Silvia Neid - Ich habe einen Traum

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Silvia Neid - Ich habe einen Traum
ICH HABE EINEN TRAUM
SILVIA NEID
„Das Olympiastadion ist zur WM-Eröffnung 2011 voll besetzt –
weil wir Frauen spielen“
Ich wurde 1964 geboren, fing an zu gehen und lief sofort einem Ball hinterher. Das
war naheliegend, denn mein Vater hat lange und gut Fußball gespielt, und auch mein
Bruder liebt den Fußball sehr. Er ist zwei Jahre älter als ich, also bin ich ihm hinterhergewatschelt.
Nachmittags, nach der Schule, führte sein Weg immer in ein kleines
Wäldchen, ein paar Minuten von unserem Elternhaus entfernt. In der Mitte lag auf einer
Lichtung ein Bolzplatz mit zwei Fünfmetertoren, am Rand standen ein paar Tische
und Bänke. So entwickelte sich das Ganze schnell zu einem Treff der Jugendlichen:
Die Jungs und ich spielten, die anderen Mädels haben draußen gesessen und
zugeschaut. In unserem Wäldchen haben wir ganze Weltmeisterschaften nachgespielt,
Deutschland gegen Holland, Deutschland gegen England, mit Elfmeterschießen,
Siegerehrung und allem drum und dran. Und wenn ich beim nächsten Mal beim
Wählen der Mannschaften anderen vorgezogen wurde, war ich glücklich zu merken,
ich werde gebraucht. Ich werde akzeptiert.
Einmal hat mir Jürgen, genannt der Ochse, in einer Art Pressschlag meinem kleinen
Zeh gebrochen. Ich war elf und spielte bereits im Frauenfußballverein ein paar Orte
weiter. Meine Mannschaft sollte drei Tage später ein Auswärtsspiel in meinem Heimatort
bestreiten, auf dem großen Sportplatz der Fortuna Walldürn. Es war mein erster
Auftritt vor heimischem Publikum. Meine Eltern hätten mir natürlich nicht erlaubt,
mit gebrochenem Zeh zu spielen, weshalb ich mir heimlich das Verbandszeug meines
Vaters aus dem Medizinschränkchen geholt habe und meinen Fuß damit verbunden
habe, um überhaupt in den Fußballschuh reinzukommen. Ich habe das Spiel
unter Schmerzen durchgezogen, danach war mein Fuß ganz blau und meine Mutter
völlig entsetzt, aber ich hatte das unbedingt gewollt. Mein erstes Spiel in meiner
Heimat Walldürn, das war mein erster großer Traum.
Heute darf ich von der Frauenfußball-WM 2011 im eigenen Land träumen. Eine Feier
mit allen Nationen, die Straßen voller lebenslustiger Menschen, und wir bestreiten
das Eröffnungsspiel im Berliner Olympiastadion, das voll besetzt sein wird - und das
nicht, weil anschließend die Männer spielen. Es geht bei der WM natürlich auch darum,
das Interesse am Frauenfußball noch tiefer zu verwurzeln. Wir hoffen, dass wir
in Zukunft auch im Bundesligaalltag wahrgenommen werden. Bei den Mädchen ist
Frauenfußball bereits die Sportart Nummer eins, wir haben Zuwachsraten von 20
Prozent im Jahr. Dafür haben übrigens auch die Männer einiges getan: Von der WM
2006 waren viele Mädchen so begeistert, dass sie sich haben inspirieren lassen und
in die Vereine gegangen sind.
Ich fand es übrigens richtig von Jürgen Klinsmann und Joachim Löw, mit Spezialisten
zusammenzuarbeiten. Als Trainer braucht man ein gutes, funktionierendes Team um
sich herum; das ist eine Grundvoraussetzung für den Erfolg. Die Arbeit im Fußball ist
mittlerweile sehr vielschichtig geworden, da braucht man einfach die Fachleute in
den unterschiedlichsten Bereichen, um alle Themen professionell abzudecken. Dadurch,
dass es bei den Männern so gut geklappt hat, hat sich die Akzeptanz für Spezialisten
wie Athletiktrainer oder Psychologen erhöht. Auch bei der FrauenNationalelf
arbeiten wir schon lange mit Experten aus unterschiedlichen Fachrichtungen
zusammen. Wenn man in der Weltspitze bleiben will, muss man über den Tellerrand
schauen, um die Entwicklung voranzutreiben.
Natürlich träume ich davon, dass wir bei der WM ins Endspiel kommen und gewinnen.
Wir werden immer noch unheimlich oft auf das Kaffeeservice angesprochen,
das wir zu unserem ersten EM-Gewinn1989 vom DFB bekommen haben. Es muss
oft als Beispiel herhalten für die geringe Bedeutung, die der DFB damals dem Frauenfußball
beigemessen habe. Aber ich muss sagen: Ich habe mich sehr darüber gefreut.
Das war eine schöne Geste. Man muss das Im Kontext sehen: Die Männer haben
1954 für den WM-Sieg bis zu 3200 Mark pro Person bekommen. Da könnte man
auch sagen: Mehr nicht? Außerdem fand ich das Kaffeeservice gar nicht schlecht,
ein bisschen retromäßig, mit roten Blumen drauf. Ich war damals mit Anfang zwanzig
zu jung für so etwas, deshalb habe ich es meiner Mutter gegeben. Aber wenn wir es
heute zu besonderen Anlässen aus dem Schrank holen, denke ich: Es ist wirklich ein
außergewöhnlich schönes Kaffeeservice.
SILVIA NEID
ist seit zwei Jahren Cheftrainerin der Frauennationalmannschaft. Mit Europameisterschaften
hat die 44.jährige viel Erfahrung: Sie gewann den Titel dreimal als Spielerin und einmal als
Assistenztrainerin. 2007 führte sie ihr Team bei der WM zum Sieg. Sie ist in Walldürn im
Odenwald geboren und lebt heute in der Nähe von Siegen.