… zum kalkulierbaren Risiko? - Institut für Geschichte der Medizin

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… zum kalkulierbaren Risiko? - Institut für Geschichte der Medizin
so.
SEUCHEN
… zum kalkulierbaren Risiko?
Was hat die Menschheit aus den großen Seuchen der Vergangenheit gelernt?
Nicht genug, um mit möglichen Bedrohungen der Zukunft angemessen umgehen zu können,
meint der Medizinhistoriker Prof. Robert Jütte im Gespräch mit DANIEL BEHRENDT.
Sonntag, 30. November 2014
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so.Seuchen
… zum kalkulierbaren Risiko?
Zumeist werden Seuchen unter medizinischen Gesichtspunkten betrachtet. Sie als Medizinhistoriker sehen sie aus sozial- und kuturhistorischer
Perspektive. Was bedeuten Epidemien für Gesellschaften, was machen sie
mit dem sozialen Gefüge?
Die großen Seuchen der Vergangenheit, etwa Pest und Cholera, haben die
Gesellschaft traumatisiert und über Jahrhunderte Spuren im kollektiven
Gedächtnis hinterlassen. Ein Seuchenausbruch – wie man heute noch in
Westafrika sieht – bringt nicht nur die Wirtschaft an den Rande des Zusammenbruchs und gefährdet die staatliche Ordnung, sondern ändert auch
menschliche Verhaltensweisen. Jeder denkt nur an sich selbst. Soziale Systeme, die auf Solidarität und gegenseitiger Hilfe beruhen, werden in dieser Krisenzeit auf eine harte Probe gestellt. Wir beobachten eine „Entzivilisierung“
mit katastrophalen Folgen für die Opfer und ihre nächsten Angehörigen.
leitet seit 1990 das Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung.
Sein neuestes Buch über die Geschichte von
Krankheit und Gesundheit in der Frühen
Neuzeit behandelt auch die großen Seuchen
der Vormoderne (Pest, Syphilis, Pocken).
Prof. Jütte ist zudem Mitglied des Vorstands
des wissenschaftlichen Beirats der Bundesärztekammer und somit auch mit aktuellen
medizinischen Fragen vertraut.
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PROF. ROBERT JÜTTE
Zwischen der mittelalterlichen Pest-Pandemie von 1348 und heutigen Seuchen liegen mehr als 650 Jahre gesellschaftlicher, medizinischer und weltanschaulicher Entwicklung. Wie hat sich der Umgang des Menschen mit
Seuchen seither gewandelt?
Wir haben aus der Seuchengeschichte nur bedingt gelernt. Positive Lehren,
die die Menschheit aus solchen Katastrophen im Laufe der Jahrhunderte
seit dem späten Mittelalter gezogen hat, sind der Ausbau des Gesundheitswesens und bestimmte, auch heute noch als wirksam erachtete Maßnah-
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Umgang
» Immitmentalen
Seuchen haben
wir nichts dazugelernt.
Im Gegenteil.
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so.Seuchen
… zum kalkulierbaren Risiko?
men zur Bekämpfung der Seuche, wie etwa die Isolierung der Kranken und
eine Quarantäne für Personen, die als Risikogruppen angesehen werden. Im
mentalen Umgang mit Seuchen haben wir nichts dazugelernt, im Gegenteil.
Auch heute bricht schnell eine Massenpanik aus, wenn eine Seuche droht –
man denke nicht nur an Ebola, sondern auch an die Vogelgrippe vor einigen
Jahren. Unsere Vorfahren wussten immerhin dank der damals noch uneingeschränkt herrschenden antiken Viersäftelehre, dass es durchaus Sinn macht,
der Angst nicht die Oberhand zu gewähren und sich durch kulturelle und andere Aktivitäten abzulenken.
Wir haben uns, zumindest in den Industriegesellschaften, an den Gedanken
gewöhnt, dass es für nahezu jedes medizinische Problem eine Lösung gibt.
Seuchen bergen, allen noch so ausgefeilten Bekämpfungsstrategien zum
Trotz, stets ein Moment des Unbeherrschbaren. Ängstigen uns Seuchen
deshalb, weil sie unsere Fortschritts- und Technikgläubigkeit erschüttern?
