Das Kunstwerk des Monats
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Das Kunstwerk des Monats
Das Kunstwerk des Monats Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte Oldenburg Schloss · Augusteum · Prinzenpalais März 2011 Mies van der Rohe Stahlrohrstuhl MR10 Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte Oldenburg Inv. Nr. 28.715. Das Kunstwerk des Monats März: Der Stahlrohrfreischwinger »MR10« von Ludwig Mies van der Rohe Ingo Kerls Als der Architekt Ludwig Mies van der Rohe 1927 in seiner Funktion als künstlerischer Leiter die Stuttgarter WeißenhofSiedlung und die zugehörige Werkbundausstellung Die Wohnung eröffnete, stellte er in den Räumen ein revolutionär neues Stuhlmodell vor: einen hinterbeinlosen und damit frei schwingenden Stuhl aus Stahlrohr mit der Typenbezeichnung MR10. Im Zuge der Vorbereitungen für die große Ausstellung Der zweite Aufbruch in die Moderne, die im Herbst 2011 im Landesmuseum Oldenburg gezeigt wird, gab es nun eine sensationelle Entdeckung: Bereits 1929 hatte der damalige Museumsleiter Walter Müller-Wulckow einen MR10 aus erster Produktion für das Museum erworben. Da der Stuhl damals für den Gebrauch im Haus, nicht aber für die Sammlung erworben worden war, schlummerte dieser Schatz rund 40 Jahre im Möbeldepot des Museums und konnte nun – angestaubt aber in fantastischem Originalzustand – gehoben werden. Mies van der Rohe wurde durch den hol ländischen Architekten Mart Stam zu seinem Stuhlentwurf angeregt. Stam hatte jedoch einen durchgehend rechtwinkligen Freischwinger entworfen, dessen enge und somit instabile Radien durch zusätzliche Stahlrohreinlagen, sogenannte Muffen, verstärkt werden mussten. Im Rückblick berichtet ein Mitarbeiter Mies van der Rohes vom Entwurf des MR10: »Wir hatten ein Zeichenbrett an der Wand, darauf zeichnete Mies den Stam-Stuhl (...) und sagte: ›Hässlich, so was hässliches mit diesen Muffen. Wenn er (Mart Stam) wenigstens abgerundet hätte – so wäre es schöner‹ und skizzierte einen Bogen. Nur ein Bogen aus seiner Hand an der Stam-Skizze machte den neuen Stuhl aus« 1 . Waren die ersten Prototypen des Modells von Mart Stam noch unter dem Gewicht des Sitzenden zusammengebrochen, so ließ Mies van der Rohe für seinen Entwurf Präzisionsstahlrohr verwenden, das kalt gebogen wurde und dadurch seine Elastizität behielt. Erst diese technische Weiterentwicklung und die elegante Halbkreisbiegung der Stahlrohrwangen ermöglichten ein wirkliches Frei-Schwingen bei gleichbleibender Stabilität. Am 24. August 1927 ließ sich Mies van der Rohe sein Modell patentieren. Bereits auf der Werkbundausstellung 1927 war auch eine Variante des MR10 mit Armlehne ausgestellt, die als Modell MR20 angeboten wurde. Bis 1928 wurden die Rahmen dieser Stühle ausschließlich mit Leder bespannt. Im Juli 1928 wurde beim Berliner Reichspatentamt ein zusätzlicher Gebrauchsmusterschutz für die Bespannung mit einem einteiligen Rohrgeflecht für Sitz- und Rückenlehne eingetragen, wie es sich auch auf dem Stuhl des Landesmuseums findet. Der Entwurf dieses fest mit dem Rahmen verbundenen Geflechts wird Lilly Reich, einer Mitarbeiterin Mies van der Rohes zugeschrieben. Die Modelle mit geflochtenen Sitzflächen wurden schon im Mai 1928 vorgestellt. 2 Die ersten MR-Stühle wurden ab 1927 von der Schlosserei Berliner Metallgewerbe Joseph Müller in Berlin Neukölln hergestellt. Aus dieser Produktion stammt auch der MR10 des Landesmuseums Oldenburg. 1930 wurde die Firma Müller von ihrem früheren Betriebsleiter Joseph Bamberger übernommen und firmierte fortan als Bamberger Metallwerkstätten. Zwischen 1927 und 1932 wurde der MR vernickelt, verchromt oder farbig lackiert angeboten. Die Sitzflächen wurden aus Leder, Eisengarnstoff oder Rohrgeflecht gefertigt. Der MR10 in der Ausführung wie ihn Walter Müller-Wulckow erwarb – verchromt und mit (ursprünglich) blau lackiertem Rohrgeflecht – kostete 1929 die stattliche Summe von 63,– RM. Diese frühen, noch in Berlin bei Müller und Bamberger hergestellten Modelle sind heute von größter Seltenheit und gesuchte Sammlerstücke. 1932 übernahm die ungleich größere Firma Thonet die Produktion der MR-Modelle in höheren Stückzahlen. Walter Müller-Wulckow erwarb den MR10 im Herbst 1929 von der Neue Kunst Fides GmbH in Dresden, in dieser Zeit eines der führenden Geschäfte für Wohnbedarf und Vertriebsschnittstelle zwischen Bauhauskünstlern und Kunden. 