Joseph Roth (1894-1939) Radetzkymarsch (1932) Der Roman

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Joseph Roth (1894-1939) Radetzkymarsch (1932) Der Roman
Joseph Roth (1894-1939)
Radetzkymarsch (1932)
Der Roman ‚Radetzkymarsch‘ ist einer der grossen Gesellschaftsromane deutscher Sprache. Er
erschien im November 1932. Da Roth Jude war, wurde sein Werk 1933 verboten. Der ‚Radetzkymarsch‘ wurde in den 50er-Jahren wiederentdeckt und galt dann für lange Zeit als Roths
einziger bedeutender Roman. Dank mehreren Gesamtausgaben ist heute Roths Werk im vollen
Umfang bekannt. Seither gelten neben dem ‚Radetzkymarsch‘ auch mehrere andere Romane
und Erzählungen und viele journalistische Arbeiten als bedeutende deutschsprachige Literatur
der Zwischenkriegszeit.
In Gesellschaftsromanen - das berühmteste Beispiel sind die ‚Buddenbrooks‘ von Thomas
Mann, ein neueres aus der Schweiz wäre ‚Melnitz‘ von Charles Lewinsky – wird versucht, eine
Gesellschaft über eine bestimmte Zeit hinweg zu beschreiben. Dies wird gemacht, indem man
mehrere Generationen einer Familie sozusagen von der Wiege bis zur Bahre beschreibt. Bei
Thomas Mann z.B. lernt man anhand des Schicksals der Familie Buddenbrook die bürgerliche
Gesellschaft der norddeutschen Handelsstadt Lübeck in der Zeit zwischen ca. 1835 und 1885
kennen.
Im ‚Radetzkymarsch‘ nun versucht Joseph Roth die Welt der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie in der Zeit zwischen der Schlacht von Solferino, 1859, und dem Tod von Kaiser
Franz Joseph, 1916, zu beschreiben. Zentral ist dabei die Epoche zwischen 1880 und 1914. Im
Unterschied zum überschaubaren Lübeck bei Thomas Mann handelt es sich bei ÖsterreichUngarn um ein riesiges Reich, in dem viele Sprachen gesprochen werden, in dem es mehrere
unterschiedliche Religionen gibt. Das führt zu starken internen Spannungen. Zusammengehalten wird das Reich durch den Kaiser, seine Majestät Franz Joseph I., der während mehr als 60
Jahren Herrscher über die Donaumonarchie war.
Dieser Kaiser hält denn auch den Roman von Roth wie eine Klammer zusammen. Im ersten
Kapitel wird ihm in der Schlacht von Solferino das Leben gerettet, im Epilog wird er in der
Kapuzinergruft im Wiener Stephansdom beigesetzt. Die Familie, an der die gesellschaftliche
Entwicklung der Donaumonarchie gezeigt wird, ist die Familie des Leutnants Joseph Trotta,
der in der Schlacht von Solferino Franz Joseph das Leben rettet. Er wird danach in den Adelsstand erhoben und heisst nun Hauptmann Joseph Trotta von Sipolje. Seine Familie steht in der
Gunst des Kaisers. Dadurch werden die Trottas aus ihrer bisherigen einfachen Welt herausgerissen. Der Held von Solferino nimmt seinen Abschied aus der geliebten Armee, als er in einem
österreichischen Lesebuch für Schulkinder entdeckt, dass seine Heldentat mystifiziert und
überhöht, also nicht wahrheitsgemäss, erzählt wird. Er verlangt von seinem Sohn, dass er nicht
in die Armee gehen dürfe.
Im Mittelpunkt der Romanhandlung stehen nun dieser Sohn, Franz Freiherr von Trotta, der die
Beamtenlaufbahn einschlägt und in einem Ort in Mähren Bezirkshauptmann wird, und der Enkel des Helden von Solferino, Carl Joseph von Trotta. Während der Bezirkshauptmann in der
mährischen Bezirksstadt W. ein treuer Diener seines Herrn ist, wird sein Sohn Carl Joseph Offizier. Er wird dies nicht freiwillig, sein Vater verlangt es von ihm – so wie dessen Vater von
seinem Sohn verlangte, dass er nicht ins Militär gehen dürfe. Indem die eine Hauptperson in
der Welt der Beamten, der Staatsdiener, lebt, die andere im Militär, kann Roth zwei ganz wesentliche Stützen der österreichischen Monarchie zeigen.
Carl Joseph ist kein begabter Offizier. Er wird schliesslich an die Grenze des Reiches versetzt.