Wie die Geschichte der Syphilis, die gegen Ende des 15. Jahrhunderts erstmals
in Europa auftrat, zeigt, waren die Seuchen am meisten gefürchtet, die man
als „neu“ ansah. Sobald man eine schlüssige Erklärung hatte, Näheres über
die Ursachen und Verbreitungswege wusste, glaubte man, eine Epidemie –
wenn damals auch noch nur unter Mithilfe Gottes – in den Griff bekommen
zu können. Das reduzierte ein wenig die Angst, die man in der Tat vor dem
Unbeherrschbaren hatte.
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Sonntag, 30. November 2014
Sonntag, 30. November 2014
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so.Seuchen
… zum kalkulierbaren Risiko?
In wieweit prägen die Medien das Verhältnis der Öffentlichkeit zu Seuchen?
Nicht erst im Zeitalter der Massenmedien können Berichte über Seuchen
Ängste verstärken oder gar erst auslösen. Nicht nur Städte in Norddeutschland hatten im 18. Jahrhundert noch ein engmaschiges Botennetz, das bei
dem kleinsten Seuchenausbruch der Obrigkeit Alarm gab. Auch in vordemokratischen Staatswesen gelang es den Behörden nicht, Informationen über
einen möglichen Seuchenausbruch geheim zu halten. Die Vorläufer der Zeitungen berichteten schon früh über solche Ereignisse in anderen Regionen,
vor allem aber der erstaunlich schnelle Postweg – man denke etwa an die
berühmten Fugger-Briefe – sorgte dafür, dass Nachrichten über die Gefährdung durch epidemische Krankheiten rasch Verbreitung fanden und zur Beunruhigung breiter Kreise der Bevölkerung beitrugen.
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ATEMMASKEN UM 1918
Vorsichtsmaßnahmen in Zeiten der Spanischen
Grippe: Auch ohne Massenmedien können Berichte über Seuchen für Angst in der Bevölkerung sorgen.
Während wir geschockt sind, dass sich die Menschen in Westafrika teils
ungeschützt um an Ebola erkrankte Angehörige kümmern, verängstigen
die westlichen Helfer in ihrer astronautenartigen Schutzkleidung die Bevölkerung in den Krisenregionen. Resultiert diese Verunsicherung lediglich
aus mangelnder Kenntnis von Seuchenübertragung und -schutz – oder gibt
es kulturelle Unterschiede im Umgang mit Kranken?
In einer weitgehend säkularisierten Gesellschaft haben wir verlernt, wie
wichtig die Einhaltung religiöser Riten gerade in Krisenzeiten ist. Der Res-
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… zum kalkulierbaren Risiko?
pekt vor den Toten, denen man die letzte Ehre erweisen muss, spielt hier
eine besondere Rolle. Auch gibt es unterschiedliche medizinische Kulturen,
die es zu respektieren gilt. Medizinethnologische Kenntnisse sind aber leider
heute bei den westlichen Helfern in den Ebola-Gebieten nicht gefragt. Das
führt zu Missverständnissen und Abwehrreaktionen.
Im Mittelalter wurden Seuchen als Strafe Gottes gedeutet. Trifft man in
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DER „SCHWARZE TOD“
Strafe Gottes für ungebührliches Verhalten? Die
Ausbreitung von Krankheiten sorgt für viel Irrationalität – und falsche Schuldzuweisungen.
Seuchen wurden stets dazu benutzt, Sündenböcke für die Misere zu finden. Die Pest im Mittelalter – man glaubte, sie würde durch verseuchtes
Wasser übertragen – schob man etwa „jüdischen Brunnenvergiftern“ in die
Schuhe. Für die Ausbreitung des HIV-Virus in den achtziger Jahren machte
man die angeblich ungezügelte Sexualität von Schwulen und Schwarzen
verantwortlich. Warum entluden sich an Epidemien stets derart viele Vorurteile, mitunter gar der blanke Hass?
Rationale Erklärungen sind auch in Gesellschaften, die die Aufklärung bereits 200 Jahre hinter sich haben, nicht so eingängig wie traditionelle Verhaltensmuster, die Außenseitern die Schuld für jedwedes Übel zuweisen. Auch
hier sehen wir wieder Folgen einer Traumatisierung durch den „Schwarzen
Tod“ von 1348/49, die der Irrationalität weiterhin Spielraum lässt und immer wieder neue „Sündenböcke“ für den Ausbruch von Krankheit ausfindig
macht.
