cathai findet sich ein schwarzer Stein, den man aus den Bergen gräbt. Wenn man ihn anzündet, brennt er wie Holzkohle, erhält das Feuer aber weit besser als diese, so dass es die ganze Nacht erhalten werden kann.» Er lobt den Erfindergeist der Chinesen, erwähnt das Schiesspulver, den Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 42 Kompass, die Druckerkunst, die Teehäuser und war vom freien Handel im Lande Kublai Khans beeindruckt: «Die Chinesen gebrauchen bedrucktes Papier, das eine bestimmte Menge Goldes symbolisiert, was praktisch ist, da der Kaiser den Gegenwert garantiert. Sie haben grosse Mengen roher Seide und verarbeiten sie nicht nur für ihren eigenen Gebrauch, sondern auch für andere Märkte. (...) Die Marktplätze haben sehr grosse Ausdehnungen, weil sie eine ungeheure Menschenmenge aufnehmen müssen. An drei Tagen der Woche versammeln sich auf jedem der Plätze bis zu fünfzigtausend Menschen, um sich mit jeglichem Vorrat zu versehen. Es gibt viel Wild, wie Rehböcke, Hirsche, Hasen und Kaninchen, Rebhühner, Fasanen und Wachteln sowie eine Unmenge von Enten und Gänsen. (...) Sie haben dort auch Schlachthäuser, wo das Vieh geschlachtet wird, wie Ochsen, Kälber, Böcke und Lämmer. (...) Die Märkte sind von Kaufläden umgeben, wo alle Arten von Waren gelagert und verkauft werden, unter anderem Spezereien, Gewürze, Tand aller Art und Perlen.» Endlich nach Hause. Von Nicolo und Maffeo Polo wissen wir nicht viel aus jener Zeit; sicher hatten sie gewisse Freiheiten, denn sie haben «grosse Reichtümer an Juwelen und Gold erworben». Aber sie durften das Land nicht verlassen, «so oft sie den Kaiser auch darum baten. Er hatte sie liebgewonnen und genoss so sehr ihre Gesellschaft, dass ihn nichts dazu bewegen konnte, sie des Weges ziehen zu lassen.» Als jedoch 1292 die Mongolenprinzessin Kokachin mit dem Khan von Persien verheiratet werden sollte, war ein Geleit für eine Seereise zusammenzustellen. Gesandte des Persischen Herrschers hatten es bereits auf dem Landweg versucht, mussten aber wegen kriegerischer Unruhen umkehren. Den Polos gelang es, als Teil des Gefolges die Erlaubnis zur Abreise zu erhalten, weil der persische Gesandte den guten Ruf der Venezianer als Seefahrer kannte. Kublai Khan rüstete vierzehn Schiffe mit einem Gefolge von sechshundert Personen und Vorräte für zwei Jahre aus, gab den Polos wiederum die «Goldenen Tafeln» mit, die sicheres Geleit garantierten. Danach schifften sie sich in Zaitun ein (Abb.). Nach einer nicht ungefährlichen Seereise durch das Südchinesische Meer nach Sumatra, Ceylon, Kalikut über den Indischen Ozean zum Hafen Hormuz Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 43 konnte die Prinzessin unversehrt in Persien abgeliefert werden. Die Polo verweilten noch einige Zeit als Gäste am Hofe des persischen Herrschers, als sie eine schlimme Nachricht erreichte. Ihr grosser Freund und Beschützer Kublai Khan war gestorben. Ihre Mission, ein bleibendes Band zwischen Europa und China zu knüpfen, sollte nur hundert Jahre Bestand haben. So reisten sie nach Konstantinopel ab. Prinzessin Kokachin hatte sich so sehr an die Venezianer gewöhnt, dass sie beim Abschied weinte. Den letzten Teil der Reise haben die Polo wieder zur See zurückgelegt: von Konstantinopel ging es die griechische Küste entlang und durch die Adria nach Venedig. Nach vierundzwanzig Jahren Abwesenheit gelangten Nicolo, Maffeo und Marco Polo wieder nach Hause. Marco Polos Buch war schon kurz nach seinem Erscheinen eine Sensation! Für die im 13. und 14. Jahrhundert geltenden Massstäbe fand es schnelle Verbreitung, und bald war es an allen Zentren des gebildeten Abendlandes bekannt. Zwar gab es eine ganze Reihe einflussreicher Stimmen, die ihm nicht glaubten, sondern als Phantasten und Grossmaul verhöhnten, aber grossmütigere und sachlichere Geister waren fasziniert von dem, was Marco Polo beschrieb: von den schachbrettartig angelegten Städten Chinas und den grosszügigen Palästen, von der Papierherstellung und dem Papiergeld, von der Perlen- und Seidenindustrie, von der gewaltigen Flotte seetüchtiger Schiffe, von der merkwürdigen Heilkunst, bei der silberne und goldene Nadeln in die Haut gestochen werden, und von den vielen im Abendland bis dahin unbekannten Erfindungen (wie Seismographen und Entfernungsmesswagen). Sie liessen Polos Bericht überprüfen, indem sie Missionare und Händler über die Seidenstrasse in den Osten schickten. Die Mongolenkaiser sicherten die Wege und schützten die Reisenden, hundert Jahre lang blühte der Handel auf dem vieltausend Kilometer langen Weg. Aber die Reise war langwierig, man musste in abgelegenen Orten überwintern, denn die Unbilden der Witterung, Schnee, Stürme und grosse Kälte machten im Winter das Reisen unmöglich. Der Länge der Reise – und damit der Kosten – entsprach auch die Verteuerung, die die Warenpreise dabei erfuhren. Als dann in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts die Kaiser der Ming-Dynasie (1368-1644) China aus der Mongolenherrschaft zurückeroberten, war Europa wieder von den Ländern des Ostens abgeschnitten, in denen Marco Polo so lange gelebt hatte. Die Geschichte erlaubt sich manchmal merkwürdige Kapriolen: Wären Marco Polo und Rustichello nicht im genuesischen Kerker zusammengetroffen, hätte die Nachwelt vielleicht kaum etwas vom Reich des Kublai Khan erfahren. Kolumbus' Vision vom westlichen Seeweg nach Indien ist nachweislich stark von Marco Polo beeinflusst worden; besonders die grosse Ausdehnung Asiens nach Osten hat ihn in der Annahme bestärkt, der Atlantik sei nur ein schmales Gewässer und dahinter läge die Ostspitze Asiens. Das Buch Marco Polos aber regte auch die Einbildungskraft Heinrich des Seefahrers, Vasco da Gamas und anderer an, diese Länder nach Osten über das Meer zu suchen. Ein Satz Marco Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 44 Polos mag sie dazu besonders ermuntert haben: «Was ich geschrieben habe, ist nicht die Hälfte von dem, was ich gesehen habe.» Die kartographische Erfassung der Erde Land- und Seekarten – Symbole territorialer Machtansprüche Geographische Karten beeinflussten seit jeher das politische, wirtschaftliche und soziale Handeln. Soweit geschriebene Geschichte zurückreicht, Karten waren nicht nur Abbildungen der Erdoberfläche, sondern auch Ausdruck für das gerade geltende Weltbild der Gesellschaft. Heutige Landkarten kennen keine unbekannten Gefilde mehr; es gibt keine weissen Flecken, keine Geheimnisse – nichts, was es zu entdecken, zu erobern gäbe. Wie aber hat es einmal angefangen, mit der rätselhaften Macht der Karten? Nil – Beherrscher Ägyptens. Um das gültige, das richtige Bild der Erde wurde ein Jahrtausende langer Kampf geführt. Von den ahnungsvollen Abbildungen der Welt im Altertum über die phantasievollen Darstellungen des Mittelalters bis zur metergenauen Vermessung der Erde in der Jetztzeit war ein weiter Weg zu gehen, voller Abenteuer und Intrigen. Er mag im Nahen Osten vor 5000 Jahren begonnen haben. Damals beherrschte der Nil Ägyptens Leben; im alten Ägypten hing das Wohl der Menschen von der jährlichen Überschwemmung ab; eine Folge der tropischen Niederschlägen in den weit im unbekannten Süden liegenden Bergen Innerafrikas. Die Nilfluten brachten das Leben auf die Welt, oft genug auch den Tod. Die Existenz der Bauern hing vom Wasserstand ab. So wurde er sorgsam Jahr für Jahr am steinernen Nilometer registriert: war der Wasserstand zu niedrig, konnten die Felder nicht überflutet und mit dem fruchtbaren Schlamm bedeckt werden; alles verdorrte. War er zu hoch, dann ertrank das Korn. Mit seinen Hochfluten wusch der Nil auch jeweils die Ackergrenzen hinweg. Beamten der Regierung zogen die Grenzen immer wieder neu; sie spannten Taue zwischen feststehende Steine und hatten so auch die Kontrolle über die dem Pharao zustehenden Abgaben. Äcker konnte der Mensch sehen und daher auch begreifen, aber die Welt in ihrer Unermesslichkeit liess sich nur im ewigen Rhythmus der Gottheit erfassen. Die Sonne im Feuerboot. Nut war im alten Ägypten die göttliche Mutter, die nachts die Sonne, ihr Kind, schluckte, um sie am Morgen neu zu gebären. Manche Menschen sahen die Sonne in einem feurigen Boot über den Himmel reisen, andere glaubten an den riesigen Skarabäus, der die Sonnenkugel vor sich herrollt. Den Ägyptern strahlte die Sonne von einem Himmel, der von vier Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 45 riesigen Türmen an den Ecken der flachen, rechtwinkligen Erde getragen wurde, und ein flacher Teller war die Erde in den Augen der Babylonier. In Babylon beobachteten Sterndeuter auf hohen Türmen, den Zikkuraten, den Himmel und befragten ihn nach dem Schicksal der Menschen. Babylon ist wohl der Ort, an dem die Sterne einen überirdischen Sinn erhielten; babylonische Astronomie war wahrscheinlich die Wiege allen Sternenwissens. Die Griechen statteten ihre Götter mit menschlichen Zügen und Schwächen aus und bauten ihnen herrliche Tempel, doch die Erklärung der Welt überliessen sie den Naturbeobachtern und Philosophen. Europas moderne Wissenschaft hat ihre Wurzeln in Kleinasien, wo sie im 6. Jahrhundert vor der Zeitrechnung in Milet geboren wurde. Milet war vor zweieinhalbtausend Jahren eine reiche Handelsmetropole mit Hafen und Karawansereien. Hier lebten die Männer, die zum Erstenmal versuchten, die Erde verstandesgemäss zu erklären. Bevor ein Schiff in See ging, betete man zu den Göttern und brachte ihnen Opfer, auch Menschenopfer, dar. Die allererste Karte. Mit Männern wie Thales, Anaximander und Archimedes begann das Studium der realen Welt. Thales lehrte die Seeleute, den Polarstern im Norden zu suchen und Anaximander hat die allererste Karte gezeichnet. Beim Versuch, die Welt zu begreifen, gab es manchen Trugschluss: Thales sah die Welt als Floss auf dem Meer schwimmen; Anaximander stellte sie sich wie einen in der Luft aufgehängten Zylinder vor, die durch eine riesige Wirbelbewegung aus dem «Unbegrenzten» entstanden ist. Doch ihre Antworten sind nicht so wichtig; was allein zählt, sind die Fragen, die sie sich stellten. Und diese lauteten: Woraus besteht die Welt, wie sieht sie aus? Von Menschen, die kaum mehr kannten als das Mittelmeer und Kleinasien, war das kaum zu beantworten. Von den Zikkuraten der Babylonier über die ägyptischen Pyramiden bis zu den Campanilen Italiens und den Wolkenkratzern New Yorks – immer wollten die Menschen in die Höhe klettern und von oben auf die «Welt» niederschauen. «Sphärenmusik». Die Griechen gingen eigene Wege, um dem Geheimnis näherzukommen. Um 500 v. Chr. gab der griechische Philosoph Pytagoras dem Universum eine erste Einordnung. So wie die Länge der Saite an einer Harfe die Höhe des Tons bestimmt, so regeln musikalische Intervalle das pythagoreische Universum: Im Zentrum schwebt die Erde als Kugel, sie wird von Himmelskörpern umkreist; ein Halbton unterscheidet die Erde vom Mond, ein weiterer Ton von Merkur und so fortlaufend über die Planeten, die Sonne und die Sterne. Ihre Umdrehungen erzeugten ein konstantes, harmonisches Summen: die Harmonie der Sphären. Die Anschauung von der Sphärenmusik hielt sich bis in die Neuzeit; noch Goethe verwendet das Bild im Prolog zu «Faust». Die geniale Idee des Pythagoras ermöglicht tatsächlich die Darstellung eines Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 46 Modells unseres Planetensystems, in dem die Höhe eines Tons die Distanz zur Erde bemisst. Die Idee von der Erde als Kugel ist intuitiv und sehr alt. Wir sehen Sterne, die um den Pol kreisen und nie unter dem Horizont verschwinden (Abb.nächste Seite); sie heissen daher «Zirkumpolarsterne» (d.h. «um den Pol kreisende Sterne»). Man erkennt, dass diese Sterne, Kreisbögen zeichnen. Wenn alle Sterne sich so verhalten, auch die auf- und untergehenden, müssen sie eine Kugel bilden, deren Innenseite wir sehen. Man kann sich also leicht vorstellen, dass die Kugel die Form des «Sternenzelts» am Himmel wiedergibt. Daraus kann geschlossen werden: Wenn das Universum eine Kugel ist, muss die Erde in ihrem Zentrum die Gestalt einer Kugel haben! Und die Griechen beobachteten denn auch bei einer Mondfinsternis den gebogenen Schatten der Erde. Links: Zirkumpolarsterne Nachdem die Griechen nun die Kugelgestalt der Erde bestätigt gefunden haben, wurden sie von der Frage beunruhigt: Was ist auf der Erde? Welche Länder gibt es, welche Meere? Man musste Reisende und Händler befragen und deren Erzählungen und Beobachtungen zu einem Bild zusammenfügen. Die Bibliothek von Alexandria. Alexandria, die reiche Stadt am Mittelmeer, wurde zu einem Sammelplatz vielfältiger Informationen. Bilder und Statuen in den Katakomben deuteten auf einen Schmelztiegel antiker Kulturen hin. Da konnte man einen römischen Krieger auf einem ägyptisch gekleideten Unterkörper neben Vasen griechischen Ursprungs und Modelle von Totenschiffen aus Innerägypten sehen. Die berühmte Bibliothek mit ihren 500'000 Schriftrollen war ein unschätzbarer Hort der Literatur und des Wissens der antiken Welt. Die unterirdischen Gewölbe mit ihren Wandnischen, in denen einst die Pergamente deponiert waren, sind noch heute zu besichtigen. Aber fast alle dieser kostbaren Manuskripte sind verbrannt. 48 v. Chr., als Cäsar im Alexandrinischen Krieg Cleopatra zur Herrscherin über Ägypten machte, brannte die Bibliothek zum erstenmal. Unruhen in den Jahren 270 und 390 zogen die Bibliothek wiederum in Mitleidenschaft. Ein kleiner Teil der Bestände Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 47 wurde darauf durch Justinian I. nach Konstantinopel gebracht, aber der bedeutsame Rest zerfiel im Jahr 642 bei der arabischen Eroberung endgültig zu Asche. Doch der Ruhm zweier Männer, die hier einst wirkten, wird nie vergehen. Der eine war der Bibliothekar Eratosthenes, dem es gelang, nur durch eine logische Winkelbeobachtung den Umfang der Erde fast genau zu berechnen. Der zweite war der Gelehrte Claudius Ptolemäus. Sein Hauptwerk trägt den Namen «Geographie». Karten, die später danach gezeichnet wurden, zeigen das grossartige, für seine gewöhnlichen Zeitgenossen fast unverständliche Weltbild des Ptolemäus. Europa und das Mittelmeer, Spanien, Portugal und Italien sind darauf schon präzise umrissen. Wo sind die Quellen des Nils? An den Rändern nimmt die Genauigkeit ab, Britannien und das östlich davon liegende Schottland sind noch zu erkennen (Abb. unten). Ptolemäus legte als erster ein Gitternetz über seine Karten, die sich in Nordsüd- und Ostwestrichtung schnitten: die Längen- und Breitengrade. Die Lage der Nilquellen allerdings konnte Ptolemäus nur schätzen, denn niemand war so weit nach Innerafrika vorgedrungen. Er glaubte sie bei den «Mondbergen»; Forscher wie Livingston und Stanley suchten sie noch vor hundertzwanzig Jahren. Weltkarte des Claudius Ptolemäus, (um 100 bis nach 160 n. Chr.), Astronom, Mathematiker und Geograph in Alexandria Den Indischen Ozean machte er zu einem grossen See und schuf einen vierten Südkontinent, die «Terra Australis Incognita», als Gegengewicht zur nördlichen Landmasse Asiens. Ein weiterer Irrtum des Ptolemäus sollte sich noch lange nachteilig auf das Wissen der Menschheit auswirken: er unterschätzte den Erdumfang gewaltig und nahm ihn um 29 Prozent geringer an, als Eratosthenes hundert Jahre vor ihm fast genau errechnet hatte. Ptolemäus und die frühen Griechen wussten wohl die ihnen bekannte Welt zu kartieren, doch für eine genaueres Abbild fehlten noch viele Informationen. Je weiter die Reisenden und Kapitäne sich von ihrer Heimat im Mittelmeer Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 48 entfernten, desto grösser wurde – aus Unkenntnis der Geographie – das Risiko von Schiffbruch und Tod. Und doch: im Osten gab es ein besonders reizvolles Geheimnis, Zeichen einer märchenhaften Zivilisation an den Rändern der bekannten Welt! Kam nicht die herrliche Seide aus einem fernen Land im Osten? Tatsächlich spannen winzige Seidenraupen eine Brücke zwischen den zwei grössten und bedeutendsten Zivilisationen der alten Welt. In China profitierte eine streng zentralisierte Bürokratie vom Erfindungsreichtum seiner kaiserlichen Untertanen. Dort sammelten man die Kokons der Seidenraupen ein und kochte sie in Wasser, wobei die Puppen abstarben. Was die Raupen um sich spannen, wurde kunstvoll zu einem Faden versponnen; sieben Kokons waren nötig, um den ersten Faden zu spinnen. Karten auf Seide. Die Neuigkeiten von der Chinaseide drangen bis ins antike Rom. Doch in China verwebte man die Fäden nicht nur zu schimmernden Stoffen, sie dienten auch dem Krieg. Kaiser Wu, so wird berichtet, habe oft bedauert, zwei Nachbarstaaten nicht erobert zu haben. Um ihre Lage zu studieren, befahl er Fao, der Schwester seines Premierministers, eine Karte mit den Bergen, Flüssen und Orten dieser Länder anzufertigen. Fao stickte die Karte auf Seide. Bei der Arbeit entdeckte sie, dass Kette und Schuss des Stoffes ideale Koordinaten für ein Kartennetz abgaben. Der Legende nach wurde so die neue Präzision der Kartographie geboren. Doch ein Unterschied trennte diese Karte von der des Ptolemäus. Das chinesische Kartennetz galt für eine flache Erde, nicht für eine Kugel. Die Erde, sagten die Chinesen, ist quadratisch wie das Schachbrett. Manche Wissenschafler hatten zwar Befürchtungen, dass die Erde und Ozeane an den Rändern abrutschen könnten, aber es blieb letztlich bei der orthodoxen Anschauung. China war der Mittelpunkt der chinesischen Welt; ein paar Nachbarn – wie Japan – wurden anerkannt, darüber hinaus gab es aber nur Barbaren. China fühlte sich so überlegen und selbstgenügsam, dass es eine Verbindung zu anderen Ländern nicht für nötig hielt. Es hatte reichlich Nahrung und ein weiträumiges Kanalnetz für Transport und Bewässerung. Die restliche Welt – mit Ausnahme während zirka zweihundert Jahren ab 1280 – interessierte China nicht. Doch nirgends wurde es in der Kartierung übertroffen! Auch das Papier und der Druck wurden hier erfunden, und schon Jahrhunderte vor Gutenberg erschienen in China gedruckte Karten auf Papier. Chinesische Erfindungen standen stets im Dienste des Kaisers. Karten waren Machtinstrumente der Regierung, denn nur ein Reich, das man genau kennt, kann man auch beherrschen. Auch der Himmel wurde schon 3000 Jahre vor unserer Zeitrechnung beobachtet; 2200 v. Chr. entstand der erste vollständige Kalender, um 1300 v. Chr. erwähnten die Hofastronomen zum erstenmal eine Supernova, Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 49 467 v. Chr. erstmals den Halleyschen Kometen, und auf das Jahr 310 wird die erste Himmelskarte mit über 100 Sternen datiert (Abbildung unten). Links: Chinesische Sternkarte mit der Milchstrasse, um 310 n. Chr. (aus: China, Wiege des Wissens Das griechische Weltbild geht vergessen. Im fernen Europa trat zu dieser Zeit das Weltbild griechischer Wissenschaftler zurück und wurde für lange Zeit durch die Glaubensinhalte des Christentums ersetzt. Trotzdem aber wurde der Handel mit dem Osten nie ganz unterbrochen. Auf seinen Indienfahren im 6. Jahrhundert begegnete der byzantinische Händler Cosmas der Lehre des Dschainismus, der das Töten lebender Wesen verbietet und die Seele des Menschen durch Askese aus den Fesseln der Materie befreit. Obwohl der Dschainismus eine indische, auf dem Sanskrit beruhende Religion ist, erschien Cosmas das Weltbild der Dschaina sehr christlich. Unten ist die Hölle mit bösartigen Teufeln angesiedelt; die Erde schwebt in der Mitte, sie ist ein Kranz von Kontinenten, ihre Ozeane sind gefüllt mit Zuckersaft, Wein, Butter, Milch und Molke. Oben befindet sich der Himmel, wo die Seelen in unendlicher Wonne schweben. Heimgekehrt zog sich Cosmas in ein Kloster zurück; angeregt von den Vorstellungen des Ostens schuf er hier sein Weltbild aus der Bibel. Er folgte dem Pauluswort, nach dem das Wohnzelt des Moses das Modell für die Erde sei. Cosmas dachte sich die Welt in Form einer Truhe: der runde Deckel ist das Himmelsgewölbe, von dem aus Gott seine Schöpfung betrachtet. Im Norden befindet sich ein hoher Berg, den die Sonne verschiebt, damit die Nacht dem Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 50 Tag folgt. Nach Cosmas war die Erde tellerflach, obwohl die antike Wissenschaft bewiesen hatte, dass die Erde eine Kugel ist. Aber das konnte nach Cosmas nur Unsinn sein, weil dann doch die Menschen auf der anderen Seite der Erde ihr Leben lang mit dem Kopf nach unten an der Erde hängen müssten und am Ende herunterfielen. Drei Söhne – drei Kontinente. Doch es gab christliche Gelehrte, die griechisches Wissen mit der Bibel zu verknüpfen verstanden. Im Spanien des 7. Jahrhunderts zeichnete Isidore, Erzbischof von Sevilla, seine Weltkarte der Kompromisse. Der Osten liegt oben. Diese «mappa mundi» ist eine kreisrunde Erde mit Asien, Afrika und Europa, je ein Kontinent für Noahs drei Söhne! Isidore liebte es, erregenden Geheimnissen nachzugrübeln, zum Beispiel der Frage, wo genau der Garten Eden, das Paradies, zu finden sei. Es gab eine wunderbare Beschreibung: Das Paradies ist ein Ort im Osten; gemäss der Übersetzung vom Griechischen ins Lateinische ist es ein Garten mit vielen Obstbäumen, darunter der Baum des Lebens. Dort ist es weder kalt noch heiss, es ist ewiger Frühling und es gibt eine Quelle, die den Garten bewässert. Seit dem Sündenfall ist der Zutritt den Menschen verboten; der Garten ist nun umhüllt von Flammen, einer Feuermauer, die bis zum Himmel reicht. Wo allerdings das Paradies zu finden sei, das war der Kirche nicht das Wichtigste; wichtiger war Jerusalem, das Zentrum der Welt! Wallfahrten – ein gutes Geschäft. Ab dem 12. Jahrhundert wurde es Mode, nach Jerusalem zu wallfahren. Das wurde ein gutes Geschäft. Die Kreuzritter hatten gerade das Heilige Land zurückerobert und den Christen geöffnet; mit dem wachsenden Pilgerstrom erschienen Routenführer und Landkarten. Der englische Mönch Mathäus Paris von St. Alban schuf eine solche Karte im 13. Jahrhundert. Nach seinem «Strassenatlas» begann die Pilgerfahrt bei der St.-Pauls-Kathedrale in London; von dort ging es nach Canterbury, über den Kanal nach Frankreich und durch das Land hindurch in den Nordosten Italiens. In Venedig stiegen die Pilger aufs Schiff und reisten nach Jerusalem, dem Zentrum der mittelalterlichen Welt. Jerusalem zu sehen, die Stätten, wo Christus gelebt hat, dort, wo er gestorben ist: das muss in den Menschen des Mittelalters unvergleichlich Gefühle geweckt haben. Pilgerreisen verstärkten aber nicht nur den Bedarf an Karten, sie wirkten sich auch auf die «Weiterentwicklung» des christlichen Weltbildes aus. Christus hatte seine Apostel beauftragt: «Gehet hin und predigt den Menschen am Rande der Erde». Das aber waren nach damaliger Auffassung die reinsten Monster: Menschen mit Hundeköpfen, die sich nur anbellen konnten; andere mit Ohren, gross genug, sich darin einzuwickeln oder sich selbst Schatten zu geben; Pygmäen, die mit Leitern zu Pferde steigen mussten; andere trugen ihr Gesicht auf der Brust oder hatten nur ein Auge (Abbildung nächste Seite). Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 51 Monströse Phantasiemenschen in der mittelalterlichen Vorstellung (Bibliothèque Nationale, Paris) Diese und andere Phantasiegestalten sollten die grosse Neugier der Menschen stillen und sie abhalten, über die Grenzen der bekannten Länder hinauszureisen. Macht, Mythos und Glaube waren die formenden Kräfte des Mittelalters. Die Karten der Zeit waren voller Irrealität, aber sie dienten auch einem sehr realen Zweck. Auf Landkarten, die Venedig, Pisa, Siena, Genua und andere mächtige Handelsstädte in Auftrag gaben, waren diese Städte mit ihrem Besitz an Grund und Boden, aber auch die tributpflichtigen, abhängigen Orte und Handelsplätze, immer übermässig gross dargestellt. Derartige Karten waren Symbole territorialer Machtansprüche, sie sollten zum Ausdruck bringen: Wir sind die Grössten! Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 52 Die Entdeckung des Mönchs Berludes. Konstantinopel, das heutige Istanbul, war seit 330 die Hauptstadt des Oströmischen Reiches. Kaiser Konstantin der Grosse hortete hier die Schätze aus Griechenland, Italien und Ägypten, darunter auch die kostbaren, offiziell verbotenen Schriften der griechischen Wissenschaftler und Philosophen. In der Mitte des 13. Jahrhundert verlor das byzantinische Reich seine Macht; Konstantinopel wurde türkisch. Das Wissen der Antike drohte in Vergessenheit zu fallen; nur wenig Belesene hatten noch davon Kenntnis. Zum Beispiel ein Mönch namens Maximus Berludes; er stöberte ab 1280 in den Basaren Konstantinopels an den Buchständen nach den Werken der Alten. Manche entdeckte er staubbedeckt und seit Jahrhunderten ungelesen, und einige dickleibige Folianten musste der Mönch mühsam restaurieren. Endlich, 1295, entdeckte er, wonach er so lange gesucht hatte: die «Geographie» des Claudius Ptolemäus! Im europäischen Mittelmeer waren es vor allem Genua und Venedig, die sich seit alters her mit kleinen Segelschiffen auf der Suche nach wertvollen Handelsgütern auf die offene See wagten. Ihre Fahrten gerieten nicht selten zu waghalsigen Abenteuern, die auch neue geographische Erkenntnisse brachten, nicht selten aber mit einem Fiasko endeten. Im Mai 1291 stachen von Genua aus zwei Galeeren unter dem Befehl der Brüder Basino und Ugolino Gibaldi in See. Sie sollten den Seeweg zum Fernen Osten suchen. Vom Mittelmeer in den Atlantik. Aber die Mittelmeer-Schiffe des 13. Jahrhunderts waren nicht für die schweren und mächtigen Wogen des Atlantik gebaut, so war das Unternehmen ein Wagnis auf Leben und Tod. Die Brüder kannten noch immer nur drei Kontinente, die von einem grossen Ozean umkreist wurden; auf ihm hofften sie, Asien zu erreichen. Die Gibaldis navigierten nach dem Himmel und dem neu in die europäische Seefahrt eingeführten Kompass. Damals gab es noch keine Karten für ausserhalb Europas. Und so sind die Brüder Gibaldi denn auch irgendwo an Afrikas Westküste verschollen. Doch Genua gilt heute als der Ort, wo die Kunst der Kartographie zu hoher Blüte gelangte. Genuas Kartenmacher beherrschten den Markt für Portulane, wie die frühen Seekarten genannt wurden, im westlichen Mittelmeer. In Genua verbrachte Kolumbus seine Jugendjahre. Auch Kolumbus’ Bruder Bartholomäus hatte die Kunst der Kartographie erlernt; er wanderte nach Lissabon aus und verkaufte mit Erfolg die neuen Karten der afrikanischen Küste, die zu seiner Zeit von den Kapitänen Heinrich des Seefahrers entdeckt worden waren. Sklaven und Gold. Christoph Kolumbus, der 1476 vor der portugiesischen Küste mit einem flämischen Schiff schiffbrüchig wurde, rettete sich an Land, ging nach Lissabon und half seinem Bruder, die Karten der Zeit zu aktualisieren. Der Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 53 Erfolg von Prinz Heinrichs Unternehmungen war schon überall sichtbar: Negersklaven, Elfenbein, afrikanischer Pfeffer und Gold! Kartenzeichner des 15. Jahrhunderts waren mit nautischen Fachjournalisten vergleichbar. Jeden Monat trafen neue Informationen in Portugal ein; viele waren präzise Informationen der Kapitäne, noch mehr wurde geheimgehalten, doch die Gerüchte summten von den Schiffen über die Kais und in die Seemannsschenken. Überall musste man Ohren, Gewährsleute und Freunde haben, manche Gefälligkeit war nötig, um wieder eine Wesentlichkeit zu erfahren. Seekarten waren aus Schafs- oder Ochsenbälgen hergestellt, die unempfindlich gegen Salzwasser sind. Ihre Form ähnelt dem Fell des Tieres, wie man noch auf der berühmten Karte aus dem Jahre 1500 von Juan de la Cosa, dem Piloten von Christoph Kolumbus, sehen kann. Es handelt sich – wie bei allen Karten der Zeit – um eine Portulan-Karte. Das Linienmuster stellt Kurse dar, die von Windrosen ausgehen und denen man auf See zu folgen hatte. Der Nautiker steckt seinen Kurs zwischen zwei Positionen ab und misst die Distanz mit dem Zirkel. Damals war es schwer, den Kurs korrekt zu halten; bei jedem Segelmanöver mussten Toleranzen eingerechnet werden. Doch die Präzision der Kartenmacher ist bis heute beeindruckend, wenn man die wenigen Informationen einrechnet, die verfügbar waren. Dass Amerika und Europa mit Afrika in verschiedenen Massstäben wiedergegeben sind, war für die damalige Zeit völlig normal. Auf einer Schafshaut gezeichnete erste Karte der neuen Länder im Westen von Juan de la Cosa, dem Piloten Christoph Kolumbus’, 1500: links die westindischen Inseln mit den amerikanischen Küsten, am rechten Rand Europa und die afrikanische Westküste (Museo Naval, Madrid). Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 54 Logscheit und Sanduhr. Ein anderes Problem bestand darin zu wissen, wo man sich befand, auch wenn die Richtung bekannt war. Ein Kapitän musste also die Geschwindigkeit seines Schiffes kennen, mit der er auf seiner Kurslinie dahinfuhr. Als Messinstrument kannte man nur das ungenau Log. Ein Log ist ein Brettchen (das «Logscheit»), an dem an drei Punkten ein dünnes Seil befestigt ist; das Seil ist am Schiffsheck auf einer Rolle aufgerollt. Auf ihm sind in regelmässigen Abständen farbige Bändchen eingeknotet. Wirft man das Brettchen über Bord, läuft das Seil von der Rolle ab, bis sich das Logscheit – vom Seilzug gehalten – im Heckwasser senkrecht aufstellt. Der Seemann misst mit der Sanduhr die Zeit und zählt die in der Abrollzeit ausgelaufenen Knoten des Seils; er weiss nun, wieviele «Knoten» sein Schiff gerade läuft bzw. wieviele Seemeilen pro Stunde zurückgelegt werden. Doch wichtiger als jedes Instrument war die Erfahrung des Kapitäns. Im 14. Jahrhundert gehörte Mallorca zum Königreich Aragon und war als bedeutender Handelsplatz auch ein Zufluchtsort der Wissenschaftler aus Arabien, Kleinasien und Europa. Obwohl katholisch regiert, hing der Wohlstand Mallorcas weitgehend von seiner jüdischen Gemeinde ab. Juden wirkten hier ohne Behinderungen als Händler mit Juwelen und kostbarer Seide, jüdische Handwerker kauften und verarbeiteten Silber und Gold und machten Mallorca wohlhabend. Vor allem aber waren sie Kartenmacher für die Erobererer dieser Epoche. Einer der berühmtesten war Abraham Cresques. 1375 zeichnete er für den französischen König seine sehr präzise Katalanische Karte. Sie war mit Bildergeschichten verziert: man sieht Schiffe auf allen Ozeanen, findet Perltaucher an der indischen Küste, Diamantenschürfer in Bergspalten und bestaunt vor allem den quer von Ost nach West durch Afrika verlaufenden «Strom des Goldes», der gemäss Abraham Cresques an der westsaharischen Küste, gegenüber den Kanarischen Inseln, in den Atlantik mündete. Phantasie? Wirklichkeit? Das fragte sich auch Heinrich der Seefahrer. Auf seinem Denkmal in Lissabon wird er als der «Fürst aller Weltentdecker» gewürdigt. Portugal war ein armes Land, es hatte sich 1385 seine Unabhängigkeit von Kastilien erkämpft und gerade von den Folgen der Pest erholt. Entdeckungen und Eroberungen weit entfernter Länder lagen nicht in den unmittelbaren Überlegungen von König Johann I. Die Forschungsreisen der Neuzeit mussten, bevor ein Kapitän auch nur aufbrechen konnte, in der Phantasie, im Kopf, durch Nachdenken stattfinden. Und das tat Prinz Heinrich gründlich. Schon viele Schiffe waren aufgebrochen und nicht mehr zurückgekehrt. Das wichtigste war die Fähigkeit zur Heimkehr! Ein neuer Schiffstyp, die Karavelle, ermöglichte aufgrund von Widerstandskraft, Grösse und Bewaffnung jede Rückkehr, Kompass und Karten jede Kursfindung. So gab der Prinz seinen Kapitänen den Auftrag, diesen Seeweg zu suchen. Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 55 Bei Sagrés auf dem Kap Sao Vicente, wo noch immer die riesige Windrose im Pflaster zu sehen ist, gründete Heinrich sein Hauptquartier. Hier rüstete Heinrich seine Kapitäne mit dem modernsten nautischen Wissen seiner Zeit aus, bevor er sie nach Süden schickte. Katalanische Atlas von Abraham Cresques (unter Berücksichtigung der Berichte Marco Polos); Ausschnitt Südostasien (Kolumbus-Atlas, Westermann, Braunschweig 1990.) Bruder Mauro und das "kleine" Venedig. Nur wenig später lebte auf der Insel San Michele vor Venedig einer der kenntnisreichsten Kartenmacher seiner Zeit, der Mönch Fra Mauro. 