Im Ort, in dem seine Garnison steht, erkennt man Brody, den Geburtsort von Roth, ganz im
Osten, an der Grenze zu Russland. Carl Joseph ist unglücklich, verschiedene Schicksalsschläge
treffen ihn. Hier an der Grenze merkt er, dass das Reich untergehen wird. Er lernt die verschiedensten Arten von Menschen kennen, die verschiedenen Nationalitäten (Deutsche, Tschechen, Ungarn, Kroaten, Ruthenen etc.), die verschiedenen Religionen (insbesondere auch die
Juden). Mit dem Reich geht auch er selbst unter. Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs
zieht er in den Krieg. Er stirbt, als er für seine ruthenischen (heute: ukrainischen) Soldaten
Wasser holen will. Er stirbt wie ein Held, aber seine Tat wird in keinem Lesebuch beschrieben
werden, denn Lesebücher für Untertanen des Kaisers wird es nach dem Ersten Weltkrieg keine
mehr geben. Das Kaiserhaus und Österreich-Ungarn gehen in diesem Krieg endgültig unter.
Nachdem er vom Tod seines Sohns erfahren hat, ist auch Franz, der Bezirkshauptmann, vom
Tod gezeichnet. Er stirbt unmittelbar nach dem Tod des Kaisers, im Jahre 1916. Bei seiner Beerdigung spricht der Bürgermeister zum besten Freund des Verstorbenen:
„Ich hätte noch gern erwähnt“, sagte der Bürgermeister, „dass Herr von Trotta den Kaiser
nicht überleben konnte. Glauben Sie nicht, Herr Doktor?“ – „Ich weiss nicht“, erwiderte der
Doktor Skowronnek, „ich glaube, sie konnten beide Österreich nicht überleben.“
Skowronnek ist eine der - wichtigen - Nebenfiguren des Romans. Ähnlich wie der polnische
Graf Chojnicki, der Freund des Leutnants Franz Joseph, kommentiert er das Geschehen.
Der Roman ist reich an weiteren Figuren. Es gibt Frauen, die ins Leben von Carl Joseph treten,
es gibt den Diener des Bezirkshauptmanns Jacques und dessen Kanarienvogel, es gibt Juden
wie den Offizier Demant, der in einem Duell fällt, oder Kapturak, den Mann der Grenze. Besonders prägend aber sind bestimmte Situationen, die sich wiederholen, etwa wenn der Radetzkymarsch von einer Militärkapelle gespielt wird.
Roth beschreibt sehr anschaulich verschiedene Gegenden des riesigen Landes, insbesondere
natürlich seine Heimat, das Land an der Grenze. Seine Darstellung wird immer wieder von
Kommentaren des Erzählers unterbrochen. Nur ein Beispiel sei hier zitiert:
Damals, vor dem grossen Kriege, da sich die Begebenheiten zutrugen, von denen auf diesen
Blättern berichtet wird, war es noch nicht gleichgültig, ob ein Mensch lebte oder starb. Wenn
einer aus der Schar der Irdischen ausgelöscht wurde, trat nicht sofort ein anderer an seine
Stelle, um den Toten vergessen zu machen, sondern eine Lücke blieb, wo er fehlte, und die nahen wie die fernen Zeugen des Untergangs verstummten, sooft sie diese Lücke sahen…
So war es damals. Alles, was wuchs, brauchte viel Zeit zum Wachsen; und alles, was unterging,
brauchte lange Zeit, um vergessen zu werden. Alles aber, was einmal vorhanden gewesen war,
hatte seine Spuren hinterlassen, und man lebte dazumal von den Erinnerungen, wie man heutzutage lebt von der Fähigkeit, schnell und nachdrücklich zu vergessen. (Achtes Kapitel)
Es ist ein grosser Roman!
Joseph Roth (1894 – 1939)
Joseph Roth wurde 1894 in Brody in Galizien, im äussersten Osten der Donaumonarchie, geboren. Er war Jude und wuchs ohne Vater in einer mittelständischen, nicht armen Kaufmannsfamilie auf. Nach dem Gymnasium studierte er in Lemberg und Wien (ab 1914). Er meldete
sich 1916 freiwillig und war während des Krieges wohl bei der Pressestelle der Armee in
Lemberg tätig. Nach dem 1. Weltkrieg lebte er zunächst in Wien. Bald begann er sich erfolgreich journalistisch zu betätigen. Sein erster Roman erschien 1923 (‚Das Spinnennetz‘). Roth
vertrat anarchistische und sozialistische Positionen, unterzeichnete gewisse Artikel z.B. mit
‚Der rote Joseph‘. Als Journalist und Reporter machte er rasch Karriere. Er schrieb für verschiedene Blätter, insbesondere für das Feuilleton der Frankfurter Zeitung. Er soll nach Stefan
Zweig der am besten verdienende Schriftsteller deutscher Sprache gewesen sein. Dennoch
klagte er ständig über Geldsorgen.