1931 berichtet die Neue Kunst Fides GmbH an Müller-Wulckow: Die Stahlrohrmöbel führen sich immer mehr ein und bewähren sich glänzend. 3 Trotz dieser Einschätzung Stahlrohrstuhl von Mart Stam aus Gasrohren, 1927. Aus: Gustav Hassenpflug: Stahlmöbel, Düsseldorf 1960 blieben die neuen Stahlmöbel für eine bürgerliche Schicht reserviert. Ursache waren zum einen die hohen Preise der neuen Möbel, zum anderen aber auch der Umstand, dass wohl kaum ein Industriearbeiter Interesse daran hatte, in seiner Wohnung eine Sitzmaschine aus Stahl aufzustellen. Eine Problematik, die den Künstlern und Architekten des Neuen Bauens durchaus bewusst war und so entwarfen sie für die Werkbundausstellung in Stuttgart und für den sozialen Wohnungsbau generell weiterhin einfache Sperrholzmöbel, die den Räumen einen Rest Behaglichkeit ließen. Die neuen Stahlrohrmöbel zielten dagegen auf einen Verbraucher mit sicherem Abstand zur industriellen Produktion. 4 Mit seinen Stahlrohrstühlen hatte Mies van der Rohe wie kaum ein anderer Ent- Mies van der Rohes Stahlrohrmöbel auf der Werkbundausstellung »Die Wohnung« 1927. Aus: Karin Kirsch: Werkbund-Ausstellung »Die Wohnung«, Stuttgart 1927, Die Weißenhofsiedlung, Stuttgart, 1987 werfer der Zeit den gesamten Innenraum der Wohnung im Blick. Ziel war es, mit Hilfe einer neuen Form der Einrichtung die erdrückende raumfüllende Massigkeit früherer Möblierungen aufzuheben und stattdessen ein transparentes Wohnerlebnis zu inszenieren, welches Wand und Möbel als gleichberechtigte Bestandteile des Wohnens akzeptierte. Darin sollte sich der filigrane Stahlrohrfreischwinger unabhängig, gleich einer Plastik frei im Raum behaupten. Bezugnehmend auf Mies van der Rohes MR10 schrieb der Kunsthistoriker Wilhelm Lotz 1931 über diese neue Bedeutung der Möblierung: »Das deutlichste Beispiel ist der Stahlstuhl, der als Kurve im Raum steht.« 5 Die Stuttgarter Ausstellung von 1927 gilt allgemein als die »Geburtsstunde des modernen Stahlrohrmöbels«. 6 Neben den Modellen von Stam und Mies waren auch Stahlrohrentwürfe des Bauhäuslers Marcel Breuer zu sehen. Dennoch nimmt der MR10 eine Sonderstellung ein, die auch am großen Erfolg dieses Modells abzulesen ist. Bis heute wird er durchgehend produziert. Der Grund dafür liegt in der unübertroffenen Zusammenführung von Ästhetik und Funktion im Entwurf Mies van der Rohes, die ansonsten wohl nur bei der gleich bekannten Bauhaus-Leuchte Wilhelm Wagenfelds erreicht wurde. Der Schwerpunkt bei den parallel entstandenen kantigen Modellen von Stam und Breuer lag ganz auf der am Bauhaus propagierten Funktionalität. Sie sind Sitzmaschinen und Ausdruck industrieller Produktion, die die Rationalität aus der Fabrik in die Wohnung tragen, »ein Design des rationalistischen Fortschritts« im Geist der Zeit. 7 Mies van der Rohe erweitert in seinem Entwurf die geforderten sozialen Leitsätze der Bauhaus-Avantgarde: einfach, funktional und für jeden zugänglich, um die Kategorie der Schönheit. Mit dem kühn geschwungenen Halbrund der Stahlrohrwangen, weist der Entwurf Mies van der Rohes den Weg in den mondän-eleganten Pullmann- und Dampferstil der frühen dreißiger Jahre. Die Verwendung des traditionellen und mit der Hand zu verarbeitenden Rohrgeflechts als Sitzfläche, das zuvor nur in der Volkskunst Verbreitung fand, schafft gleichzeitig einen Gegenpol zum kalten Habitus des Stahlrohrs. Mit diesen Komponenten versöhnt Mies van der Rohe für einen Augenblick handwerkliche mit industrieller Form und Technik, Ästhetik mit Funktion und schuf einen Designklassiker im besten Sinne des Wortes. 1. A. Bruchhäuser: Der Kragstuhl, Burg Beverungen, 1998. 5. W. Lotz: Möbel und Wohnraum, in: Die Form, H. 2, 1931, S. 41. 2. H. Reuter / B. Schulte (Hg.): Mies und das Neue Wohnen, Ost fildern 2008, S. 139. 6. B. Dicke: Typ und Prototyp: Der Freischwinger für Stuttgart 1927. In: H. Reuter / B. Schulte: Mies und das Neue Wohnen, Ost fildern 2008, S. 111. 3. Brief Neue Kunst Fides GmbH an das Landesmuseum Oldenburg, 16.3.1931, Landesmuseum für Kunst- und Kulturgeschichte, Oldenburg, Akte C 2.10. 7. Vgl. G. Selle: DesignGeschichte in Deutschland, Köln 1987, S. 182. 4. Vgl. G. Selle: DesignGeschichte in Deutschland, Köln 1987, S. 182. Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte Oldenburg Niedersächsische Landesmuseen Oldenburg Schloss · Augusteum · Prinzenpalais Damm 1 · 26135 Oldenburg Telefon (04 41) 220 73 00 · Fax (04 41) 220 73 09 [email protected] www.landesmuseum-oldenburg.niedersachsen.de