1457 waren die Portugiesen schon bis zu den Kapverdischen Inseln vorgedrungen und Portugals König Alfons V. wollte erfahren, wo seine Schiffe landen würden; er bestellte bei Fra Mauro eine Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 56 Weltkarte nach dem letzten Stand des Wissens. Diese Karte spiegelt das geographische Wissen der Mitte des 15. Jahrhunderts. Das Original ging in Portugal verloren; zum Glück für die Nachwelt fertigte Fra Mauro eine Kopie für den Dogen von Venedig. Doch scheint es, dass alle Nautiker der Zeit die Karte kannten und studiert haben. Süden ist oben, aber wenn man die Karte dreht, erkennt man die vertrauten Umrisse Italiens und des Mittelmeeres sowie darunter das mächtige Afrika. Ein venezianischer Berater des Dogen sah das Werk auch und bekam einen Schreck. Wie klein und unbedeutend war sein grosses Venedig! Er empfand das als Kränkung und beschwerte sich! War Venedig mit seinen Gondeln und Kanälen nicht die Grösste? Aber für den portugiesischen König hatte Fra Mauro nur gute Nachrichten: der Mönch glaubte, man könne um die Südspitze Afrikas nach Indien und weiter segeln. Nelkenöl gegen die Pest. Venedig, Genua, Sevilla, Lissabon, aber auch die Häfen in der Bretagne, den Niederlanden, Britanniens bis hinauf nach Kopenhagen und Bergen konkurrierten bereits damals um Rohstoffquellen, mit denen sich viel Geld verdienen liess. Im Mittelmeer waren es vor allem die Gewürze, der schwarze und weisse Pfeffer, der Zimt, die Muskatnuss, der Ingwer und die Gewürznelken. Fra Mauros nach Süden ausgerichtete Weltkarte, gezeichnet 1459. (Biblioteca Nazionale Marciana, Venedig.) Besonders Gewürznelken waren begehrt; sie galten als Medikament gegen den Schwarzen Tod, die Pest, die in Europa wütete. Ausserdem – und das war den Seeleuten wichtig – konnte man mit ihnen das Fleisch über einige Wochen konservieren. Pfeffer hatte Portugal schon in Afrika gefunden, doch die besseren Sorten Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 57 kamen – wie man von Händlern wusste – von Indien und der Malabarküste, der Zimt von Ceylon. Die Heimat der anderen Gewürze lag in der unbekannten Tiefe Ostasiens. Tonnenweise gingen die Gewürze in ihrer Heimat auf die Reise nach Westen, gelangten mit arabischen Schiffen nach langer Fahrt über den Indischen Ozean auf die Märkte des Mittleren Ostens und wurden von dort mit ungezählten Kamelkarawanen an die Häfen des Mittelmeeres transportiert. Genuesische, noch mehr aber venezianische Händler kauften die Ware auf und verkauften sie wieder mit hohen Gewinnen in Europa. Die Spuren des Reichtums, den diese Städte mit dem Gewürzhandel erlangten, locken noch heute viele Touristen an. Für das prunkvolle Leben der Profiteure bedeutete es eine Katastrophe, wenn die Portugiesen den Weg um Afrika nach Indien und in den Fernen Osten finden würden. DIE AKADEMIE ZU SAGRÉS Portugal gelingt die Umrundung um Afrika, der Weg nach Indien ist gefunden! 1 »Habt ihr schon gehört, was unser gnädiger Vater beschlossen hat?« Prinz Duarte schlendert in den Saal. Seine Brüder fahren herum. »Wird er unseren Wunsch erfüllen? Ziehen wir in den Krieg? Sicher gegen Kastilien!« Pedro macht ein paar schnelle Schritte auf den Thronfolger zu. »Enrique, was glaubst du?« Duarte wendet sich an den dritten Sohn König Joãos. Der überlegt. »Krieg? Nein, kann ich mir nicht vorstellen. Pedro ist wie immer zu vorschnell; Portugal hat 1385 noch nicht verdaut.« »Hast recht, kleiner Bruder«, sagt Duarte. »Also, was hat der König beschlossen? Ratet!« »Nun spanne uns nicht auf die Folter, erzähle!« Pedro kann sein Temperament nicht im Zaum halten, während Enrique einfach abwartet. Heinrich der Seefahrer, zirka 50 Jahre alt Duarte nimmt in einem der breiten Sessel am Fenster Platz. Die Aussicht ist überwältigend: auf sanften Hügeln dehnt sich die Stadt bis zum Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 58 Küstensaum im Westen und Südwesten, wo sich die Halbinsel Setúbal zwischen den Mündungen des Tejo und des Sado erstreckt; ganz hinten, an ihrer Südspitze, kann man gerade noch den Turm der Wallfahrtskirche auf Kap Espichél erkennen. Aber Duarte nimmt die Schönheit des Panoramas nicht mehr wahr, zu oft schon hat er von hier hinausgeschaut. Er lehnt sich zurück, streckt die Beine und sagt, den Blick gegen die Decke gerichtet: »Turniere!« »Was?« »Ja, Turniere! Ein Jahr lang sollen Turniere abgehalten werden, bei denen wir genügend Gelegenheiten finden würden, Geschicklichkeit und Mut zu zeigen, um die Auszeichnung zu erringen.« »Ist das ein Spaß?« Pedro kann es nicht glauben. »Du treibst Schabernack mit uns. Wir wollen in die Ritterschaft aufgenommen werden, das kann seit alters her nur in einer Schlacht erreicht werden!« »Nein, was ich sage!« Duarte schnellt herum und schaut auf seine Brüder.»Unser Herr Vater ist der Ansicht, dass eine längere Serie von Turnierkämpfen genug Gelegenheit biete, uns die Gefolgschaft der Ritter und Adligen im Reich zu sichern.« Pedro kann es kaum glauben. »Aber nur mutige Bewährung im Kampf ist eine Voraussetzung, um diese Achtung zu erringen. Warum sollen wir nicht wie seinerzeit der König Ansehen und Ruhm erwerben können?« Duarte antwortet: »Enrique hat recht: wir müssen Frieden halten, Portugal kann keinen Krieg vom Zaun brechen. Wenn wir vor dreissig Jahren auch siegreich waren, so war der Blutzoll doch sehr hoch für unser kleines Land.« Im August 1385 war Portugal plötzlich von Kastilien überfallen worden. Die portugiesische Armee – an Zahl weit unterlegen – hatte aber durch eine kleine englische Hilfstruppe Unterstützung und errang einen sensationellen Sieg. Die portugiesisch-englische Freundschaft wurde im Jahr danach durch die Vermählung König João I. von Portugal mit Philippa, der Tochter des englischen Königs Johann des Schmächtigen, weiter vertieft. Aus dieser königlichen Verbindung gingen die drei Prinzen hervor; sie werden ein neues Zeitalter einleiten. Als Jungen wurden die Brüder von ihrer frommen und gebildeten Mutter in Religion, Latein und Allgemeinbildung unterwiesen, so wie sie sich jetzt des erst zehnjährigen jüngsten Sohnes Fernão annimmt. Der Vater lehrte sie das Kriegshandwerk und die Regeln des Rittertums. Nun sind die drei älteren erwachsen, Duarte ist 26 Jahre alt, sein Bruder Pedro 23 und Enrique zählt 19 Jahre. »Kein Krieg, kein Sieg«, sagt Pedro resignierend. Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 59 »Nicht gegen Kastilien«, unterstützt Enrique den Kronprinz, »denn es sind Christenmenschen wie wir.« Schritte nähern sich, kommen näher und die jungen Männer sehen den Tesorero Pero Gonçalvo, die lederne Dokumentenmappe unter dem Arm, vorbei eilen. Duarte ruft ihm zu: »Dom Pero, auf ein Wort!« Der kleine, spitznasige Mann mit mächtigem Schnauzbart wieselt herein. »Ah, Dom Duarte – und die Senhores Ifantes!« Gonçalvo deutet eine Verbeugung an. Er ist als Schatzmeister des Königs ein befähigter Mann und hat entsprechenden Einfluss. »Habt Ihr gehört, Dom Pero, Ihr müsst Geld für Turniere auftreiben.« »Ja, Euer Gnaden, ich komme gerade von Seiner Majestät. Ich werde einen Ausweg finden müssen.« »Das wird teuer«, gibt Pedro zu bedenken. »Stellt Euch vor: ein Jahr lang, zwölf Monate, werden die Ritter des Landes hier ein- und ausgehen. Natürlich mit mehr oder weniger großem Anhang – je nach Rang und Würde der Herren! Das braucht Quartiere, Kost und Logis für Herr und Knecht – und natürlich für die kostbaren Rösser! Wir werden große Bankette geben und Preise für die Sieger bereitstellen müssen. Und erst die Damen! Die Ansprüche der Holden und Edlen werdet Ihr Euch vorstellen können. Oder etwa nicht?« Der Minister nickt. »Die Senhores Ifantes sind gut beraten, meine bescheidene Meinung anzuhören. Denn auch wenn ein Mann glaubt, die Nachricht zu vernehmen, so hört er doch nur das, was er hören will. Aber jeder Mensch sieht dasselbe mit anderen Augen an: denn unsere früheren Erfahrungen beeinflussen die Gefühle, wenn Ohren hören und Augen sehen! Deshalb ist es besser, stets mehrere Meinungen zu hören.« »Und? Was sagt Ihr zu den Absichten unseres gnädigen Königs?« »Ihr Herren«, antwortet Gonçalvo schlau, »sie werden uns zwingen, die Steuern im Lande strenger einzutreiben und die Abgaben zu überprüfen. Sicher werden die Ritter und Grafen auch gerne bereit sein, eine angemessene Summe für die Ehre zu bezahlen, gegen die Söhne unserer hohen Majestät im edlen Wettkampf anzutreten.« Und fügt sogleich hinzu: »Ein Krieg was würde wohl der kosten?« Der sparsame Herr erschaudert bei dem Gedanken, Geld für einen Krieg hingeben zu müssen, nur damit die romantischen Ambitionen der drei königlichen Jünglinge erfüllt werden. »Ihr habt recht, Dom Pero«, sagt Enrique. »Ein Krieg könnte nur gegen Kastilien gerichtet sein, aber die Spanier – ich sagte es schon – sind Christen wie wir. Warum sollen wir sie überfallen, da wir Frieden haben?« In den Augen Dom Peros blitzt es listig auf, als er erwidert: »Da mir Euer Verlangen und das Eurer Brüder seit einiger Zeit bekannt ist, habe ich über eine Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 60 ganz andere militärische Aktion nachgedacht. Mein Plan würde nicht nur die Wünsche der verehrten Prinzen befriedigen, sondern Portugal im Fall des Gelingens auch finanzielle Vorteile bringen.« »Was?« Duarte springt auf, Pedro und Enrique schauen gespannt auf den Minister. »Redet!« »Meine Spitzel haben mir vom Reichtum Cëutas ausführlich berichtet; sicher ist den erlauchten Prinzen der Hafen im nördlichen Afrika bekannt. Dort leben keine Christen, sondern Mauren! Und Mauren sind die Feinde der Christenheit; für den Glauben zu kämpfen ist eine reine Tat!« Niemand kann wissen, dass dieser Gedanke Portugal auf einen bedeutungsvollen Weg der Erforschungen und Entdeckungen bringen wird. Die vier setzen sich um den schweren Eichentisch und Pero Gonçalvo entwickelt vor den aufmerksam Lauschenden seinen Plan. Die Prinzen sind begeistert. 2 »Cëuta überfallen?«, fragt der König ungläubig, als sie ihm bei Gelegenheit die Sache vortragen. Er schaut Gonçalvo entgeistert an, wendet den Blick dann gegen seine Söhne. »Cëuta? Seid ihr verrückt geworden? Wie soll das kleine Portugal die Kraft aufbringen, diese mächtige Maurenstadt auf der afrikanischen Seite des Mittelmeeres zu überwinden?« Der Schatzmeister hat den Einwand erwartet. »Das ist leichter vollbracht, als man gemeiniglich annimmt. Von einen Matrosen, der als Galeerensklave in maurischer Gefangenschaft war und von einem unserer Kanonenboote mit anderen Gefangenen befreit werden konnte, erfuhr ich nähere Einzelheiten über die Befestigungen, die Bewaffnung und die Stärke der maurischen Garnison. Daraus ist zu ersehen, dass bei geschicktem Vorgehen die Stadt von See her leicht anzugreifen ist.« Beflissen entrollt er ein Pergament. »Wenn Eure Majestät dieses sorgfältig zusammengetragene Dokument prüfen, werden Eure Herrlichkeit zum gleichen Schluß kommen.« João beugt sich über den Plan. Es ist alles darauf verzeichnet, was ein Angreifer wissen müßte: die Zufahrt vom Meer her, die Wassertiefen, Klippen und Untiefen, die Mauerhöhen der Befestigungen und ihre Bewaffnung, die Lage der Hafenmolen und die Unterkünfte der Soldaten, Waffendepots, Lagerhallen, Plätze und Straßen: alles ist sorgfältig verzeichnet. Der König studiert das Dokument; er muß zugeben, dass der Verfasser gute Arbeit geleistet hat. Aber ist es echt? »Und wenn dieser Plan eine Fälschung ist?» fragt er, »ein Falsifikat, um uns in eine Falle zu locken?« Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 61 »Er ist keine Fälschung, Majestät, ich habe das kontrolliert.« »Trotzdem muß es überprüft werden.« Bevor Gonçalvo antworten kann, mischt Duarte sich ein. »Ihr habt recht, hoher Vater, natürlich müssen wir uns vergewissern. Wir werden einen Spion schicken; als Maure verkleidet, wird er auf leichte Weise in die Stadt gelangen. Inzwischen beginnen wir mit unseren Vorbereitungen.« »Und woher sollen wir die Schiffe nehmen? Unsere Flotte ist zu klein und schlecht bewaffnet. Außerdem fahren unsere wackeren Landsleute nur zum Fischen auf das Meer und kaum weiter, als sie den Rauch ihrer Hütten sehen.« »Wir werden Schiffe bauen!« Es ist Enrique, der das sagt. Er steht mit dem Rücken zum Vater am hohen Fenster und schaut auf den Silberstreif des Meeres am Horizont. In seiner Stimme ist etwas, das aufhorchen läßt; es klingt wie eine Prophezeiung. Als der König sich verwundert seinem jüngsten Sohn zuwendet, dreht der sich wieder den anderen zu und sagt: »Ja, wir werden Schiffe bauen! Portugals Männer sollen über die ungebrochene Linie der Kimm hinausfahren. Und Cëuta könnte ihr erstes Ziel sein.« Doch der König verweigert seine Zustimmung. »Die Invasionen der Mohammedaner gegen die Christen Europas nahmen von Cëuta ihren Ausgang«, begründet er. »Daher ist es kaum zu glauben, dass diese islamische Festung so verwundbar sein sollte, wie dem Schatzmeister berichtet wurde.« König João spricht über die großen Gefahren und Schwierigkeiten des vorgeschlagenen Expeditionszuges und nötigt seine Söhne zu weiteren Überlegungen. Er ist der König, er muß auch die politischen Folgen erwägen. »Gelingt es Portugal, Cëuta zu erobern«, argumentiert er, »wird das maurische Königtum Granada zur Beute der militärischen Macht Kastilien werden, denn Granada ist von der Hilfe aus Cëuta abhängig. Wenn Granada aber einmal aus dem Wege geschafft ist, wird Kastilien sich wieder seinem alten Feind Portugal zuwenden.« »Ein Sieg über Cëuta wird Portugal glorreich dastehen lassen. Kastilien wird sich dreimal überlegen müssen, ob es uns erneut zu seinem Feind machen will«, antwortet der Kronprinz. Pedro sagt: »Mit Hilfe unserer englischen Verwandten werden wir Ferdinand von Antequera abermals aufs Haupt schlagen!« Und Enrique bringt eine weitere Begründung vor: »Das islamische Cëuta einzunehmen, ist eine Dienstleistung für Gott! Diesen Dienst nicht zu verrichten, aus Furcht, er könnte Kastilien helfen, wäre eine Sünde wider Gott.« Der König lehnt sich zurück, er merkt, wie sein Widerstand schwindet; gegen Enrique anzukommen, ist nicht einfach. »Die Verantwortung liegt beim König«, sagt er fest. »Schnell hat sich die Jugend entschieden, aber sieht sie auch die Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 62 möglichen Tragweiten voraus? Der König von Kastilien und Aragonien wird sich eine gute Gelegenheit wohl nicht entgehen lassen.« »Warum, hoher Vater, seid Ihr davon so überzeugt?« Enrique schaut dem Vater in die Augen. »Mit dem Fall Cëutas helfen wir ihm, Granada los zu werden. Und selbst wenn Ferdinand unser größter Feind wäre«, schloß er, »kann er dies nur aus Zufall sein, denn er ist genau wie wir ein Christ. Die Mohammedaner aber sind von Natur aus unsere Feinde«. Während über die Vorteile Portugals nach einer erfolgreichen Belagerung Cëutas nachgedacht wird, muß der Schatzmeister auch die Kosten der ein Jahr dauernden Feste und Turniere überrechnen. Die Expedition gegen den Hafen Cëuta schlägt da besser zu Buche. Daher bestärkt der königliche Bankhalter die jungen Leute ob ihrer Ambitionen und rät ihnen, ihren Vater für einen Krieg gegen Cëuta zu überreden. Die haben sich in jugendlicher Begeisterung schon festgelegt, und Prinz Enrique, der Sprecher der drei Brüder, überwand schließlich auch die Bedenken seines Vaters. Die erste Stufe des Unternehmens, das Verteidigungssystem von Cëuta auszuspionieren, wird in Angriff genommen. Zwei Galeeren segeln bald von Oporto ab, nehmen Kurs ins Mittelmeer und gehen für eine Zwischenlandung in Messina vor Anker, um – wie die Kapitäne den sizilianischen Behörden bekanntgeben – Trinkwasser und Lebensmittel an Bord zu nehmen. Die Frage nach dem Wohin beantworten sie mit Civitavecchia; sie hätten den päpstlichen Legaten dorhin zu bringen, der über die Via Appia mit einer Botschaft des Königs von Portugal nach Rom weiterreisen werde. Messina ist ein Ameisenhaufen; Schiffe aller Herren Länder laufen ein und aus, sie kommen aus Neapel und Genua, aus Massilia, Alicante, Valencia, Barcelona, Malaga und Syrakus, von Malta und Rhodos, von Venedig, Alexandria, Tanger und Cëuta, selbst Bretonen, Friesen und Briten wurden schon gesichtet. Man hört alle möglichen Sprachen und Idiome, sieht verwegene und wild dreinschauende Matrosen, es wimmelt von den verschiedensten Trachten, Bekleidungen und Uniformen. Niemand achtet auf den maurischen Kaufmann, der anderntags mit einem arabischen Schiff nach Tanger abreist, wo er sich einer Kamelkarawane nach Cëuta anschließt. Vier Wochen später wirft eine kleine nach Westen segelnde Barca »zur Erholung der Mannschaft« in unmittelbarer Nähe von Cëuta Anker. In der Nacht nähert sich ein schwimmender Schatten dem Schiff. Die Wache ruft ihn leise an, das Losungswort stimmt, schon klettert der »maurische« Kaufmann halbnackt an Bord. Am Gurt ist eine aus geöltem Ochsenleder gefertigte Tasche befestigt, darin der Plan, was er feststellen konnte. In Lissabon wird nach der erfolgreicher Erkundung ein Modell der Verteidigungsanlagen gebaut. Nun ist König João überzeugt und läßt die Expedition vorbereiten. Die drei Prinzen übernehmen dabei wichtige Aufgaben. Enrique muß den Bau und die Ausstattung der Schiffe und die Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 63 Zusammenstellung der Mannschaften in den nördlichen Landesteilen organisieren. Sein Hauptquartier ist Oporto. Pedro übernimmt eine ähnliche Aufgabe im Süden mit dem Hauptquartier in Lissabon. Duarte wird Leiter der Finanzen des Landes und ist für die Justizverwaltung verantwortlich. Auf diese Weise kann sich der König auf die diplomatischen Probleme konzentrieren, die sich notwendigerweise ergeben werden. Außerdem organisiert er die Artillerie und alle anderen Waffen für seine Schiffe. Die folgenden Monate spricht alles nur über Schiffe und Munition, besonders in Oporto und Lissabon. Hier gibt es kaum eine Seele, die nicht irgendwie an den Vorbereitungen beteiligt ist. Überall in Portugals Häfen entstehen neue Schiffe, in den Werften wird gesägt und gehämmert, Geruch von Salz, Teer, konserviertem Holz und frischer Farbe liegt über dem emsigen Tun. Wallend steigt Dampf aus den Schwartenboxen, in denen Holz geweicht und gebogen wird, Kalfaterer dichten Fugen in Schiffsrümpfen, etwas abseits, auf den Reeperbahnen, entstehen Taue alle Art und Länge, Küfer liefern Fässer in vielen Größen, Rinder und Schweine werden geschlachtet und eingesalzen, Brot wird in Unmengen gebacken, an die Fischer ergehen außerordentliche Aufträge zum Fangen und Trocknen von Fischen, und viele Hilfskräfte sind mit dem Füllen der Geschosskörbe beschäftigt. Nur die Heranschaffung der Waffen – Arkebusen, Mörser und Kanonen, Spieße, Armbrüste und Hellebarden – geschieht meist nachts unter größter Geheimhaltung. Das Geschwätz über den Aufbau einer Streitmacht und die Anlage von Vorräten sind im Volk kaum zu verheimlichen. Aber mit Ausnahme eines inneren Kreises von Vertrauenspersonen am königlichen Hof weiß niemand ganz genau, was es mit dieser große Flotte auf sich hat. Schnell dringen auch entsprechende Gerüchte nach Kastilien und Granada. Man schickt diplomatische Missionen, die dem König von Portugal die Befürchtungen ihrer Herrscher mitteilen. Aber König João beruhigt sie; Portugal plane keine Angriffe in Iberien, sondern träfe nur Vorbereitungen, um seine Interessen zu schützen. Wie das zu deuten ist, macht er auf andere Weise klar: er schickt dem Herzog von Holland ein Ultimatum und sorgt dafür, dass dieses »Geheimnis« überall publik wird. Sein Gesandter aber gibt dem Herzog zu verstehen, dass das Ultimatum nur zur Täuschung des wirklichen Feindes dienen sollte. 3 Die Bewohner von Cëuta haben keine Ahnung von dem, was ihnen bevorsteht. Dann aber sind sie plötzlich von mehr als 200 portugiesischen Schiffen eingeschlossen, die eines Tages vor der Küste der kleinen Halbinsel erscheinen. Die Soldaten der portugiesische Armada Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 64 stürmen die Festung Cëuta am 24. August 1415 in einer sehr einseitigen Schlacht. Gut bewaffnet und gerüstet – wieder unterstützt durch eine Gruppe englischer Bogenschützen – überwältigen die Portugiesen die Moslems in einem kurzen Kampf. Binnen eines Tages ist die Heidenfestung eingenommen und schon am Nachmittag beginnt die Armee mit der Plünderung der Stadt. Den Prinzen hat der Fall der Stadt den ersehnten Ruhm verschafft. Wie sie es gewünscht hatten, wurden sie auf dem Schlachtfeld geprüft und für wert befunden. Mit den Schwertern ihrer Mutter erhielten sie anderntags den Ritterschlag. Acht Portugiesen waren zu Tode gekommen, während in den Straßen der Stadt die Leichen der Moslems zuhauf lagen. In Cëuta erhält Prinz Enrique einen ersten Eindruck, was in Afrika verborgen liegt. Denn die Beute besteht aus der Fracht von Karawanen, die durch die Sahara im Süden und quer durch den afrikanischen Kontinent aus Arabien, Persien und Indien in den Westen gelangten. Außer Lebensmitteln – Weizen, Reis und Salz – finden die Portugiesen riesige Vorräte an Pfeffer, Zimt, Nelken, Ingwer und anderen Gewürzen. In den Häusern von Cëuta hängen reiche Tapisserien und liegen orientalische Teppiche. Und das alles zusätzlich zur üblichen Beute an Gold, Silber und Juwelen. Dann lassen die Portugiesen eine kleine Garnison zurück, die übrigen fahren wieder nach Hause. Prinz Enrique bleibt jedoch in Cëuta, denn die Moslems wollen ihre Stadt zurückerobern, und Enrique übernimmt den Oberbefehl über die Verteidigung. Hier verbringt er mehrere Monate damit, alles über den afrikanischen Karawanenhandel zu erfahren. Vor dem portugiesischen Überfall herrschte in Cëuta blühendes Treiben. Vierundzwanzigtausend Läden handelten mit Gold, Silber, Messing, Seide und Gewürzen, alles wurde durch Karawanen herbeigeschafft. Nun, da Cëuta eine »christlichen« Stadt ist, kommen keine Karawanen mehr. Die Portugiesen sitzen in einer Stadt ohne Profite. Wollen sie den Handelsstrom wieder beleben, müssen sie sich mit den Heidenstämmen der Umgebung einigen oder das Hinterland ebenfalls erobern. Prinz Enrique sammelt Informationen über die Länder, aus denen die Schätze nach Cëuta gekommen waren. Er hört Erzählungen über einen merkwürdigen Handel, den »stummen Handel« von Völkern, die die Sprache ihrer Handelspartner nicht beherrschen. Die Moslemkarawanen, die von Marokko aus über den Atlas nach Süden ziehen, gelangen nach zwanzig Tagen an die Ufer eines großen Flusses, der Senegal heißt. Dort legen die marokkanischen Händler getrennte Häufchen von Salz, Korallenkugeln und billigen Handelswaren aus. Dann ziehen sie sich außer Sichtweite zurück. Angehörige lokaler Stämme, die dort im Tagebau nach Gold schürfen, kommen ans Flußufer und legen neben jeden Haufen marokkanischer Waren ein Häufchen Gold. Dann ziehen sie sich außer Sichtweite zurück und überlassen es den marokkanischen Händlern, entweder das angebotene Gold zu nehmen, oder ihren Warenhaufen so zu verkleinern, dass er dem angebotenen Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 65 Preis in Gold entspricht. Wiederum ziehen sich die marokkanischen Händler zurück und das Verfahren geht weiter. Durch dieses merkwürdige Handelssystem kommen die Marokkaner zu ihrem Gold. Berichte solcherart beflügeln die Hoffnungen Prinz Enriques. Seit dem letzten Kreuzzug der Christenheit zur Befreiung der heiligen Stätten Jerusalems von islamischer Herrschaft sind 125 Jahre vergangen, aber in Heinrich lebt noch immer der Geist der Kreuzfahrer. Er sammelt eine portugiesische Flotte und verkündet seine Absicht, den Heiden die Djebel al-Tarik, Berg des Tarik, genannte Felsenfestung auf der Südspitze der Iberischen Halbinsel zu entreißen. Unterwegs holt ihn die Nachricht ein, dass König João diese Expedition verbietet, und Prinz Enrique kehrt verbittert nach Hause zurück. Aber anstatt an den Hof in Lissabon zu gehen, zieht er sich weit südwärts durch die Algarve auf den südwestlichsten Zipfel Portugals zurück, zum Kap São Vincente, der letzten Landspitze Europas. Das Kap erlangte schon im Altertum mystische Bedeutung; als Grenze zur Unendlichkeit des Ozeans haben bereits die Römer diesen Landvorsprung Promentorium Sacrum, Heiliges Vorgebirge, genannt. Spätere Völker, Sueben oder Westgoten, haben daraus Sagrés gemacht, noch heute trägt das Städtchen am Fuß von Kap São Vincente diesen Namen. Frei schweift der Blick von der Höhe des Kaps auf den bewegten Atlantik, tief unten läuft die stetig rauschende Brandung aus, nagt an den Klippen, und häufige Stürme tosen über die Felsen. Hier baut Enrique eine Burg – die »Villa Tercanabal« –, um in Ruhe und mit einigen Gleichgesinnten den Plan für ein zukünftiges portugiesisches Weltreich auszuarbeiten. Er baut eine Sternwarte und gründet seine »Nautische Akademie«, eine Seefahrerschule, darum herum eine kleine Stadt. Unten ins Sagrés, am Fuße des Kaps, entsteht eine Werft, und Enrique schickt heimlich Werber in alle Seefahrernationen, um die besten Schiffsbauer anzuwerben. Er findet sie am Oberlauf des Tejo und am Duoro, sie kommen aber auch aus Flandern, der Bretagne, von der Loire und der Elbe. Zuerst stellt der Prinz alle Einzelinformationen zusammen, die er inzwischen gesammelt hat. Wie könnten sie am besten seinem Vorhaben dienen, einen vernichtenden Schlag gegen das islamische Reich zu führen? Sein Engagement beim Aufbau der Kriegsflotte brachte ihm Kontakt mit vielen erfahrenen Seeleuten und er konnte dabei festgestellen, dass ein gut ausgerüstetes Schiff länger Zeit auf See bleiben konnte, als dies bisher üblich war. Die Einnahme von Cëuta hat ihm darüber hinaus gezeigt, wie wirkungsvoll eine Seestreitmacht gegen die Mohammedaner sein kann. Er erfuhr, wie weit sich das islamische Reich an der Westküste Afrikas nach Süden hin ausdehnt, weiter, als jemals bisher irgendein Europäer gelangt ist. Handelsleute, die regelmäßig die Karawanenrouten in den Süden und Westen bis zur Küste Guineas bereisten, haben ihm in Cëuta wertvolle geographische Informationen über Afrika vermittelt. Enrique hatte gesehen, in welch verschwenderischer Fülle den Mohammedanern die kostbarsten Güter zur Verfügung stehen. Seide, Gewürze, exotische Felle, Gold, Perlen und Schildpatt, Porzellan, Messinggefäße, kostbare Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 66 Hölzer und vielerlei Edelsteine strömen aus der Tiefe des Ostens auf ihre Märkte. Die christlichen Länder aber bekommen sie nur zu Bedingungen, die die Mohammedaner diktieren. Einzig die Stadtstaaten Venedig und Genua ebenfalls christlich haben eine pragmatische Haltung im Umgang mit den Ungläubigen entwickelt und profitieren von dieser Situation. Weil sie mit den Mohammedanern eine Preisbasis finden konnten, haben ihnen diese ein Handelsmonopol eingeräumt. Die Waren des Orients erreichen die Mittelmeerküste im Libanon und in Ägypten über den Indischen Ozean, das Rote Meer und Karawanenrouten, wo sie von arabischen Kaufleuten an die Händler Venedigs und Genuas übergeben werden. Für den Weiterverkauf legen nun Christen die Preise fest! Die westlichen Königreiche sind von den vielen Kämpfen gegen den Islam müde geworden. Nach wiederholten und immer vergeblichen Versuchen christlicher Heere, das islamische Monopol zu brechen, stehen die Handelsbarrieren fester denn je. Europa muß sich damit abfinden, den Luxus aus Indien und noch weiter östlich liegenden unbekannten Ländern über Genua und Venedig zu beziehen. Die einzige, kaum zu denken gewagte Alternative besteht darin, einen anderen Handelsweg zum Osten zu suchen, einen, der über die Weltmeere führt und der die islamischen Machtsphären umgeht. Aber die Suche nach einem solchen Weg erfordert eine weit ausholende Reise über den Atlantischen Ozean nach Süden, um festzustellen, ob Afrika mit den Eismassen des Südpols zusammengewachsen ist oder irgendwo den Weg in den Indischen Ozean freigibt. Dazu braucht man Schiffe, die diese unvorstellbar langen Reisen überstehen und genügend Raum für Menschen und Vorräte bieten. Gelänge das große Vorhaben, wäre es der größte Triumph, den die Christenheit über die Mohammedaner erringen könnte! Kurz darauf wird Prinz Heinrich vom Christusorden, der sich der Verteidigung der Christenheit gegen die Moslems verschrieben hatte, zu seinem Großmeister gewählt. Doch der Prinz ist sich bewußt, dass die Christenheit das Interesse an Kreuzzügen verloren hat. Er weiß auch von der Unmöglichkeit, die Portugiesen zu einem Kampf gegen das islamische Reich aufzustacheln. Das kleine Königreich selbst konnte nicht hoffen, mehr zu tun, als es bisher gegen die Mohammedaner im Mittelmeergebiet getan hatte. Wenn aber portugiesische Schiffe lange genug auf See blieben, um diese Küsten zu erforschen, könnte Enrique über die Verteidigungsstärke des Islams wertvolle Hinweise erhalten. Ist sie an den entfernten Grenzen schwach, wie Enrique vermutete, dann ließe sich dort das Imperium erfolgreich angreifen. Ein solches Wagnis braucht aber Verbündete. Konnte vielleicht der sagenhafte Priester Johannes ein Bundesgenosse sein, dessen Reich man seit dem Mittelalter, genauer seit drei- oder vierhundert Jahren, im Inneren Afrikas vermutet? Als sich das Reich der Moslems zum ersten Male ausdehnte, blieben innerhalb seiner Grenzen einige Inseln des Christentums erhalten. Über Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 67 Jahrhunderte hinweg konnte sich der Glaube – oder war es nur eine Legende? – an ein mächtiges christliches Königreich des Priesterkönigs lebendig erhalten. Jetzt dringen gar neue Nachrichten zu Enrique: der Priesterkönig sei ein Abkömmling der Drei Weisen und regiere sein ererbtes Land mit Weisheit und Gerechtigkeit. Sein Reich liege im schwarzen Äthiopien oder im Land, wo der Heilige Thomas begraben liegt, irgendwo im märchenhaften Indien, und er habe bereits ein starkes Moslemheer geschlagen. Das wäre der ideale Alliierte, die entscheidende neue Kraft, mit der zusammen die Christen das Moslemreich eindämmen könnten. Der Glaube an diese phantastische Möglichkeit ist für Prinz Enrique ein weiterer Anreiz, einen Weg nach Süden zu suchen. Am Beginn seiner großen Entdeckungsfahrten will Prinz Enrique den Heiligen Krieg gegen den Islam aus einer neuen und noch nicht erprobten Richtung aufnehmen, um neue Handelsmöglichkeiten für Portugal zu suchen, denn Enrique glaubt – wie Gomes Eanes de Azurara, der Chronist, berichtet – »dass, falls in den südlichen Gebieten Häfen vorhanden sind, viele Handelswaren von ihnen zu niedrigen Preisen zurückgebracht werden können, weil es dort keine anderen Menschen gibt, die mit ihnen konkurrieren.«. Er wird das Unbekannte erforschen, um mehr über die Welt in Erfahrung zu bringen. Da erreicht eine Sensation die gebildete Welt, die auch Enrique wahrlich elekrisiert. Durch Zufall hatte ein Mönch auf dem Basar zu Konstantinopel die Schriften des Claudius Ptolemäus wieder entdeckt, die seit der Eroberung Alexandrias durch die Mauren vor mehr als 700 Jahren als verschollen galten. Man hatte angenommen, dass sie, wie viele andere unersetzliche Werke, dem Brand der berühmten Bibliothek Alexandrias zum Opfer gefallen waren. Ptolemäus war Mathematiker und Geograph, er lebte einhundert Jahre nach Christi Geburt und hatte durch lange Beobachtung und viele Berechnungen bewiesen, dass die Erde den Mittelpunkt des Weltalls bildet, umkreist von den Planeten und Fixsternen. Mit seinem geozentrischen Weltbild, lateinisch Almagest genannt, legte er die erste systematische Ausarbeitung der Astronomie vor. Die zweite große Schrift des Ptolemäus vermittelt die mathematischen Kenntnisse für die Längen- und Breitenbestimmung von Orten. Er hatte auch eine berühmte Weltkarte gezeichnet, auf ihr waren Europa, Asien und das tief im Süden mit der Antarktis zusammengewachsene Afrika zu sehen. Und genau dieser Punkt ist es, der Prinz Heinrich immer wieder zu denken gibt. Wie weit können Schiffe nach Süden fahren? Ist Afrika mit dem Südpol verbunden oder weichen seine Küsten vorher nach Osten, um einen Seeweg zum Priester Johannes, nach Äthiopien oder Indien freizugeben? Er wird Nachschau halten. Dann werden seine Schiffe auch auf die Quellen des Reichtums stoßen, auf denen die legendären »Schätze des Orients« gründen. Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 68 4 Prinz Heinrich vertieft er sich ins Studium der Mathematik, Astronomie und Geographie. Systematisch entwickelt er eine neue Wissenschaft: die Navigation. Er muß annehmen, dass seine Kapitäne auf Ihren Fahrten das Land aus den Augen verlieren werden. Um nicht durch die starken auflandigen Winde auf den Strand getrieben zu werden, müssen die Seefahrer außerhalb der Sichtweite des Landes fahren. Wie sollen sie sich orientieren, wie ihren Kurs finden und wie wieder nach Portugal zurückkehren? Sein Arbeitszimmer ist ein großer Raum mit zwei doppelflügeligen Türen und einer Reihe hoher Fenster, vor denen sein mit Pergamenten und Papieren bedeckter Schreibtisch steht. Von der nicht sehr hochgewölbten Decke hängen einfache Kronleuchter, an den Wänden, statt Gobelins, Waffen oder Gemälden, sind Karten zu sehen, Portolanos der bekannten Seegebiete mit ihren charakteristischen Windrosen und dem Spinnenetz der Kurslinien, aber auch Risse und Baupläne von Schiffen und Abbildungen des Sternenhimmels. Ein kleiner Tisch im Hintergrund ist bedeckt mit Quadranten, einem Astrolabium aus Messing und Sanduhren verschiedener Grösse. Ruhelos überlegend läuft der Prinz auf und ab. Irrtum und Erkenntnis gehen Hand in Hand! Das hat ihn schon Cëuta gelehrt. Nach Ptolemäus ist die Erde kugelförmig. Stimmt das? Enrique betrachtet die Karte auf dem Tisch. Die Erde darauf ist kreisrund und flach: eine Scheibe. Der Osten liegt oben, dort findet sich auch der Garten Eden, das Paradies. Enrique weiß, dass es ein Garten mit vielen Obstbäumen ist, darin der Baum des Lebens. Dort ist es weder kalt noch heiß, nur ewiger Frühling, und es gibt eine Quelle, die den Garten bewässert. Seit dem Sündenfall ist der Zutritt den Menschen verboten; der Garten ist nun umhüllt von Flammen, einer Feuermauer, die bis zum Himmel reicht. Das Wichtigste findet sich im Mittelpunkt des Kreises: Jerusalem, das Zentrum der Welt! Darum verteilt sieht man drei Kontinente, Asien, Afrika und Europa, je ein Kontinent für Noahs Söhne Sem, Ham und Japhet! Der äußere Rand wird begrenzt vom Weltmeer, dort ist die Welt zuende, dahinter ist der Abgrund, das Chaos. Sieht so die Welt aus? Enrique hat Zweifel. Die Wahrheit benötigt völlig anderen Quellen. Will man den Lauf der Welt in diese oder jene Richtung umleiten, darf man dem, was als absolut wahr niedergeschrieben ist, nicht vertrauen. Er sammelt alle Informationen, denen er habhaft werden kann. Was er erfährt, bestärkt ihn in der Ansicht, dass die reale Welt anders beschaffen sein muß, als man es ihn in der Jugendzeit gelehrt hat. Da wird ihm eine Depesche von Duarte überbracht. In der Rolle findet er eine Seekarte des westlichen Mittelmeers, dazu ein Brief: »Lieber Bruder, den beigefügten Portolan haben wir auf einer maurischen Galeere gefunden, die unsere Schiffe kürzlich kaperten und in Besitz genommen haben. Ich habe ihn Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 69 mit Zustimmung des Königs, unseres gnädigen Vaters, zum Documento secreto erklärt, da er uns besonders informativ erscheint. Das Kleinod wurde in Mallorca vom Kartographen Jehuda Cresques, einem Experten für nautische Instrumente und Landkartenherstellung, gezeichnet und ich glaube, sein Schöpfer könnte Dir wegen seiner sorgfältigen Machart und Akkuratesse nützlich sein.