Roth reiste fortwährend umher, lebte nur in Hotels. Seine Ehe mit Friderike Reichler (Friedl),
geschlossen 1922, scheiterte wohl, weil Friedl das Leben neben einem herumreisenden
Starjournalisten nicht aushielt. 1926 wurde sie geisteskrank. Sie wurde 1940 als ein Opfer der
Euthanasie-Politik der Nazi in der Todesklinik Hartheim bei Linz vergast. Weitere wichtige
Frauen in Roths Leben waren Andrea Manga-Bell und Irmgard Keun.
Nach der Machtergreifung Hitlers im Januar 1933, kurz nach dem Erscheinen des ‚Radetzkymarsch‘, der daher nicht zum kommerziellen Erfolg werden konnte, emigrierte Roth. Er lebte
fortan meist in Paris. Politisch war er schon seit den späten zwanziger Jahren immer konservativer geworden. Der ehemalige Anarchist wurde nun ein Anhänger Alt-Österreichs und setzte
sich für die Wiedereinführung der Monarchie ein. Gleichzeitig verfiel er immer mehr dem Alkohol. Er trank so viel, dass er 1939 an seiner Sucht starb.
Alle Angaben über Roths Leben sind mit grosser Vorsicht zu geniessen. Er hat seine Biografie
ständig neu erzählt und umgedichtet. Wahrheit und Fiktion sind von heute aus vor allem in den
frühen Zeiten kaum noch zu entwirren. Das liegt auch daran, dass das Land, aus dem Roth
stammt, im 20. Jahrhundert vielfach von Kriegen, Hungersnot und Elend verwüstet wurde. Archive gibt es da kaum noch.
Anhang
Im Anhang habe ich noch zwei Artikel aufgeführt, die mein eigenes Verhältnis zu Roth - ausgehend von einer Reise in die Ukraine vor zwei Jahren – zeigen sollen.
Joseph Roth, Brody und ich
Nächste Woche reise ich in die Ukraine. Zunächst fliege ich mit einer Gruppe von Lehrerinnen
und Lehrern nach Lviv oder Lwow oder, altmodisch, aber verständlich, Lemberg. Dann fahren
wir mit dem Bus gegen Osten bis nach Czernowitz. Es ist ein Weiterbildungskurs für Gymnasiallehrerinnen und - lehrer und offensichtlich darf man sich auch als Rentner noch weiterbilden,
wenn man es selbst berappt.
Ich freue mich auf die Reise und kann es immer noch nicht ganz glauben, dass sie zustande
kommen wird. Denn neben Czernowitz und Lemberg besuchen wir auch Brody – und dazu
habe ich eine besondere Beziehung. Vor rund 40 Jahren entschloss ich mich, eine Dissertation
über Joseph Roth zu schreiben. Es gab über ihn kaum wissenschaftliche Arbeiten, wenig biographische Angaben. Ich hatte seinen Roman ‚Radetzkymarsch’ bereits als Gymnasiast gelesen
und war davon begeistert gewesen. Als Student las ich alles, was von ihm erhältlich war. Seltsam fand ich dabei, dass mir die ersten Romane Roths, geschrieben in einer Zeit, in der er sich
selbst als Sozialist und Anarchist bezeichnete, weit weniger gefielen als die späten, in denen er
die nach dem 1.Weltkrieg untergegangene Donaumonarchie und deren Kaiser verehrte. Ich
wollte herausfinden, warum dies so war, wie dies sein konnte. (Ich weiss, diese Fragestellung
war nicht wissenschaftlich und letztlich saublöd, aber so dachte ich damals eben).
Natürlich merkte ich bald, dass ich zu wenig über den Menschen Joseph Roth wusste. Dieser
liebte es, Lügen zu erzählen. („Ich besitze die literarische Fähigkeit zu lügen“, schrieb er einmal). Seine autobiographischen Texte sind, milde gesagt, widersprüchlich. Und so nahm ich
mir ganz naiv vor, selbst in die Heimatstadt Roths, nach Brody, zu reisen. Was im jüdisch geprägten Brody seit Roths Geburt im schrecklichen 20. Jahrhundert passiert war, davon hatte ich
damals noch kaum eine Ahnung.
