Brandstellen und Untergänge „Spiel nicht mit den

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Brandstellen und Untergänge „Spiel nicht mit den
Brandstellen und Untergänge
„Spiel nicht mit den Schmuddelkindern“ - wir kennen es alle - war auf den rohen &
rheinischen Kapitalismus gemünzt, denn Franz-Josef Degenhardt, der Dichter und
Sänger mit der ruhrpöttischen Stimme, lebte dort. Doch auch wir sächselnden und
berlinernden Kinder der DDR mochten es, wenn der Senator erzählte und der Sonntag in der kleinen Stadt blubberte. Die Kleinstadt-Bratenatmosphäre gab es auch in
Altenburg und Neustadt/Orla, und anstelle des Senators vom Wackelsteiner
Ländchen erzählte uns der antifaschistische Widerstandskämpfer, wie er es zu etwas
gebracht hatte, nämlich vor Schulklassen auftreten zu dürfen. Nein, wir wollen jetzt
keine Parallelen zum antihoneckeristischen Widerstandskampf ziehen, welcher derzeit die Schülermassen ergriffen machen muss, doch der Roman, den wir beim Wickel haben, Brandstellen, (Kulturmaschinen) fordert Rückschau.
Beginnen wir mit unserm Latein: Habent sua fata libelli – das ist bekanntlich
nicht die Frage, ob Ihr Vater Libellen besitze, sondern die Schicksalsfrage der Bücher. Degenhardts zweiter Roman nach „Zündschnüre“ erschien 1975 im Verlag der
Autoren – zum Preise von 25 DM – und schon ein Jahr später bei Aufbau für 7,80
Mark. Daraus wurde auch ein DEFA-Film gefertigt, mit Dieter Mann als Hamburger
Rechtsanwalt Bruno Kappel, der in die Gegend seiner Kindheit fährt, dort eine junge
Kommunistin (Heidemarie Wenzel) kennenlernt und fürderhin beschließt, sein Leben
dem Kampf der Arbeiterklasse … nein, so fies wollen wir nicht sein, aber jene sieben
Jahre nach 68 rühren in dem alten Kappel (34) ungebärdige Jugenderinnerungen auf,
als er noch gegen den Muff von tausend Jahren kämpfte. Jetzt sieht er, wie ein
NATO-Truppenübungsplatz gegen das Volk durchgesetzt werden soll, wie BILD hetzt
und in den Kneipen geschwätzt wird. Er hört der jungen Kommunistin aufmerksam zu,
wenn sie sagt „Ich werde den Ständer küssen“ und ist auch beim WM-Fußballspiel
BRD-DDR mit von der Partie. Ganz dokumentarisch wird die BILD-Zeile „Warum wir
heute gewinnen!“ von den Fußballfans in den Dreck getreten. All das konnte den
Geistes-Herrschern in der ehemaligen BRD 1975 natürlich nicht gefallen, drum be-
goss der SPIEGEL das Buch mit Soße: „gefälliger Oberflächenrealismus, gefühlige
Milieu- und Atmosphäre-Malerei“.
Unsereinem hingegen fällt beim Wiederlesen dies auf: „Der Werktag der meisten beginnt schon morgens um sieben.“
Der Werktag in der DDR begann oft vor fünf, wenn vor Frühschichtbeginn (6
Uhr) Kinder versorgt werden mussten.
Pikant aber die bundesdeutschen „Berichte von PK Wolker“; die „Kopien mit
handschriftlichen Vermerken“. Die geheime Protokollsprache Ost und West hört sich,
von heute aus, verdammt ähnlich an. Die Observations-Hysterie desgleichen. Vor 35
Jahren las man’s anders.
Zum achtzigsten Geburtstag Degenhardts veranstaltet der Kulturmaschinen
Verlag dankenswerterweise eine „Werkausgabe in 10 Bänden“, nach „Zündschnüre“
und „Brandstellen“ folgen u. a. „Die Misshandlung“, „Der Liedermacher“ und „Die Abholzung“. Und wenn im März endlich „Liederbuch I“ und „II“ erscheinen, werden wir
erneut seufzen: „Jaaaaah, wenn der Senaaaator erzääählt …
*
„Das ist das mit Abstand beleidigendste Buch, das ich seit langem nicht mehr gelesen
habe. Es ist feindlich, unsolidarisch, gerechtigkeitsfern – also schädlich. Zersetzend,
verantwortungsvoll und zynisch ist es auch. Wären die Seiten nicht fehlerfrei durchnummeriert, wäre es vollkommen unkorrekt.“
Dieser Rezensionsvorschlag steht auf der Rückseite von erzenberg am wald
– „Der Reiseführer zum Untergang“ (Erzenbergische Verlagsgesellschaft). Selbstverständlich nehmen wir eine solche Vorlage dankend an, lunsen (sächs. für verstohlen
blickend) dennoch, was das Autorenkollektiv (thomy, Veit Anders, Peter Schaffert)
hier zusammenbastelte: Satire im Gewand des Ratgeber- und Fernreisebuches, mit
Tipps angereichert, mit höchst merkwürdigen Fotos ausgestattet und Erlebnisberichten untersetzt. Erzenberg, offensichtlich eine mittelsächsische Mittelgroßstadt, ist auf
lauter Löcher gebaut. Akribisch und als running gag werden die Gründe für deren
kommenden Untergang aufgelistet, zum Beispiel „Überschuldung – Die Schuldenber-
ge werden höher und höher. Ein einzelner Geldschein wiegt zwar nicht viel – aber der
Tag wird kommen, da unter dem Druck des geborgten Geldes alles zusammenbricht.“
Das MfS ist das „Ministerium für Steuersachen“ deren Mitarbeiter singen: „Wir
sind die Säulen und die Säbel des Systems!“. Man merkt den Autoren einen gewissen
staatsbürgerlichen Hintergrund an und so ist Erzenberg denn auch Dorado der Vereinigten Vetternwerke, der Berufsdemonstranten, des „Wirtschaftens ohne Leistungserbringung (Hartz-V-Institut)“ und der Lyriker – selten so viele Parodien in korrekter
Sonettform auf den dichtervolkseigenen Lyrikbetrieb „Rilke & Becher“ gelesen. Wer
seinen täglichen Kalauer braucht, sollte das Buch auf dem Nachttisch platzieren, um
vor dem Einschlafen selig zu lächeln wie ein satter Säugling.
Folglich müssen wir obige Einschätzung sacht korrigieren: Das ist das mit Abstand komischste Buch, das einen Erzenberger Verleger fand. Es ist freundlich und
hübsch ungerecht – also ein Nützling. Broschiert und lackiert und mit Stadtplan in der
Innenklappe versehen ist es auch. Wäre das Bild auf Seite 125 (wie auch die Fotos
auf S. 47, 73, 94, 101, 110 u. v. a.) nicht so ungehobelt frauenfeindlich, wäre es völlig
korrekt.
Matthias Biskupek