« Wie Enrique den Portolan entrollt, findet er ein großes, buntes Blatt mit dem Abbild des Mittelmeeres, er liest die in Antiqua gezeichneten Namen der Länder und Städte, schaut auf die farbigen Windrosen, folgt mit den Augen dem Spinnenetz ihrer Linien und erkennt zugleich die einzigartige Meisterschaft eines Kundigen. Nichts ist hier zufällig oder schlampig eingetragen, wie er es so oft schon erlebt hat. Der akribische Glanz dieses Portolans, seine Wesenlosigkeit und Ferne, die von dieser gemalten Mediterranea ausgeht, behagt seinem ganz in Abstraktion und Entrückung eingesponnenen Denken; hier sieht man nichts vom Brandschein der Städte, von den Schutthalden der Kriege; das Papier der Landkarte ist sauber und glatt kein, Blutfleck, keine Asche haftet an ihm, alles ist Wissen und Intellekt. Lange betrachtet Enrique die Karte mit großem Interesse, dann lehnt er sich zurück, überfliegt noch einmal die Nachricht seines Bruders und bleibt mit den Augen am Namen des Kartographen hängen. Jehuda Cresques! – Jehuda Cresques! Das muß der Sohn des bekannten Abraham sein, der anno 1375 den berühmten Katalanischen Atlas für den König von Aragon gezeichnet hatte. Der Sohn – oder der Neffe? Egal, jedenfalls ein Mitglied der Familie, und er wird von seinem angesehenen Verwandten in die Kunst der Kartenmacherei eingeführt worden sein. Abraham Cresques war Jude, und Mallorca war damals noch ein Königreich. Der König kümmerte sich wenig um die Religion seiner Untertanen, solange sie der Krone treu ergeben waren und die Steuern pünktlich bezahlten. Deshalb siedelten sich auf der Insel viele jüdische und maurische Gelehrte und Händler an, die andernorts nicht willkommen waren. Über die südfranzösischen Provinzen Montpellier und Perpignan, die zum Besitz der mallorquinischen Könige gehörten, hatten die Balearen Anschluß an das europäische Festland und pflegten regen Warenaustausch bis nach Brüssel und Amsterdam hinauf; Mallorca war ein Zentrum der Seefahrt und des Handels. Aber nach der Schlacht von Llucmajor ist Mallorca an Aragon gefallen, und 1412 gelangte mit Ferdinand I. von Antequera das kastilische Haus Trastámara in Aragonien an die Macht. Heinrich weiß, dass Aragon neuerdings die Juden wieder verfolgt. Nun, im Frühjahr 1417, sendet er einen geschickten Boten zu Meister Jehuda nach Mallorca mit dem Angebot, in seine Dienste zu treten. Der Mann soll die Karten der afrikanischen Küste und der Atlantikinseln verbessern, weil jede Entdeckungsfahrt neue Informationen zurückbringen wird. Aber auch ein so versierter Kartograph wie dieser Meister Jehuda wird nur eine beschränkte Hilfe Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 70 für Enriques Lotsen sein, denn die wenigen zur Verfügung stehenden nautischen Instrumente sind primitiv, man kann die Position eines Schiffes nur schätzen und seinen Kurs unsicher bestimmen. Obwohl seit Jahrhunderten die Ausrichtung einer Magnetnadel nach Norden hin bekannt ist, berichten Schiffsführer immer wieder, dass sie häufig etliche Grade nach Osten oder Westen abweichen. So werden sich seine Lotsen auf die Kenntnis des Sternenhimmels verlassen müssen. 5 »Der Hebräer ist da, Euer Gnaden.« »Welcher Hebräer?« »Der Kartenmacher.« Prinz Enrique schaut auf. »Cresques? Der Mallorquiner?« Der Diener bestätigt: »Ja, Euer Gnaden, derselbe.« »Schicke ihn herein.« Der Diener hüstelt verlegen. »Er – Verzeihung, Euer Gnaden, ...« »Was ist mit ihm?« »Er riecht!« »Ich werde es überleben.« »Er riecht«, der Diener gibt sich einen Ruck, »nein, er stinkt. Außerdem ist er zerlumpt.« »Dann laß ihm ein Bad richten, kleide ihn und gib ihm zu essen. Aber dann will ich ihn sehen!« Der Diener verneigt sich und will sich entfernen. Da ruft Enrique ihm nach: »Und weise ihm eine angenehme Kammer. Er ist mir wichtig!« »Sehr wohl, Euer Gnaden.« Sichtlich irritiert schließt der Lakei die Tür hinter sich. Zwei Stunden später wird ihm der Jude wieder gemeldet und auf Enriques Befehl betritt ein kleiner rundlicher Mann mit kurzem weißem Bart das Arbeitszimmer. Er eilt auf Prinz Heinrich zu, sinkt vor ihm in die Knie und versucht, die entgegengestreckte Hand zu küssen. »Nein«, sagt der, »laßt das!« »Danke, Euer Gnaden!« »Dank? Wofür?« »Für die Zuflucht, die Ihr mir vor der Inquisition in Mallorca gewährt«, antwortet, noch immer am Boden kniend, der Jude. Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 71 »Steht auf, Jehuda Cresques. Ihr werdet noch Gelegenheit finden, mir zu danken – mit Eurem Wissen.« Cresques richtet sich auf. Enrique läßt sich in einen Sessel fallen und betrachtet seinen Gast. Man hatte ihm ein einfaches Gewand gegeben, aber die Haltung des kräftig gebauten Mannes und der offene Blick verraten einen wachen und kritischen Geist. »Wie alt seid Ihr?« »Zweiundvierzig Jahre, Euer Gnaden.« »Ich kenne den Namen Eures berühmten Vaters und den weit verbreiteten Ruhm seines Könnens als Kartograph. Ich gehe davon aus, dass er vieles aus der Fülle seines Wissens an den Sohn weitergegeben hat.« »Er war mein Lehrmeister, wurde aber – Gott allein weiß, was ihm erspart geblieben ist – schon vor elf Jahren zu seinen Vätern abberufen. Ich war damals erst einunddreißig Jahre alt und es wird mir wohl nicht gelingen, sein Wissen und seine Reife zu erringen.« »Wie alt wurde Meister Abraham?« Das Interesse des Prinzen ist mehr als höfliches Interesse. »Mein Vater durfte das hohe Alter von einundsiebzig Jahren erreichen. Er ist bis heute mein unerreichbares Vorbild.« »Und seine Hinterlassenschaft? Ich meine, er hat in seinem Leben doch viele Unterlagen, Aufzeichnungen weitgereister Händler und Kapitäne, wohl auch Skizzen und Pläne der Reisenden gesammelt. Was ist mit diesem Vermächnis?« »Ein Teil befindet sich in meinem Gepäck, ein anderer in meinem Kopf, Euer Gnaden.« »Nun, wir werden sehen, was Ihr von Eurem berühmten und verehrten Vater lernen konntet. Darum habe ich Euch rufen lassen.« Der Besucher verbeugt sich in Trauer und Dankbarkeit. »Ich danke Euch, Hoheit, dass Ihr mir Asyl gewährt, auch wenn ich es dem Ansehen meines Vaters verdanke.« »Ich habe von den neuerlichen Verfolgungen gehört, denen die Juden in Aragon ausgesetzt sind. Ich will nicht, dass Ferdinand von Antequera in seinem Wahn die geistige Elite Mallorcas ausrottet. Darum mache ich mir Eure Kunst dienlich. Wenn Ihr mir danken wollt, dann durch Loyalität.« Der Jude nickt kaum merklich. »Ich werde es nicht vergessen, Eure Hoheit. Doch wenn ich Euch meinen ›neuen‹ Namen nennen darf ...« Enrique horcht auf. Cresques hat das Attribut »neu« merkwürdig betont. Er versteht sofort. »Ihr seid getauft, ein Converso?« »Ja, Euere Hoheit, und ich heiße jetzt Jacôme.« Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 72 Der Prinz sieht den Besucher nachdenklich an. »Jacôme. So, so!« Und nach einer Weile: »Gut, ich werde Euch Jacôme nennen.« Und er denkt: Vielleicht ist das gut so, es muß ja nicht jeder wissen, dass Juden auf Kap São Vicente leben! Cresques hat sich inzwischen verstohlen im Raum umgesehen. Er macht eine Handbewegung zu den überall herumliegenden nautischen Gegenständen und sagt: »Portolanos, Schiffsbaupläne, Astrolabien: es geht um Seefahrt?« »Richtig.« Enrique deutet auf einen Stuhl. »Nehmt Platz, Jacôme.« Er wartet, bis dieser sich gesetzt hat, dann fährt er fort: »Um meinen Kapitänen das praktische, aber fundierte Rüstzeug der nautischen Wissenschaften zu geben, bin ich seit einiger Zeit bemüht, eine Bibliothek zu gründen, in der alle wichtigen Werke versammelt sind, die der Seefahrt und der Erforschung der Erde dienen. In aller Welt sammeln meine Agenten Bücher und Handschriften, es sind schon beachtliche Schätze zusammengetragen worden. Was wißt Ihr von der Steuermannskunst?« Cresques läßt sich willig examinieren. »Steuermannskunst beantwortet die Fragen, welchen Weg über See man einzuschlagen hat und auf welchem Ort auf See man sich befindet. Sie umfaßt auch den Bau und die Ausrüstung des Schiffes und die eigentliche Kunst des Seemanns, sein Schiff zu handhaben.« »Richtig! Das Mittelmeer befuhren schon die Kreter, Griechen und die Phönizier, letztere segelten angeblich auch durch die Enge des Herkules. Aber über ihr Ziel weiß ich nichts, und darum mag das nur ein Gerücht sein. Zur Seefahrt übers große Westmeer haben wir kaum verläßliche Quellen. Nicht umsonst nennt man ihn den Oceano Tenebroso, das Meer der Finsternis.« »Die Phönizier wurden nicht nur als kluge Handelsleute und geschickte Gewerbetreibende gepriesen, sie waren auch hervorragende Seefahrer und lebten ursprünglich im Lande Kanaan, ihre Stadt war Sidon, und sie soll vor mehr als 4400 Jahren gegründet worden sein. Der schmale Küstenraum bot wenig Raum zu Ackerbau und Viehzucht, aber das Gebirge des Libanon mit seinen Zedern lieferte in unmittelbarer Nähe das trefflichste Holz zum Schiffsbau. Das Volk hatte einen regen Geist; es ersann die Buchstaben- und Ziffernschrift, fertigte Schmuck aus Gold und Silber und brachte die Weberei und Färberei zu so hoher Blüte, dass die Griechen das Land nach den schönen Gewändern, die sie von dort bezogen, Phönizien, das heißt Purpurland nannten. Aber sie waren auch als verschlagene Seeräuber verrufen.« »Woher wißt Ihr das?« »Die Bevölkerung Sidons war so rasch gewachsen, dass man schon 240 Jahre später die Tochterstadt Tyrus gegründet hatte. Von der Üppigkeit und Pracht, die in ihr herrschte, lesen wir in der großartigen Schilderung des 27. Kapitels des Propheten Hesekiel. Die Schiffe durchfuhren das ganze mediterrane Meer bis über die äußerste Grenze im Westen, und nach phönizischen Urkunden wurde vor 2500 Jahren die Stadt Cadiz gegründet. Von hier aus knüpften sie Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 73 Handelsbeziehungen nach Norden. Sie begründeten einen einträglichen Zinnhandel mit den Fundorten in Britannien und sollen selbst bis zu den Bernsteinküsten an der Ostsee vorgedrungen sein.« Der Prinz hat mit wachsendem Interesse zugehört. Er hat einen Geographen erwartet, aber hier offenbart sich ein Mann, aus dem das reiche Wissen eines alten Volkes spricht. »Also das waren die Ziele der Phönizier!«, antwortet er. »Aber das war auch nur Küstenseefahrt.« »Sie stießen bald in ganz andere Gegenden vor! Vor 2400 Jahren schloß König Hiram von Tyrus einen Vertrag mit König Salomo, um für den Tempelbau Gold und Silber und edle Bauhölzer aus den Küstenländern des Indischen Ozeans zu holen. Die Schiffe, welche durch das Rote Meer fuhren, hießen Orphirfahrer, das heißt Südfahrer. Und vor 2000 Jahren schickte König Necho von Ägypten phönizische Schiffe aus, um vom Arabischen Meer aus eine Fahrt nach Süden um Afrika herum zu unternehmen, die – wie Herodot berichtet – drei Jahre später von Westen her durch die Säulen des Herkules zurückkehrten. ›Sie erzählten‹, schreibt Herodot, ›was zu glauben ich anderen überlasse, dass sie bei ihrer Fahrt von Osten nach Westen um den Süden Afrikas die Sonne stets zur Rechten gehabt hätten.‹ Und das, was Herodot bezweifelt, bestärkt mich an der Glaubwürdigkeit dieser Reise.« »Ja, da ist etwas dran. Wir denken uns nach Ptolemäus, dass die Erde keine Scheibe, sondern eine Kugel ist. Weil aber Herodot nur das Mittelmeer kannte, in dem man auf Westkurs die Sonne links sieht, war es für ihn nicht vorstellbar, die Sonne bei gleicher Fahrtrichtung rechts zu haben. Aber leider haben die nachfolgenden Zeiten vieles wieder ins Dunkel des Vergessens gehüllt.« »In der Tat wird mit Recht geklagt, dass die Steuermannskunst auf der Unendlichkeit der großen Ozeane noch immer ein so dunkles Gebiet ist, dass man nur zu leicht irre gehen kann.« »Wir werden die Ozeane erforschen, Jacôme« sagt Enrique entschieden, »und um ein Schiff über See zu führen, braucht es befahrene Seeleute; dazu ist weder ein beliebiger Ruderknecht noch ein belesener Gelehrter, sondern nur ein gut geschulter Pilot fähig.« »Es ist wahr, Hoheit, man kann vom Seemann nicht die Kenntnis der alten Schriften verlangen, und vom Gelehrten nicht die Vertrautheit mit nautischen Dingen.« »Wenn man davon ausgeht, dass die alten Epiker, Dramatiker, Historiker und Philosophen technisch-nautische Kenntnisse gehabt haben, finden wir doch – wie zum Beispiel bei Aristophanes – viele Beispiele nautischer Situationen, die uns dienen könnten.« »Gerade das erscheint mir fraglich.« Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 74 »Wieso das? Zu ihrer Zeit war doch das Schiff das einzige Fernreisemittel überhaupt – vom Pferd abgesehen. Da kann man doch davon ausgehen, dass sie damit einigermaßen Bescheid wußten.« »Das mag für einige der Klassiker gelten, aber wir haben keinen Grund, alle ihre Texte kritiklos anzunehmen. Ist es doch unglaublich, wieviel Unkenntnis, wieviel Schein- und Halbwissen selbst die Kartographen haben.« Jacôme Cresques war bei seinen letzten Worten aufgestanden und an den Tisch getreten, auf dem er eine Seekarte entdeckt hatte. »Beim Anblick ihrer Portolane kommt man oft nicht aus der heiteren Stimmung heraus. Seht her!« Enrique trat stirnrunzelnd hinzu. »Wie meint Ihr das?« »Nun, wenn man die zierlichen Abbildungen der Schiffe betrachtet, die die Karte schmücken, merkt man bald, dass sie nicht von einem Sachkundigen herrühren können. Auch der Nichtseemann findet auf den ersten Blick den kindischen Widerspruch heraus: der Wind muß – wie hier – von vorn kommen, weil die Segel back liegen, aber er bläst gleichzeitig von hinten, denn die Flagge am Heck weht zum Bug hin aus.« Heinrich folgt mit den Augen dem zeigenden Finger des Karthographen. Der weist auf eine schmückende Hafenszene am Kartenrand. »Oder hier: das Schiff an der Mole. Die Sprossenleiter ist so schräg an das Schiff gelegt, dass es nur einem Seiltänzer möglich ist, anders als auf allen Vieren an Bord oder an Land zu gehen. Diese Künstler haben vielleicht von einem Laufgang gehört, wissen aber nicht, dass sich der Seemann, um von Bord an Land zu gehen, keiner halsbrechenden Sprossenleiter, sondern eines starken Balkens oder eines Stegs bedient.« »Was also soll man von den Quellen halten?« fragt Heinrich und fährt fort. »Die Reisen im Mittelmeer, auch an der Küste des großen Westozeans hinauf nach Brügge, Antwerpen und weiter, bedeuten für erfahrene Seeleute nichts anderes als Küstenfahrt. Man orientiert sich nach Landmarken und findet so den Weg zum Ziel. Nur, wo eine bekannte Bucht tiefer in das Land schneidet oder der Küstenverlauf, wie bei der Biskaya, einen bekannten Winkel bildet, kürzt man den Umweg auf direktem Kurs ab. Und wenn eine Insel in absehbarer Ferne vom Land liegt, wagt man die Überfahrt. Aber schon außerhalb der heimischen Gewässer ist die Seefahrt mühselig und voller Gefahren. Man muß fortwährend die Wassertiefe loten, um nicht auf Grund zu geraten, und auch diese Vorsicht wird überschätzt, wenn rauhe Untiefen oder Klippen so steil emporsteigen, dass das Lot keine Warnung gibt. Wenn der Schiffer zudem von einem Sturm überfallen wird und dem nahen Land zutreibt, wo es auf der Sandbank strandet oder an Felsen zerschellt, dann mag er es als ein Wunder ansehen, wenn er das nackte Leben retten kann.« »So ist es in der Tat, Eure Hoheit. Das offene Meer hingegen birgt derlei Bedrohungen nicht. Wenn Eure Kapitäne erst einmal den Mut gefunden haben werden, ohne Sicht des Landes zu segeln und der hohen See zu trauen, dann Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 75 werden sie sich bald überzeugen, dass die Tiefe weniger Gefahren bietet als die Untiefe.« »Darin liegt eine unserer Aufgaben, Jacôme. Wir müssen unseren Seefahrern – Kapitänen, Piloten und Matrosen – die Furcht vor dem Unbekannten nehmen, wir müssen gute und einfach zu bedienende Instrumente haben, mit denen es möglich ist, einen durch nichts beeinträchtigten Kurs ohne Landsicht zu finden. Unsere Seekarten – heute noch ungenau, lieblos und schlampig hergestellt – müssen genau und immer besser werden, je mehr Informationen die Kapitäne zurückbringen. Und das alles wird durch seetüchtige und wendige Schiffe möglich werden, die den Seefahrern das Vertrauen in ihre Rückkehr garantieren und die auch Platz für eine ausreichende Mannschaft sowie Tausch- und Handelswaren bieten.« »Nur so werden Eure Hoheit das stolze Ziel erreichen. Und wenn die Schiffe nach Sturm und Flauten, durch Unwetter verschlagen und in Windstille von der Strömung versetzt, nach vielen Abenteuern und langen Irrfahrten mit neuen Waren und Erfahrungen die Heimat endlich wieder erreichen, wird mit dem Erfolg die Lust zu neuen Taten wachsen und aus den zaghaften Küstenfahrern werden kühne Seefahrer werden.« »Ihr wißt zu begeistern, Jacôme. Aber bis dahin bleibt viel zu tun. Die Beklommenheit vor dem unbegrenzten Ozean, von dem kein jenseitiges Ufer winkt, ist noch zu besiegen! Noch wohnt die Furcht in den Köpfen und Herzen. Wir müssen dem Seemann das Gestade verheißen, an er sich Ruhe von beschwerlicher Reise erhoffen darf, wo er seine verbrauchten Vorräte ersetzen und sein seeuntüchtig gewordenes Schiff ausbessern kann.« »Ja, aber auch, dass seine Mühen von Euer Gnaden reichlich belohnt werden, wenn er nach durchstandener Unternehmung mit Erfolg das heimische Portugal wieder erreicht.« »Seid ein schlauer Fuchs, Jacôme, das gefällt mir. Nichts spornt mehr an als die Aussicht auf reichen Lohn!« »Was nützt es, ferne und vielleicht feindliche Länder zu besuchen, wenn nach der Rückkehr nicht fürstliche Erkenntlichkeit winkt? Mit Verlaub, aber Euer Ehren tun nichts anderes. Die Kapitäne reisen mit der Verlockung, Reichtum zu erringen hinaus; Euer Ziel ist es, den Reichtum der Welt nach Portugal zu holen!« Prinz Heinrich beginnt, im Raum hin und her zu laufen. »Unsere Seefahrt wird keine Küstenfahrt mehr sein, Cresques! Schaut!« Er eilt an eines der Fenster, von denen man auf den Atlantik hinaussieht. Mit ausgestrecktem Arm zeigt er in die Abendsonne, nach Südwesten. »Dorthin müssen unsere Schiffe reisen, dort werden sie hinter dem Horizont verschwinden, wir werden ihnen nachschauen und auf ihre Rückkehr warten. Sie werden ihren Kurs nach der Sternen Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 76 berechnen müssen, die Sterne werden ihnen den Weg zu fremden Königreichen weisen, und die Sterne müssen sie wieder heimführen!« Auch Cresques erhebt sich vom Stuhl, bleibt aber im Hintergrund des Arbeitszimmers stehen und beobachtet den Prinzen, von dessen Begeisterung angesteckt. Heinrich dreht sich brüsk um und fragt: »Und was wußten eure Phönizier darüber? Sie haben doch angeblich Afrika umfahren?« »Die Phönizier waren verschwiegen und wollten keine Konkurrenz; darum hat man von ihnen kaum eine Aufzeichnung. Aber der griechische Geograph und Historiker Strabo schildert sie zu Beginn der christlichen Zeitrechnung als fleißige Forscher der Himmelskunde, weil die Kenntnis der Gestirne der Schiffahrt wie dem Handel unentbehrlich waren. Und Plinius sagt – er kam beim Vesuvausbruch im Jahre 79 ums Leben: ›Die Sternbeobachtungen wendeten zuerst die Phönizier an‹. Auch ist es bezeichnend, dass Thales von Milet ein Sohn phönizischer Eltern war. 600 Jahre vor Strabo lehrte er, dass der Himmel eine hohle Kugel sei, welche die auf dem Wasser schwimmende Erdscheibe umgebe. Doch schon fünf Jahrzehnte später trat Pythagoras auf. Ihm kommt das Verdienst zu, als Erster die Kugelgestalt der Erde erkannt zu haben; den Beweis dafür lieferte dann Aristoteles 350 Jahre vor christlicher Zeitrechnung. Er zeigte die kreisförmige Begrenzung des Erdschattens bei Mondfinsternissen und beobachtete, dass sich der Scheitelpunkt verschiebt, wenn man seinen Standort nach Nord oder Süd verändert.« »Ja, Jacôme, ich habe das gelesen. Daraus ergibt sich, dass man in Ägypten südliche Sterne sehen kann, die in nördlichen Gegenden nicht mehr aufgehen, während wieder nördliche Sterne, die in südlichen Gegenden auf- und untergehen, in nördlichen Breiten während ihres ganzen Umlaufs über dem Horizont gesehen werden. Ptolemäus errechnete daraus sogar den Umfang der Weltkugel.« »Wir werden uns das Wissen der Antike, besonders das des Ptolemäus, zum Wohle Eurer Kapitäne und damit Portugals zunutze machen, Euer Gnaden – wie es auch die Mauren tun.« Heinrich läßt sich wieder in seinem Sessel nieder. »Ja, die Mauren«, sagt er nachdenklich. »Heute gehört ihnen die halbe Welt. Sie beherrschen nicht nur die Länder von Arabien nach Indien und Nordafrika, noch immer sind sie am Djebel al-Tarik (Gibraltar) und in Granada ein Stachel in iberischem Fleisch. Ihre Schiffe segeln – wie man hört – vom Roten Meer über den Indischen Ozean und weiter!« Und zum Kartographen gewandt fragt er: »Was hat Ptolemäus mit den Arabern zu tun?« »Der Schlüssel zu Ptolemäus«, erwidert der Kartograph, »ist seine Lehre der Gestirnsbewegung. Die Sonne, der Mond und die Planeten bewegen sich in unterschiedlichen Entfernungen, den Differenten, um die Erde. Jedes dieser Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 77 Gestirne bewegt sich seinerseits auf einer kleinen Kreisbahn um sich selbst. Dies erklärt, warum wir auf der Erde stets sich ändernde Konstellationen beobachten können.« »Und das haben sich die Araber nutzbar gemacht?« »Ja, Euer Gnaden. Als die Lenker der römischen Kirche die Welt als Scheibe zum Bestandteil des christlichen Glaubens erhoben, versank das Wissen der Antike im Strom des Vergessens. Allerdings –«, der Jude lächelte verschmitzt, »allerdings nur für die gewöhnlichen Gläubigen. Meinem Vater wurden, als er am ›Atlas‹ arbeitete, geheime Unterlagen aus der vatikanischen Bibliothek zugespielt, die auf die Griechen zurückgingen. Und für die Byzantiner, die ja heute noch so stolz auf ihre griechische Herkunft sind, blieben Pythagoras, Aristoteles und Ptolemäus immer Heilige.« Der Prinz wird ungeduldig. »Komm endlich auf die Araber zu sprechen!« »Auch die Araber hielten antikes Wissen hoch. Sie mögen in ihrem Glauben noch so fanatisch sein, im Umgang mit den Wissenschaften verhielten sie sich pragmatisch und übernahmen vieles, was die Menschen des Altertums schon wußten. Und seit dem Altertum besaßen die Araber, wie die geographische Lage Arabiens einleuchtet, eine reiche und praktische Länderkunde, denn sie vermittelten doch den Verkehr zwischen Indien und Ostafrika einerseits, dem römischen Reich und den Euphrat- und Tigrisländern andererseits.« »So wie sie heute die Plätze Genua und Venedig mit ihren starken Märkten unterstützen!« »Ja. Aber anfangs haben sie sich die Erde als ein Haus oder Zelt vorgestellt, und Mohammed spricht von der Erde, die Gott den Menschen wie einen Teppich ausgebreitet hat. Wie Ihr wißt, ist der Koran nicht nur ein religiöses Buch, wie beispielsweise die Bibel, er bestimmt auch weitgehend das tägliche Leben der Mauren. So ist es auch logisch begründet, dass die ersten Eroberungstruppen den Handelsstraßen folgten.« »Allerdings, und ihr geographischer Horizont weitete sich in wenigen Jahren ungemein. Sie waren beritten und überfluteten auf ihren schnellen Pferden große Teile Asiens und Afrikas.« »Nicht nur deshalb, verehrter Prinz. Die arabischen Feldherrn unterrichteten sich vor ihren Feldzügen als gute Strategen über Wege und Straßen, über Entfernungen und Hindernisse, zum Beispiel Gebirge und Flüsse, natürlich auch über die Größe und Stärke feindlicher Völker. Und sie eroberten zuerst die Länder alter Kulturen, drangen in die Türkei und nach Persien bis Buchara und Samarkand vor. Dort waren die Straßen gut erhalten und mit Meilensteinen besetzt, es existierte auch eine gut organisierte Staatspost. Alle diese Institutionen machten sich die Araber zunutze, die eingesessenen Beamten durften ihre Posten behalten, denn sie waren dazu viel besser geeignet als die unsteten Araber. So konnten sie aber auch weiterhin ihre Kräfte gebündelt Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 78 einsetzen, wandten sich nach Nordafrika und überranten alle Länder bis nach Portugal und Spanien.« »Gut, gut, aber aus Portugal haben wir sie schon 1279 wieder verjagt. Was hat das mit arabischer Geographie zu tun?« »Der Islam verlangt von seinen Bekennern, dass sie beim Gebet ihr Antlitz gegen ihre heilige Moschee von Mekka richten. Das ist leicht zu erfüllen, wenn man sich nur wenige Tagereisen weit von dieser Stadt aufhält. Aber bei größeren Entfernungen erheischt dieses Gebot, wenn man ihm genau nachkommen will, geographische und astronomische Kenntnisse. Darüber hinaus ist jeder gläubige Muslim verpflichtet, einmal in seinem Leben eine Pilgerfahrt nach Mekka zu unternehmen, und auch diese Vorschrift regte den geographischen Sinn an. Deshalb mußten sich die Araber aus ganz alltäglichen Gründen den mathematischen Grundlagen der Geographie zuwenden.« Dämmerung hat sich ausgebreiten; der Nachmittag ist dem Abend gewichen, aber die beiden Männer merken nichts davon. »Wie unwissend wir sind, Jacôme.« Enrique, der stolze Prinz von Portugal, erkennt plötzlich, dass der Jude nicht nur Kartenmacher ist. Jacôme Cresques ist nicht, wie viele Christen, von die Wissenschaften einengenden Glaubensgrundsätzen beschwert. Gespannte Erwartung erfüllt ihn angesichts des reichen Wissensschatzes des Mallorquiners. »Redet weiter!« »Nun es ist sicher, dass die begehrten Handelsgüter Genuas und Venedig – also die Gewürze, Seiden und Perlen – von den Arabern über den Indischen Ozean und das Rote Meer herbeigeschafft werden. Dort besteht seit ältesten Zeiten ein lebhafter Schiffsverkehr. Wir wissen das aus den Aufzeichnungen des Ibn Batuta. Die arabischen und – nicht in letzter Linie – chinesischen Seefahrer benutzen gewiß einige wichtige Hilfsmittel, zum Beispiel Instrumente, um die Sternenhöhe zu messen; wir kennen zum Beispiel das Astrolabium. Doch haben sie wahrscheinlich auch eine Art von Seekarten.« »Woher wollt Ihr das wissen?« »Der arabische Gelehrte Haggi Halfa, genannt Bulak, schreibt schon 1274 über die Geographie: ›Dies ist ein griechisches Wort mit der Bedeutung: Darstellung der Erde. Sie ist eine Wissenschaft, durch die man die Zustände der Klimate, die auf dem bewohnten Viertel der Erdoberfläche liegen, ferner die Breiten und Längen der Länder, die darauf liegen, die Zahl ihrer Städte, Gebirge, Festländer, Meere, Flüsse und anderes mehr erfährt.‹« Es war fast dunkel im Saal. Der Prinz konnte die Gestalt des Kartographen nur noch als Umriß erkennen. Gespannt und voll ungebrochenen Interesses lauscht er der sanften Stimme. »Und dann schreibt Haggi Halfa: ›Der erste, der in dieser Wissenschaft ein Buch verfaßte, war Batlamyus al-Kalauzi, denn er verfaßte, nachdem er den Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 79 ,Almagest‘ geschrieben hat, auch das Buch, das unter dem Namen ,Gagrafiya‘ bekannt ist!‹« Der Prinz springt auf. »Wie war der Name des Verfassers?« »Batlamyus al-Kalauzi.« »Das ist –?« »Ja, edler Prinz, Ihr habt es erkannt. Es ist der arabische Name für Claudius Ptolemäus!« »Stimmt es, dass das verschollene Werk wieder aufgetaucht ist?« »Ja, in Konstantinopel. Ein Mönch fand es unter Plunder auf dem Basar.« »Und? Können wir daraus Nutzen ziehen?« Heinrich kann nicht sehen, dass Jacôme Cresques befriedigt lächelt. »Ich glaube schon, Euer Gnaden, denn es ist mir gelungen, eine Kopie zu beschaffen. Schon seit einiger Zeit arbeite ich an der Übersetzung der ›Geograhia‹ des Ptolemäus. Die vorhandenen Auszüge – und bald das ganze Werk – stehen Portugal selbstverständlich zur Verfügung.« Er zieht ein Bündel eng beschriebener Blätter aus seinem weiten Gewand und legt es vor den Prinzen auf den Tisch. »Erlaubt mir, Euch zu danken, »Illustrissime!« Enrique, sonst immer sehr zurückhaltend, reicht dem Juden spontan die Hand. »Es wird meine nächste Aufgabe sein«, fährt er fort, »Männer zu finden, die in Sagrés auch die Weisheit der antiken Gelehrten verbreiten.« »Das wird nicht schwer sein, Hoheit«, entgegnet Jacôme, »heute, da Mallorca von Aragon annektiert wurde und das Königreich Mallorca nicht mehr existiert, kann man überall im Abendland geflüchtete Gelehrte finden, die gezwungen sind, von ihrer Bildung, vom Verkauf ihrer Bücher und ihren Kenntnissen zu leben. Ihr werdet nicht lange nach geeigneten Helfern für Euer Werk zu suchen brauchen.« 6 Während sie über den Weg diskutieren, entstehen zu Sagrés die Vehikel, die ihre Theorien zur Praxis machen sollen. Wenn der Südwestwind vom Atlantik herüberweht, kann man hier oben auf dem Cabo São Vincente den Lärm von Sägen und Hämmern auf der Werft vernehmen. Emsig werken seine Fachleute an der Gerippen der Schiffsrümpfe, versehen die eichenen Schiffsrümpfe mit Planken aus Strandkiefer, verlegen Steven und Plankengänge mit Pinienholz und geben den Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 80 Schiffen nach Art der Hansekoggen axiale Steuerruder, die von riesigen Pinnen bewegt werden müssen. Bis zu 3000 Bäumen benötigen sie für jedes Schiff. Heinrichs Schiffsbauer entwickeln einen neuen Schiffstyp: leicht gebaut, mit starken Decks und genügend Tonnage, um ausreichende Wasser- und Nahrungsmittelvorräte für lange Seereisen aufzunehmen. Karavellen können länger auf See bleiben, als jeder andere Schiffstyp vorher, und sind auch in der Lage, die Segel den Erfordernissen anzupassen: dreieckigen Lateinsegel für leichte bis starke Winde bei raumen Kursen und am Wind, sowie quadratische Rahsegel, um achterliche Winde für eine rasche Fahrt zu nützen. Karavellen sind speziell dafür konstruiert, die Entdecker wieder nach Hause zu bringen. Die vertraute schwerfällige und mit Rahsegeln ausgestattete Barca oder die noch größere Karacke sind für das Segeln vor dem Wind gedacht. Im Mittelmeer, wo die Größe eines Schiffes Maßstab seines Nutzens ist, sind sie die richtigen Schiffe. Große Schiffe bedeuten mehr Profit aus größerer Ladung. Aber ein Entdeckerschiff hat seine eigenen Probleme. Es ist kein Frachtschiff, muß lange Entfernungen in unbekannten Gewässern zurücklegen und muß auch gegen den Wind kreuzen können. Ein Forschungsschiff taugt nichts, wenn es nicht hin- und wieder zurück gelangen kann. Seine wichtigste Ladung besteht aus Nachrichten, die man auf wenig Papier niedergeschrieben befördern kann! Notfalls genügt dafür der Verstand eines Mannes! Entdeckerschiffe müssen nicht sehr groß sein, aber wendig, gut manövrierfähig und vor allem rückkehrfähig. Man kennt die großen Windsysteme, die die Ozeane beherrschen; Schiffe, die vor dem Wind davonsegeln, werden meist bei Gegenwind heimkehren müssen. Die Schiffe des Mittelmeers nützen den Entdeckern nichts. Die Karavelle wird beweisen, dass größer nicht immer besser bedeuten muß. Vorbild zu dem neuen Schiffstyp ist die Dhau der Araber. Die mit einem schräg hängenden, dreieckigen Lateinersegel getakelte Dhau transportiert dreißig Mann und siebzig Pferde und zeichnet sich durch besonders gute Manövrierfähigkeit aus. Hinzu kommt, dass eine Karavelle wegen ihres geringen Tiefgangs besonders befähigt ist, küstennahe Gewässer zu erforschen und dass sie für Reparaturen oder zum Kalfatern leicht auf den Strand gesetzt werden kann. Während die rahgetakelte Barca bestenfalls 67 Grad an den Wind gehen kann, segelt die Karavelle 55 Grad hoch am Wind. Wenn also eine Barca beim Kreuzen fünfmal über Stag gehen muß, laviert die Karavelle nur dreimal. Die Einsparung an Entfernung und Zeit von einem Drittel kann bei den großen Distanzen, die die Seefahrer erwarten, mehrere Wochen bedeuten. Der Seemann, der weiß, dass er ein speziell für seine Sicherheit und schnelle Rückkehr entworfenes Schiff segelt, wird mehr Selbstvertrauen haben und größere Bereitschaft zeigen, längere Reisen ins Unbekannte zu wagen. Zur gleichen Zeit, da die Schiffe entstehen, studieren begabte Seeleute unter Anleitung berühmter Nautiker, Kartographen und der besten Praktiker alte und neue Unterlagen zur Seefahrt. In Prinz Heinrichs Seefahrtsschule werden mutige Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 81 Kapitäne und Piloten herangebildet, die mit guten Schiffen bald zu unbekannten Küsten aufbrechen sollen. Wichtigster Lehrstoff ist die Navigation. Besonders die Orientierung nach den Gestirnen. Bei Nacht kann man, solange man sich nördlich des Erdäquators befindet, den Polarstern sehen; man weiß, dass er sehr dicht beim Nordpol steht. Dort ist Norden! An der wechselnden Stellung des Kleinen Bären kann auch die Zeit abgelesen werden, denn der Polarstern im Norden ist sein Deichselstern, um den sich das Sternbild dreht. Am Tage, solange ein Schiff nördlich des Wendekreises des Krebses bleibt, steht die Sonne am Mittag immer im Süden. Man rechnet, dass die Sonne in jeder Stunde, die sie nach ihrem Erscheinen über dem Horizont an Höhe gewinnt, um am Nachmittag wieder dem Untergangspunkt zuzueilen, 15 Grad zurücklegt. Denn 24 Stunden mal 15 Grad ergibt einen Vollkreis Man kann also die Sonne benutzen, um die Zeit am Tage ansagen zu können. Dazu dient ein auf Deck senkrecht aufgestellter Stab, dessen Schatten am Vormittag kürzer, am Nachmittag immer länger wird. Der Punkt, an dem der Schatten am kürzesten verweilt, zeigt die Mittagszeit an. Die Position eines Schiffes ist wesentlich schwieriger zu bestimmen als der Kurs. Daher ist es äußerst kompliziert, die genaue Lage eines neuentdeckten Kaps, einer Insel oder einer Flußmündung festzulegen. Die Wiederentdeckung des Almagest des Ptolemäus gibt Anstöße, die Dinge neu zu überdenken. Bald kann Meister Jacôme dem Ptolemäus zustimmen, dass die Angabe von Länge und Breite die weitaus sicherste Methode ist, einen bestimmten Punkt auf der Erde zu bezeichnen. Aber wie sollte das geschehen? An Land läßt sich die geographische Breite durch Messung der Höhe des Polarsternes über dem Horizont ableiten. Die Astronomen konnten schon lange solche Messungen mit hoher Genauigkeit mit einem entsprechenden Instrument, dem Astrolabium, durchführen. Aber das war an Deck eines schwankenden Schiffes völlig unbrauchbar. Stattdessen benutzt man ein wirklich einfaches »Instrument«: Die Finger der Hand! Wie hoch der Polarstern über dem Horizont eines Schiffes steht, bestimmt man, indem man die Hand weit von sich streckt. Wird der Raum zwischen Stern und Horizont durch die Dicke eines Fingers ausgefüllt, steht der Stern 2 Grad über dem Horizont. Der Durchmesser des Handgelenks entspricht einem Winkelabstand von 8 Grad, die volle Spanne einer Hand etwa 18 Grad. Für die Feststellung der geographischen Länge auf See müßte gleichzeitig die Lokalzeit und die Zeit irgend eines anderen festen Ortes, z. B. des Heimathafens, bekannt sein. Es gibt aber keine Methode, diese zwei Zeiten zur gleichen Sekunde festzulegen. Um die Länge ihres Schiffswegs zu bestimmen, müssen die Lotsen die grobe Schätzung der Entfernung zwischen zwei Längenkreisen benutzen, die Ptolemäus festgelegt hatte. Sie müssen also genau die Fahrt verfolgen, um sagen zu können, wie weit ihr Schiff westlich oder Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 82 östlich gefahren ist. Man nennt das »Koppeln«. Dabei notieren die Lotsen die Fahrtrichtung des Schiffes und wie lange sie in dieser Richtung fahren, dazu noch die Schiffsgeschwindigkeit, die wie folgt festgestellt wird: Man bringt in der Höhe des Schiffbugs ein schwimmendes Objekt auf die Wasseroberfläche und stellt fest, wie lange es dauert, bis sie neben dem Schiff, dessen Länge ja bekannt ist, vorbeigeglitten ist. Doch diese schnell und auch nur grob gewonnenen Ergebnisse machen es den Kartographen unmöglich, die genaue Lage von Örtlichkeiten durch ihre Breitenund Längenangabe zu fixieren. So werden die Karten der afrikanischen Küste wohl noch einige Zeit gezeichnet, wie es die Seefahrer seit den Kreuzzügen taten. Solche Portulankarten zeigen zahlreiche Windrosen, aus deren Windstrahlen ein sich netzartig überschneidendes Gitternetz kreuzender Linien die Navigation erleichtert. Die Linien entsprechen Kompassablesungen. Mit Hilfe von Lineal und eines Zirkels kann der Lotse diejenige Gitterlinie bestimmen, die parallel zum Kurs des Schiffes zwischen augenblicklicher Position und dem Zielhafen liegt. Die Zurückverfolgung dieser Linie bis zum Kompasspunkt, von der sie ausgeht, liefert dann die Kompassablesung, der der Lotse mit seinem Schiff zu folgen hat. So sind die Navigationsinstrumente, als Prinz Enrique seine ersten Schiffe aussendet, kaum den wirklichen Notwendigkeiten einer Ozeanerforschung angepaßt. Entsprechend unvollkommen sind Landkarten und kartographischen Hilfsmittel. Aber Prinz Enrique hat zwei sehr wertvolle Pluspunkte auf seiner Seite: Gute Schiffe und fähige Männer. 