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gerechte Verteilung
» Eine
von Gesundheitsleistungen
in der Welt wird es
vermutlich nie geben.
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so.Seuchen
… zum kalkulierbaren Risiko?
der heutigen Welt noch auf derartige Vorstellungen?
Ja, insbesondere in christlichen Kreisen, wie man zur Zeit in Liberia sehen
kann, wo Kirchenvertreter Ebola als Strafe Gottes für sündhaftes Verhalten,
etwa bei Homosexualität, ansehen und zu Gebet und Buße aufrufen.
In Zeiten der Globalisierung entwickeln sich Epidemien zunehmend zu einem weltumspannenden Problem. Viren machen, wie wir an einigen Ebolafällen in Westeuropa und den USA sehen könnten, nicht an Grenzen halt.
Sehen Sie die Chance, dass die Welt über den Kampf gegen diesen „gemeinsamen Feind“ näher zusammenrückt?
Ja. Ebola hat der westlichen Welt gezeigt, dass man sich Seuchen nicht nur
durch Quarantäne und andere medizinische Maßnahmen im eigenen Land
vom Hals halten kann. Man kann hier durchaus auf historische Vorbilder verweisen. So haben etwa die Mailänder im 16. Jahrhundert in die Pestabwehr
auch die Schweizer Kantone mit einbezogen.
Erwächst aus der globalen Bedrohung, die von Seuchen ausgeht, nicht
auch ein gewisser Druck, neu über globale Gerechtigkeit zu verhandeln,
etwa wenn es um die Entwicklung und Verteilung von Medikamenten und
Impfstoffen in den Krisenländern geht?
Eine gerechte Verteilung von Gesundheitsleistungen in der Welt wird es
vermutlich nie geben, aber eines hat uns Ebola gelehrt – was man übrigens
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Sonntag, 30. November 2014
Sonntag, 30. November 2014
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so.Seuchen
… zum kalkulierbaren Risiko?
schon von AIDS hätte lernen können: dass Länder, die eine geringe Arztdichte und eine unzureichende Versorgung mit wirksamem Medikamenten
aufweisen, eine Gefahr darstellen, die irgendwann auch dem Westen große
Probleme bereitet.
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BUCHTIPP
Robert
Mit denJütte:
Fortschritten in der Medizin, vor
„Krankheit
in der Frühen
allem aber und
mit Gesundheit
der Verbesserung
des LeNeuzeit“
bensstandards schwindet immer mehr das
Kohlhammer,
29,90 Euro.
Bewusstsein, 244
dassSeiten,
Krankheiten
einst ein
„geschichtsmächtiger“ Faktor waren. So
stellten in der Vergangenheit die ständige Bedrohung durch Seuchen und die hohe
Kindersterblichkeit ganz besondere Anfor-
Seuchen scheinen nicht nur Angst, sondern auch eine morbide Faszination
auszulösen: Das Genre der Zombiefilme wird stetig beliebter, die US-Serie
„Walking Dead“ gehört zu den meistgesehenen aller Zeiten. Darin geht es
um eine Pandemie, die aus nahezu der gesamten Menschheit eine Spezies
von lebenden Toten gemacht hat. Warum stößt ein solches Genre auf ein
derart riesiges Interesse?
Seuchen haben schon im Zeitalter der Renaissance und des Barock Schriftsteller und Leser als „Stoff“ fasziniert, ohne daraus unbedingt Horrorgeschichten zu machen. Aber auf eine plastische Schilderung des Krankheitsgeschehens wurde durchaus nicht verzichtet. Die Lust am Untergang
begleitet die Menschheit nicht erst seit dem 20. und 21. Jahrhundert. Goethe
benutzte in diesem Zusammenhang die antike Metapher vom Schiffbruch
mit Zuschauer: Solange wir auf einem festen Felsen stehen und das Schiff
in der Ferne sinken sehen, kann man sich von einer gewissen Faszination des
grausamen Geschehens nicht ganz frei machen. Das Genre funktioniert also
nur so lange, wie diese sichere Warte noch existiert – ansonsten kämen ihm
die Zuschauer und Leser abhanden.
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