Brody lag 1970 in der Sowjetunion. Es war – mindestens für einen Studenten wie mich – unerreichbar. Im Reisebüro sagte man mir, ich müsse zunächst nach Moskau fliegen und dann versuchen, von dort aus mit Flugzeug, Eisenbahn oder wie auch immer in den Westen, in die Ukraine und nach Brody zu gelangen. Hoffnungen machte man mir keine. Ein Visum würde einer
wie ich sowieso nicht erhalten. Bezahlbar war eine solche Reise für einen Werkstudenten auch
nicht. Also liess ich es notgedrungen bleiben.
Aber jetzt, fast 40 Jahre danach, will ich es nachholen! Ich habe längere Zeit nicht mehr ins
Werk von Roth geschaut. Über Ostern werde ich seinen späten Roman ‚Das falsche Gewicht’,
der ganz in seinem heimatlichen Galizien spielt, wieder lesen – als Erinnerung und gleichzeitig
als Reisevorbereitung.
(März 2009)
Joseph Roth, Brody und ich (2)
Nun bin ich also in Brody gewesen. Auf der Hinfahrt breiteten sich die weiten Ebenen Galiziens vor uns aus. Die Strasse führte durch Felder und Sümpfe, manchmal sah man in der Ferne die Kuppeln einer ukrainischen Kirche in der Sonne golden glänzen. Wir besuchten das
Gymnasium, in dem Roth seine Matura gemacht hat. In einen Steinblock, in dem vier andere
berühmte Absolventen dieser Schule verewigt sind, hat man auch den Kopf Roths gemeisselt.
Im Schulhaus selbst finden sich in einem Raum einige wenige Erinnerungsgegenstände, eine
unvollständige Gesamtausgabe, einige Fotos, nichts Unbekanntes. Alles wirkt eher zufällig.
Anrührend ist einzig ein kleiner Film, in dem Schülerinnen und Schüler auftreten und Texte
von Roth auf Deutsch vortragen.
Das Gymnasium ist eines der wenigen Gebäude, die in dieser Gegend das 20. Jahrhundert heil
überstanden haben. In Brody gab es im 2.Weltkrieg eine grosse Panzerschlacht, später in der
Sowjetunion standen hier die Atomraketen, die gegen den Westen gerichtet waren (es war für
mich nur schon von da her 1970 völlig aussichtslos, Brody erreichen zu wollen). In und um
Brody kämpften in wechselnden Koalitionen gegen- und miteinander Österreicher, Russen,
Polen, Kosaken, die Sowjets, Ukrainer, Deutsche. Und immer wieder waren die Juden die ersten Opfer. Die Synagoge von Brody, einst eine der schönsten und grössten in Galizien, ist denn
auch nur noch eine Ruine.
Ansonsten ist Brody eine Kleinstadt in Galizien wie viele andere auch. Die Reiseführerin liest
aus dem ‚Radetzkymarsch’ vor. Das Restaurant, in dem wir das Mittagessen einnehmen, liegt
ausserhalb des Städtchens, mitten in den Sümpfen. Die Landschaft ist so, wie sie Joseph Roth
beschrieben hat. Die Frösche allerdings quaken nicht, der Frühling ist noch zu jung.
Und dann gehen wir zum Abschluss auf den jüdischen Friedhof. Man muss wissen, dass an
diesem Tag in der ukrainischen Kirche Ostermontag war. Bei den Ukrainern ist Ostern das
Versöhnungs- und Totenfest. Die Menschen besuchen daher zunächst die Kirche und dann den
Friedhof, bekränzen die Gräber mit Blumen und essen gemeinsam am Grab ein Picknick. Für
den Toten wird ebenfalls der Tisch gedeckt. Ostereier werden verteilt, als Zeichen der Versöhnung. Alles ist unglaublich farbig und lebensfroh.
Wir aber gehen auf den jüdischen Friedhof von Brody. Auf einer Ebene an einem Waldrand
stehen meterhohe Grabsteine, hunderte von Grabsteinen. Alle sind auf der Vorderseite mit
schön und präzis eingemeisselten, hebräischen Zeichen beschriftet. Auf der Rückseite der Steine stehen hie und da Namen in lateinischen oder kyrillischen Buchstaben, auch deutsche Namen. Es ist ein riesiges Gräberfeld, Zeichen für eine einst blühende jüdische Gemeinde. Aber
heute ist niemand da. Kein Stein zeigt auf einem Grab an, dass es in letzter Zeit einmal besucht
wurde. Nur wir paar Schweizer Lehrer stapfen zwischen den Steinen herum und werden immer
melancholischer.
Die ukrainischen Friedhöfe sind Zeichen des Lebens, der jüdische Friedhof von Brody aber ist
tot. Im alten Städtchen Brody gibt es keine Juden mehr, Joseph Roths Welt ist untergegangen.
(April 2009)
Werner Sieg, 13. Juni 2011