7 Mit großen Hoffnungen hatte Prinz Heinrich im Jahre 1418 seine Entdeckungsfahrten begonnen. Er ließ seine Kapitäne an der Küste Afrikas entlang segeln und glaubte, dass sie bald mit den Nachrichten zurückkehren würden, die er hören wollte: die genaue Erforschung der Küste und ihre kartographische Erfassung, die Bekehrung einer Vielzahl von Nichtchristen zum wahren Glauben und wertvolle neue Handelsverträge. Überall, wo sie an Land gingen, stellten sie ihre Padrões auf, weithin sichtbare Steinsäulen mit dem Wappen Portugals; sie sollen nachfolgenden Seefahrern den Weg weisen und gleichzeitig den Anspruch Portugals auf diesen Landstrich dokumentieren. Aber der Prinz muß noch viele Jahre warten, bis seine Träume auch nur teilweise in Erfüllung gehen. Schauerliche Geschichten über ein Meer der Finsternis nehmen den Seeleuten den Mut, die unbekannten Gewässer zu befahren. Kap Bojador, etwa 162 katalanische Meilen südlich der Kanarischen Inseln, gilt als besonders gefährlich. Die Seeleute sagen von dem schmalen Landrücken an der Küste der Sahara, dass keiner, der diesen Punkt umsegelt hat, jemals zurückgekehrt ist. So oft und gut unterrichtet Heinrich seine Kapitäne und Matrosen auch hinaus Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 83 schickte, konnten sich nicht überwinden, nur um der Forschung willen ihr Leben zu riskieren. Die Geschichten, die über das Meer jenseits von Kap Bojador im Umlauf sind, können schon dem tapfersten Herzen Furcht bereiten. Einige behaupten, dass bei Kap Bojador der Ozean koche und dampfe. Andere sagen, dass »es hinter diesem Kap keine Menschen gäbe, kein Wasser, weder Bäume noch grüne Pflanzen; die See sei so flach, dass sie kaum einen Faden Tiefe betrage, und das drei Seemeilen von der Küste entfernt. Die Gezeiten seien so stark, dass kein Schiff nach der Passage von Kap Bojador zurückkehren könne!« Es ist kein Wunder, dass sich unter diesen Umständen die Matrosen fragen: »Warum sollen gerade wir die Grenzen überschreiten, die unsere Vorfahren beachtet haben? Auch ein Prinz kann nicht Gewinn erwarten, wenn er unsere Seelen und Körper dafür einsetzt.« Anstatt den Instruktionen Heinrichs zu folgen und auf einem südlichen Kurs um Kap Bojador herum zu bleiben, drehen seine Seeleute rund 15 Jahre lang ständig in andere Richtungen ab, kreuzen unschlüssig herum oder treiben Handel. Einige segeln ostwärts ins Mittelmeer und geraten an seinem östlichen Ende in die Gefangenschaft der Ungläubigen und die Sklaverei. Heinrich ist ein ruhiger, sehr geduldiger Mann. Selten bestraft er die Lotsen und Kapitäne wegen ihrer Irrfahrten. Aber er verfolgt hartnäckig sein Ziel. Immer und immer wieder schickt er Karavellen nach Süden, und trotz der Furcht vor dem berüchtigten Kap bringen einige der Kapitäne Nachrichten von neuen Entdeckungen nach Hause. Die Kanarischen Inseln, Madeira und die Azoren werden gefunden, besiedelt und als Stützpunkte und Versorgungshäfen für die Schiffe, die der Route zu noch entfernteren Inseln folgen, ausgebaut. Eigentlich sind es Wiederentdeckungen, denn alle drei Inselbereiche waren schon in früheren Jahrhunderten bekannt. Um das Jahr 100 erwähnte Ptolemäus die Kanaren und nannte sie die »Glücklichen Inseln«. Danach wurden sie von Zeit zu Zeit von phönizischen, später von maurischen Seeleuten, von Genuesen, Normannen und Spaniern aufgesucht. Und tatsächlich: als Heinrichs Wiederentdeckungen ruchbar werden, meldet Kastilien sofort seine Ansprüche auf die Inseln Lanzarote und Fuerteventura an. Da sie der afrikanischen Küste am nächsten liegen, sind sie für Spanien strategisch bedeutungsvoll. Noch ist Portugal schwach und muß nachgeben. Die übrigen Inseln des Archipels bleiben vorerst portugiesisch und Heinrich bestimmt sie als Ausgangspunkte für zukünftige Entdeckungsreisen nach Afrika. 1425 sendet er eine Flotte mit mehr als 2000 Mann und 100 Pferden aus, die äußere Insel Gran Canaria zu erobern. Zwei Jahre später folgt eine andere Flotte mit dem gleichen Auftrag. Beide Expeditionen sind nur mangelhaft ausgerüstet und scheitern am hartnäckigen Widerstand der Eingeborenen. Aber von Zeit zu Zeit werden die äußeren Inseln wieder bestürmt. Portugal bereitet den Kastilianern mit den Eroberungszügen nicht wenig Sorge, und bald droht Krieg Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 84 um den Besitz der Kanaren. Um Blutvergiessen zwischen christlichen Staaten zu vermeiden, bitten Kastilien und Portugal den Papst, über die Frage der Besitzrechte der Kanarischen Inseln zu entscheiden. Papst Eugen IV. spricht Kastilien Lanzarote und Fuerteventura zu, muß aber Portugal freie Hand über die äußeren Inseln von Gran Canaria, Teneriffa, Palma und Gomera gewähren. Nun können Portugals Seefahrer die Inseln gefahrlos als Stützpunkt für Trinkwasser- und Nahrungsmittelergänzungen anlaufen. Aber noch immer ist Kap Bojador nicht umfahren worden! Heinrichs Geduld schmilzt wie sein Geld allmählich dahin. Gil Eanes, dem portugiesischen Landadel entstammend, gehört zu den Hoffnungsträgern unter den Kapitänen. Prinz Heinrich vertraut ihm das Kommando über eine Karavelle mit dem Befehl an, so weit wie möglich die afrikanische Küste entlang zu segeln. Tapfer fährt der Mann hinaus, aber am Ende »machte er die gleiche Reise wie die anderen, weil ihn die gleiche Furcht überfiel; er segelte nicht über die Kanarischen Inseln hinaus«, wie der Chronist Gomes de Zurara zu berichten weiß. Bei seiner Rückkehr entschuldigt Eanes seinen Ungehorsam unklugerweise mit Einzelheiten über die extremen Gefahren, vor denen ihn andere Seeleute gewarnt hätten. Jetzt war Heinrichs Geduld am Ende: »Tatsächlich, ich muß mich über die Einbildungen wundern, von denen ihr besessen seid«, sagte er. »Sollten diese Dinge wirklich existieren, wenn auch in nur winzigen Mengen, dann möchte ich noch Entschuldigungen für Euch haben. Aber ich bin erstaunt darüber, dass Ihr solche Dinge von den Seeleuten übernehmt, die weder den Kompass noch eine Seekarte zu handhaben wissen.« Heinrich schickt Eanes erneut aus; und der »redete sich selbst resolut zu, nicht mehr vor den Prinzen zu treten, ohne die ihm aufgetragene Mission beendet zu haben.« Dieser Entschluß kommt ihm wohl zustatten. 1434 kehrt Eanes mit der freudigen Nachricht zurück, dass er Bojador umsegelt habe. Direkt hinter dem Kap sei er gelandet und habe einige Pflanzen eingesammelt, die St. MarieRosen, um dem Prinzen zu zeigen, was dort wachse. Eanes hat eine Barriere der Furcht und des Schreckens überwunden! Jahrhundertelang glaubten die Seeleute, dass die Welt südlich von Bojador zuende sei, ein Abgrund voller Schrecken und Unheil. Gil Eanes hat herausgefunden, dass das Meer und die afrikanische Küste dahinter kaum anders beschaffen sind als nördlich des Kaps. Eanes wird zum Ritter geschlagen. Nun sind auch andere Matrosen bereit und erklären, sie würden noch weiter segeln als Eanes. Prinz Heinrich weiß, dass der Erfolg Eanes den lang erwarteten Wendepunkt seines Programms bedeutet. Diese Meinung teilt auch sein älterer Bruder Duarte, der nach dem Tode des Vaters im Sommer 1433 zum König proklamiert wird und der die finanzielle Situation Heinrichs entscheidend verbessert: Der König investiert den »königlichen Anteil« aus dem schnell aufblühenden Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 85 Exporthandel Madeiras – ein Fünftel des gesamten Gewinnes – in Heinrichs Projekt. Prinz Heinrich ist nicht mehr zu halten. Jahr um Jahr schickt er Expeditionen aus, von denen jede ein Stückchen weiter ins Unbekannte vorstößt. Noch einmal segelt Eanes Kurs Süd, diesmal mit dem königlichen Mundschenk Affonso Baldaya. Mit zwei Schiffen gelangen sie 200 Meilen über Kap Bojador hinaus und bringen die Nachricht zurück, dass man bei der Landung Fußspuren von Menschen und Kamelen gesichtet hätte. Prinz Heinrich lobt sie voller Freude und stellt fest: »Wenn Ihr diese Fußspuren tatsächlich gefunden habt, scheint es mir, dass in nicht zu großer Entfernung von diesem Punkt Menschen wohnen müssen, oder es waren zufällig vorbeiziehende Handelsleute mit Waren für einen Seehafen. Daher möchte ich Euch sofort wieder dorthin schicken. Ich ermahne Euch, Euer Bestes zu tun, mit diesen Leuten zu sprechen oder einige einzufangen, so dass ich selbst Auskünfte über ihr Land einholen und mit diesen Leuten sprechen kann, um festzustellen, ob sie Mauren oder Heiden sind oder welches ihre Lebensart ist ...« Baldaya steuert wiederum mit seiner kleinen Mannschaft nach Süden und gelangt rund 100 weitere Meilen südlicher als Kap Bojador, bevor er in einer Bucht landet. Er sendet zwei jüngere Matrosen auf mitgebrachten Pferden aus, um nach Einheimischen oder Handelsleuten zu suchen. Nachdem sie mehrere Kilometer an der Küste entlang geritten waren, treffen sie plötzlich auf eine Gruppe von 19 Eingeborenen, die mit Speeren bewaffnet sind. Sie versuchen Gefangene zu machen, können aber nur mit Mühe ihr eigenes Leben retten. Trotzdem erreichen sie die Küste und berichten Baldaya über ihr Erlebnis. Am nächsten Tag kehren er und einige seiner Männer zu dem Ort zurück. Doch die Eingeboreren sind verschwunden. Baldaya kann seinen Auftrag nicht erfüllen. Bevor er zurückkehrt, versucht er das Beste aus seiner Situation zu machen. Auf einer Sandbank in der Nähe des Ankerplatzes seines Schiffes sehen sie Tausende von Robben. Sie töten so viele Tiere, wie sie nur können, und laden die Häute aufs Schiff. Es ist die erste Handelsladung, die Portugal aus dem reichen Afrika bekommt. Bevor Baldaya zurücksegelt, fährt er nochmals 100 Meilen in südwestlicher Richtung weiter und kommt zu einer schmalen Bucht, der er den Namen Rio de Oro (Goldfluß) gibt. Er weiß nicht; dass er tatsächlich ein Gebiet erreicht hat, aus dem arabische Karawanen regelmäßig Gold holen. Als Baldaya endlich seinen Heimathafen wieder erreicht, glaubt Heinrich, nun sei die Zeit gekommen, die Entdeckungsfahrten in großem Maßstab aufzunehmen, um seine Hoffnungen in Realität umzusetzen. Aber da zerstört ein schlecht durchdachter Feldzug gegen Tanger das Glück Portugals. Heinrichs jüngerer Bruder Fernão wartet im Alter von 34 Jahren ungeduldig auf seine Bewährung als Ritter in einer Schlacht. Deshalb drängt er König Duarte, den nordafrikanischen Hafen Tanger anzugreifen, eine islamische Festung, etwa 12 Leguas westlich von Cëuta. Widerstrebend beginnt der König im August Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 86 1437 den Angriff. Das Unternehmen mißlingt; die Portugiesen erleiden eine katastrophale Niederlage und die Moslems gestatten den Rückzug nur gegen die Rückgabe von Cëuta. Außerdem erzwingen sie, Prinz Fernão als Geisel zurückzulassen. Die Portugiesen gehen scheinbar darauf ein, Fernão geht in Gefangenschaft, aber Cëuta wird den Mauren nicht zurückgegeben. Die Stadt ist jetzt offiziell christlich, und die Kirche bleibt dabei, dass eine christliche Stadt Gott gehöre und deshalb nicht den Ungläubigen übergeben werden könne. Heinrich muß sich aus politischen Gründen fügen – die Geldquellen für seine kostspieligen Expeditionen würden versiegen! So verharrt der unglückliche Prinz in der Gefangenschaft der Moslems, wo er sechs Jahre später stirbt. Sein Bruder, König Duarte, schon seit längerer Zeit kränklich, grämt sich voller Gewissensbisse einem frühen Tod entgegen. Der Thronfolger ist erst sechs Jahre alt; unter der Regentschaft seiner Mutter wird er als Affonso V. König von Portugal. Doch die unbeirrte schrittweise Erforschung der westafrikanischen Küste geht Jahr um Jahr weiter, obwohl die kommerziellen Prämien dürftig sind. Im Jahre 1441 ziehen von Prinz Heinrichs Hof Nuno Tristão und Antão Gonçalves aus und stoßen weitere zweihundertfünfzig Meilen zum Kap Blanco vor, wo sie erstmals zwei Eingeborene gefangen nehmen können. Bald bringt Eanes aus diesem Gebiet die erste Menschenfracht zurück – zweihundert Afrikaner, die in Lagos als Sklaven verkauft werden. Der Augenzeugenbericht des Chronisten Gomes de Zurara über die erste europäische Episode im Sklavenhandel ist ein schmerzlicher Ausblick auf kommendes Elend. »Mütter umarmen ihre Säuglinge und werfen sich auf den Boden, um sie mit ihrem Leib zu decken, und achten dabei jede Verletzung ihrer eigenen Person gering, um so zu verhindern, dass ihre Kinder von ihnen getrennt werden.« Doch Zurara behauptet auch, dass »sie freundlich behandelt werden und kein Unterschied zwischen ihnen und den freigeborenen Bediensteten in Portugal gemacht wird.« Man lehrt sie ein Handwerk, berichtet er, bekehre sie zum Christentum, und schließlich schließen sie sogar Ehen mit Portugiesen. Jacôme Cresques, der Geograph, erlebt die Ankunft dieser Menschenware aus Afrika nicht mehr; er ist vor kurzem im Alter von 77 Jahren gestorben. Fünfunddreißig Jahre lang hat er den Schatz neuer Welterkenntnis auf immer wieder neuen Karten für die Kapitäne Heinrichs verzeichnet. Sie dienen nicht nur dem praktischen Gebrauch auf See, sind nicht nur für die Navigation der Piloten und Kapitäne auf ihren langen Reisen nach Süden gedacht, sie dokumentieren in hoher künstlerischer Qualität auch das neue erdkundliche Wissen, das sich im Laufe der Jahre angehäuft hat. Die Küstenlinien sind genauestens erfaßt; in zierlicher humanistischer Minuskelschrift haben die erkundeten Orte und Handelsniederlassungen, Buchten, Flüsse und Kaps, weithin sichtbare Berge, Untiefen, gefährliche Riffe, Sandbänke und alle für die Orientierung der Seefahrer wichtigen Phänomene in Latein und Portugiesisch ihren Platz gefunden; alles ist von der Küstenlinie weg ins Landesinnere Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 87 angeschrieben, um den Überblick nicht zu stören. Kunstvolle Tierkreisfiguren, Abbildungen von Tritonen und Windallegorien zieren die Ränder, in den Meeren schwimmen Walfische und Tümmler, stolze Karavellen folgen dem Kursnetz der zahlreichen Windrosen, und an besonders gefährlichen Klippen sieht man Schiffe in Seenot. In den Tiefen Afrikas brüllen Löwen, Elefantenherden ziehen durchs Land und im weiten unerforschten Hinterland des Schwarzen Kontinents weil dort am meisten Platz ist hat Meister Jacôme Instrumente für Astronomie und Navigation plaziert: Armillasphäre und Quadrant, Zirkel, Lineal und Lot; daneben eine Tabelle der Sonnendeklination für die Breitengrade der neuen Handelsplätze der Portugiesen. Die nach Portugal gebrachten Sklaven hatten einen Wandel in der Einstellung der Öffentlichkeit gegenüber Prinz Heinrich zur Folge. Viele haben den Prinzen kritisiert, dass er Mittel des Staates für seine müßigen Entdeckungen vergeude. »Doch dann wurden die still, die am lautesten geklagt hatten, und priesen mit leiser Stimme, was sie so laut und öffentlich getadelt hatten. Und so waren sie gezwungen, ihre Kritik in öffentliches Lob zu verwandeln; denn sie sagten, es sei klar, dass der Infant ein zweiter Alexander sei; und ihre Begierde wurde nun immer größer.« Nun will jedermann Teil an diesem vielversprechenden Guineahandel haben. Als die Portugiesen Kap Verde umrunden, die Westspitze Afrikas, sind die unfruchtbaren Küstenstriche passiert, und der portugiesische Handel mit Westafrika füllt von jetzt ab fünfundzwanzig Karavellen jährlich. 1457 entdeckt Alvise da Cadamosto bei seinem Vordringen entlang der Küste im Auftrag Prinz Heinrichs zufällig die Kapverdischen Inseln und segelt dann die Flüsse Senegal und Gambia sechzig Meilen landeinwärts hinauf. Cadamosto ist nicht nur ein kühner, sondern auch einer der aufmerksamsten Entdecker Prinz Heinrichs. In einem Bericht an Prinz Enrique über seine Reisen beschreibt die ersten Reaktionen der Westafrikaner, nachdem sie die Portugiesen zu Gesicht bekommen hatten. »Ihr solltet wissen, dass diese Leute bisher keine Kenntnis hatten von irgendwelchen Christen ... Es wurde festgestellt, dass sie bei dem ersten Anblick von Schiffsegeln, also von Schiffen auf See, die weder sie noch ihre Vorväter je gesehen hatten, meinten, dass dies große Seevögel mit weißen Flügeln seien, die von irgendwelchen seltsamen Orten herbeigeflogen wären. Als die Segel kurz vor der Ankerung gestrichen und eingeholt wurden, dachten einige Eingeborene, die diese Manöver von weitem gesehen hatten, die Schiffe wären Fische. Andere wiederum sagten, dass es Geister seien, die bei Nacht gekommen waren, vor denen sie sich fürchten müßten. ... Diese Neger, Männer und Frauen, umringten mich und starrten mich als ein Wunder an. Es schien für sie ein neuer Zauber zu sein, Christen zu sehen, die sie vorher nicht gesehen hatten. Sie wunderten sich über meine Kleidung genauso wie über meine weiße Haut. Meine Kleidung entsprach der spanischen Mode: Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 88 Ein Wams aus schwarzem Damast, über dem ich einen kurzen Umhang aus grauer Wolle trug. Die Untersuchung meiner wollenen Kleidung bereitete ihnen ein außerordentliches Vergnügen. Sie berührten meine Hände und Füße und wollten mit ihrem Speichel meine Hautfarbe abreiben. Als sie merkten, dass es wirklich Fleisch sei, waren sie erstaunt ... Die Neger bestaunten unseren Besitz, vor allem unsere Armbrüste und besonders unsere Mörser. Ich zeigte ihnen, wie man mit ihnen schießt, und der Donner des Abschusses machte sie besonders ängstlich. Dann erzählte ich ihnen, dass ein einziger Mörserschuß mehr als 100 Männer töten würde, worüber sie sehr erstaunt waren und sagten, das wäre ein Teufelswerkzeug. Einer meiner Matrosen spielte ihnen auf dem Dudelsack vor. Der Klang rief bei ihnen Verwunderung hervor. Nachdem sie das mit Bändern verzierte Instrument besehen hatten, dachten sie, vor sich ein lebendes Tier zu haben, das mit verschiedenen Stimmen singt. Darüber gerieten sie in höchstes Entzücken. Als sie dann ihren Irrtum merkten, erzählte ich ihnen, dass dieses Ding ein Instrument sei und legte es ihnen zusammengefaltet auf ihre Hände. Sie sahen dann, dass dieses Ding von Hand gemacht war und sagten dabei, es sei ein göttliches Instrument, von Gott selbst mit seinen Händen hergestellt, weil es so süß mit vielen Stimmen singe. Sie wunderten sich auch über die brennende Kerze im Kerzenhalter, weil sie außer dem Feuer kein anderes Licht kannten. Für sie war daher der Anblick der bisher völlig unbekannten Kerze schön und geheimnisvoll ... Nachdem ich ihnen eine kleine Honigwabe geschenkt hatte, zeigte ich ihnen, wie man den Honig aus dem Wachs herausholen kann und ... wie man aus diesem dann Kerzen herstellen und diese anzünden kann. Darüber waren sie sehr verwundert und erklärten, dass wir Christen doch alles kennen würden.« Zu der Zeit, als Cadamosto heimkommt, ist Heinrich beinahe 70 Jahre alt und kränklich. Er stirbt im November 1460, ohne die Länder gesehen zu haben, zu deren Küsten er so viele Schiffe ausgesandt hatte. Aber durch die Berichte seiner Kapitäne und Schreiber und durch seine sorgfältigen Studien aller bekannt gewordenen Dinge über Westafrika wußte Heinrich über diesen Teil der Welt mehr als jeder andere Mann seiner Zeit. Die Könige von Portugal verfolgen seinen Weg weiter. Entdeckende und erobernde Kapitäne, getrieben von Macht und der Gier nach Reichtum, segeln hinaus. Neben den begehrten Waren bringen sie auch neues Wissen um die Beschaffenheit der Erde zurück. In den stillen Bereichen der Wissenschaften werden Erkenntnisse gewonnen, welche die Erde aus dem Mittelpunkt der Schöpfung hinausführen in die Unendlichkeit eines nach göttlichen Gesetzen bewegten Alls. Von steter Unrast ist diese Epoche erfüllt, die der Menschheit die Tore in eine neue Zeit öffnet. Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt WIE GROSS GLOBUS? Seite 89 IST DER Die Berechnungen des Kolumbus über die Breite des Atlantiks und seine Reisen im Auftrag Spaniens Hell schien die Sonne Andalusiens von einem klarblauen Himmel. Es war der 2. Januar 1492. Prächtig gewandet zogen Los Reyes Catolicos, die Katholischen Könige, in Granada ein. Das Publikum neigte sich respektvoll vor dem Königspaar und bewunderte verstohlen das goldene Zaumzeug und die kostbaren brokatenen Decken. Nervös ob der vielen Menschen tänzelte das arabische Vollblut König Ferdinands II. von Aragon; neben ihm - auf einem herrlichen Zelter - Isabella I. von Kastilien. Dem Königspaar folgte das glänzendste Ritterheer, das die Welt bisher gesehen hatte. Die Kardinäle, Herzöge, Grossmeister, Markgrafen, Grafen und Edelleute hatten zehn Jahre gegen die Mauren gekämpft; allein die Belagerung Granadas hatte acht Monate gedauert. Doch nun war diese letzte Festung der Ungläubigen gefallen, Ferdinand konnte den noch fehlenden Stein in seine Krone einfügen. Dem prunkvollen Zug folgte eine grosse Anzahl Würdenträger und Ritter, silbern glänzten die prächtigen Harnische, Seide und Brokat rauschte, ein Wald von Fahnen und Standarten wehte über den Köpfen, allen voran das Goldene Kreuz von Aragon und die Königsfahne von Kastilien. Ferdinand und Isabella waren zwei ungewöhnlich Menschen; für Spanien war es ein Glück, dass sie zusammengefunden und ihre beiden Königreiche durch Heirat zu einem einzigen Reich vereinigt hatten. Vor siebenhundert Jahren hatten die Mauren grosse Teile Spaniens erobert, siebenhundert Jahre lang haben spanische Könige von Asturien und Navarra aus für die Wiederherstellung der verlorenen spanischen Einheit gekämpft. Innere Uneinigkeiten hatten das Land zerrissen und immer wieder geschwächt. Aber nun - nach siebenhundert Jahren unverdrossenen Widerstands und schwerer Anstrengungen - konnten die Katholischen Könige, wie der ihnen von Papst Alexander VI. verliehene Ehrentitel lautete, Granada als letzte von den Mauren besetzte Stadt Spaniens befreien. Der Hunger hatte die Mauren schliesslich in die Knie gezwungen. Wie in den meisten Fällen der zehnjährigen Reconquista, der Rückeroberung spanischen Bodens von den Mauren, durften auch die Bewohner Granadas ihrem Glauben treu bleiben und konnten ihr Besitztum behalten. Der König war nicht für rachedurstiges Blutvergiessen; er vertraute mehr auf die Macht der Tinte. Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 90 Bunte Tücher hingen zum Schmuck an den Häusern, durch die Gassen und Strassen drängte sich eine wogende Masse: Soldaten der königlichen Heere mischten sich als Zuschauer unter die Bevölkerung. Die Stadt war voll des bunten Volkes, das jedem Heer folgt: fliegende Händler mit Maiskuchen und Schinken, Getränkeverkäufer mit Wein und Trinkwasser, Wahrsager, Dirnen, Mönche, Handwerker, Gaukler, Taschendiebe, dazu ungezählte Pferde und Maultiere und der Tross von Karren und Wagen. Über der Stadt erhob sich die Festung Alhambra; auch auf ihren Mauern und Wällen wimmelte es von Menschen: maurische Soldaten der geschlagenen Garnison, verängstigtes Weibervolk und misstrauische arabische Händler. Sie warteten auf die traurige Stunde, die ihre Niederlage besiegeln sollte. Inmitten seines schweigsamen und niedergeschlagenen Gefolges ritt Boabdil Abu Abd Allah Muhammad, der letzte König von Granada, den Hügel herab. Beim Näherkommen verbreitete sich Stille über die Stadt, die mitteilsame Geschwätzigkeit des Volkes verstummte, und das Gefolge der Könige harrte erwartungsvoll. Einen Schritt vor König Ferdinand verhielt Boabdil sein Pferd und schickte sich an, abzusteigen, um - als Unterlegener - die Hand des siegreichen Königs zu küssen. Doch Ferdinand hob abwehrend die Hand. Boabdil schaute Ferdinand ernst in die Augen, dann wanderte sein Blick zur Königin, schliesslich verneigte er sich gemessen und überreichte dem König die Schlüssel von Granada. 1492 - Muhammad XII. übergibt die Stadt an Königin Isabella I. von Kastilien und König Ferdinand II. von Aragón Ferdinand gab den Schlüssel an den Grafen Tandilla weiter, dann machte er ein Zeichen mit der Hand. Das Goldene Kreuz und die Fahne wurden feierlich an die Spitze des Zuges getragen, das Königspaar nahm Boabdil in ihre Mitte, und Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 91 der Zug setzte sich zur Alhambra, der letzten Festung des Islam auf spanischem Boden, in Bewegung. Im Burghof mit seinen goldenen Intarsien angekommen, nahm das Königspaar auf einem mit Purpur ausgeschlagenen, etwas erhöhten Thron Platz, Boabdil stellte sich hinter Ferdinand, um sie herum gruppierten sich die Kardinäle, Herzöge, Grossmeister und andere Würdenträger; alle warteten, bis Kreuz und Fahne, die beiden Wahrzeichen, von Offizieren in goldenen Brustpanzern auf der Plattform des Festungsturmes befestigt waren. Keine Trompete, keine Trommel war zu hören. Die Menschen vernahmen nur das Pochen des Herzschlags in der eigenen Brust. Endlich rief ein Herold mit lauter Stimme: «Granada - Granada dem König Ferdinand und der Königin Isabella!» Die Spanier brachen in Jubel aus. Nach einer Weile hob Isabella die Hand: der Chor stimmte ein feierliches Te Deum Laudamus an und die Königin hielt und kulturelle Einsichten vor. Aber: »Wenn unterschiedliche Lebenswelten aufeinan-dertreffen, kommt es unausweichlich zu Konflikten. Ein kultureller Wandel entsteht so-wohl aus friedlichen Begegnungen wie auch durch gewaltsame Umbrüche, etwa Kriege, Invasionen, Versklavung, die Inquisition, Pogrome und Exil.« Aus einer vermeintlichen Bedrohung heraus versuchten die Päpste mit »Kreuzzügen« die Muslime zu bekämpfen anstatt von ihnen zu lernen. Kulturvermittler wie der Staufferkaiser Friedrich II. wurden sogar geächtet. Dabei wurden arabische Güter in Europa immer mehr gefragt und setzten sich durch. Es ist erstaunlich, wie armselig Europas Kultur heute wäre, wenn der mühsam die Tränen zurück. Das maurische Joch war abgeschüttelt, Spanien war frei. Damit waren die Araber vom europäischen Kontinent vertrieben. Aus heutiger Sicht, müsste man das bedauern! Der Islam und die katholische Kirche bezeichneten sich seit jeher als »auserwählt«. Dabei war im Mittelalter der Islam durch die kulturelle Weiterentwicklung der griechischen Wissenschaften sowie Elementen der chinesischen Wissenschaften dem mitteleuropäischen Kulturkreis weit voraus. Friedrich II. mit seinem Falken. Illustration aus seinem Buch „De arte venandi cum avibus“ („Über die Kunst, mit Vögeln zu jagen“) Biblioteca Apostolica Vaticana, Rom (Pal. lat. 1071, fol. 1v Sizilien 1258-1266) Starke islamische und jüdische Denkweisen drangen langsam, aber unausweichlich in die christliche Weltschau Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 92 ein und bereiteten nach und nach neue Lebensformen Kontakt zum Nahen Osten nicht bestanden hätte. Umso schlimmer ist es einzuschätzen, dass von diesem Kulturaustausch in Europa heutzutage kaum etwas in den Schulen und Medien berichtet wird. Europa verdankt den Arabern manches. Kaum einhundert Jahre nach den Offenbarungen Mohammeds, der den Islam begründete und den Koran niederschrieb, hatten die Araber die Welt von Indien über Nordafrika bis Iberien erobert. Europa durchlebte damals die »Jahrhunderte der Dunkelheit«, die kaum nennens-werte Fortschritte auf den Gebieten Kultur und Wissenschaft gebracht hatten und in denen für die Bauern und Bürger grosse Unsicherheiten herrschten. Die Araber hingegen schufen unvorstellbare Neuerungen auf den Bereichen Naturwissenschaft und Philosophie, sie bauten herrliche Paläste, entwickelten Bewässerungssysteme und beobachteten den Himmel, schufen die Astronomie, die Chirurgie und anderes. Und das alles unter der Herrschaft des Islam. Heute hat der Islam im Westen bei vielen Menschen keinen guten Ruf. Fanatiker aller Seiten schotten sich ab. Islamische Fundamentalisten haben den »Heiligen Krieg« aus-gerufen, der Westen fürchtet eine schleichende »Islamisierung«, die sich in der Ableh-nung von Kopftüchern, der Verschleierung der Frauen und im Widerstand gegen den Bau von Minaretten und in der Verunglimpfung des Korans manifestiert. Viele Europäer lehnen die Homosexualität ab, aber kaum einem kommt ein gesetzliches Verbot in den Sinn. Doch das das Feuer der Abneigung und Ausgrenzung gegen muslimische Mitbürger wird von politischen Scharfmachern geschürt. Niemand weiss, das in den Fussballstadien unbewusst der Ruf des Muezzins erschallt: »Olé! Rhythmisch wiederholt in einer bestimmten, unverkennbaren Abfolge: Olé... Olé Olé Olé. Die meisten Fans bringen den Schlachtgesang wahrscheinlich mit Spanien in Verbindung, assoziieren damit Toreros oder Don Juan. Welcher Hooligan weiss schon, dass der Schlachtruf, mit dem sich die Fans gegenseitig aufpeitschen, das arabische Wort für Gott ist? Die Fussballstadien Europas hallen wider von ›Allah!‹-Rufen. « Europa verdankt der arabischen Welt manche zivilisatorische und kulturelle Errungenschaft. Während zum Beispiel die Gabel als Esswerkzeug an italienischen Fürstenhäusern erst im 16. Jahrhundert auftaucht, benutzte man sie bereits im 4. Jahrhundert in Istanbul. Sie brauche mehr als tausend Jahre, um auf langen Umwegen aus Kleinasien über das islamische Andalusien zuerst ins übrige Spanien und dann nach Westeuropa zu gelangen. Auch die Begriffe Bibliothek, Brunnen, Garten, Kaffee, Parfüm, Teppich und Zucker sind arabischer Herkunft – sie gelten heute aber als »europäisch«! »Aus dem Arabischen stammen auch »zahlreiche Wörter wie Safran, Damast, lila, scharlachrot und Musselin und zahlreiche Kulturpflanzen wie Reis, Zuckerrohr und Zitrusfrüchte. Der Begriff Chemie ist arabischen Ursprungs, ebenso wie Natron, Kali und Alkohol. Von den Arabern lernten die Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 93 Europäer, wie man Windmühlen baut, mit Rädern spinnt, Papier herstellt und Linsen schleift. Bis ins Hochmittelalter wurde an wissenschaftlichen Kongressen Arabisch gesprochen. Davon zeugen noch Begriffe wie Azimut, Algebra, Zenit, aber auch Razzia; die sich in europäische Sprachen tradierten. Gestützt auf ihren wissenschaftlich-technischen Vorsprung, dominierten arabische Länder bis ins Hochmittelalter den Handel mit hochwertigen Gütern: Gewürze, edle Textilien, Seide, Gerbstoffe. Europa lieferte nur die Rohstoffe dazu: Silber, Wolle, Sklaven. Bis heute ist es ein großes Geheimnis der Geschichtswissenschaft, warum die Araber ihren Vorsprung ab dem vierzehnten Jahrhundert verloren haben.