6 Reportage
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6 Reportage
6 Reportage Jurassic Park Wickelraum am Flughafen Tegel Sie sind schummrig, urig, unheimlich oder einfach nur grotesk: Orte, an denen die Zeit stehen geblieben ist. Man erkennt sie nicht alle gleich von außen. Wir haben sie gefunden Korsett-Engelke in der Kantstraße Hotel Bogota in der Schlüterstraße (oben), Traditionslokal „Henne Alt Berliner Wirtshaus“ (unten) VON JENNI ROTH (TEXT) UND MASSIMO RODARI (FOTOS) Bäckerei Siebert in der Schönfließerstraße Blutwurstmanufaktur am Karl-Marx-Platz T Man kommt hin, ist da, und doch in einer andern Welt. Zurück in den 50er-Jahren, in den 60-ern oder in der DDR. Es sind zunächst kleine Unauffälligkeiten – eine Wespentaille, ein Sofa, auf dem Benny Goodman saß, ein Huhn, das John F. Kennedy aß – hinter denen Geschichten stecken. Man sieht hin, hört zu, sagt Oh! und Ah!, man erinnert sich oder staunt – über all die Orte, die vom Leben erzählen. Nicht Orangene Revolution, nein, Restauration, denkt man zuerst, und dann: Luftschutzbunker. Unter dem Ankunftsbereich des Flughafens Tegel, hinter den Toilettenräumen mit den tiefroten Waschbecken und Handtrocknern, führt der Weg zum Wickelraum. Er ist schalldicht, die Wand steril gekachelt. Helga Nicksch mit der Nickelbrille und dem weißen Arbeitskittel dreht den Schlüssel im Schloss und erzählt fröhlich von ihrem Job, „der soviel Spaß macht“. Es ist bunt hier unten und doch irgendwie beklemmend. Alles Feste ist weiß, alles Bewegliche orange: Der Topf, der Hochstuhl, das Gitterbett, der Spieltisch mit den Stühlchen, selbst die Plüschkuh. Einzig die Wickelunterlage ist himmelblau. Nicksch ordnet die Blumen, die auf dem wackligen Tisch am Eingang neben dem Teller mit den Münzen stehen, und erzählt, dass sie 64 ist, ihre Kollegin Helga Mielke aber schon 79 – und schon im Dienst, als das Orange wirklich noch eine Revolution war. Wenn sie besonders verzweifelt sind, rufen die Frauen sogar aus Österreich bei Antje Fröhlich an. Nicht wegen ihres + Namens, sondern wegen ihrer Körbchengrößen: Büstenhalter bis zu Größe 130 L führt Korsett-Engelke in der Kantstraße im Sortiment – und die gibt es beileibe nicht überall. Angefangen hat alles vor 55 Jahren mit Strümpfen. Fröhlichs Großvater Karl Engelke stellte nach dem Krieg einen Marktstand mit Strumpfhaltern auf die Beine, später kamen rund genähte BHs im Madonna-Stil dazu, Übergrößen für Mieder und Trikotagen. Dann übernahm seine Tochter Ursel und fertigte selbst übergroße Morgenmäntel nach Maß. Modelle von damals gibt es zwar nicht mehr – „die haben Fernsehen und Theater uns quasi vom Leib gerissen“. Dafür liegen Schnürmieder im Stil der 50er- und 60er-Jahre (ab 290 Euro!) im Trend – vor allem bei jungen Mädchen: „Sie versuchen ihre durch enge Jeans weggemogelte Hüfte mit einer Wespentaille wieder wettzumachen“, weiß Fröhlich aus Erfahrung. Und das funktioniert tatsächlich: Wer ein halbes Jahr lang regelmäßig ein Schnürmieder trägt, schmälert seine Taille bis zu zehn Zentimeter. Es ist ein Jammer. In meinem Kiez gibt es Kamps, Torben und die Back-Factory. In Pankow gibt es die Bäckerei Siebert. Vor dem Tresen drängeln sich die treuen Kunden, dahinter türmen sich Brote, Pfannkuchen, Streuselkuchen und Schnecken. 3000 bis 6000 Schrippen pro Tag bäckt Lars Siebert, der Enkel von Gustav, der die Bäckerei vor 103 Jahren eröffnete. Es sind dieselben Rezepte wie früher, die Schrippen ruhen auf Schiebern aus Holz und Leinen statt auf Kippdielen wie bei den Bäcker-Ketten. Hier, wo früher noch die Betten für Gesellen und Verkäuferinnen aus Pommern standen, wird noch auf Stein gebacken und nicht auf geschmacklosem Blech. Selbst als 1945 vor der Tür Straßenkämpfe tobten, verkaufte Siebert noch seine Brote durch das Fenster. Und als Sparmaßnahme zu DDR-Zeiten brachten die Leute ihren eigenen Leinenbeutel mit. Das tun auch jetzt wieder viele. Nur eines ist neu: Die Knetmaschine. Jetzt sind die 150 Kilo Teig, die hier reinpassen, keine Handarbeit mehr. „Gesetze sind wie Würste, man sollte besser nicht dabei sein, wenn sie gemacht werden.“ Diese Weisheit stammt von Otto von Bismarck und sie funktioniert umgekehrt besonders gut. Das wird schnell klar, wenn man Marcus Benser morgens um acht einen Besuch in seiner Blutwurstmanufaktur abstattet. Da wird in einem Kessel voll frischen Bluts gerührt und die Masse dann in Därme abgefüllt. Aber es lohnt sich: Benser ist kein gewöhnlicher Fleischer. Er ist ein Ritter der Blutwurst, ein Chevalier du Goûte Boudin. Das wird man, wenn sich dem jährlichen internationalen Blutwurstwettbewerb in Mortagne-au-Perche hingibt, ihn mehrfach gewinnt und schließlich neben prominenten Namen wie Paul Bocuse in die „Bruderschaft des Ordens der Blutwurstritter“ aufgenommen wird. Auf dem Karl-Marx-Platz in Neukölln müssen die Berliner also nicht vor ihrer heimischen Küche davonlaufen, vor Eisbein, Kasseler, Bockwurst und Buletten. Denn für die schwarze Blutwurst ist der Laden am Karl-Marx-Platz in ganz Europa berühmt. Hier wird sie nicht nur nach traditionellen Rezepten hergestellt, sondern ebenso dargeboten: Die Theke kennt noch die Zeiten vor der Ölkrise, die bedienenden Damen sind proper und fröhlich, ein Imbiss bietet derbe Hausmannskost und Neonröhren verhehlen nicht, was vom Schwein geblieben ist.