Essay-2 - Antiquariat am Mehlsack
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Essay-2 - Antiquariat am Mehlsack
Warum in Indien „Antiquariate“ Orte preußischer Ordnung sind Ein echter Antiquar auf Reisen, egal welches Land er besucht, sucht baldmöglichst den Laden eines Kollegen auf. Da kann er gar nicht anders. Antiquare sind schließlich eine Art verschworene Gemeinschaft. Weltweit. Ich habe also während meines 2-jährigen Aufenthaltes in Indien von 2009-2011 immer wieder versucht, Antiquariate zu finden. Und das hat sich immer mehr als die berühmte Suche nach der Nadel im Heuhaufen erwiesen. Machen wir es kurz: Es gibt dort keine Antiquariate. Jedenfalls nicht in dem Sinn, wie wir sie kennen. quariaten“ aus unseren Breiten ähnlich. In Goa sowieso (das wahrscheinlich über den größten deutschsprachigen Taschenbuchbestand Asiens verfügt), aber auch in Delhi, Bombay und - vor allem Kalkutta. Dort gibt es rund um die College Street rund 5000 Buchläden! Iija Trojanow und Anja Bohnhof haben ihrem kleinen Bildband „Stadt der Bücher“ diesem Ort ein wunderbares fotografisches Denkmal gesetzt. Was dort auffällt: Das Prinzip des Antiquariats ist gleichsam auf den Kopf gestellt. Sind sie in Deutschland bekanntermaßen oftmals letzte Oasen des relativen Chaos in einer rational strukturiertem Lebenswelt , sind sie in Indien Inseln einer geradezu preußisch anmutenden Ordnung, die dort sonst nirgends existiert. Verrückte Welt. Was man also allenfalls findet in Indien: "moderne Antiquariate". Wobei "modern" in Indien relativ ist. Selten habe ich gebrauchte Bücher liebloser angeboten gesehen als hier. Verratzt, fleckig, eingerissen, oft Wind und Sonne ausgesetzt. Und das in einem Land mit Jahrhunderte alter Buchkultur: Kamasutra, Upanischaden, Ghandi, Nehru. Es gibt Buchläden, die gebrauchte Bücher verramschen, den „modernen Anti- Aber "echte" Antiquariate? Bücher, die älter sind als fünf, zehn Jahre? Womöglich 19., 18. Jahrhundert oder älter? Ledereinbände? Erstausgaben? Inkunabeln, limitierte Liebhaberausgaben? Alte Stiche? Atlanten? Urkunden? Fehlanzeige. Woran liegt das? Einerseits am Fehlen einer Bildungsbürgerschicht. Indien hatte bis vor kurzem nur eine hauchdünne Mittelschicht, die Bücher nicht nur gelesen, sondern auch gesammelt hätte. Was vorhanden ist an Seltenem, Bibliophilem, ist meist im Besitz der Maharajas und der damaligen indischen Elite, der Offiziers- und Verwaltungselite Britisch-Indiens: Den Sikhs. Und die Engländer haben ihre Bibliotheksbestände 1947 nach dem Ende der Kolonialzeit mitgenommen. Und es liegt andererseits an der fehlenden Nachfrage. Der neureiche Inder, der sich wertvolle antiquarische Bücher heute leisten könnte, hat zunächst andere Konsumprioritäten: Haus, Wohnung, Auto, Notebook & TV, Möbel, Reisen. Und: Je jünger die Angehörigen dieser neuen wohlhabenden Mittelschicht, desto geringer die Affinität zum Buch. Das ist bei uns in Europa ja auch nicht viel anders. Das kann man als Untergang des Abendlandes ansehen, muss es aber nicht. Aber für Indien gilt: de facto Antiquariatsfreie Zone. In einem Land, in dem es sonst fast alles gibt: kein Stöbern, kein Finden, kein Feilschen, nix. Indien - für Bibliophile eine kleine Tragödie. Aber sonst: Wahrlich täglich großes Staunen. © Andreas Kleemann