« (Vorstehende Zitae aus: Trojanow, Ilija, und Hoskote, Ranjit; Kampfabsage; Kulturen bekämpfen sich nicht - sie fliessen zusammen; aus dem Englischen von Heike Schlatterer, München, 2007.) Aber damals, als das spanische Königspaar vertrauensvoll in die Zukunft blicken konnte. stand das nächste Ziel schon fest. Die Herrschaft über die See, die es anzustreben galt, war nicht vergessen gegangen. Besonders Isabella war strategisch sehr begabt, und es war ihr auch während der Landkriege wichtig gewesen, die Strasse von Gibraltar offen zu halten, auch wenn die Mauren sie immer wieder zu sperren versuchten. Die Seekräfte Kastiliens hatten mehrmals mit dem Landheer zusammengewirkt, beispielsweise bei der Einschliessung und Blockade von Malaga. Man würde die Meerenge überqueren und die Mauren auch von der nordafrikanischen Küste vertreiben, wo Portugal mit der Einnahme von Cëuta den Anfang gemacht hatte. Neapel und Sizilen gehörte den Katholischen Königen schon per Erbfolge, mit dem Vordringen in Nordafrika – in Marokko, Tunis und Algier – würde man das Mittelmeer nach und nach zu einem spanischen Meer machen. Aber es sollte anders kommen. Unter den Zuschauern in Granada befanden sich zwei Männer, die das Rad der Geschichte in eine andere Richtung drehen wollten. Der eine - gross, hager und finster dreinblickend - war Tomás Torquemada, der mächtige Grossinquisitor des «Sanctum Officium», der Heiligen Inquisition, ein ehemaliger Franziskanermönch. Der andere aber galt noch nichts, doch schon bald sollte er aus dem Dunkel der Anonymität hervortreten. Christoph Kolumbus träumte von einem asiatischen Land, das für Spanien zu finden er sich auf den Weg nach Westen machen wollte. Französische Buchmalerei: Templer werden auf dem Scheiterhaufen hingerichtet, um 1400 Die Inquisition betrieb seit dem Mittelalter gerichtliche Untersuchungen gegen die Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 94 Häretiker, die Ketzer. Der Sonderbeauftragte des Papstes, der Grossinquisitor, ernannte in der ganzen katholischen Welt Inquisitoren (meist Dominikaner), die für die Aufspürung Glaubensabtrünniger verantwortlich waren, wie sie die Kirche überall im Lande vermutete. Besonders als Hexen verrufene Frauen und getauften Juden waren gefährdet. Juden, die unter dem Druck der Kirche zum Katholizismus übergetreten waren, galten generell als Scheinbekehrte, sogenannte «Conversos». Schon 1215 forderte das Vierte Laterankonzil die Auslieferung der verurteilten, in der «Casa Santa» (Haus der Inquisition) eingekerkerten Ketzer an die weltliche Gewalt: die Kirche verurteilte, aber die zum Handlanger degradierte Justiz vollzog! 1229 wurde auch das Verfahren und die Bestrafung auf dem Konzil zu Toulouse «geregelt»: mit einer Aufforderung an die Häretiker zur Selbstanzeige und an die Gläubigen zur Denunziation! Nach der Vorladung bzw. Verhaftung wurde stets eine Untersuchung eingeleitet, wobei die Folter als Instrument zur Erzwingung eines Schuldbekenntnisses legales Mittel war. Den Angeklagten stand kein Verteidiger zur Seite, Namen der Denunzianten und Zeugen blieben geheim. Die Strafen reichten von selten ausgesprochenen harmlosen Kirchenstrafen bis zu häufigen Verurteilungen zum Tod auf dem Scheiterhaufen. Unter dem Grossinquisitor Thomas Torquemada war Spanien zu einem Land fanatischer Religiosität geworden. Nachdem die Katholischen Könige Granada erobert hatten, setzte eine organisierte Verfolgung aller Fremdgläubigen ein. Das Versprechen nach Glaubensfreiheit galt nichts mehr, die weltliche Macht vertrieb die Mauren, und die Inquisition verfolgte die Juden. Torquemada war in Spanien gefürchtet. Böse Zungen raunten, sein Name leite sich von «Torre cremata», verbrannter Turm, ab. Die «Braseros» (Scheiterhaufen) - gleichen sie nicht brennenden Türmen? Colón hatte sie mehr als einmal lodern gesehen, hatte von Ferne zugesehen, wenn die Verurteilten im «Sanbenito» (Büssergewand), die «Caroza» (spitze Papiermütze) auf dem Kopf, von den Waffenknechten herangeführt wurden. Meist herrschte fröhliches Treiben auf dem Richtplatz. Fliegende Händler verkauften Wein und Würste an die wartende Menge, die Verkäufer schrien sich die Seele aus dem Leib und die Büttel mussten schon die ersten Betrunkenen fortschaffen. Hinter der Absperrung sassen die Offiziellen und «Gäste», letztere waren meist zwangsgeladene Angehörige, die dem Trauerspiel zur Abschreckung zuschauen mussten. Im Spanien des ausklingenden 15. Jahrhunderts waren die meisten Opfer der Inquisition getaufte Juden. Die anderen Juden aber, die sich nicht taufen liessen, waren in Spanien unerwünscht. Nur wenig Zeit hatte Thomas Torquemada den ungetauften Juden gegeben, Spanien zu verlassen. Mit einem Dekret vom 31. März 1492 wurde die Austreibung der Juden aus Spanien befohlen. Mitnehmen durften sie nur, was sie tragen konnte. In der christlichen Bevölkerung fanden die Inquisitoren meist breite Unterstützung. Den Juden waren handwerkliche und militärische Berufe Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 95 vorenthalten; daraus ergab sich, dass viele von ihnen als Ärzte und Wissenschaftler zu hohem Ansehen gelangten, die meisten jedoch als Händler und Geldverleiher ihren Lebensunterhalt verdienten. Die Austreibung der Juden war also auch eine gute Gelegenheit, sich seiner Schulden zu entledigen. Der intellektuelle Aderlass stürzte Spanien in der Folge in eine schwere wirtschaftliche Krise. Unter den Glückwünschen, die nach dem Fall Granadas beim König und bei der Königin eintrafen, befand sich auch ein Schreiben, das wie folgt begann: «Allerchristliche, erhabene, hervorragende und mächtigste Fürsten, König und Königin der Spanischen Lande und der Inseln im Meere, meine Gebieter: im gegenwärtigen Jahr 1492 schlossen Eure Hoheiten den Krieg gegen die Mauren ab, die noch in Europa regierten, und in der grossen Stadt Granada nahm der Krieg sein Ende. Dort sah ich selbst in diesem Jahr, am zweiten Tag des Monats Januar, wie dank dem Sieg der Waffen die königlichen Fahnen Eurer Hoheiten auf den Türmen der Alhambra gehisst werden konnten ...» Die Unterschrift lautete: Cristóbal Colón. Christoph Kolumbus brachte sich mit dem Brief in Erinnerung, denn schon seit 1485 hatte er erstmals dem spanischen Königspaar seinen Plan vorgetragen, Japan, China und Indien zu erreichen, indem er westwärts über den Atlantik segeln wolle. Aber die Königin hatte eine Expertenkommission eingesetzt, die nun schon sieben Jahre beriet und sich nicht einig werden konnte. Kolumbus ging von der schon damals wieder weitverbreiteten Theorie der Erde als Kugel aus. Insofern war es logisch, dass man auf einer Kugel sowohl über Osten als auch über Westen an einen bestimmten Punkt auf der anderen Seite der Erdkugel gelangen konnte. Die Frage war nur, welches der nähere Weg war. Und da hatte Kolumbus durchaus vernünftige Argumente, aus dem Wissen seiner Zeit den westlichen Weg als den kürzeren anzunehmen. Seit 1488 Bartholomäus Diaz von seiner Afrikaumrundung heimgekehrt war, stand fest, dass der schwarze Kontinent umsegelt werden konnte. Aber wie weit war es noch nach Indien? Namhafte Historiker, so auch Salvador de Madariaga, gehen von der begründeten Vermutung aus, dass Kolumbus jüdischer Abstammung war, dass er dies allerdings gut kaschiert habe. Und das aus gutem Grund: Wäre seine jüdische Herkunft bekannt geworden, hätte auch er in die Fänge der Inquisition geraten können. Aber seine genuesische Herkunft scheint unbestritten zu sein; in Oberitalien war der jüdische Familienname Colombo (und Varianten davon) verbreitet. Er kann u.a. in Genua, Turin, Casale, Modena und Livorno nachgewiesen werden. Auch der Vorname Christoph wurde damals von vielen bekehrten Juden gewählt. Simon Wiesenthal, Leiter der Jüdischen Dokumentationszentrums in Wien, vertritt in einem 1992 veröffentlichten Buch sogar die Ansicht, dass Kolumbus jenseits des Atlantik weder Gold noch Gewürze suchte, sondern die «verlorenen Stämme Israels». Schon Marco Polo hat von einem vorderindischen Königreich mit Namen Koulam berichtet, «in Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 96 dem viele Juden und Christen leben, die eine eigene Sprache sprechen». Das Wüten der Inquisition und die Vertreibung der Juden hätten Kolumbus - so Wiesenthal - nach einem Refugium für die bedrohten Juden suchen lassen. Kolumbus hatte seine seemännische Laufbahn in seiner Heimatstadt begonnen. Genua pflegte seit vielen Jahren gute Handelsbeziehungen mit bedeutenden Handelsplätzen Europas und Vorderasiens; Seefahrt war hier selbstverständlich. 1476, als der Genuese Christoph Kolumbus gerade fünfundzwanzig Jahre alt und schon ein erfahrener Seemann war, wurde er als Steuermann mit einem flämischen Schiff vor der portugiesischen Küste schiffbrüchig. Er konnte sich an Land retten und ist zu seinem in Lissabon als Kartenmacher tätigen Bruder Bartholomäus gezogen. Dort half er seinem Bruder und hatte Zugriff zum geographischen Wissen seiner Zeit. Kolumbus hatte mit Sicherheit das berühmte Buch von Marco Polo gelesen, in dem dieser die gewaltige Dimension Asiens nach Osten beschreibt. Und er kannte auch die «Geographia» von Claudius Ptolemäus. Damals bezeichnete man unter dem Begriff «Indien» nicht nur das, was man heute Indien nennt, sondern ganz Asien. Aber niemand hatte eine Ahnung, wie gross diese Ausdehnung wirklich sei, und von der Existenz Amerika und des riesigen Pazifiks wusste man auch nichts. Kolumbus glaubte, wie er selbst notiert hat, dass zwischen «dem Ende des Okzidents (Portugal) und dem Ende Indiens (Asien) über Land (also nach Osten) eine sehr grosse Entfernung besteht.» Kolumbus schloss daraus: «Die Entfernung von Portugal über das Meer nach Indien (also nach Westen) ist sehr klein. Es ist offensichtlich, dass man mit günstigem Wind dieses Meer in wenigen Tagen durchqueren kann.» Tatsächlich scheint schon zehn Jahre vorher von König Alfons V. von Portugal eine Reise nach Indien über den westlichen Seeweg erwogen worden zu sein. Er hatte den Rat des Florentiner Kosmographen und Astrologen Paolo Toscanelli eingeholt, der in einem Brief vom 25. Juni 1474 «einen kürzeren Seeweg in die Gewürzländer, als den, den Ihr über Guinea nehmt» vorschlug. Toscanelli hatte sogar eine Karte beigefügt. Brief und Karte waren von den Portugiesen zum Staatsgeheimnis erklärt worden, aber Kolumbus hatte (auf welche Art und Weise auch immer) von diesem Brief gehört; er schrieb in heller Aufregung an Toscanelli und bat um weitere Informationen. Toscanelli antwortete aufmunternd und gab Kolumbus weitere Argumente und Berechnungen. Dazu schickte er ebenfalls eine Karte, die Kolumbus später auf seine Reise mitnahm. Warum war Kolumbus von der Kürze des westlichen Seewegs so überzeugt? Es lag auf der Hand, dass der Westweg umso kürzer wurde, je grösser die Ausdehnung Asiens nach Osten war. Die Wissenschaft ging - wie schon gesagt von der Kugelform der Erde aus. Auch ihre Einteilung in 360 Längengrade war seit Eratosthenes und Claudius Ptolemäus üblich. Dazu wurde jedes Längengrad in 60 Bogenminuten unterteilt. Die Erde hat also 360 x 60 = 21600 Bogenminuten. Und es gilt überall bis heute die Regel, eine Bogenminute am Äquator auch einer Seemeile gleichzusetzen. Doch über zwei wesentliche Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 97 Fragen herrschte noch Unklarheit: Erstens die Abstände von Längengrad zu Längengrad am Äquator, die in ihrer Summe den Erdumfang ausmachen, und zweitens die Ausdehnung Asiens nach Osten, weil im unbekannten «Rest» die Breite des Atlantiks vermutet wurde. Woher sollten Kolumbus und seine Zeitgenossen auch wissen, dass ein grosser, noch unentdeckter Kontinent und der noch grössere Pazifik in ihren Kalkulationen fehlte? Die Abstände der Längengrade - und damit die Länge einer Seemeile schwankte natürlich mit der Grösse, die man der gesamten Erde beimass. Im Katalanischen Atlas des Abraham Cresques von 1375 werden 20’400 Meilen für den Äquatorumfang angenommen, Fra Mauro schätzte 24’120 Meilen. Daraus ergaben sich äquatoriale Längengrad-Abstände von 56 Meilen bis 67 Meilen. Die richtige Zahl, 60 Meilen, sollte noch längere Zeit im Dunkeln bleiben. Über die Ausdehnung der Landmasse von Portugal bis zur Ostspitze Chinas existierten vielfältige Schätzungen. Kolumbus war ohne Zweifel sehr belesen und er kannte wahrscheinlich alle wichtigen Aussagen zu diesem Thema. Sie reichten von 116° im Katalanischen Atlas oder 125° bei Fra Mauro, von 177° bei Ptolemäus bis zu 225°, wie Marinus von Thyros (100 Jahre v. Chr.) annahm. Auch hier weicht die richtige Zahl erheblich ab: sie lautet 131°. Kolumbus rechnete mit katalanischen Meilen aus dem Atlas von 1375; es schien ihm wohl glaubwürdiger, den spanischen Hof mit einem spanischen Längenmass zu überzeugen, aber für die Ostausdehnung Asiens legte er den Wert von Marinus zugrunde. Ihm war bekannt, dass Ptolemäus 177° angenommen hatte, doch er glaubte auch an einen Irrtum des Ptolemäus: man müsse noch «Indien jenseits des Ganges», also den ganzen Fernen Osten, hinzuzählen. Damit kam er auf 282°. Kolumbus war überzeugt, dass er also nur 78 äquatoriale Längengrade zu je 56,667 katalanischen Meilen (gleich 4420 katalanische bzw. 3530 moderne Seemeilen) nach Westen segeln müsste, um die Ostspitze Asiens zu erreichen. 78 Grad sind auch beim wahren Erdumfang nur knapp 4700 Seemeilen, eine Distanz, die heute von jeder seegängigen Jacht in vier bis sechs Wochen zurückgelegt werden kann. Kuba liegt nur gut 4000 Seemeilen von der spanischen Küste entfernt. Dass Kolumbus nach seiner Abreise zum erwarteten Zeitpunkt Land sichtete, sollte ihn in seinem Glauben, Asien erreicht zu haben, bestärken. Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 98 Landung des Christoph Kolumbus auf San Salvador am 14. Oktober 1492 (nachempfundene Darstellung, Currier & Ives, United States Library of Congress's). Im April 1492 weilte der Hof noch immer in Granada. Nachdem Kolumbus von der Königin im Frühling eine abschlägige Antwort empfangen hatte, wollte er enttäuscht sein Heil in Frankreich versuchen. Am 11. April, Kolumbus hatte Granada gerade verlassen, wurde er zwei Meilen hinter dem Stadttor von einem Kurierreiter der Königin eingeholt. Er solle für Spanien den Atlantik nach Westen überqueren! Isabella forderte ihn auf, bei ihr vorzusprechen. Als er nicht mehr an einen Auftrag der Königin glaubte, war er unversehens an sein grosses Ziel gelangt. Mit drei Schiffen konnte Kolumbus am 3. August 1492 westwärts in See stechen. An Bord hatte er unter anderen einen hebräisch sprechenden Dolmetscher! Am 2. August 1492 lief die den Juden von Torquemada gesetzte Frist ab. Die spanische Krone hatte wenig Geld, man litt noch unter den Folgen des Kriegs gegen die Mauren. So wurde die erste Reise ironischerweise von Louis de Santangel finanziert, einem getauften Juden, Vermögensverwalter von König Ferdinand und vertrauter Berater der Königin. Er war es auch, der Isabella zugunsten Kolumbus’ Plänen umgestimmt hatte; vielleicht auch mit dem Argument, die Welt von dem furchtbaren Vorgehen der Inquisition in Spanien abzulenken. Denn dem spanischen Königspaar muss zugute gehalten werden, dass es mit dem Wüten des vom Papst eingesetzten «Sanctum Officium» im Herzen nicht einverstanden war. Es musste sich aber nach damaliger Auffassung aus den Angelegenheiten einer hohen kirchlichen Behörde heraushalten. Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 99 Kolumbus’ Flaggschiff war die «Santa Maria», die er «la Não», das Schiff, nannte. Die «Pinta» und die «Niña» bezeichnete er als «las Carabelas» (Karavellen). Ein Chronist hat festgehalten, dass die «Santa Maria» erheblich grösser als die beiden anderen Schiffe und damit ein Vorläufer der später verbreiteten Galeonen gewesen sei. Am 12. Oktober sichtete ein Matrose auf der «Pinta» als erster Land: es war Guanahani, wahrscheinlich das heutige Watling Island, vielleicht waren es auch die Bahamas. Später entdeckten sie Kuba und Haiti, wo die «Santa Maria» Schiffbruch erlitt. Im November gelangten die beiden übrigen Schiffe nach Puerto Rico, fanden aber das Festland noch nicht. Im März 1493 kehrte die Expedition nach Spanien zurück, und berichtete dort von «Westindien», denn Kolumbus war überzeugt, einige Asien vorgelagerte Inseln gefunden zu haben. Und wenn er auch die erhofften Schätze nicht gefunden hatte, war seine Nachricht von den neuen Inseln eine Sensation. Die Nachricht vom Erfolg des Kolumbus verbreitete sich in Windeseile. Portugal, dessen König, Wissenschaftler und Kardinäle natürlich auch von der Kugelform der Erde überzeugt waren, wurde hellhörig. Sollte Spanien, der ewige Konkurrent, doch die bessere Politik machen und kurz vor dem grossen Ziel stehen, Indien - und damit die Gewürzländer - zu erreichen? Die Stimmung zwischen beiden Ländern verschlechterte sich, Krieg drohte; schliesslich rief man den Papst als Schiedsrichter an. 1494 wurde auf Vermittlung von Papst Alexander VI. zwischen Portugal und Spanien der Vertrag von Tordesillas abgeschlossen, der die Besitz- und Entdeckungsansprüche beider Länder abgrenzte. Man vereinbarte eine 400 Leguas (1200 Seemeilen) westlich der Kapverdischen Inseln in Nord-Süd-Richtung verlaufende Demarkationslinie. Spanien wurden die westlich, Portugal die östlich davon liegenden noch zu entdeckenden Länder zugesprochen. Kolumbus unternahm noch drei weitere Reisen in dieses Gebiet, erreichte 1498 auch das amerikanische Festland im heutigen Venezuela. Aber die erhofften reichen Ländereien fand er nicht. Mächtige Neider und persönliche Feinde sorgten dafür, dass er bald bei Hof in Ungnade fiel. Kolumbus starb 1506, arm und sehr von Arthritis gezeichnet, ohne erfahren zu haben, dass er einen neuen Erdteil gefunden hatte. Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 100 Die Suche nach «Eugenia caryophyllata» Vor fünfhundert Jahren erreichte Vasco da Gama Indien: Wo wächst der Gewürznelkenbaum? Achtundzwanzig Jahre nach dem Tode Heinrich des Seefahrers sollte endlich die Umrundung des Schwarzen Kontinents gelingen. Eine neue Expedition, die unter dem Kommando von Bartolomëu Diaz, Ritter am Hofe von Lissabon, nach Süden auslaufen sollte, wurde in der Stadt streng geheim gehalten. Kein Spanier, kein Genuese, kein Venezianer sollte von diesem entscheidenden Unternehmen etwas ahnen. Ende Juni 1487 lief die kleine Flotte aus. Die Expedition bestand aus zwei Karavellen und einem Versorgungsschiff; sie waren mit Proviant für mehrere Jahre beladen, gut bewaffnet, und im Rumpf führten sie einige steinerne Wappenpfeiler (Padrãos) mit. Je tiefer sie in den Südatlantik vordrangen, desto gefährlicher wurde ihr Unternehmen, denn das schwerfällige Versorgungsschiff musste im Golf von Guinea zurückbleiben. Stürme und raue See nahmen zu. Nach fünf Monaten erreichten die beiden Schiffe im Dezember 1487 eine runde Bucht vor der trostlosen Küste Namibias. Sie nannten sie als Dank für überstandene Gefahren nach der Gottesmutter Golfo di Santa Maria. Diaz gönnte hier seinen Leuten eine Rast. Die Mannschaft war erschöpft und von Krankheit und Strapazen gezeichnet, die Stimmung war nicht gut, denn das Land hier war unwirtlich und heiss. Heute liegt an diesem einzigen Landungspunkt der Schiffe Diaz' der grosse Seehafen Namibias: die Walfish-bay. Nach einigen Tagen ging es weiter. Am Heiligen Abend wurde die Lüderitzbucht erreicht. Dann hielten sie sich frei vom Land und segelten gut 150 Seemeilen von der Küste entfernt südwärts, als ein ungeheures Unwetter losbrach, ein Sturm, wie ihn selbst die an Gefahren gewöhnten Seeleute noch nicht erlebt hatten. Wind und Wellen verschlugen die Karavellen immer weiter nach Süden, die Schiffe waren nicht mehr steuerbar, sondern lenzten vor Topp und Takel (ohne Segel vor dem Wind treiben); eine Position zu bestimmen war völlig unmöglich. Die Besatzung glaubte sich dem Ende nahe, Angst und Entsetzen machten sich breit. Erst nach dreizehn Tagen liess der Sturm etwas nach und Diaz konnte mit gerefften Segeln Kurs nach Osten nehmen. Er wollte sich dem Festland wieder nähern, von dem er glaubte, es verlaufe noch immer weiter nach Süden. Als aber nach längerer Zeit überhaupt kein Land in Sicht kam, liess er den Kurs nach Norden ändern, als hätte er geahnt, dass der Südverlauf der afrikanischen Küste nunmehr beendet sei. EIN TAUSCHHANDEL Endlich stieg aus dem Dunst des Horizonts die Silhouette von Land herauf. Bald erkannten sie eine grüne Küste und sahen zu ihrem Erstaunen einige Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 101 Viehherden. Diaz taufte die Küste Andra dos Vaqueros, Bucht der Viehhirten. Ohne die Südspitze Afrikas gesehen zu haben, hatten sie sie im Unwetter umrundet. Als erste Europäer betraten Diaz und seine Männer Südafrika. Sie entdeckten dieses Land, haben es aber nicht in kolonialen Besitz genommen, sie drangen nicht ins Landesinnere vor und verliessen kaum ihre Schiffe. Aber als sie ihre Fässer mit Frischwasser füllten, hatten sie zum ersten Mal Kontakt mit schwarzen Eingeborenen. Plötzlich standen sie da: zuerst drei Männer, dann noch zwei, schliesslich schauten etwa zwölf hochgewachsene, schlanke Gestalten von den Dünen zu ihnen herüber. Sie waren spärlich bekleidet, nur einer trug ein zerschlissenes Leopardenfell über der Schulter. Die Portugiesen erstarrten, blieben wie angewurzelt stehen, und der diensthabende Offizier liess Diaz Meldung machen. Der befahl, wenn es möglich sei, Kontakt aufzunehmen. Der Offizier winkte den Schwarzen, sie sollten näherkommen. Die Eingeborenen berieten sich leise, aber dann näherten sie sich Schritt für Schritt, langsam und furchtlos. Ein Matrose bemerkte, dass weitere Schwarze im Gebüsch kauerten; die j ungen Krieger waren mit Lanzen, Steinschleudern und Keulen bewaffnet. Er meldete seine Beobachtung dem Offizier. Der liess Armbrustschützen und Bombardiere aufmarschieren, aber da die Eingeborenen ruhig blieben, verteilte er kleine Schellen und rote Kap pen. Die Eingeborenen schenkten ihnen dafür Ringe aus Elfenbein. Der grosse Schwarze mit dem Leopardenfell, offensichtlich der Häuptling, gestikulierte, redete guttural und zeigte auf die Geschenke. «Er will noch mehr davon!» sagte einer der Matrosen. Da rief der Häuptling den jungen Männern im Gebüsch etwas zu. Der Hauptmann liess die Bombarden in Anschlag bringen, und die Soldaten beobachteten nervös den Schauplatz. Dann raschelte es im Gebüsch, Zweige wippten und bogen sich seitwärts: zwei Knaben führten einen Ochsen herbei! Erleichtert liessen die Männer die Waffen sinken. Der Häuptling machte ihnen verständlich, dass er den Ochsen gegen weiteren Tand eintauschen wollte. Lange wurde palavert und gehandelt; schliesslich wechselte der Ochse für zehn Glöckchen, zehn Kappen, einen kleinen Spiegel sowie ein billiges Messer für den Häuptling den Besitzer. Danach verschwanden die Eingeborenen im Gebüsch. Sofort wurden Posten aufgestellt, die den Landungsplatz bewachten, denn Diaz hatte den Eindruck, dass sich die Eingeborenen den weissen Fremdlingen eher feindlich zeigten. Es kam aber zu keiner weiteren Begegnung. Die Portugiesen sahen hier keine besondere wirtschaftliche Bedeutung, ausser dass man Vieh zur Verpflegung eintauschen konnte. Die weitere Geschichte Südafrikas schrieben nicht die Portugiesen, hier blieben sie Entdecker, wurden nicht Eroberer und Unterdrücker. Das machten später andere, die aus England und Holland kamen. Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 102 AUF GEGENKURS Doch in Mossel Bay, der kleinen südafrikanischen Stadt mit 30'000 Einwohnern, wird die Erinnerung an Bartolomëu Diaz gepflegt, obwohl er hier nur kurze Zeit vor Anker ging. Das Diaz-Denkmal am Hafen weist nach Ostnordost; das war der Kurs, den Diaz auf seinem weiten Weg nach Indien nahm. Doch er kam nicht mehr weit; seine Mannschaft verweigerte sich ihm: der Sturm, die Angst sowie die Knappheit an Lebensmitteln und Trinkwasser hatten sie mutlos gemacht. Am 12. März 1488 erreichten sie eine Felsenklippe, wo sie wenigstens eine Quelle vorfanden. Diaz liess einen Padrão errichten. Dort angekommen, so verzeichnete ein Schiffschronist, erfüllte das Schiffsvolk grosse Müdigkeit und Furcht wegen der grossen Meeresgebiete, die sie hinter sich gebracht hatten. «Und alle fingen an sich wie ein Mann zu beklagen und zu verlangen, dass die Fahrt nicht weiter fortgesetzt werde. Sie sagten, dass die Lebensmittel nicht mehr ausreichen würden und dass man, falls man weitersegle, hungers werde sterben müssen. Es sei für eine Reise genug, soviel Küste erforscht zu haben, und sie hätten bereits die wichtigste Erkenntnis erlangt, die aus dieser Entdeckungsfahrt zu ziehen gewesen sei; nämlich, dass sich das Festland immerfort in östlicher Richtung erstrecke. Es scheine auch, dass ein bedeutendes Kap hinter ihnen läge. Es sei besser umzukehren, um dieses zu erkunden.» LIEGT DER SÜDPOL IN AFRIKA? Diaz, der unbedingt den Durchbruch nach Indien schaffen wollte, konnte die Fahrt noch ein paar Tage fortsetzen, als aber auch seine Offiziere zur Umkehr rieten, musste er das Unternehmen abbrechen. Die Schiffe gingen auf Gegenkurs und segelten der Küste entlang nach Westen. Dann sahen sie endlich jenes Kap, das das Ende Afrikas markierte. Sie nannten es Kap der Stürme. König Johann II. von Portugal hat es nach ihrer Rückkunft in Kap der Guten Hoffnung umgetauft, um damit seiner Zuversicht Ausdruck zu geben, der Seeweg nach Indien sei nun frei. Als Diaz im Dezember 1488 heimkehrte, hatte die Reise sechzehn Monate und siebzehn Tage gedauert. Der König gab ihm eine feierliche Audienz, an der auch Kolumbus als Zeuge anwesend war. Kolumbus hatte König Johann vor einiger Zeit einen Seeweg nach Indien über den Atlantik nach Westen vorgeschlagen, weil Indien - wie er überzeugt war über wesentlich kürzere Distanz zu erreichen sein müsse. Doch der König war nun noch weniger als vorher an Kolumbus' Ideen interessiert: warum sollte man einer ungewissen Theorie nachhängen, wenn der zwar lange, aber doch sichere Weg um Afrika gefunden war? Die Umfahrbarkeit dieses riesigen Kontinents war bewiesen. Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 103 Diaz ist auf einer späteren Fahrt über den Indischen Ozean mit seinem Schiff verschollen. Aber seither hatte die Welt ein anderes Gesicht. Allerdings hatten sich die Träume der Herrscher und Händler von Reichtum und Gewürzen noch nicht erfüllt. Die als Arzneipflanze begehrte Aloe gab es zwar ausreichend in Afrika, auch konnte man den weissen Pfeffer aus Afrika nach Lissabon bringen, aber die bessere Sorte, der grosskörnige schwarze Pfeffer, für den die höchsten Preise erzielt wurden, wuchs in Indien. Im Kronrat fanden sich einflussreiche Männer, die grosse Bedenken gegen eine weitere Erkundung des Südens vorbrachten. Woher wolle man wissen, ob sich die afrikanische Küste nach ein paar tausend Meilen nicht doch wieder nach Süden hinziehe und vielleicht gar mit dem Südpol verwachsen sei? Der Vertrag von Tordesillas: Die erste Seite des Vertrags 1493 (Biblioteca Nacional de Lisboa) Schon jetzt überforderten die unendlich weiten Schiffahrtswege Menschen und Material. Aber Kolumbus war 1492 im Solde der spanischen Könige über den Atlantik gesegelt und hatte in der Zwischenzeit tatsächlich grosse Ländereien im Westen gefunden; Inseln zwar, aber wer garantierte, dass sich dahinter nicht doch das indische Festland befinde? So hat man unterpäpstlicher Vermittlung 1494 vorsorglich die Welt unter sich aufgeteilt: der Vertrag von Tordesillas legte fest, dass alle neuzuentdeckenden Länder - westlich von der Mitte des Atlantiks gemessen - zu Spanien, östlich davon aber Portugal gehören sollten. König Manuel I. setzte die maritime Expansionspolitik seiner Vorgänger dennoch konsequent fort. Man nannte ihn »Manuel el fortunado«, Manuel den Glücklichen. Unter seiner 1495 beginnenden Herrschaft sollte Portugal den glanzvollen Höhepunkt seiner Entdeckungsgeschichte erleben. Die Wahl des Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 104 Königs für die nächste entscheidende Expedition fiel auf Vasco da Gama, dessen Familie eine lange Seefahrertradition vorweisen konnte. Vasco da Gama hatte eine ausgezeichnete seemännische Ausbildung genossen und wusste dazu mit Kanonen gut umzugehen. Bei der Vorbereitung seiner Indienreise beriet ihn Bartolomëu Diaz, der auch den Schiffbau beaufsichtigte. Die Flotte bestand aus vier Schiffen: der St. Raphael unter Vascos Bruder Paolo, der Berrio unter Cuelho, dem Flaggschiff St. Gabriel sowie einem Proviantschiff, das auf Befehl des Königs in der Mossel Bay geleichtert und verbrannt werden sollte. Die Abfahrt des Geschwaders erfolgte am 8. Juli 1497. Am Rande Lissabons, in Belem an der Mündung des Tejo, dort wo heute das prächtige Hieronymitenkloster steht, gab es damals eine kleine Einsiedelei mit einer Marienkapelle, die einst von Heinrich dem Seefahrer errichtet worden war. Dort, so berichtet die Legende, soll Vasco da Gama in der letzten Nacht vor seiner Abfahrt gebetet haben. Als er zwei Jahre später glücklich heimkehrte, wurde er an genau dieser Stelle vom König empfangen. Das Kap war umsegelt! Wie alle Expeditionen vorher verliess auch Vasco da Gamas Flotte die Heimat am Cabo São Vincente vorbei, im Angesicht der legendären Seefahrerschule auf dem Felsen. Die Winde waren günstig. Da Gama folgte dem Rat von Bartolomëu Diaz und segelte nicht die westafrikanische Küste entlang, sondern schlug einen weiten Bogen nach Südwesten in den offenen Atlantik. Als die Schiffe anfangs November die Küste Namibias erreichten, waren sie den starken Strömungen an der angolanischen Küste entgangen und hatten eine sichere und angenehme Fahrt hinter sich. Hier in der St.-Helena-Bai wurde eine kurze Rast gemacht, aber am 18. November wurden die Segel wieder gesetzt. Vier Tage später kam das Kap der Guten Hoffnung in Sicht, und die kleine Flotte umsegelte das Kap erstmals gewollt in West-Ost-Richtung. In der Mossel-Bay verbrannten sie das Versorgungsschiff, denn die alte Karavelle war nicht mehr seetüchtig. Danach ging es hinaus in neue, den Europäern unbekannte Gewässer. Untiefen und starke Gegenströmungen beeinträchtigten die Fahrt entlang der Küste Ostafrikas. Am 2. April 1498 erreichten die Schiffe die ostafrikanische Hafenstadt Mombasa. Der Empfang durch den einheimischen Sultan war nicht sehr freundlich, denn der Handel in diesem Teil der Erde lag fest in arabischer Hand. Der Indische Ozean zwischen den Küsten Afrikas und Indiens -– das war arabisches Meer! Die Portugiesen waren Eindringlinge in einer Welt, die von morgenländischer Kultur geprägt war. So fuhren sie bald weiter. Mombasa war eine strategisch wichtige Zwischenstation, aber es gelang den Portugiesen erst knapp hundert Jahre später, dort endgültig Fuss zu fassen. Dreimal, 1505, 1528 und 1589, wurde die Stadt von den Portugiesen angegriffen und geplündert, doch immer wieder konnte Mombasa sich erholen und seine Unabhängigkeit behaupten. Erst 1593 baute Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 105 Portugal eine mächtige Festung. Dort, im Fort Jesus, kann man noch heute Spuren der europäischen Soldaten sehen, die aus Liebeskummer, Heimweh oder Langeweile Kritzel und Inschriften in die Mauern ritzten. Aber auch dieses Fort konnte den Machtanspruch Portugals auf die Dauer nicht erhalten; es fiel als die letzte Bastion an dieser Küste zweihundert Jahre nach der Ankunft da Gamas. Am 14. April 1498 brach Vasco da Gama zur Überquerung des Indischen Ozeans auf. Er liess an der Küste, vor dem Handelsplatz Malindi, ein grosses Steinkreuz errichten. Da Gama war die Rivalität zwischen den beiden Städten Mombasa und Malindi zu Ohren gekommen. In Mombasa hatten die Europäer ein abweisendes Verhalten der Mauren erlebt; das wusste auch der Herrscher von Malindi. Er empfing die Portugiesen freundlich und stellte ihnen einen Lotsen zur Verfügung, der mit den Windverhältnissen, Strömungen und Gezeiten des Indischen Ozeans vertraut war. Vielleicht war auch etwas Berechnung im Spiel: erstens wurde er die Fremden schneller wieder los; zweitens war es wohl besser, freundlich zu sein, falls sie zurückkommen sollten. Gleichwohl, für da Gama konnte die letzte und wichtigste Etappe beginnen! INDIEN IST ERREICHT! Unter Ausnutzung des Südwestmonsuns überquerten die Schiffe den Indischen Ozean in dreiundzwanzig Tagen. Am 18. Mai tauchte die Küste Indiens vor ihnen auf. Das eigentliche Ziel, die Stadt Calicut an der Malabarküste, wurde nur um wenige Seemeilen verfehlt. Da Gama landete dort zwei Tage später; Indien, das Land der Gewürze, war erreicht! Vor fünfhundert Jahren, am 20. Mai 1498, erfüllte sich der Traum Heinrichs des Seefahrers! Ankunft Vasco da Gamas in Calicut (Historiengemälde des 19. Jahrhunderts) Vor allem war es der Pfeffer, der in Europa mit Gold aufgewogen wurde und der hier an den Hängen des küstennahen Gebirges zuhauf als Kletterpflanze wuchs, damals wie heute. Der einträgliche Handel mit Pfeffer lag in den Händen von Arabern, die ihn mit ihren schnellen Schiffen, den Dhaus, über den Indischen Ozean brachten, dann mit Karawanen auf dem Landweg an das östliche Mittelmeer transportierten und dort vor allem an genuesische und venezianische Händler verkauften. Als da Gama indischen Boden Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 106 betrat, traf er auch auf zwei Kaufleute aus Tunis; ihr Gruss an ihn lautete: »Hol' dich der Teufel, wer hat dich hierher gebracht?« Da Gama wusste, dass er auf die Gunst des Königs, des Samorins, angewiesen war. Er versuchte, dem Herrscher zu schmeicheln, bat um eine Audienz und zog mit Pomp zur Residenz. Aber seine Geschenke konnten den Samorin nicht beeindrucken. »Als er und seine Hofleute unsere Glasperlen und bunten Kappen sahen, die wir ihnen schenken wollten, lachten sie uns aus«, berichtete der Chronist. »Dann sagten sie, so etwas könne man ihrem König nicht anbieten, gäbe doch jeder fremde Kaufmann ein Vielfaches dessen.« Die überall zur Schau gestellte Pracht machte den Portugiesen sehr schnell klar, dass sie in kein armes Land gekommen waren. Aber anfängliche Freundlichkeit war auch hier nicht von Dauer. Die Einheimischen hatten durchaus nicht darauf gewartet, von den Europäern »entdeckt« zu werden. Dass die Leistungen der indischen Kultur allemal neben der Europas bestehen konnte, davon zeugten die glanzvollen Paläste mit den künstlerisch angelegten Gärten und die reichen Tempelanlagen. Ihr Bedarf an europäischen Waren war klein. Indiens Reichtum war vor allem durch den Gewürzhandel, aber auch durch die Perltaucherei und den Elfenbeinhandel entstanden: das goldarme Land war nur an Edelmetall im Austausch gegen einheimische Waren interessiert. Die Prachtbauten Venedigs und Genuas gäbe es nicht ohne den Pfeffer. Pfeffer hatte bereits die Römer hierher gelockt, und er wurde in Europa nicht nur zum Würzen verwendet, sondern auch als Steuerabgabe oder Lösegeld Bis heute hat sich nichts daran geändert, dass die besten Qualitäten aus diesem Teil Indiens stammen. Vor den Portugiesen waren schon andere Fremde nach Calicut und Cochin, dem zweiten bedeutenden Gewürzzentrum, gekommen. Seit zweihundert Jahren landeten hier chinesische Dschunken und tauschten Edelsteine aus Ceylon, Stoffe aus China und Gewürznelken von den Molukken gegen den begehrten Pfeffer. Im Gegensatz zu den Portugiesen wollten die Chinesen nicht erobern, sondern nur friedlich Handel treiben. Sie brachten Seide und Porzellan und segelten mit Gewürzen und Elfenbein davon. An der Wende zum 16. Jahrhundert, als da Gama an der Malabarküste eintraf, war der indische Subkontinent in zwei religiöse Lager, den Islam und den Hinduismus, gespalten. Nicht die Hindus, aber die Muslime, die seit dem 11. Jahrhundert aus Afghanistan hierher vorgedrungen waren, wurden zu Gegnern der Portugiesen. Die muslimischen Kaufleute, als Beherrscher der Pfeffermärkte, und die arabischen Seefahrer, als Handelspartner der ostafrikanischen und levantinischen Häfen, befürchteten zu Recht, dass ihnen die Portugiesen das Geschäft kaputt machen wollten. Und dagegen wehrten sie sich. Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 107 SCHRECKLICHE RÜCKFAHRT Nach Handgreiflichkeiten zwischen portugiesischen Matrosen und arabischen Kaufleuten und nachdem auch der Samorin den Europäern immer abweisender begegnete, befürchtete da Gama kriegerische Auseinandersetzungen, denen er mit seiner kleinen Flotte kaum gewachsen gewesen wäre. Vasco da Gama musste das Land verlassen und die Heimreise antreten. Ein Zeitzeuge schilderte in bewegten Worten die Geschehnisse. Es wurde eine Fahrt des Schreckens. «Für diese Überfahrt brauchten wir lange Zeit. Es vergingen drei Monate weniger drei Tage, bis wir wieder Land sahen. Die Ursache dafür waren häufige Windstillen und Gegenwinde, die unser Vorkommen so behinderten, dass unsere ganze Mannschaft krank wurde. Das Zahnfleisch wucherte ihnen so über die Zähne, dass sie nicht mehr essen konnten; auch schwollen ihnen die Beine an, und sie bekamen am ganzen Körper Geschwüre, die einen Mann so weit schwächten, bis er starb, ohne an irgendeiner anderen Krankheit zu leiden. Auf diese Weise starben uns während der Überfahrt dreissig Leute. Diejenigen, die schliesslich auf den Schiffen noch Dienst taten, mochten sieben oder acht Mann sein, und sie waren weit davon entfernt, gesund zu sein.» Da Gamas Route nach Indien 1497-1499 Sie erholten sich etwas in Malindi. Der Sultan gestattete, dass Vasco einen Padrão in der Nähe des Palastes aufstellte; er ist noch heute ein steinernes Zeugnis für den Wagemut der Kapitäne und der unzähligen namenlosen Seeleute, ohne den kein Entdecker dorthin gelangt wäre. Weil da Gama nun zuwenig Matrosen hatte, musste er die «St. Raphael» seines Bruders Paolo verbrennen. Dann ging es weiter zum Kap der Guten Hoffnung. Dort erwartete sie eine stürmische See, und sie waren froh, als sie nach langem Kreuzen gegen Wind und Strömung wieder Kurs nach Norden nehmen konnten. Vascos Bruder erkrankte. Deshalb trennte sich da Gama vom übriggebliebenen zweiten Schiff, der «Berrio» unter Nicolau Cuelho, und lief mit dem «St. Gabriel» die Azoren an, wo Paolo da Gama starb. Cuelho, der die Heimreise ohne Umweg fortgesetzt hatte, traf am 10. Juni 1499 als erster wieder in Lissabon ein und wurde triumphal gefeiert. Drei Monate später gelangte auch Vasco da Gama dorthin Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 108 und empfing von seinem König grosse Ehrungen und Belohnungen. Bei seiner Ankunft erwartete ihn der König im stillen Garten bei der Marienkapelle des Hieronymitenklosters am Ufer des Tejo, wo Vasco vor mehr als zwei Jahren um glückliche Heimkehr gebetet hatte. MIT FEUER UND SCHWERT Nach dieser bisher längsten Fahrt einer portugiesischen Expedition kehrte da Gama – inzwischen reich geworden und zum Admiral der Indischen Meere ernannt – noch zweimal an die Malabarküste zurück: mit grösseren Flotten, aber auch mit Feuer, Schwert und Kanonen. Aus dem Entdecker wurde ein Eroberer, der eine breite Blutspur von Tod und Schrecken hinter sich liess. Auf seiner dritten Indienreise starb er Weihnachten 1524 in Cochin. Seine sterblichen Überreste liegen heute im Hieronymitenkloster von Belem, einer nationalen Wallfahrtsstätte der Portugiesen, dort, wo ihn König Manuel nach der Rückkehr von seiner ersten Reise erwartet hatte. In unmittelbarer Nähe liess König Manuel der Glückliche eine mächtige Festung zum Schutze des Hafens errichten: der Torre de Belem. Vasco da Gamas erste Indienexpedition brachte Portugal ans Ziel seiner achtzig Jahre dauernden Bemühungen. Der Weg nach Indien war frei! Fortan liefen jährlich etwa zwanzig Schiffe nach Indien aus; die meisten wenn auch nicht alle - kehrten reich beladen zurück und erlaubten dem Land eine Prachtentfaltung, wie niemals mehr in seiner späteren Geschichte. Aber die arabischen Händler gaben nicht so schnell auf. Sie schürten bei den indischen Radjas und Samorinen die Abneigung gegen die Europäer. Die Herrscher waren bald überzeugt, dass die Portugiesen nicht – wie die Chinesen – Pfeffer gegen gleichwertige Waren zu tauschen beabsichtigten. Die Portugiesen wollten den Pfeffermarkt den Arabern entreissen! Die Lage spitzte sich zu, und ein kriegerischer Konflikt war unausweichlich. Zehn Jahre nach der Ankunft der Portugiesen in Indien kam es zu der entscheidenden Auseinandersetzung vor dem Hafen von Diu. Die Flotte der Portugiesen unter dem Befehl von Francisco d'Almeida schlug die Araber vernichtend. Der Feuerkraft der Europäer, der Stabilität ihrer Schiffe, ihrer besseren militärischen Taktik und ihrer überlegenen Technik waren die Orientalen nicht gewachsen. An der Schlacht nahmen zwei Freunde teil, die später noch Geschichte machen sollten: Francisco Serräo und Fernando Magellan. Der eine würde die Gewürzinseln finden, der andere fast die Erde umsegeln! Doch vorher erkundeten sie 1509 im Geheimauftrag und als Händler verkleidet den Handelsplatz Malakka an der Westküste der Halbinsel gleichen Namens. In der Person von d'Almeidas Nachfolger, Affonso d'Albuquerque, zeigte sich besonders eine Veränderung vom Entdecker zum Eroberer, vom Seefahrer zum Kriegsherrn. Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 109 Affonso d‘Albuquerque (1453-1515), portugiesischerAdmiral, ab 1509 Vizekönig in Indien, eroberte Hormuz, Goa und Malakka (British Library, London). D'Albuquerque fügte den Erfolgen seiner Vorgänger weitere Siege hinzu; 1510 eroberte er Goa an der Westküste Indiens. Goa wurde zum Hauptstützpunkt der portugiesischen Macht ausgebaut, es war Sitz der Vizekönige, der Stellvertreter des portugiesischen Königs in Asien. Auch wenn die reiche Oberschicht durchaus angenehm zu leben wusste, so machten doch Seuchen und Krankheiten den Europäern das Leben in den Tropen schwer. Trotzdem blieb Goa über Jahrhunderte hinweg Kolonie, auch als Portugals Macht im Indischen Ozean längst Geschichte war. Erst im Dezember 1961 fiel es durch ein völkerrechtliches Abkommen an Indien zurück. MANUEL DER «GLÜCKLICHE» Portugals Behörden sahen überall Spione. Eine königliche Order von 1479 befahl, alle fremden Matrosen, die an Bord portugiesischer Schiffe auf der Südroute entdeckt wurden, über Bord zu werfen, und neuentdecktes Land durfte nicht mehr auf Karten festgehalten werden. Kurz vor dem Ende des 15. Jahrhunderts gelangte Portugal an das ersehnte Ziel: am 20. Mai des Jahres 1498 landete Vasco da Gama in Indien! Das Gewürzmonopol der Araber, der Handel mit den Gewürzen, sollte bald zusammenbrechen. König Manuel, genannt der Glückliche, triumphierte. Er verlieh sich selbst den Titel «Herr über Guinea und die Eroberungen, die Seewege und den Handel von Äthiopien, Arabien, Persien und Indien». Die neuen Erkenntnisse der Entdecker wurden nach ihrer Rückkehr in Lissabon ausgewertet und kartographiert. Diese Karten zu kopieren und weiterzugeben war ein Staatsverbrechen. Der Ruhm Portugals drang in alle Städte Europas. Venedig schickte Spione nach Lissabon; sie sollten das neue nautische Wissen herausfinden, das Portugal in die Lage versetzte, der Stadt an der Adria die wirtschaftliche Macht zu entwinden. Neue Karten aus Portugal herauszuschmuggeln war lebensgefährlich; wer erwischt wurde, war des Todes. Alberto Cantino war 1502 Beauftragter des mächtigen Herzogs d’Este von Ferrara. Kolumbus war vor Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 110 zehn Jahren von den von ihm entdeckten Ländern im Westen nach Spanien zurückgekehrt und Vespucci hatte sie als neuen Kontinent erkannt. DER PAPST TEILT DIE WELT! Um einen «ewigen Krieg» zwischen katholischen Ländern zu verhindern, teilte der Papst 1494 im Vertrag von Tordesillas die Welt in eine portugiesische und eine spanische Interessensphäre auf. Cantino gelang es, die Kopie einer Karte heimlich von Lissabon ausser Landes zu bringen, ein Dokument des Verrats und der Intrigen! Die Karte war auf dem neuesten Stand: Europa liegt in der Mitte, darunter bereits sehr exakt Afrika, im Osten sieht man Indien und die zu grosse Halbinsel von Malakka. Die grosse Überraschung aber findet sich im Westen mit der Wiedergabe der mittel- und südamerikanischen Küste. Deutlich zu sehen ist auch die «Linie von Tordesillas». Cantino musste aus Lissabon fliehen; er kam nach Genua, geriet dort in Geldnot und verpfändete die wertvolle Karte. In seiner Not wandte er sich an seinen Auftraggeber, der Herzog löste ihn aus und erhielt seine Karte. Das portugiesische Staatsgeheimnis war damit gebrochen, das neue geographische Wissen allgemein zugänglich! Planisphäre des italienischen Diplomaten Alberto Cantino, 1502. Die Planispäre dokumentiert die portugiesische Überseebesitze in Asien, Afrika und Amerika. Besonderheit: In derPlanisphäre ist die Demarkationslinie nach dem Vertrag von Tordesilla abgetragen. (Quelle: Gerald Sammet (Hrsg.): Die Welt der Karten. Historische und moderne Kartografie im Dialog. Bertelsmann Lexikon Verlag 2008, S. 10 f.) Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 111 KINDER ALS KOPISTEN Auch Spanien pflegte die Geheimhaltung aller Informationen seiner Entdecker. In der «Casa de Contratación de las Indias», dem Indischen Amt zu Sevilla, wurden Spaniens Geheimnisse der Seefahrt unter strengen Verschluss genommen. Um besonders wichtige Dokumente zu kopieren, beschäftigte man Kinder; sie konnten lesen und schreiben, wussten aber nicht den Sinn zu entschlüsseln. Ein Kind fing mit einer Arbeit an, musste bald abbrechen, und ein anderes Kind setzte die Arbeit fort. Keines wusste etwas mit den Bruchstücken anzufangen. Niemand glaubte damals noch an die Welt als Scheibe. Es war klar, dass man auch nach Westen in die Gewürzländer kommen musste. Für die Portugiesen sah es nicht gut aus. Nun konnten fast alle Quellen des Reichtums in die Karten der bekannten Welt gezeichnet werden. Land- und Seekarten blieben jedoch bis weit in die Neuzeit hinein das, was sie von allem Anfang an waren: Symbole territorialer Machtansprüche! Die Rückseite der Erde Ein neuer Erdteil und ein neuer Ozean! – Magellan findet die Gewürzinseln und macht Portugal zum reichsten Land Europas Weder der Vertrag von Tordesillas 1494 noch die portugiesischen Erfolge in Ostasien hinderten Spanien daran, seine Zukunft im direkten Handel mit den Gewürzländern zu suchen. Zu Anfang des 16. Jahrhunderts war noch immer nicht sicher, ob die von Kolumbus entdeckten Inseln und Länder tatsächlich zu Asien gehörten. 1499 begann Amerigo Vespucci, nach dessen Vorname der Kontinent heute benannt ist, mit der Erforschung Mittel- und Südamerikas. Vespucci wollte feststellen, ob er einen Landvorsprung umfahren könne, den Ptolemäus als Südspitze des asiatischen Kontinents dargestellt und das Kap von Catigara genannt hatte. Südlich der Gegenden, die Kolumbus in Venezuela erreicht hatte, sichtete er Land und segelte etwa 1200 Meilen auf Südostkurs einer Küste entlang. Er musste umkehren, weil seine Vorräte zuende gingen und der Bohrwurm den Planken seiner beiden Schiffe schwer zugesetzt hatten. Schon damals hegte er den Verdacht, dass «dies nicht Asien» sein könne. 1501 ging er noch einmal auf dieselbe Route, diesmal mit drei Schiffen. Der Küstenverlauf änderte sich bald einmal von Südost nach Westsüdwest; Vespucci segelte zweitausendvierhundert Meilen auf diesem Kurs und drang bis nach Patagonien vor – nur etwa vierhunderfünfzig Meilen vor der Südspitze Feuerlands. «Wir erreichten ein neues Land», notierte er ins Tagebuch, «das wir Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 112 aus vielen Gründen, die im Folgenden aufgezählt sind, als einen Erdteil erachten. Wir kreuzten so weit in diesen Meeren, dass wir die heisse Zone überwanden und südlich der Linie der Tag- und Nachtgleiche und des Wendekreises des Steinbocks kamen, bis der Südpol fünfzig Grad über meinem Horizont stand. Wir schifften neun Monate und siebenundzwanzig Tage auf der Südhalbkugel, wobei wir nie den Grossen oder Kleinen Bären erblickten ... Ich war auf der Seite der Antipoden; meine Fahrt erstreckte sich über ein Viertel der Welt.» Nachdem Vespucci erkannt hatte, dass Kolumbus einen neuen Kontinent gefunden hatte, wurde innerhalb weniger Jahre die Bedeutung dieser Erkenntnis offenbar. Spanische Abenteurer brachen bald von ihren ersten Siedlungen in der Karibik auf, die Neue Welt zu erobern. Ehrgeiz, Ruhmsucht und das Verlangen nach Reichtum waren die Triebfedern. Die Abenteurer gingen als Konquistadoren, als Eroberer, in die Geschichte ein, denn sie unterwarfen, was sie entdeckten. Die Konquistadoren gewannen für Spanien nicht nur neue Länder, sie hinterliessen meist auch eine Blutspur von Gier und Gewalt. Aber sie konnten endlich auch die ersten Schiffe mit den Schätzen der Neuen Welt, vor allem das Gold der Inkas und Azteken, nach Europa schicken. 1519–1521 bezwang und vernichtete Hernando Cortes mit nur dreihundert schwerbewaffneten Männern die Hochkultur der Azteken im heutigen Mexiko, Francisco Pizarro eroberte 1531–1534 Peru und unterwarf die dort herrschenden Inkas. Sebastian de Benalcazar gelangte 1534 nach Quito. 1536 brach Gonzalo Jimenez de Quesada von Santa Marta auf und kämpfte sich den Magdalenafluss aufwärts nach Süden voran, bis er das Königreich Chibcha auf dem Hochplateau von Bogota erreichte und eroberte. Er gründete die Stadt Santa Fé. Francisco de Oranella, von dem keine weiteren Lebensdaten bekannt sind, erlebte das wohl unglaublichste Abenteuer. Er drang 1541 von Quito nach Osten vor und erreichte mit einigen Männern den Rio Napo, einen Quellfluss des Amazonas. Er baute ein Schiff und fuhr mit der Strömung den Fluss abwärts bis in den Amazonas. Dort war die Strömung so stark, dass an eine Rückkehr nicht zu denken war. Er beschloss, weiterzusegeln, obwohl er keine Ahnung hatte, wohin er mit seinen Männern gelangen würde. Sie waren oft in Gefahr, in den riesigen Stromschnellen ihr Schiff zu verlieren; auch mussten sie in zahlreichen Kämpfen ihr Leben gegen die Einwohner der Regenwälder verteidigen. Aber schliesslich erreichten sie den Atlantik und konnten tatsächlich nach Spanien zurückkehren. 1498 hatten die Portugiesen Indien erreicht, eroberten 1511 Malakka und kontrollierten seit 1513 die Molukken. Die Gewürze waren in Indien und Fernost billig zu haben, Portugal war am Westweg nicht mehr interessiert! Im März 1518 trug ein portugiesische Kapitän dem jungen spanischen König Karl I. einen grandiosen Plan vor. Er wolle im spanischen Auftrag nach Westen segeln, um eine Passage durch Amerika zu suchen. Dahinter müsse in nicht allzu grosser Ferne das schon von Kolumbus gesuchte Asien zu finden sein. Zwar sei Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 113 die Nord-Süd-Position der Demarkationslinie von Tordesillas im Westen festgelegt, aber weil der Erdumfang noch unbekannt war, war auch ihr Verlauf auf der Rückseite der Erde völlig offen. Gemäss seinen Berechnungen zum Erdumfang, die Ferdinand Magellan dem König vorlegte, müssten die von den Portugiesen beherrschten Gewürzinseln der Molukken auf der spanischen Hälfte der im Vertrag von Tordesillas geteilten Welt liegen! Er, Magellan, wolle den Beweis erbringen. Magellan entstammte dem niederen portugiesischen Adel. Er wurde um 1480 in Sabrosa im gebirgigen Nordportugal geboren. Seine Heimat war unter seinen Zeitgenossen als eine Gegend bekannt, in der «neun Monate Winter und drei Monate Kälte herrschte». Ferdinand Magellan. Anonymes Porträt aus dem 16. oder 17. Jahrhundert (Marinemuseum, Newport). Schon als Knabe kam er in die Kadettenanstalt der Marine, wo er erzogen wurde und sich mit Francisco Serrão, dem späteren Entdecker der Gewürzinseln angefreundete. Portugal befand sich auf dem Höhepunkt seiner Entdeckungen. Die beiden Freunde gelangten mit der Flotte Franzisco d’Almeidas, des ersten indischen Vizekönigs Portugals, in den Osten, und waren in der Schlacht von Diu dabei, wo die Portugiesen eine arabisch-indische Flotte vernichtend schlugen. 1509 erkundete Magellan, als Händler verkleidet, das reiche Malakka, das zwei Jahre später unter dem zweiten Vizekönig Affonso d’Albuquerque in einer blutigen Schlacht erobert und anschliessend – als strategisch wichtiger Hafen auf dem Seeweg zu den Gewürzinseln – ausgebaut wurde. Damit gewann Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 114 Portugal die Kontrolle über den Gewürzmarkt, aber noch nicht über ihr Herkunftsland, die Molukken. Magellan stieg zum Offizier und Kapitän in der portugiesischen Indienflotte auf; seine offene Art, seine Umsicht und sein Mut brachten ihm bald unter seinen Kameraden Respekt ein – aber beim Vizekönig d’Albuquerque war er unbeliebt. Als Magellan anlässlich einer Offiziersbesprechung bei einer wichtigen Entscheidungssuche eine gegensätzliche Meinung als der Admiral äusserte, verscherzte er sich dessen Gunst endgültig und wurde nach Portugal zurückbeordert. Er mußte vorübergehend in der portugiesischen Landstreitmacht in Nordafrika Dienst tun, wurde verwundet, behielt ein steifes Knie und wurde aus der Armee entlassen. In Lissabon lernte er den skurrilen Astronomen Rui Faleiro kennen, einen obskuren und nervösen Menschen, der behauptete, das «Geheimnis der Längenberechnung» zu besitzen. Anhand eines selbstgebauten Globus, bei dem Faleiro das Wissen von Martin Behaim und Vespucci sowie die Berechnungen des Regiomontanus berücksichtigt hatte, glaubte er beweisen zu können, dass der Erdumfang grösser sei, als Kolumbus angenommen hatte, welcher noch mit den Angaben im Katalanischen Atlas von 1375 gerechnet hatte. Die beiden Männer begannen, einen Plan für einen Westweg zu den Gewürzinseln zu schmieden. Magellan trug seine Ideen König Manuel von Portugal vor, der aber – wie d’Albuquerque – eine persönliche Abneigung gegen Magellan hegte und ihn öffentlich kränkte. Magellan konnte diese Verunglimpfung nicht verwinden und wechselte daraufhin 1517 nach Spanien. Dort heiratete er Beatrix Barbosa, die Tochter eines einflussreichen Spaniers portugiesischer Herkunft. 1518 konnte Magallanes König Karl I. seinen Plan unterbreiten, Amerika auf dem Westweg zu durch- oder umfahren und die Gewürzinseln für Spanien zu gewinnen. Karl I. folgte Magellans Argumenten, die ihm die Möglichkeit aufzeigten, dem Vormarsch der Portugiesen im Fernen Osten Einhalt zu gebieten und ihnen gleichzeitig die Vorherrschaft zur See in dieser Weltregion zu entreissen. Der König rüstete fünf Schiffe aus, die am 20. September 1519 in See gingen. Magallanes musste Ende März in der Bucht von San Julián vor dem antarktischen Winter Schutz suchen und eine Meuterei niederschlagen. Ein Schiff, die Santiago, ging bereits in diesem Winter verloren, ein zweites, der San Antonio, desertierte nach der Weiterreise im Südfrühling und segelte nach Spanien zurück. Die restlichen Schiffe durchquerten im Oktober 1520 die Magellanstraße und gelangten in den Pazifik. Die Strecke von der Südspitze Amerikas bis zu den Philippinen wurde für die Spanier zur Höllenfahrt! Sie benötigten 110 Tage, um diesen grössten Ozean der Welt, der über ein Drittel der Erdoberfläche bedeckt, zu überqueren. Die Lebensmittel waren bald verbraucht, das Trinkwasser faulte, viele Leute starben. Aber sie hatten trotzdem Glück, denn das Wetter war die ganze Zeit friedlich, und Magellan taufte es deshalb «Mar Pacifico», Meer des Friedens. Am 18. März 1521 gelangten sie zu den Philippinen, wo die Eingeborenen in großem Stil getauft und christianisiert Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 115 wurden. Bei einem Konflikt einheimischer Häuptlinge wollte er unnötigerweise die Macht des weißen Mannes demonstrieren und fand auf der kleinen Insel Mactan den Tod. Magellans Schiff Victoria (Detail aus einer Weltkarte des Abraham Ortelius). Ortelius) Nur ein Schiff seiner Flotte, die Victoria, gelangte unter dem Befehl von Juan Sebastián Elcano um das Kap der Guten Hoffnung herum mit achtzehn Mann und einer Ladung Gewürznelken an Bord nach Spanien zurück. Seine Heimfahrt war von ebenso schlimmen Strapazen gekennzeichnet wie die Überquerung des Pazifischen Ozeans. Aber Elcano vollendete, was Magellan begonnen hatte: die Kugelgestalt der Erde zu beweisen! So demütigte Magellan über seinen Tod hinaus König Manuel von Portugal, den mächtigsten mächtigsten König seiner Zeit! Auch Spanien war zufrieden: Elcano hatte die Nachricht gebracht, die Molukken lägen auf der spanischen Hälfte der im Vertrag von Tordesillas festgelegten Teilung der Welt. Und die Ladung Gewürznelken, welche die «Victoria» an Bord Bord hatte, deckte die Kosten der gesamten Magellan’schen Expedition und warf sogar noch Gewinn ab! Es mutet merkwürdig an, dass fast zur gleichen Zeit, in der Magellan den Tod fand, auch sein Freund Francisco Serrão starb. Serrão, der frühere portugiesisch portugiesische Kapitän, war auf einer anderen Molukkeninsel, Ternate, zum vertrauten Berater des Sultans emporgestiegen. Als Magellan die Philippinen erreicht hatte und es nur noch eine Frage der Zeit war, dass Magellan die Molukken erreichen würde, ist Serrão unter geheimnisvollen heimnisvollen Umständen vergiftet worden. Wahrscheinlich hatte der Königs von Portugal seine Hand im Spiel, weil er fürchtete, Portugal könne durch die Freundschaft der beiden Männer seinen Einfluss auf den Gewürzmarkt an Spanien verlieren. Elcano und seinee Männer waren die ersten Menschen, die die Erde vollständig umrundet hatten. Er wurde vom König zum Ritter geschlagen und erhielt ein prunkvolles Wappen mit einem goldenen Schloss auf rotem Feld, mit den Emblemen der Gewürze und den Abbildern der Könige von von Ternate und Tidore, die ein Schild tragen; darunter als Zeichen seiner Würde ein Spruchband, das sich um den Globus schlingt, mit der Inschrift: «Primus Circumdedisti Me» – Du hast mich als erster umrundet! 1525 schloss sich Elcano einem Geschwader an, das auf Magallanes Weg zu den Molukken wollte. Noch einmal passierte er die Strasse, welche den Namen ihres Entdeckers trägt. Nach der Einfahrt in den Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 116 Pazifik wurde die Flotte in einem Sturm auseinandergerissen; der Kapitän Juan Sebastián Elcano ging mit seinem s Schiff am 4. August 1526 im Stillen Ozean unter. Route der ersten Weltumsegelung von Ferdinand Magellan und Sebastian Elcano König Karl, inzwischen auch zum Kaiser Karl V. gewählt, hatte genug mit den Angelegenheiten seines Reiches zu tun. Hernando Hernando Cortes war nach Mexiko vorgestossen und schickte die ersten mit Gold beladenen Galeonen nach Spanien. In der Hoffnung auf weitere reiche Goldfunde hatte man auch begonnen, die Länder Mittelamerikas – Costa Rica, Nicaragua, Honduras und Guatemala – in Besitz sitz zu nehmen, deren Küsten schon Christobál Colón entdeckt hat. Und schon plante man auch südwärts vorzustossen, wo man in Kolumbien, Ecuador und Peru das sagenhafte Goldland zu finden vermutete. In Kuba begann die Zuckerwirtschaft Ertrag abzuwerfen, doc doch fehlte es an Arbeitskräften, denn die Indianer waren für körperliche Arbeit nicht zu gebrauchen: sie legten sich einfach hin und starben. Kastilien hatte daher begonnen, zunehmend Neger in Afrika zu fangen und als Sklaven nach Kuba zu transportieren. Und in Europa drohte wieder Krieg gegen Frankreich. Das alles verschlang riesige Summen, aber die Staatskasse war leer und Karl musste die amerikanische Politik mit Anleihen beim mächtigen Handelshaus der Fugger in Augsburg finanzieren – selbstverständlich gegen gegen saftige Beteiligungen künftiger Gewinne. Spanien hatte die halbe Welt in Besitz, doch es war nicht stark genug, seine Entdeckungen zu behalten. Der spanische Herrscher hatte Probleme genug; er war klug, sich nicht auch noch in einen Kampf mit Portugal einzulassen. So wartete er nicht länger, sondern überliess König Manuel 1529 im Vertrag von Saragossa die Molukken; Portugal zahlt eine Abstandssumme von 700’000 Escudos. Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 117 Auch wenn vier von den fünf Schiffen Magellans auf See geblieben sind, die Menschen des 16. Jahrhunderts werteten die Rückkehr der Victoria als Erfolg; daran änderte selbst der herbe Verlust an Menschenleben, die die Reise gefordert hatte, nichts. Die Folgen reichten weit in die Zukunft! Neue Länder – das bedeutete neue Kolonien und neue Handelsgebiete. Der Handel über die Weltmeere Atlantik, Indischer und Stiller Ozean verdrängte das Primat der Binnenmeere Mittelmeer, Nord- und Ostsee. Lissabon, Sevilla, Rotterdam und London lösten die bisher führenden Seestädte wie Lübeck, Brügge, Venedig und Genua ab. Neue Kolonialprodukte – Gewürze, Kaffee, Tabak, Kartoffel und Mais – brachten eine gewaltige Steigerung des Welthandels. Der erhöhte Geldbedarf begünstigte grosskapitalistische Fürstentümer und grosskaufmännische Unternehmen, die auch politisch Bedeutung erlangten: so die Medici in Florenz und die Fugger in Augsburg. Die Verschärfung der Gegensätze zwischen arm und reich führte zu Krisen und Erschütterungen; im Gefolge von Seuchen und Epidemien brachen sozial-religiöse Unruhen der verarmenden Bauern und Zunfthandwerker aus, die meist mit Gewalt unterdrückt wurden. Die Expansion über die Meere weckte die Rivalitäten unter den europäischen Nationen. Neben Portugal und Spanien regte sich England und wurde in Nordamerika aktiv; der Franzose Jacques Cartier überquerte den Atlantik und öffnete Frankreich über den St.-Lorenz-Strom den Weg nach Kanada; die holländische «Vereenigde Oostindische Compagnie» setzte sich in Indonesien fest, baute Batavia zu seinem ostindischen Handelszentrum aus und vertrieb 1602 die Portugiesen von den Molukken; Spanien verlegte indessen sein Hauptinteresse nach Mittel- und Südamerika, aber auch auf die Philippinen, wo es bis 1898 Kolonialmacht blieb. Kleinmünze der Niederländischen Ostindien Kompanie, 1744 Während die führenden europäischen Seestaaten mit sich selbst und ihren Rivalitäten beschäftigt waren, versuchten die Türken, wieder ins westliche Mittelmeer vorzudringen. Die Niederlage des Islam nach der Reconquista in Spanien und Portugal schmerzte noch immer. Schon 1453 hatten die Türken unter Muhammad II. Konstantinopel erobert und zur Hauptstadt des Osmanischen Reiches gemacht. Zwei Jahre später konnten sie Serbien in ihr Reich einverleiben, 1463 Bosnien annektieren und 1479 Albanien und den Peloponnes erobern. 1516/17 wurden Syrien und Ägypten besetzt und der Sultan zum Schutzherrn der heiligen Stätten in Mekka und Medina ausgerufen. Suleiman «der Prächtige» vertrieb 1522 die Johanniter aus Rhodos, besetzte Belgrad und drang 1529 bis vor Wien. 1565 belagerte eine türkische Flotte den Stützpunkt Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 118 der christlichen Malteserritter auf Malta. Der viermonatigen Belagerung war kein Erfolg beschieden, doch die christliche Welt wurde durch dieses Ereignis alarmiert. Papst Pius V. beschwor das christlich regierte Europa, eine «Heilige Liga» gegen die Türken zu gründen, aber die Angesprochenen zögerten. Da beanspruchte Sultan Salim II. Zypern und belagerte Famagusta. Als im Juni 1571 die Türken das Versprechen abgaben, die Verteidiger zu schonen, ergab sich die Stadt, doch alle Unterlegenen wurden hingerichtet. Die von den Türken in Zypern begangenen Greueltaten bewirkten, dass die Heilige Liga nun schnell zustande kam. Der Oberbefehlshaber, Don Juan d’Austria, sammelte im August 1571 die Vereinigte Flotte der Liga bei Messina. Den Türken waren die Vorbereitungen nicht verborgen geblieben. Spione hatten an Ali Pascha, den türkischen Admiral, zweihundert Kriegsgaleeren und sechs Galeassen (mit Kanonen bestückte grosse Segelgaleeren) gemeldet; hundert weitere Segelschiffe ohne Riemen, die die Nachhut bildeten, waren ihrer Aufmerksamkeit entgangen. Die Christen glaubten sich ihrerseits zweihundert türkischen Schiffen gegenüber; tatsächlich waren es zweihundertfünfzig. Und weil sich beide Seiten ihrem Gegner überlegen glaubten, kam es am 7. Oktober 1571 im Golf von Lepanto (heute Naupaktos im Golf von Korinth). zur berühmten Schlacht. Das Kriegsglück überwog anfänglich auf türkischer Seite; Don Juans Schiff wurde von Ali Pascha geentert, der Kampf Mann gegen Mann wogte hin und her, erst als eine weitere christliche Galeere Hilfe brachte, konnte Ali Pascha in die Enge getrieben werden. Um nicht in die Hände der Christen zu fallen, beging er Selbstmord. Sein Haupt wurde abgeschlagen und auf einer Lanze zur Schau gestellt. Nur mit knapper Not können die Alliierten nach stundenlangem Kampf das Blatt wenden, als eine Nachhutflotte Verstärkung und den Sieg brachte. Seeschlacht von Lepanto Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 119 Die Seeschlacht von Lepanto war ein gewaltiges Blutbad. Die osmanischen Verluste bezifferten sich zwischen 25 000 und 30 000 Mann, dazu 30 versenkte Galeeren; hundertzehn Schiffe wurden erobert und 12 000 christliche Sklaven befreit. Auf christlicher Seite wird der Tod von 7656 Christen angegeben, aber wahrscheinlich hatte man die Zahlen „geschönt“. Doch die Beute war reichlich: der Papst bekam 20 Schiffe und 881 Sklaven, der König von Spanien 51 Schiffe und 1703 Sklaven, Venedig schließlich erhielt 39 Schiffe und 1262 Sklaven. Die Schlacht von Lepanto das letzte grosse Gefecht unter Galeeren, der von Don Juan d’Austria errungenen Sieg hat ein weiteres Vordringen der Osmanen verhindert und Europa dem Christentum erhalten. Galeone Aus der Karavelle entwickelten sich Galeone und Fregatte; das Vorderkastell wurde abgeschafft, an ihre Stelle trat ein schmal hervorragender Bug, meist mit einer symbolischen Figur geschmückt und vom mächtigen Klüverbaum überragt Stückpforten, hinter denen Kanonen lauerten, gaben den Schiffen ein neues Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 120 Aussehen. Diese Schiffe waren imstande, überall hinzufahren. Sie waren die Vehikel der Kolonisation, der Sklaventransporte, aber auch der Erweiterung des geistigen Gesichtskreises und der Wissenschaften. Die Europäisierung der Welt konnte beginnen. DER FREIBEUTER IHRER MAJESTÄT Francis Drake und der Untergang der spanischen Armada Ein kühler Oktobertag des Jahres 1577 wich der Nacht. Der Wächter rief die neunte Stunde. Die Königin hörte seinen Singsang von Ferne. Sie wusste, dass er – mit dem Kurzschwert gegürtet und die Hellebarde geschultert – auf seinem Rundgang nun von den Arkadenbögen über die Seitentreppe zur großen Halle hinunter und über den Innenhof zu den Wirtschaftsgebäuden hinüber schritt, dabei alles kontrollierte und nachsah, dass die Türe zu den Stallungen, den Futterkammern und den Gesindehäusern geschlossen waren, auch dass alle Fackeln, die in den dazu vorgesehenen Wandhaltern steckten, der Vorschrift gemäß brannten. Dann würde er durch den breiten Bogengang unter der Front des Palastes zum Hauptportal gehen, wo er dem wachhabenden Offizier Meldung über seine Beobachtungen machen wird, um danach seinen Rundgang bis zur Ablösung wieder von vorne zu beginnen. Und so wie er, sind zur gleichen Zeit vierundzwanzig weitere Wächter auf den ihnen zugeteilten Palastabschnitten unterwegs. Sir Francis Drake als Ritter auf einem lateinisch abgefassten Flugblatt. (John Carter Brown Library.) Elizabeth I. legte seufzend die Schreibfeder zur Seite. Am Vormittag hatte sie mit dem Lordkanzler die Lage beraten, und die war alles andere als gut. Seit ihr Großvater, der schottische König Jakob IV., Margarete Tudor, Elizabeths Großmutter, geheiratet hatte, beanspruchen die Stuarts auch den englischen Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 121 Thron. Aber der schottische Adel war für die Reformation. So war die katholische Politik der Maria Stuart in deren eigenem Land gescheitert. Maria ist darauf nach England geflohen und von Elizabeth festgesetzt worden. Das war 1568. Doch nun drohte die katholische Opposition in Schottland mit offenem Aufruhr, weil die Stuart seit neun Jahren im Tower einsaß. Der Lordkanzler hat ihr in den Ohren gelegen, die Stuart zum Tode verurteilen zu lassen, aber Elizabeth schreckte noch immer davor zurück; sie konnte keinen Krieg in England gebrauchen. Sie vertraute der „Suprematsakte“, wonach die Königin des Landes geistiges und weltliches Oberhaupt zugleich ist. Alle Earls, Lords und die Mitglieder des Parlaments hatten darauf geschworen! Königin Elisabeth I. von England mit den Insignien ihrer Macht. Die rechte Hand ruht auf der Weltkugel, oben links sieht man die siegreichen Schiffe ihrer Flotte. (Privatsammlung Marquess of Tavistock.) Aber das war nicht Elizabeths einzige Sorge. Seit Jahren versuchte sie schon, eine Konsolidierung des religiös und innenpolitisch gespaltenen Landes herbeizuführen. Damit trat sie dem Universalanspruch Spaniens entgegen, dass sich unter Philipp II. als Hüter und Bewahrer katholischer Weltgeltung sah. Natürlich unterstützte er die katholische Opposition in Schottland, ja er hat seinen Anspruch auf den englischen Thron selbst wohl noch nicht ganz aufgegeben. Dass er sich keine Hoffnungen machen kann, hat er selbst verschuldet. Elizabeth dachte an ihre Vorgängerin und Halbschwester, Maria I. Tudor, „die Katholische“. Philipp hatte sie 1554 geheiratet, zwei Jahre bevor er seinem Vater Karl V. auf den spanischen Thron folgte. Aber Philipp hatte das Land, den englischen Boden nie betreten und deshalb nach geltendem Recht keinen Anspruch auf den englischen Thron; Maria war Königin von England! Sie hat den Katholizismus wieder eingeführt, den ihr Vater Heinrich VIII. vor 46 Jahren aus England vertrieben und durch die anglikanische Kirche ersetzt hatte. Die Grausamkeit, mit der Maria die Rekatholisierung durchzusetzen trachtete, hatte ihr im Volk auch den Beinamen „die Blutige“ eingetragen. 1556 war Philipp II. dann seinem Vater auf den spanischen Thron gefolgt, ein düsterer und ernster, misstrauischer und pedantischer Herrscher, der sein Erbe zurückgezogen — nur durch schriftliche Befehle — regierte. Als Maria I. 1558 starb, wurde sie, Elizabeth I., Königin von England, aber sie war eine überzeugte Protestantin. Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 122 Das schien Philipp anfangs nicht zu stören, denn er warb um Elizabeths Hand, damit die Allianz zwischen den beiden Mächten erhalten blieb, doch Elizabeth schlug sie nach einigem Zögern aus. Viele englische Katholiken waren über Elisabeths Thronbesteigung empört. Als rechtmäßige Herrscherin galt die streng katholische Maria Stuart, Königin von Schottland. Aber die neue, kaum 25 Jahre alte Herrscherin hatte das Ruder mit einem derartigen Geschick in die Hand genommen, dass jedermann erstaunt war. „Wenn ich auch keine Löwin bin“, hatte sie in Anspielung auf ihren Vater Heinrich VIII. bei der Inthronisation gesagt, „so bin ich doch das Kind eines Löwen und trage sein Herz in der Brust!“ Sie hatte den Krieg mit Frankreich beendet und die anglikanische Kirche wieder eingesetzt. Nun ging sie daran, die Flotte zu erneuern und die Staatskasse zu sanieren. Fröstelnd verschränkte die Königin die Arme und zog das brokatene Brusttuch fester zusammen. Dann klingelte sie nach Gladys, der Kammerfrau. „Schau nach dem Feuer, leg Holz nach“, befahl sie der knicksenden Zofe. „Und bring mir etwas Warmes zu trinken.“ Philipp hat dann Isabella von Frankreich geheiratet, die aber 1568 schon gestorben ist, im gleichen Jahr, in dem Maria Stuart in den Tower geworfen wurde. Seither sitzt er wie ein asketischer Mönch in einem Kloster in Madrid, aber die Zurückweisung durch Elizabeth wurmt ihn wohl heute noch. Er hat noch nicht gemerkt, dass die Reformation und die überall angestrebte nationale Staatenbildung seinen katholischen Absolutheitsanspruch beschneidet, dachte die Königin, überall setzt der Wandel ein, der Handel erringt bedeutende Monopole und die Privilegien des Adels werden beschnitten. Elizabeth stutzte. „Auch die der Herrscher!“ sagte sie laut. „Wohlan, versichern wir Uns des Parlaments!“ Die Kammerfrau kam mit dem dampfenden Becher. Elizabeth sog genussvoll den Duft ein. Warmer Rotwein mit Zimt, Nelken und Ingwer. Sie nahm vorsichtig einen Schluck. Ja, Gladys wusste, was ihr um diese Abendstunde wohl tat. Ein spanisches Rezept zwar, aber trotzdem gut tuend. Gladys war halb hinter der Königin stehen geblieben. „Was ist?“ Elizabeth schaute zur Zofe auf. „Majestät, Lord Burghley wartet seit einer Stunde.“ Sie hatte ihn ganz vergessen. „Lass ihn ein!“ Lord Cecil William Burghley, Lord Treasurer, Prime Minister, Elisabeths Staatssekretär und Berater in einem, eilte mit Trippelschrittchen herbei. Er war bereits 57 Jahre alt, ging etwas gekrümmt, bewegte sich aber behände, und sein Geist war lebendig wie damals vor zwanzig Jahren, als Elisabeth zur Königin gekrönt wurde. Burghley wollte vor der Königin das Knie beugen, aber Elizabeth wehrte mit kurzen Bewegungen beider Hände ab. „Entschuldigt, dass Ihr warten musstet, Mylord, aber ich hatte dringende Briefe zu schreiben. Ihr wisst schon, die Niederlande ...“ Die burgundischen Niederlande waren eines der entwickeltsten Gebiete Europas; sie waren seit dem Tode Karls des Kühnen Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 123 1477 habsburgisch und damit spanisch. Um Spanien zu schwächen, unterstützte Elizabeth mehr oder weniger verdeckt die Freiheitsbewegung in den Niederlanden und duldete Kaperkriege der Merchant Adventurers, privater englischer Kapitäne, gegen Spanien. Elizabeth wies einladend auf den Sessel vor ihrem Schreibtisch, lehnte sich zurück und nahm genießerisch einen Schluck. Mit beiden Händen umklammerte sie den Becher und sah Lord Burghley erwartungsvoll an. „Ich wollte Eure Majestät just zu einer wichtigen Zustimmung bedrängen, in einer Sache, die Eure Majestät gerade erwähnten.“ „Die Niederlande?“ „Ja, Eure Majestät, ich habe leider schlechte Nachrichten.“ Die Königin zog die Brauen zusammen. Nach dem Tode des spanischen Statthalters vor einem Jahr hatten sich alle Provinzen, auch die spanientreuen, in der „Genter Pazifikation“ vereinigt, um den seit 1568 wütenden Bürgerkrieg zu beenden. Seit 1555 Karl V. seinem Sohn Philipp die Herrschaft über die Niederlande übertragen hatte, hat sich die politische und religiöse Repression dort ständig verschärft. Der Handel, die Manufaktur und der Schiffbau waren aufeinander angewiesen, die Interessen der Hersteller und Händler lief den Interessen der Spanier bald einmal zuwider. Dies und die militärischen Lasten, drakonische Ketzeredikte und die ständige Schmälerung der Freiheiten haben den Adel und die Städte zunächst in die Opposition getrieben. Als dann Philipp zum König von Spanien aufstieg, schickte er den Herzog von Alba mit einem Heer in die Niederlande. Dieser Bluthund brachte es dann fertig, dass sich das Volk unter Wilhelm von Oranien erhob. Die Königin gibt sich einen Ruck. „Also, was gibt es?“ „Der Generalstatthalter Don Juan d’Austria hat die Provinzregierungen unter Druck gesetzt, die ,Genter Pazifikation’ rückgängig zu machen. Er hat mit einem ,Ewigen Edikt’ den Protestantismus generell verboten. Die Provinzen Holland und Seeland wollten sich nicht anschließen, sie sind im Aufruhr und haben sich in Utrecht zu einer Union zusammengeschlossen!“ Elizabeth sprang auf, schlug mit der Hand auf den Tisch, Papiere flatterten zu Boden. „Das soll Spanien büssen!“ Doch sie besann sich wieder, setzte sich, atmete tief durch und schaute Burghley an. „Ist das alles?“ Wilhelm von Oranien erbittet unsere Unterstützung.“ Elizabeth nahm wieder Platz, lehnt sich zurück. „Was ratet Ihr, Mylord?“ „Eure Majestät sind als eine Herrscherin bekannt, die der Wirklichkeit ins Auge zu schauen gewohnt sind. Eure Majestät werden mir zustimmen ...“. Der Lord zögerte. Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 124 Elisabeth schaute ihn belustigt an. Sie mochte den kleinen Mann; er hat ihr stets gut und im Sinne der Krone geraten. „... dass wir nichts tun können!“, vollendete sie seinen angefangenen Satz. „So ist es Majestät. Zumindest nicht jetzt ...“, wieder zögerte der Lord, sprach dann aber weiter: „... und nicht in den Niederlanden.“ Die Königin war es gewohnt, auf seine Zwischentöne zu achten. „So, wo denn?“, fragte sie. „Majestät. Der Aufbau unserer Flotte geht gut voran, in einigen Jahren wird England eine Macht auf den Meeren sein, dann wird England Spanien in die Schranken weisen. Noch gestern hat die Partei Eurer Majestät, wie Eure Majestät wissen, den Antrag der Opposition im Parlament abgewehrt, die Ausgaben für den Flottenbau zu reduzieren. Wir konnten im Gegenteil eine Erhöhung und Forcierung erreichen. Diese Aufgabe hat absoluten Vorrang. Deshalb können wir im gegebenen Zeitpunkt keine Mittel für die niederländischen Rebellen abzweigen. Jedoch ...“. Wieder zögerte der alte Mann. Im 16. Jahrhundert mischten sich viele Interessenten in die holländischen Angelegenheiten ein. Auf diesem Spottbild sitzt der spanische König Philipp II. auf den Niederlanden, hier als Kuh dargestellt. Der Herzog von Alba melkt sie, der französische Repräsentant zieht sie am Schwanz, Königin Elisabeth gibt ihr Heu zu fressen und der Führer der niederländischen Aufständischen, Wilhelm von Oranien, hält sie bei den Hörnern. (Nicolson Archives, London.) „Nun?“ „Wir könnten den Drake losschicken. Seit drei Monaten wartet er auf Antwort.“ Ja, der Drake, dachte die Königin. Dieser Teufelskerl und Tausendsassa, dieser Kaperkapitän, der seit einiger Zeit alles Spanische auf den Meeren angreift. 1571 bis 1573 hatte er die spanischen Küsten in Südamerika unsicher gemacht. In Panama, wo die Schiffe von Peru heraufkommen und ihre Waren umladen, um mit Maultieren auf die atlantische Seite der Landenge gebracht zu werden, hatte er Kisten und Säcke mit Silber, Gold, Edelsteinen und Perlen im Wert von einer Million Pfund für die Staatskasse erbeutet. Aber es hat auch schon Beschwerden gegeben, dass er - wenn man es ihm nicht nachweisen kann - auch schon ‘mal ein englisches Schiff auf einsamer See ausgenommen und verbrannt hat. Sie hatte ihn einmal kurz zu Gesicht bekommen, bei einer Massenaudienz. Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 125 In ihrer Erinnerung war er nicht unsympathisch: ein schlanker Mann, von der Sonne gebräunt. „Hat er seine Flotte beisammen?“ „Jawohl, Majestät. Insgesamt fünf Schiffe. Es ist alles fertig!“ Drake hatte bei der Admiralität den Antrag auf einen Kaperbrief gestellt. Mit ihm könnte er auf eigene Faust, aber mit Billigung der Krone, spanische Schiffe angreifen, ausplündern und versenken. „Was kostet Uns das?“, fragte die Königin. „Nichts, außer dem Kaperbrief.“ „Und was bringt Uns das?“ „Das Übliche: zehn Prozent der Beute.“ „Gut“, entschied die Königin, „schreibt ,ein Drittel’ und gebt ihm das Freipapier.“ Lord Burghley verbeugte sich tief und ging zur Tür. „Wartet!“, rief ihm die Königin nach. Der Staatssekretär blieb stehen, drehte sich um und verharrte. „Majestät?“ „Sagt dem Drake, dass Wir nichts von seinen Aktionen wissen. Falls er von den Spaniern geschnappt wird, hat er den Kaperbrief zu vernichten! Er darf Uns nicht diskreditieren. Der Gentleman darf es Uns nicht übel nehmen, wenn ich ihn verleugne.“ „Sehr wohl, Majestät, das weiß er schon, und er hat es akzeptiert. Er ist ein kluger Mann und Euer Majestät ergebener Diener.“ Elizabeth lächelte und entließ Burghley mit einem Kopfnicken. Die großen Erfolge der Überseeexpeditionen Portugals und Spaniens mit den weltbildwandelnden Entdeckungen zeigte den anderen seefahrenden Staaten, wie sehr sich das Meer als Quelle der Machterweiterung und des wirtschaftlichen Gewinns erwies. Andere expansionshungrige Territorialherrn dehnten ohne Zögern mit Hilfe risikofreudiger Kapitäne ihr Aktionsfeld über den Atlantik aus. Dadurch wurden die aus früheren Jahrhunderten ererbten Rivalitäten und alte Gegensätze neu entfacht. Nach dem Ende der Kreuzzüge hatte das Zurückdrängen der Moslems mit der „Reconquista“ sowie die Entmachtung der Türken durch die Seeschlacht von Lepanto das Mittelmeer zu einem von christlichen Staaten beherrschen Meer gemacht; die Öffnung der Strasse von Gibraltar für die Beziehungen zwischen dem Mittelmeer und dem Atlantik leitete eine Wendung Europas nach Westen ein. Seit dem Ende des 13. Jahrhunderts haben besonders die Italiener die Schifffahrt auf dem Atlantik energisch vorangetrieben; italienische Portolankarten waren die genauesten Seekarten der Zeit. Nach Lepanto pflegten bald alle europäischen Seefahrernationen rege Handelbeziehungen untereinander. Im Norden gelangten nach Brügge vor allem Amsterdam, Southampton und Bristol zu großer Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 126 Bedeutung; im Süden waren es Lissabon, Sevilla, Malaga, Valencia, Barcelona, Marseille, Genua und Livorno. Aber Häfen, die an großen Flussmündungen lagen und gute Verbindungen zu einem weiten Hinterland besaßen, wurden zu den eigentlichen machtpolitischen Zentren: London, Hamburg, Antwerpen, Rouen, Nantes, Bordeaux, Lissabon und Sevilla. Die gegenseitige Abhängigkeit von Meer und Land wurde hier besonders deutlich durch das Heranbringen von Waren und ihr Absatz in beiden Richtungen. Die Bereitstellung von Kapital förderte die Entwicklung der genannten Orte auch als Kapitalmärkte, als Börsen- und Bankzentren. Fracht- und Prämienversicherungen kamen auf. In Westeuropa entstand ein internationaler Markt. Der Bedarf wurde um ein Vielfaches gesteigert, immer größere Schiffe wurden in immer größeren Mengen benötigt; die Entwicklung schlug sich in den Schiffstypen nieder: zwischen der ursprünglichen Karavelle und dem „Kauffahrer“ genannten Großsegler gab es ein ganzes Spektrum von Nãos, Schaluppen, Karacken, Koggen, Hulks, Fleuten, Brigantinen, Galeonen, Fregatten, Korvetten und Linienschiffen. Meist war genügend Holz für den Schiffsrumpf vorhanden, aber häufig mussten Mastholz, Teer und Pech aus Nordeuropa importiert werden, einem Spezialmarkt der Hanse. Schweden lieferte Eisen für die Beschläge und die Anker, die Bretagne Segeltuch und Seile. Die Zeichnung aus dem 16. Jh., vermutlich von Matthew Baker, dem Schiffsbaumeister der königlichen Werft, zeigt die Breitenansicht einer schnellen Galeone und ihren Segelplan. (Master and Fellows of Magdalene College, Cambridge.) Noch immer waren Portugal und Spanien die mächtigsten Königreiche. Aber andere Länder versuchten schon bald, ihren Einfluss auszudehnen; allen voran England und Frankreich. Sie machten große Anstrengungen, ihre Flotten auf- und auszubauen. König Franz I. von Frankreich war bei der Kaiserwahl Karl von Spanien unterlegen und daher schon ein persönlicher Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 127 Rivale des spanischen Herrschers. England jedoch hatte weitsichtigere politische Ziele im Auge. Schon 1497 war John Cabott mit seinem Sohn Sebastian im Auftrage des englischen Königs Heinrich VII. in den nordwestlichen Atlantik vorgestoßen. Sein Schiff, die Nussschale „Matthew“, hatte nur 18 Mann an Bord, aber die Cabotts hatten bereits Erfahrung mit nördlichen Gewässern durch ihre Erkundung der Nordwestpassage, die sie als unpassierbar erkannten. Am 24. Juni 1497 sichteten sie Land, das sie „Neufundland“ nannten, den Ort der Landung „St. John“, weil es der Johannistag war. Sie erkundeten noch Labrador und kehrten nach England zurück. Diese Reise hatte für England eine zumindest gleich große Bedeutung wie diejenige für Spanien fünf Jahre vorher durch Kolumbus, denn nun begann - erst zaghaft, später gezielter - die englische Besiedelung der nordamerikanischen Territorien, dem heutigen Kanada. Aber die politische Entwicklung trieb auf einen Konflikt mit Spanien zu. Mit seinem Flaggschiff „Golden Hind“ und vier weiteren Schiffen lief Drake am 15. November 1577, versehen mit einem Kaperbrief der Königin, aus dem englischen Kanal in die Nordsee aus. Er folgte der Route Magellans, und einige wichtige Vorkommnisse seiner Reise sollten denjenigen auf Magellans Fahrt fatal ähneln. Drake überquerte zuerst den Atlantik in der Passatzone, wandte sich dann südwärts und fuhr die Küste Südamerikas hinunter. Südlich der La-Plata-Mündung desertierte eines seiner Schiffe, es konnte aber verfolgt und wieder aufgebracht werden. Tom Doughty, der flüchtige Kapitän, wurde angeklagt, schuldig gesprochen und in Port Julian hingerichtet, am gleichen Ort, wo Magellan 50 Jahre früher mit seinen Meuterern ähnlich verfahren war. Auf der Weiterfahrt bogen die Schiffe nicht in die Magellanstrasse ein, sondern suchten sich südwärts einen Weg; dabei entdeckten sie Kap Hoorn. In sehr stürmischer Fahrt verloren sie ein Schiff, die „Marygold“; die übrigen Schiffe hatten sich aus den Augen verloren. Kapitän Winter von der „Elizabeth“ entschied sich für die Umkehr und Heimreise, wieder wie seinerzeit Kapitän Gomez von der Expedition Magellan. Die anderen gelangten aber alle um das Kap. Zu dieser Zeit segelten schon viele spanische Galeonen mit dem Gold der Azteken und Inkas von Mexiko, Panama und Peru auf der Westroute nach Spanien. Drake folgte deshalb der Pazifikküste Südamerikas, wobei er spanische Schiffe kaperte und ihre Ladung konfiszierte. Der Ballast der „Cacafuego“, eines dieser Schiffe, bestand aus Silberbarren, während die Ladung aus Gold und Kisten voller Smaragden bestand. Auf seiner weiteren Fahrt nordwärts suchte Drake eine Passage in den Atlantik, hatte aber wie Vespucci und Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 128 Magellan kein Glück. Er erreichte Kalifornien und entschloss sich zur Heimkehr über Ostindien und das Kap der Guten Hoffnung. In Celebes ließ er die „Golden Hind“ kielholen und ausbessern, nahm in Freetown Wasser und machte am 26. September 1580 in Plymouth fest. Er hatte als zweiter Kapitän und erster Engländer die Welt auf einer einzigen Fahrt umrundet. England bereitete Drake einen begeisterten Empfang und die Königin erhob ihn als Lohn für seine lukrative Kaperfahrt in den Adelsstand. Dies war ein Affront gegen das katholische Spanien. Die Spanier waren darüber erbost, dass man Drakes Freibeuterei offenbar guthieß, und als bekannt wurde, dass ein Teil der Beute an die englische Krone ging, verschlechterten sich die Beziehungen zwischen England und Spanien weiter. Im gleichen Jahr 1580 besetzte Spanien ganz Portugal, es sollte bis 1640 von spanischen Königen regiert werden. In England wurde Maria Stuart zum Tode verurteilt worden; sie hatte aus dem Gefängnis heraus die Verschwörung einer katholischen Gruppe unter Antony Babington anzetteln können, die die Ermordung Elizabeths und die Befreiung Marias mit spanischer Hilfe plante. Es war Hochverrat, und die Hinrichtung Marias fand am 18. Februar 1587 statt. Nun flutete Empörung durch das katholische Europa und es erwartete Gegenmaßnahmen von Philipp II., denn die Schotten zählten zu den katholischen Nationen. England hatte nicht nur mit den Katholiken gebrochen, sondern half auch den holländischen Protestanten bei ihrem Aufstand gegen die spanische Herrschaft. Nach einigem Zögern verkündete Philipp die „Empresa“ (das Unternehmen) gegen England. Don Alvaro de Bazan, Marquis von Santa Cruz und Held von Lepanto, der Grossadmiral der Spanier, schlug eine grossangelegte Invasion über See vor. Sein heimlicher Rivale, Alexander Farnese, Herzog von Parma und Oberbefehlshaber der spanischen Truppen in den Niederlanden, war für eine Invasion über den Kanal. Philipp sprach sich für einen Kompromiss aus: in den Niederlanden wurde eine Armee aufgestellt, die sich mit den über See herangeführten Kräften vereinigen sollte. Doch noch 1587 starb der Marquis von Santa Cruz; das Oberkommando ging an Alonzo, Herzog von Medina-Sidonia. Der Oberkommandierende der spanischen Armada, Don Alonso Herzog von Medina Sidonia. (Rare Book Division.) Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 129 Für Spanien stand sein Kolonialbesitz auf dem Spiel, für Britannien hingegen das nackte Leben. König Philipp war stolz darauf, die Christenkoalition zustandegebracht zu haben, die 1577 das Vordringen der Türken bei Lepanto stoppte. Das gab ihm ein grenzenloses Vertrauen in seine See- und Landstreitkräfte. Aber das übrige Europa war sich über den Ausgang durchaus nicht so sicher. Der Gesandt Venedigs am französischen Hof, Andrea Mocenico, beeilte sich, seiner Regierung seine Zweifel mitzuteilen: „Es ist fraglich, ob König Philipp II. sich der Macht der englischen Flotte bewusst ist, sowohl was die Anzahl als was ihre Fähigkeiten betrifft. Denn die Engländer sind von einem ganz anderen Schlage als die Spanier und unter den westlichen Völkern für ihre Geschicklichkeit und ihren Mut bei allen Seeoperationen bekannt.“ Schiffsgeschütz aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Auf Befehl des Richtkanoniers wurde das Zündloch des Vorderladers gesäubert und etwas Pulver aus einem Horn oder einer Flasche aufgeschüttet. Dann wurde die Waffe mit einem Richthebel, der am hinteren Ende der Lafette angesetzt wurde, nach links oder rechts gerichtet. Das Geschütz ließ sich mittels eines Richtkeils etwa 20 Grad heben oder senken. Zuletzt führte der Kanonier einen brennenden Luntenstock an das Zündloch, und die Kanone ging los. Der Rückstoss wurde von Seilen aufgefangen, die von den Bordwänden zu den Zurringen liefen. Zahllose aus Schmiedeeisen gefertigte Kanonen explodierten beim Abfeuern und forderten furchtbare Opfer. Gegen Ende des 16. Jahrhunderts kam die Gussbronze in Gebrauch und wurde schließlich für die großen Schiffsgeschütze allgemein verwendet. Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 130 Nach einem feierlichen Gottesdienst lief am 30. Mai 1588 die Armada, der Stolz Spaniens, aus dem Hafen von Lissabon. Die 131 Schiffe aller Größe, waren mit insgesamt 8776 Seeleuten, 2088 Galeerensklaven, 21’855 Soldaten, 150 Artilleristen, 85 Ärzten und 180 Priestern besetzt. Die Feuerkraft der Armada bestand aus 3165 Stück Artillerie. Die Flotte galt als unbesiegbar. Sie wurde am 19. Juli von der Küstenwache in Cornwall gesichtet. Man schlug Alarm, und die britische Flotte lief sogleich aus. Königin Elizabeth hatte das Kommando über ihre Seemacht dem ersten Lord der Admiralität, Charles Howard, übertragen. Sein Flaggschiff war die „Arc Royal“; die Geschwader wurden von erfahrenen Kaperkapitänen, wie Frobisher, Hawkins und Drake, befehligt. Es war eine bunt zusammengewürfelte Flotte, die sich da aufmachte, um die stärkste Seemacht der damaligen Welt zu bezwingen. Die Royal Navy besaß nur 34 Schiffe, Drake steuerte eine Vielzahl von Handelsschiffen bei, die eiligst bewaffnet worden waren. Die Stadt London und einige private Eigner rüsteten auch noch einige Schiffe aller Typen aus, insgesamt waren es 102 Einheiten: ein zusammengewürfelter Haufen, aber ihre Namen - „Victory“, „Lion“, „Tiger“, „Revenge“ und „Dreadnought“ wurden zu Traditionsnamen in der britischen Marine. Admiral Howard sagte später, dass er beim Anblick der spanischen Armada Zeit seines Lebens noch nie eine derart große Schiffsansammlung auf einmal gesehen habe. Medina-Sidonia, der spanische Oberkommandierende, hielt seine Schiffe in enger Halbmondform, um das bei Lepanto erfolgreiche Manöver wiederholen zu können. Aber Lepanto war eine Schlacht nach „alter Art“; in der noch der Rammsporn dominierte und der Kampf durch Soldaten - Mann gegen Mann - nach dem Entern entschieden wurde. Vor der britischen Küste waren „nur“ 29’000 Männer beteiligt und die Schiffe hatten Tonnagen zwischen 500 und 1000; in Lepanto waren es über 100’000 Mann und die Schiffstonnagen lagen zwischen 80 und 300! Die Schiffe waren also inzwischen wesentlich größer geworden. Die Spanier vertrauten vor allem ihren leichten Feuerwaffen; sie wollten den Gegner mit einem Hagel kleiner Geschosse überdecken. Aber die Engländer vermieden den Nahkampf, gingen in sichere Distanz und setzten erstmals Artillerie in großem Stil ein. Die Feuergeschwindigkeit der Kanonen war niedrig und die Engländer griffen den Gegner abwechselnd vom Bug, über Heck oder mit den Breitseiten an. Das bedurfte großer Manövrierfähigkeit der Schiffe und hohes seemännisches Können der Matrosen und Offiziere. Am 21. Juli kam es zu einem ersten Zusammenstoss. Drake näherte sich von Plymouth aus den Spaniern, umsegelte den Feind, griff von hinten an und drängte die Spanier nach Südosten ab. Die „Nuestra Señora del Rosario“, die größte spanische Galeone mit 64 Kanonen, ergab sich am anderen Morgen. Danach segelte die spanische Flotte langsam in den englischen Kanal ostwärts. Es gab wieder viele Kanonaden, die die Spanier große Vorräte an Munition und Matrosen kosteten. Bald machte sich bemerkbar, dass sie zu weit von ihrem Mutterland operierten und keinen Nachschub aufnehmen konnten, während sich Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 131 die Engländer nie weit von ihren Nachschubhäfen entfernten. Am 23. Juli war die Armada schon stark angeschlagen, aber noch immer kampffähig. Sie ankerte in den Flachwassern 2 Seemeilen vor Calais und wollte die Armee des Herzogs von Parma aufnehmen. Aber der Herzog weigerte sich, seine flachgehenden Boote mit den wehrlosen Soldaten darauf dem Feuer der britischen Flotte auszusetzen. Im Juli 1588 treffen die Flotten der Engländer (Flaggen mit rotem Kreuz auf weißem Grund) und der Spanier aufeinander. (National Maritime Museum, London.) Dort wurden die Spanier in der Nacht auf den 29. Juli von brennenden Hulks angegriffen, die die Engländer auf die Spanier zutreiben ließen. Die Brander waren voller Pulver und richteten unter dem spanischen Geschwader großen Schaden an; Panik brach aus. Wieder versuchte Medina-Sidonia mit der Landarmee Alexander Farnese, Herzog von Parma, Kontakt aufzunehmen, aber der wurde inzwischen von Aufständischen, die eine Chance für ihren Freiheitskampf sahen, bedrängt. Da entschloss sich der spanische Oberbefehlshaber zum Rückzug. Die Armada segelte nach Norden um Schottland und Irland herum nach Spanien zurück. Der Verlust Spaniens bezifferte sich auf 64 Schiffe, 10’000 Mann und die Vormachtstellung auf dem Meer. Obwohl keine eigentliche Seeschlacht stattgefunden hatte, war der Welt gezeigt worden, dass die „unüberwindliche Armada“ durchaus nicht unbesiegbar war. Eine neue Taktik der Seekriegsführung trug den Sieg davon. Das Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 132 Kräfteverhältnis in Europa begann sich zu verschieben; von nun an war Britannien eine Macht, mit der auf dem Meer zu rechnen war! Im Jahre 1600 gründeten die Londoner Kaufleute unter dem Patronat Königin Elizabeths die „East India Company“ und begann auf Java, Sumatra und den Molukken Handelsplätze einzurichten. 1613 dehnte die Gesellschaft ihren Einflussbereich auf Indien aus, wo eine Handelsniederlassung im Hafen von Surat eingerichtet wurde. Als der nominelle Herrscher Indiens, der Großmogul, auch den Handel mit dem Landesinneren gestattete, wurden die bisherigen Beherrscher des indischen Marktes, Marktes, die Portugiesen, langsam verdrängt. Die „East India Company“ besaß bald eine eigene Armee mit einer Kriegs Kriegs- und Handelsflotte, sie hatte eigene Behörden, eine eigene Gerichtsbarkeit und ließ sogar eigene Münzen schlagen. Ihr großer Haupthafen, das „Eas „East India Dock“ in London, wurde bald weltberühmt. Das gefiel den Holländern gar nicht, denn sie wollten auch zu einem weltpolitischen Faktor heranwachsen. 1581 waren die niederländischen Provinzen der „Utrechter Union“ endgültig von Spanien abgefallen. Unte Unter der Statthalterschaft Wilhelms von Oranien wurden die Generalstaaten mit republikanischer Verfassung konstituiert, aber Wilhelm wurde 1584 ermordet. Der Nordteil blieb zwar „holländisch“ und frei, doch in Flandern, Brabant und Geldern mussten sich die Niederlande Niederlande noch bis zum Ende des Dreißigjährigen Krieges 1648 der Spanier erwehren, bevor sie endgültig als Republik anerkannt wurden. Aber das hat Holland nicht daran gehindert, große Schiffe zu bauen und schon vor 1600 spanisch-portugiesische spanisch Faktoreien inn Südafrika, Indien und Südostasien anzugreifen. Sie errichteten dort Stützpunkte vertrieben zwischen 1599 und 1605 sogar die Portugiesen und Engländer von den Gewürzinseln, den Molukken, und legten so den Grundstein für ein großes überseeisches Kolonialreich. 1602 gründeten sie nach englischem Vorbild die „Vereenigte Ostindische Compagnie“. Auch die V.O.C. verfügt über eine eigene Flotte und eine Armee zu deren Schutz. Derartige Kompanien schossen im 17. Jahrhundert wie Pilze aus dem Boden, aber keine erlangt je die Bedeutung wie die englische und die holländische „Vereenigte Ostindische Compagnie“. Signet der „Vereenigden Ostindischen Compagnie“ (VOC) Die VOC entwickelt sich zur bedeutendsten Handelsgesellschaft überhaupt, die von Anfang an regelmäßig riesige Gewinne erwirtschaftete. Sie wird von den „Heeren Sevetien“ (siebzehn Herren) aufmerksam kontrolliert, Aktionäre, die Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 133 auch über den größten Teil des eingesetzten Kapitals verfügen. Ihre gedeihliche Entwicklung beruht zunächst auf dem Handel mit Gewürzen, doch bald sichern bunte, handbemalte Baumwollstoffe, so genannte „Indiennes“, wegen der rasch zurückgehenden Preise der Gesellschaft einen breiten Markt in Europa. Hinzu kommen Seiden, Porzellan und wertvolle Lacke aus Fernost, besonders aus China. Wichtige holländische Handelsniederlassungen befanden sich an der Koromandelküste mit ihren Pfefferplantagen und an der Küste Bengalens, wo die erwähnten „Indiennes“ hergestellt wurden. Das Zentrum holländischer Kolonialisierung befand sich hingegen im Sunda-Archipel, ihre Hauptstadt war Batavia, das heutige Jakarta auf der Insel Java (Indonesien). In dieser von Sümpfen umgebenen, fieberversuchten Gegend herrschte die „Vereenigte Ostindische Compagnie“ mit rücksichtloser Gewalt, die sie, ähnlich wie das kleine Portugal hundert Jahre vorher, auf eine Kette von Seebefestigungen gründete. Eine Kontrolle des Hinterlandes war kaum möglich, denn Holland hatte, auch wie Portugal, zu wenig Menschen: seine Gesamtbevölkerungszahl betrug damals knapp 2 Millionen. Auf dem Weg in die moderne Welt Captain James Cook James Cook (1728–1779) erforschte den Pazifik und widerlegte den Mythos vom Südkontinent «Terra Australis Incognita». (National Maritime Museum, London.) In den Portolanen aus der Zeit vor Magellans Entdeckungen stellten sich die europäischen Kartographen den Südpazifik viel kleiner vor, als er tatsächlich ist, weil sie davon ausgingen, dass das entsprechende Gebiet von einer großen Landmasse bedeckt wird. Sie nannten sie »Terra Australis Incognita« (das unbekannte südliche Land. Sogar Magellan hielt bei der Fahrt durch die Wasserstraße vom Atlantik in den Pazifik die Landmasse auf der Backbordseite seines Schiffes für diesen sagenhaften Kontinent. Erst Drake sollte entdecken, dass dieses Land tatsächlich die später »Feuerland« getaufte Insel ist. Der große englische Seefahrer James Cook sollte den Mythos der »Terra Australis Incognita« endgültig zerstören. Bevor Cooks Informationen Eingang Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 134 in Karten fanden, boten die Portolane häufig die unterschiedlichsten künstlerischen Interpretationen dieses imaginären Kontinents. Schon vor Cook hatten mehrere Seefahrer belegt, dass dieser Kontinent kleiner als angenommen sein musste, denn sie waren durch Gebiete gesegelt, in denen man eigentlich Land vermutet hatte. Zunächst tat Cook das Gleiche und zwar auf seinem Weg nach Tahiti im Jahr 1769. Seine realistische Einschätzung der Größe der Antarktis, des tatsächlichen südlichen Kontinents, war für seine Zeit einzigartig. Viele seiner Zeitgenossen vermuteten dort, wo sich tatsächlich der Südpazifik befindet, den größten Kontinent der Erde. Von der immensen Größe dieses Landes überzeugte Herrscher trieben ihre Seefahrer an, dieses Land zu finden und es für sie in Besitz zu nehmen, weil sie vermuteten, es würde ebensolche Reichtümer wie die anderen entdeckten Länder bergen. Östliche Hälfte einer Weltkarte von Rumold Mercator aus dem Jahr 1587 mit dem vermuteten Südkontinent «Terra Australis Incognita». (British Museum, Aldus Books.) James Cook wurde im Jahr 1728 geboren − zufällig genau das Jahr, in dem Vitus Bering die nach ihm benannte Beringstraße entdeckte. Fünfzig Jahre später würde Cook dieses Gebiet ebenfalls aufsuchen. Vor den seinen Ruhm begründenden großen Reisen segelte Cook als unbedeutender Seemann nach Kanada. Während des Siebenjährigen Krieges nahm er hier auch an den Kämpfen gegen England teil und wirkte an der Vermessung des St.-Lorenz-Stroms mit. Seine Vorgesetzten wurden auf ihn aufmerksam, weil er sich durch besondere Genauigkeit auszeichnete. Das und sein Interesse für Geographie und Mathematik machte ihn für die Landvermessung geeignet. So musste er nach dem Ende des Krieges in Kanada verbleiben, um das Gebiet um die Küsten Labradors, Neufundlands und Neuschottlands zu vermessen. Im Gegensatz zu den meisten Karten sowohl früherer Zeiten als auch seiner eigenen Zeit beruhten Cooks Karten auf Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 135 wissenschaftlichen Erkenntnissen und Methoden. Sie übertrafen in ihrer Genauigkeit alle früher angefertigten Land- und Seekarten. Cook war ein seriöser, königstreuer Entdecker, aber er hatte auch eine poetische Seele, die staunen konnte über die Wunder der Südsee. Dort suchte er, ganz der subjektiven Innerlichkeit eines Rousseau verfallen, einen glücklich naturhaften Urzustand der Menschheit. Obwohl er in wesentlichen Punkten die Positionen der Aufklärung vertrat, waren ihm starke Zweifel gegenüber Fortschritt und Zivilisation eigen; der klar denkende Forscher leistete sich quasi privat Gefühle, die ihn zu einem Vorläufer der Romatik machen. Das Bild vom guten Wilden war im 18. Jahrhundert weit verbreitet, und Bücher wie Robinson Crusoe von Daniel Defoe oder Gullivers Reisen von Jonathan Swift lagen genau auf der Linie der allgemeinen Empfindungen. Man träumte immer wieder vom irdischen Paradies. Und manchmal glaubte man, es tatsächlich auch gefunden zu haben. Das Paradies war auch das Reiseziel von Kapitän James Cook, und nicht nur die Wissenschaft, das Abenteuer oder die Macht des britischen Empires. Cook war überzeugt, in der Südsee den einzigen Ort auf der Welt gefunden zu haben, wo die Menschen ohne Laster leben. Geboren unter dem schönsten Himmel, brauchen sie nichts, was die Natur ihnen nicht gäbe. Robinson Crusoe ist ein Roman von Daniel Defoe, der die Geschichte eines Seemannes erzählt, der mehrere Jahre auf einer Insel als Schiffbrüchiger verbringt. Ein vor Kanibalen geflohener Wilder, der später sein Freund und Diener wird, nennt Robinson Freitag zur Erinnerung an den Tag, an dem er ihn kennengelernt hat Es mögen auch archaische Wurzeln gewesen sein, die Cook das Paradies suchen ließen. Die Hoffnung auf eine bessere Welt, notierte er, »findet sich bezeichnenderweise bei allen Seevölkern [...], nämlich der Mythos von den Inseln der Glückseligkeit. Dieser Traum existiert bereits seit den frühesten Tagen der europäischen Geschichte. [...] Diese Inseln können für Asketen das Fegefeuer sein, für andere aber das Paradies aller Genüsse, ein Reich der uneingeschränkten Liebe und de Reichtums, [...] Ort des mühelosen Lebens ohne Anstrengung und Arbeit, weil die Natur alles liefert.« Ihre Bewohner sind »glücklich, von Natur aus gut und zum Teilen bereit.« Für Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 136 Captain Cook, wie man ihn allgemein respektvoll nannte, hat dieser Glaube jedoch schlecht geendet. Die Polynesier, bei denen sich Cook sehr um freundschaftliche Beziehungen bemüht hatte, stahlen mit Leidenschaft, besonders eiserne Gegenstände. Als am 14. Februar 1779 eines von Cooks Beibooten entwendet wurde, ging er mit Bewaffneten an Land, um das Boot von den Eingeborenen zurückzufordern. Aber die Hawaiianer fielen über die Weißen her und Cook wurde am Strand von Hawaii ermordet und zerstückelt. Manche sagen, weil die edlen Wilden doch wohl nicht so edel waren, andere glauben, dass er sein Leben aufgrund eines Mißverständnisses verlor. Wie es auch gewesen sein mag; für Cook nahm die Suche nach dem Paradies ein böses Ende. Während seiner ersten Weltumsegelung führte Cook im Jahr 1769 unter anderem den Auftrag aus, eine außergewöhnliche astrologische Erscheinung erdnahen Durchgangs der Venus zu beobachten. Dieses Ereignis hatte Weltbedeutung, da Astronomen in aller Welt auf neue Erkenntnisse hofften. Der deutsche Forscher Peter Simon Pallas war eigens durch Russland an die chinesische Grenze gereist, um das Phänomen zu beobachten. Astronomen zufolge sollte die erst kürzlich von dem Engländer Samuel Wallis entdeckte Insel Tahiti den besten Blick auf dieses Schauspiel bieten. Peter Simon Pallas (1741−181), deutscher Naturforscher und Geograph, wurde 1767 zum ordentlichen Mitglied der Akademie der Wissenschaften in Sankt Petersburg und unternahm 1768-74 und 1793/94, gefördert durch die Zarin Katharina II., Expeditionen durch Sibirien und das südliche Russische Reich. Man hoffte, mit Hilfe neuer Daten die Entfernung zwischen Erde und Sonne exakter bestimmen zu können. Dies wiederum sollte ihnen bei der genaueren Bestimmung der Längen- und Breitengrade helfen, was der Navigation sehr zu Gute kommen würde. Die Royal Society wusste, dass Cook in der Lage war, die entsprechenden Berechnungen durchzuführen, da es ihm im Jahr 1766 durch die Beobachtung einer Sonnenfinsternis gelungen war, den Längengrad von Neufundland zu bestimmen. Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 137 Cooks erste Reise Neben der Beschreibung des Lebens in den seltsamen, neu entdeckten Ländern diente Cooks erste Reise noch weiteren wichtigen Zielen. Wesentliche Bedeutung kam dabei der Entdeckung von vorbeugenden Maßnahmen gegen den Skorbut zu, jener schlimmen Krankheit, die fast jede Schiffsbesatzung vor Cooks Entdeckung heimsuchte. Üblicherweise starb auf einer längeren Expedition etwa ein Drittel der Besatzung an Skorbut. Cook erkannte als Ursache den Mangel an Vitamin C. Deshalb bunkerte er Zitrusfrüchte, Frischfleisch und frisches Gemüse – und damit eine wesentlich bessere Versorgung der Mannschaft als sie bis dahin üblich war – mit dem Ergebnis, dass von Cooks 112 Männern auf der dreijährigen Reise nur ein einziger an einer Krankheit, bei der es sich aber nicht um Skorbut handelte, starb. Schließlich gingen die Briten dazu über, ihre Seeleute und Soldaten grundsätzlich mit den dieses lebenswichtige Vitamin enthaltenden Lebensmitteln zu versorgen, zum Beispiel mit Limonensaft. Das Jahr 1642 nimmt in der Geschichte der Wissenschaft eine Schlüsselposition ein: Galileo Galilei starb, Isaak Newton wurde geboren und Abel Tasman erreichte Neuseeland, auch wenn er glaubte, die lediglich von einer Bucht unterbrochene Küste des legendären großen südlichen Kontinents vor sich zu haben. Über hundert Jahre später erforschte Cook als nächster Europäer diese Gegend. Er fand heraus, dass das, was sein Vorgänger für die von einer tiefen Bucht eingeschnittene Küste eine Kontinents gehalten hatte, tatsächlich zwei von einer Wasserstraße, der heutigen Cookstraße, voneinander getrennte Inseln sind. Die Inseln sollten später Neuseeland genannt werden. Ureinwohner Neuseelands; Zeichnung von Abel Tasman 1643. (Algemeen Rijksarchief, Den Haag.) Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 138 Nach der Erfüllung seiner Aufträge hätte Cook nach Europa zurückkehren können. Stattdessen aber segelte er nach Neuholland, das später Australien getauft wurde. Er wusste zwar von Tasmans etwa hundert Jahre zurückliegender Entdeckung, aber die Kartographen waren sich nicht sicher, ob Tasmanien eine Insel oder etwa eine zu Australien gehörende Halbinsel war. Unglücklicherweise hinderte schlechtes Wetter Cook an der Beantwortung dieser Frage und sie blieb deswegen noch für mindestens zwanzig weitere Jahre offen. Cook fuhr weite: Als erster Europäer segelte er seit einem Jahrhundert wieder durch die Torresstraße und bewies, dass es sich bei ihr um einen Weg zwischen Australien und Neuguinea handelt. Aber in Batavia auf Java raffte die Malaria und die Ruhr mehr als 30 seiner Männer dahin. So fand seine Expedition neben großen Erfolgen und großen Enttäuschungen auch noch ein tragisches Ende. Cook kehrte im Jahr 1771, zwei Jahre nach dem erdnahen Durchgang der Venus, nach England zurück und erstattete der Royal Society Bericht. Er trug allerdings nur wenig von wirklichem wissenschaftlichem Wert bei. Außerdem hatten sich viele»Lehnstuhlentdecker« bis zu dieser Zeit bereits daran gewöhnt, nur noch das Außergewöhnliche zu erwarten. Da mittlerweile beinahe jeden zweiten Tag große Entdeckungen gemacht wurden, empfand man sie nun als etwas völlig Normales. Schließlich hatte James Bruce im Jahr zuvor die Quellen des Blauen Nils entdeckt und im Jahr nach Cooks Bericht verfolgte er den Blauen Nil bis zu seinem Zusammenfluss mit dem Weißen Nil. Aber immerhin war nach Cooks erster Reise nun bekannt, dass Neuseeland und Australien von Wasser umgeben waren und dem britischen Empire hinzugefügt werden konnten. Allerdings gab es immer noch keinen Beweis für die Existenz des großen südlichen Kontinents. Karte von Australien und Neuseeland (Wikipedia Maps) Deshalb erteilte die Royal Siciety in der Hoffnung, dass bei dieser Gelegenheit die südlichen Breitengrade vollständig erforscht werden könnten, den Auftrag für eine zweite Weltumseglung. Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 139 Cooks zweite Reise Auf Cooks zweiter Reise waren seine Männer im Jahr 1772 die Ersten, die nachweislich den Südlichen Polarkreis überquerten. Sie stießen so weit vor wie es das Eis erlaubte, aber der große südliche Kontinent war noch immer nicht in Sicht. Die Männer verbrachten den Winter in Neuseeland und besuchten noch einmal Tahiti. Bei dieser Gelegenheit wurden die in der Nähe gelegenen und von Cook auf Grund des freundlichen Empfangs durch die Einheimischen »Die Freundlichen Inseln« genannten Inseln kartographisch erfasst. Karte von Tahiti (Wikipedia Maps) Eines seiner beiden Schiffe musste auf Grund von Sturmschäden nach England zurückkehren und wurde so das erste Schiff, das die Welt von Westen nach Osten umsegelt hatte. Unterdessen stieß Cook zum zweiten Mal in den Südlichen Polarkreis vor. Er kam weiter nach Süden, als irgend jemand vor ihm; erst fünfzig Jahre danach sollte das wieder gelingen. Cook stellte fest, dass »... in diesem Ozean kein Kontinent zu finden ist«. Da sowohl die Vorräte als auch die Kraft seiner Mannschaft zur Neige gingen, beschloß er die Heimreise. Kurz nach dem Vorstoß in die Antarktis stellte der Schiffsarzt fest, dass der an Gallenkoliken leidende Cook frisches Fleisch brauchte. Offensichtlich gab es zu dieser Zeit bestenfalls noch gesalzenes Fleisch an Bord. Also wurde ein Bordhund für den Kapitän geschlachtet, der sich darauf rasch erholte. Cook erforschte noch die Osterinseln und die Tongas in Neukaledonien, die Neuen Hebriden und die Marquesas-Inseln und sammelte dabei wichtige Informationen für Kartographen. Auf seinem Rückweg nach England umsegelte er Südgeorgia und war damit der Erste, der eine antarktische Insel umschiffte. Cooks zweite ist die berühmteste seiner drei Reisen und nicht zuletzt darum so bemerkenswert, weil er nicht nur zum zweiten Mal die gesamte Welt umsegelte, Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 140 sondern insgesamt über 96 000 Kilometer (oder fast 52 000 Seemeilen), zurücklegte − mehr als der zweifache Erdumfang. Während eines in England verbrachten Jahres lernte Cook die neuesten Navigationsinstrumente kennen, vor allem einen äußerst genauen Chronometer zum Gebrauch mit neuen nautischen Tabellen zur Bestimmung des Längengrades. Es ist deswegen um so bemerkenswerter, was Cook auf seinen ersten beiden Reisen leistete, ohne dass ihm schon diese wesentlich verbesserten Instrumente zur Verfügung standen. Cooks dritte Reise Cook war nun bereit für den Auftrag der Admiralität, noch einmal in britischem Namen nach einer befahrbaren Wasserstraße zwischen den beiden größten Ozeanen der Welt zu suchen, aber dieses Mal vom Pazifik aus. Zu dieser Zeit glaubte man, dass diese Wasserstraße in irgendeiner Weise, wenn es vom Osten aus nicht gelingen wollte, von Westen aus zugänglich sein müsste. Ein weiterer Auftrag bestand darin, als Geschenk König Georgs III. Zuchtvieh zu den Bauern in einigen der Kolonien im Pazifik zu bringen. In England nannte man den König liebevoll, aber ein wenig respektlos »Bauer Georg«, weil er sich stark für die neuen landwirtschaftlichen Errungenschaften interessierte, denn die Bevölkerung Englands wuchs dramatisch an. Zu seiner Beliebtheit trug auch bei, dass er treu zu seiner Ehefrau hielt und im Gegensatz zu seinen beiden hannoverschen Vorgängern keine Mätressen hatte. Aber der König war nicht gesund; er litt an einer Geisteskrankheit, nach heutigen Erkenntnissen Symptome einer Stoffwechselstörung. Damals wurde bei Hofe sehr oft das Medikament Brechweinstein verschrieben, welches einen hohen Anteil an Antimon enthält. Da in der Natur Antimon und Arsen häufig zusammen vorkommen, könnte Georg III. möglicherweise durch Arsen nach und nach unwissentlich vergiftet worden sein. König Georg III. im Krönungsornat 1760; der König war damals 22 Jahre alt Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 141 Doch in den amerikanischen Kolonien war der Ruf Georges III. alles andere als gut. Tatsächlich erklärten die Amerikaner wenige Tage, bevor Cook am 12. Juli 1776 zu seiner letzten Reise aufbrach, in aller Form ihre Unabhängigkeit von England. Das Zeitalter der Entdeckungen ging seinem Ende entgegen und glitt in ein neues Zeitalter der Revolutionen über. Die Franzosen sollten mit ihrer historischen Revolution des Jahres 1789 die ersten sein. Die Russen, Chinesen und Kubaner würden später folgen. Viereinhalb Monate nach dem Beginn seiner Reise entdeckte Cook am 25. Dezember die Weihnachtsinsel, das größte Pazifikatoll, die erst 1888 von Großbritannien annektiert wurde (die Briten sollten hier in den Jahren 1957 und 1958 Nuklearwaffentests vornehmen, die USA sollten dies von 1962 an fortsetzen). Anschließend entdeckte Cook die von ihm nach dem berüchtigten Ersten Lord der britischen Admiralität, Graf von Sandwich, genannten Sandwichinseln, die aber später in Hawaii-Inseln umgetauft werden sollten. Es ist jedoch durchaus möglich, dass Cook nicht als erster Europäer diese Inseln entdeckt hat. Die Sandwich-Inseln (später in Hawaii-Inseln umbenannt), aus dem Weltatlas, Rom, 1798 Nachdem er das Vieh bei den Bauern abgeliefert hatte, wandte er sich dem wichtigeren und anspruchsvolleren Teil seines Auftrags zu, der Suche nach einer Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 142 nördlichen Passage vom Pazifik zum Atlantik. Er segelte in östlicher Richtung nach Nordamerika, landete zunächst im Nootkakasund in der Nähe von Vancouver, um dann von dort aus weiter die Westküste Amerikas hinauf zu segeln bis er schließlich, bevor ihn Eisberge am weiteren Vordringen hinderten, die Beringstraße passierte. Aber immerhin vervollständigte er, nachdem der dänische Kapitän Vitus Bering fast 50 Jahre vor ihm in dieser Gegend gewesen war, die Informationen über die Beringstraße in der ersten neuen Karte. Das Schicksal eines anderen, mit dem man die Theorie von der zutraulichen Gemütsart der Südseeinsulaner beweisen wollte, verliert sich in ungewisser Dunkelheit. Das Experiment Omai entwickelte sich anders, als man damals im Glauben an die edlen Wilden erwartete. Bei der Abreise zu Cooks dritten Entdeckungsfahrt 1776 befand sich ein Eingeborener von der Südseeinsel Ulietea, Omai mit Namen, an Bord. Dieser Naturbursche hat 1772 sein Vaterland verlassen, ist mit Cook mitgereist und war 1775 in England eingetroffen; nun sollte er in seine Heimat zurückkehren. Es war ein einfacher Mann, und Cook hatte den Narren an ihm gefressen. In London hatte man Omai in die beste Gesellschaft eingeführt, und er besaß wohl genug common sense, schnell zu begreifen, dass diese Leute der high society angehörten und was sie von ihm erwarteten. Er benahm sich ungezwungen, und da er noch jung an Jahren war, äußerten sich seine Vorlieben gleich denen anderer junger Leute. Zu seinem Glück war er ein guter Beobachter, denn da er die Sitten und das Betragen der Personen von Rang und Stand, die ihn ihres Schutzes würdigten, sehr sorgfältig beobachtete, ahmte er sie fleißig nach, blieb aber mäßig und bescheiden. Bald nach seiner Ankunft in London stellte ihn der Graf von Sandwich dem König Georg III. vor, was Omai stark beeindruckte, aber seine vornehmsten Gönner waren der Graf von Sandwich sowie die Botaniker Banks und Solander. Das Glück hatte Omai folglich begünstigt, er lebte in Luxus und war häufig von vielerlei Vergnügungen umgeben. Und weil er im Schachspiel eine gewisse Fähigkeit entwickelt hatte, hielt man ihn für sehr begabt. Omai, ein Eingeborener von einer der Gesellschaftsinseln, war in England «zivilisiert» worden. Nach seiner Heimkehr erwartete ihn ein ungewisses Schicksal Doch er vergaß seine Heimat nicht und wollte in sein Vaterland zurückzukehren. Er sammelte mit Eifer alle möglichen Dinge, um sie in seine Heimat mitzunehmen. Die Vielfalt Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 143 der in Europa gebräuchlichen Gegenstände hinderte ihn allerdings daran, im einzelnen Objekt einen Nutzen zu erkennen, wie er überhaupt nicht in der Lage war, eine allgemeine Vorstellung des damals gültigen gesellschaftlichen Systems zu entwickeln und neue Erkenntnisse zum Nutzen und zur Verbesserung seines heimatlichen Insellandes anzuwenden. Die jeden Tag auf ihn einwirkenden Genüsse ließen ihm auch keinen Augenblick Zeit, an Derartiges zu denken. Bald besaß er Beile, Sägen, Meißel und Zimmerwerkzeuge, Flinten, Pistolen, Säbel, Pulver und Munition, Nähnadeln, Stecknadeln, Angeln und verschiedene Werkzeuge für die Jagd, Netze aller Art, eine vollständige Drehbank, farbige Kleider nach englischer Mode, eine Drehorgel, eine Elektrisiermaschine, ein Panzerhemd und eine Ritterrüstung. In der Südsee angekommen, setzte man Omai im Oktober 1777 auf eigenen Wunsch mit seinen Habseligkeiten, dazu zwei Pferden, zwei Kühe und ein Stier, einige Schafe und Ziegen sowie Gänse und Hühner auf der kleinen Insel Huaheine, einem zu den Gesellschaftsinseln gehörenden Eiland, ab. Auf Befehl Cooks bauten ihm die Schiffszimmerer ein Haus nebst Stall und Scheune. Cook ermöglichte es auch, dass Omai sich ein Stück Land vom Inselherrscher kaufen konnte. Diese Ereignisse verbreiteten sich in Windeseile in der Umgebung, so dass von Nah und Fern Eingeborene herbeiströmten, um diesen Günstling der Weißen zu sehen. Omai genoß anfangs die Aufmerksamkeit mit Stolz und Eitelkeit, aber bald wurde er zaghafter, denn er spürte (oder vernahm) den Neid der Eingeborenen. Diese klauten den Europäern die Werkzeuge, Nägel, Beile und Sägen, so dass Cook Wachen ausstellen lassen mußte. Den Einwohnern war es kein Verbrechen, sich zu nehmen, was andere augenscheinlich in Fülle besassen, aber als man einen Dieb erwischte, legte man ihn auf einem Schiff in Ketten. Die Angehörigen schickten Schweine und Geflügel an Bord, um den Gefangenen loszukaufen, doch es half nichts, die Engländer stellten ihn »vor Gericht« und verurteilten ihn nach ihrem Rechtsempfinden: er verlor beide Ohren und bekam den Schädel geschoren. Dann schickte man ihn blutend an Land. Die entsetzten Eingeborenen erfuhren erst jetzt, dass das Wegnehmen von Gegenständen den Weißen als Verbrechen gelte. Kurz darauf wurden eines nachts Omais Pflanzungen verwüstet, die er angelegt hatte. Er ahnte Schlimmes, und er sagte dies auch seinem Gönner. So warnte Cook die Einheimischen, »dass wenn man Gewalt gegen Omai gebrauchen sollte, oder ihn in dem freien Genusse seines Eigenthums störte, so würde er [Cook] bei der Zurückkunft unserer Schiffe die ganze Insel verwüsten und jedes menschliche Geschöpf vertilgen, das auf irgendeine Art zu seinem [Omais] Schaden etwas beigetragen hätte. [...] Captain Cook ließ es an nichts mangeln, um den Einwohnern eine hohe Meinung von Omai einzuprägen.« Es kam zu einem rührenden Abschied; Cook hatte zu Omai väterliche Gefühle entwickelt, und als Omai unter Tränen bat, ihn wieder mit nach England zu nehmen, konnte auch er sich nicht gegen die Rührung wehren, die ihn dabei Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 144 befiel. Aber er sagte auch, dass das unmöglich sei und »er erinnerte ihn, wie ängstlich besorgt er [Omai] in England war, dass man ihn nicht nach Hause schicken möchte; und sagte ihm, nun er auf große Unkosten seines Königs in sein Vaterland, zu seinen Freunden zurückgebracht worden wäre, sei es kindisch zu hoffen, dass man ihn wieder mitnehmen sollte.« Cook schenkte ihm noch sechs große Beile und einige Meissel, dann segelten die Engländer davon. Sie kamen nie zurück, um Nachschau zu halten. Cook starb auf Hawaii und seine Nachfolger wählten eine andere Rückreiseroute nach England. Was aus Omai geworden ist, kann man nur ahnen. Huahine, die Insel Omais, ein Atoll im Pazifischen Ozean. Sie gehört zu den Gesellschaftsinseln. Bei Cooks Rückkehr nach Hawaii waren die Eingeborenen plötzlich der Meinung, er sei eine Reinkarnation einer ihrer Götter. (Man fühlt sich an den von den Azteken um 1520 als Heilsbringer verehrten Cortés erinnert, allerdings mit dem Unterschied, dass Cook diesen Aberglauben der Einheimischen weder ermutigen noch ausnutzen wollte.) Dann allerdings stahlen die Eingeborenen aus unerfindlichen Gründen eines von Cooks kleinen Booten. Cook nahm daraufhin einen der Stammeshäuptlinge gefangen, um ihn gegen das Boot einzutauschen. Aber das beschwor einen Aufstand der Eingeborenen herauf, in dessen Verlauf Cook tötet wurde. Impression des Todes von Captain Cook in der Kelakekua Bay (Hawaii), gezeichnet von John Webber. Dies war das ruhmlose Ende eines Entdeckers, der selber nie gewalttätig gewesen war. Es war gleichzeitig »eine unheimliche Wiederholung des Todes Magellans vor 258 Jahren«. Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 145 Lt. Charles Clerke übernahm das Kommando der Expedition und setzte die nach Norden fort, um noch einmal nach der legendären nördlichen Passage zu suchen. Aber erneut wurde sie durch das Eis gestoppt und wandte sich nach Süden ud folgte dieses Mal der Küstenlinie Asiens Sie segelten nordwärts nach Petropawlowsk, wo sie von den Russen freundlich aufgenommen wurden. Die Nachricht von Cooks Tod ging auf dem Landweg weg und erreichte England ein halbes Jahr vor der Heimkehr der Schiffe. Lt. Clerke versuchte, den Auftrag weiterzuführen, scheiterte aber auf 70° 33' N am Packeis, das noch stärker schien als im Vorjahr. Als sein Schiff nach Petropawlowsk zurückkehrte, war der 38-Jährige bereits gestorben. Der Amerikaner Lt. John Gore, der auch Cooks erste Pazifikreise mitgemacht hatte, führte die Expedition nach England zurück, wo sie am 6. Oktober 1780 eintraf. Einige Forscher dieses Zeitalters waren bei ihren Entdeckungen noch nicht einmal dreißig Jahre alt waren. Im Gegensatz dazu war Cook schon fast vierzig Jahre alt, als er sich den ungeheuren Herausforderungen seiner drei bewundernswertesten Reisen stellte. Spätestens in diesem Alter hatten die meisten Männer seiner Zeit den Zenit ihrer körperlichen Leistungsfähigkeit bereits überschritten. Doch Cook verbrachte in den letzten zehn Jahren seines Lebens Dinge, die wenige jüngere vollbracht hatten. Karte der Neuen Hebriden (heute Vanuatu genannt) und Neukaledoniens, aus dem Weltatlas, Rom, 1798 Die Schiffe Resolution und Adventure in der Matavai-Bucht von Tahiti, auf ihrer zweiten Reise Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 146 Die Suche nach den Grenzen Die Welt ist »entdeckt« Am Ende des 18. Jahrhunderts waren von vier Fünfteln der Erdoberfläche die Formen der Kontinente und Ozeane mit einiger Genauigkeit bekannt; nur die Pole blieben noch ein Rätsel. Die Erforschung dieser fernsten Winkel der Welt warf besondere Probleme auf. Die Antarktis ist ein Kontinent, der stellenweise von eisfreiem Ozean umringt ist, und dieser ist seinerseits wiederum von einem Eisgürtel umringt - wie eine Koralleninsel, die zuerst von ihrer Lagune und dann von ihrem Riff eingeschlossen ist. Im Süden bestand daher das Problem darin, wie man den Gürtel aus festem Packeis, der im großen und ganzen um den 60. Breitengrad herum konstant blieb, durchdringen könnte. Erst als ein Schiff konstruiert war, das widerstandsfähig genug war, um sich den Weg durch dieses Eis zu erzwingen, konnte der Schleier vor dem letzten der Kontinente im Jahre 1843 durch James Clark Ross gelüftet werden. Die Arktis dagegen ist ein vom Land umringter Ozean, aber eine Reihe von Meerengen verbindet sie mit den schiffbaren südlicheren Gewässern. Das Problem war hier schwieriger. In manchen Gebieten reichte das Eis südlich bis zum 60. Breitengrad, in anderen wich es zurück bis zum 85.; seine Ausdehnung und sein Verhalten schwankten von Jahr zu Jahr beträchtlich. Viele Seewege, die höchst vielversprechend nordwärts zu führen schienen, wurden irgendwo durch herausströmendes Eis blockiert. Jahrhundertelang konzentrierten die Entdecker ihre Bemühungen vor allem auf die Davisstraße zwischen Grönland und Nordamerika und machten höchstens gelegentlich Ausfälle in die nach Osten führende Barents-See; aber diese Zugänge waren unwiderruflich blockiert. Erst als der Amerikaner de Long 1881 durch die Beringstraße nach Norden vorstieß, dort unfreiwillig in die Eisdrift des großen Polarstroms geriet und nach unsäglichen Strapazen Schiff und Leben verlor, kam man dem letzten der Ozeane näher - aber erforscht war er noch nicht. Und diese Schlussphase der Erforschung war von einer Selbstlosigkeit getragen, die man bei vielen der früheren Entdeckungsreisen nicht fand. Die Männer, die mit ihren Schiffen immer wieder und wieder in die erbarmungslosen Eisfelder vorstießen, die in den Einöden der Polargebiete Kälte, Eintönigkeit, Hunger, körperliche Erschöpfung ertrugen und allzu oft auch den Tod erlitten, hatten wenig Hoffnung auf materiellen Gewinn; sie waren von Wissensdurst erfüllt, der Köder, der sie lockte, war das Unbekannte. Der Schwede A. E. Nordenskiöld fand 1880 mit seinem Stahlschiff Vega ohne Schwierigkeit die Nordostpassage, den Seeweg zwischen dem Atlantik und dem Pazifik längs der 6500 km langen Nordküste Eurasiens, an der Barents 1597 gescheitert war. Aber dieser kürzeste Weg von Europa zur Beringstraße ist fast immer vereist und für die Schifffahrt Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 147 wenig nützlich. Die Nordwestpassage* hingegen, die Durchfahrt vom Atlantik zum Pazifik nördlich des nordamerikanischen Festlandes durch den KanadischArktischen Archipel, wurde bis zum 19. Jahrhundert immer wider vergeblich gesucht und kann 1906 von Roald Amundsen gefunden werden. 1896 beweist der Norweger Fridjof Nansen das Vorhandensein einer Nordpolarströmung, indem er sich mit seiner eisfesten legendären Fram mit den Eismassen über die Polarzone driften läßt. Die Anderen und die Grenzen, das sind zwei Begriffe, um die herum Europa seit alters her seine Identität errichtet hat. Vor der Entdeckung der Neuen Welt schaute Europa stets nach Osten, nach Asien. Schon Hippokrates gab für die Unterschiede zu den dort Beheimateten das Klima an. Aristoteles bezeichnete die Europäer wegen des rauen Klimas als tapfere, aber nicht besonders weise Menschen. Die Asiaten hingegen erschienen ihm talentiert, doch fehle es ihnen an Mut und Willensstärke. Und irgendwie bestätigte der Lauf der Entwicklungen diese Beurteilungen. Die Europäer werden erobern, aber sich dabei nicht sehr klug verhalten, die anderen steuerten verfeinerte Lebensart bei, sollten aber Lakeien sein und für den Wohlstand der Sieger sorgen. Wer macht Geschichte? Die Machthaber, die politisch-ökonomische Struktur oder das Individuum? Der Lauf der Dinge ist vernunftmäßig häufig nicht zu begreifen, weil die überraschende Komponente des Zufalls oft eine Rolle spielt. So wurde Kolumbus bei seiner Ankunft auf den Westindischen Inseln von den Indianern mit Respekt und Freundschaft empfangen, weil die Eingeborenen einer Weissagung gemäß weiße Väter mit langen Bärten erwarteten. Reiter – Pferde waren im Amerika unbekannt – erschienen ihnen wie göttliche Wesen, und die metallenen Waffen der Spanier galten als Zeichen unüberwindlicher Stärke. Auch Portugal profitierte von einem Zufall. Mehr als fünfzig Jahre benötigten die Portugiesen, um von Kap Bojador an der afrikanischen Küste von Kap zu Kap nach Süden zu gelangen. Und als die Zweifel wieder stärker wurden, ob Afrika überhaupt zu umsegeln sei, trieb ein Sturm die Karavelle des Bartholomëu Diaz um das Kap der Guten Hoffnung und öffnete den Seeweg nach Indien. Sind Indianer Menschen? Die Entdeckung Amerikas konfrontierte die Europäer mit der Vielfalt der Menschheit. Zunächst hatten sie sagenhafte Rassen von »Ungeheuern« erwartet, wie sie in den mappae mundi des Mittelalters umständlich beschrieben waren und die Menschen seither fasziniert hatten, ohne dass sie sie jemals gesichtet worden wären. Als die Europäer die Neue Welt betraten, erwarteten sie, fantastische Lebewesen zu finden. Aber Kolumbus berichtet überrascht und ein Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 148 wenig enttäuscht, dass er auf diesen Inseln keine menschlichen Mißbildungen gefunden habe. Die Indianer, beruhigte er das spanische Königshaus, seien »sehr gut gebaut, mit sehr schönen Körpern und gut geschnittenen Gesichtern«. Mit der Entdeckung neuer Rassen begann eine Umwälzung im abendländischen Denken. Die Entdeckung unerwarteter Erdteile, die dann als Neue Welt bezeichnet wurden, hatte als Nebenprodukte ein ›Zur-Kenntnis-Nehmen‹ unbekannter anthropologischer Formen im Gefolge. Die Europäer betrachteten ihre eigene Hautfarbe als die normale. Die dunkle Haut der Afrikaner wurde durch die Sonne in heißen Klimazonen erklärt, und damit war natürlich bestätigt, dass die afrikanischen Völker Menschen waren. Die Bibel äußerte sich eindeutig zur gemeinsamen Herkunft und homogenen Abstammung der gesamten Menschheit. Da alle Menschen von Adam und Eva abstammten, gab es keinen Raum für Minderwertigkeit der Erbmasse. Die interessanten Unterschiede waren die der Sprache und Religion. Die Entdeckung Amerikas eröffnete der katholischen Kirche eine reizvolle neue Möglichkeit. Um die Mitte des sechzehnten Jahrhunderts verlor sie in Europa Millionen Seelen an die immer zahlreicher werdenden protestantischen Ketzer. Gleichzeitig lieferte die Neue Welt durch göttliche Vorsehung plötzlich unzählige Heiden, die als neue Gläubige gewonnen werden konnten. Eine optimistische Schätzung von 1540 gab die Zahl der getauften Indianer mit etwa sechs Millionen an. Dennoch wurde der Menschenstatus des Indianers - seine mögliche Gleichheit vor den Augen Gottes - zunehmend bestritten. Die spanischen Konquistadoren hatten ihre eigenen Gründe für die Behauptung, die Indianer seien minderwertig, denn damit hatte sie Gott praktischerweise zu ihren Sklaven bestimmt. Es gab lebhafte Debatten dafür und dawider. Bartolomé de Las Casas, als Stimme des Gewissens, die nie ganz unterdrückt wurde, blieb Sprecher der anerkannten Lehre der Römischen Kirche. Natürlich konnte er die Konquistadoren nicht zu Pazifisten bekehren. Doch hatte er mit dem Siegel der Kirche bekräftigt, dass die Indianer Menschen waren. Im Jahre 1566, als König Philipp II. erneut Lizenzen zur Entdeckung und Eroberung gewährte, fühlte er sich bemüßigt, alle aufzufordern, sich an die Gesetze eines gerechten Krieges zu halten. Die relativ friedliche Eroberung der Philippinen nach 1570 wird bisweilen dem Fortleben von Las Casas' Geist zugeschrieben. Der Beginn des Kolonialismus Mit den großen Entdeckungsreisen im 15. und 16. Jahrhundert fing für die Menschen ein neues Zeitalter an. Sie begannen, neue Fragen zu stellen. Dass die Welt eine Kugel ist, war nach der Rückkehr von Magellans Victoria bewiesen! Die Schiffe fuhren nach Osten und Westen; sie kehrten mit Waren von unvorstellbaren Werten nach Europa zurück. Tausch und Handel machten das Messen, Wägen, Zählen und Vorausberechnen nötig. Aber es begann auch die Tragödie der Europäisierung des Erdballs. Eine überlegene Technik, intolerante Das Lächeln der Aphrodite – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte der Seefahrt Seite 149 Machtansprüche von Kirche und Krone sowie die Unkenntnis oder Missachtung der Werte fremder Kulturen vernichteten bedeutende Zivilisationen in Asien sowie in Nord- und Südamerika. Man schätzt heute, dass damals zwischen 70 und 100 Millionen Menschen niedergemetzelt oder versklavt wurden. Keine Kolonialmacht war hier unbeteiligt: Spanien, Portugal, die Niederlande, England, Frankreich; alle wollten teilhaben an der Beherrschung der Welt. Wie erlebten die Indios die Spanier? Sie entdeckten in Kolumbus den typischen Konquistador. Der Entdecker eines neuen Kontinents zeigte sich als schlechter Ethnograph, weil ihn mehr das Land und seine Reichtümer, das Gold und der Handel interessierte als die Menschen, die Indios. Eine echte Kommunikation mit den Eingeborenen fand nicht statt. Durch dieses Nichtverstehen wurde die Entdeckung Amerikas durch die Weißen für die Indios eine böse Entdeckung mit schlimmen Folgen … Aphrodite hatte für Europa gelächelt, von den anderen Kontinenten war keine Rede!