Verschüttete Wege - Erich Wilker Museum
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Verschüttete Wege - Erich Wilker Museum
VERSCHÜTTETE WEGE I Eine Erkundung der Kunst Erich Wilkers N E I Z A T E I X E I R A P r o f . D r. P h i l o s o p h i e G e s c h i c h t e Universität Porto Herausgegeben vom Erich Wilker Museum Erste Rohübersetzung aus dem brasilianischen Portugiesisch von Fernanda Schettino Canelas Nachbearbeitung von Neiza Teixeira März 2008 VERSCHÜTTETE WEGE I Eine Erkundung der Kunst Erich Wilkers Das 20. Jahrhundert ist zweifellos eines der größten Jahrhunderte der Menschheit. Es stellt sich als eines der lichtvollsten und zugleich eines der dunkelsten dar, die unser Gedächtnis verzeichnet. Wie das 16. Jahrhundert ist es eine Zeit der Festigung: der Moment, in dem wir, schon müde von der Feldarbeit, die Scheunen für die gereiften Körner herrichten. Andererseits schärft dieses 20. Jahrhundert unser Gedächtnis, auf dass wir uns an die Ereignisse jenes anderen Jahrhunderts erinnern, in dem Europa einen gewaltigen Prozess der Kolonisierung begann und dabei Teile der Welt für sich erschloss, die in Europa bislang unbekannt gewesen waren. Entgegen einer verbreiteten Ansicht entlarvte nicht erst das 20. Jahrhundert die Maske des wohl erzogenen Menschen und ließ statt dessen seine Grausamkeit hervorbrechen. Mit Völkermord haben wir bereits ältere Erfahrungen in der europäischen Geschichte. Daher lässt sich behaupten – unter den Annahmen, die man über das Verhalten und die Ängste des Menschen machen kann und über die Gewichtung dessen, was man als positiv und als negativ bewerten würde –, dass das 20. Jahrhundert genau so wie das 16. Jahrhundert als ein Scheideweg-Jahrhundert in der Geschichte steht. Foucaults Untersuchung, die in dem Werk Les mot et les choses: une archéologie des sciences humaines1 (Die Ordnung der Dinge: Eine Archäologie der Humanwissenschaften) resultierte, zeigte zwei große Brüche in der Episteme der westlichen Kultur auf: jenen, der das klassische Zeitalter (Mitte des 17. Jahrhunderts) einleitet und jenen, der am Anfang des 19. Jahrhunderts den Beginn unserer Moderne markiert. Aus dieser Sicht, wenn wir das 20. Jahrhundert als ein Scheideweg-Jahrhundert bezeichnen, verstehen wir, dass sich ein weiteres Mal eine neue Episteme etabliert, wenn auch umgeben von Schleiern, wenn auch begleitet von Zweifeln und Widerständen und der Absicht von Forschern und Philosophen, dies zu leugnen oder zu bestätigen. Das 20. Jahrhundert ist reich an der Konstruktion neuer Wege – manche prachtvoll und andere karg, einige schon erkennbar und andere noch verschüttet – was uns und unseren Nachfahren als Auftrag die archäologische Arbeit hinterlässt, sie an die Oberfläche zu bringen. Wir wissen über diese Wege, dass viele davon absichtlich verschüttet bleiben, denn 1 Michel Foucault, Les mots et les choses: une archéologie des sciences humaines. Paris: Èditions Gillimard, 2001, S. 15 1 man sollte die Macht der Massenkommunikationsmedien und die Durchsetzungskraft politischer, ökonomischer, sozialer und religiöser Interessen nicht vergessen. Doch existiert heute, wie bei Nietzsche, jener Gedanke, der darauf wartet, das die Menschen reif für ihn sind, auf dass er sich manifestieren kann. Dieser Philosoph starb 1900 an der Schwelle zum 20. Jahrhundert, und seinen eigenen Worten zufolge war sein Denken nicht während seines Lebens zu verstehen, sondern für die Zukunft, weil die Menschen noch nicht bereit waren, es aufzunehmen. Nietzsche ist ein Scheideweg-Philosoph, und deshalb ist heute ein grundlegendes Denken ohne die Lektüre seines Werkes und die Reflektion darüber nicht möglich. Er ist die wichtigste Referenz der neuen Episteme. Das 20. Jahrhundert verbindet das Denken von Heidegger, Foucault, Derrida und Deleuze. Sie teilen die klare Vision einer beginnenden Neuzeit. Ziehen wir dazu Deleuze als Zeugen heran, der zur Rezeption des Foucaultschen Denkens ausführt: Andere behaupten im Gegenteil, dass etwas Neues, völlig Neues, in der Philosophie geboren wurde, und dass dieses Werk die Schönheit hat, die es ablehnt: ein festliches Erwachen.1 Foucaults Werk wurde mit Vehemenz sowohl gelobt als auch angegriffen, was allen großen Werken gemein ist, insbesondere wenn sie entweder den Tod Gottes oder den Tod des Menschen ankündigen. Trotz der Begeisterung, mit der dieses Werk von vielen empfangen wurde, braucht es bis zu einem bestimmten Punkt auch die Aufmerksamkeit und den vorurteilsfreien Blick des Menschen. Dies ist ein weiterer bislang verschütteter Weg, und trotzdem insgesamt eine Referenz für alle, die unsere Zeit verstehen wollen. In diesem Sinne möchte ich hier argumentieren. Andere Philosophen wären anzuführen, aber hier ist nicht der richtige Platz dafür. Das heißt nicht, dass ich sie als geringer erachte, im Gegenteil, sie sind ebenso bedeutend wie auch notwendig, damit wir die verschiedenen Gedanken verstehen und in Frage stellen können, deren Entschleierung wir uns zur Aufgabe gemacht haben. In der Kunst, und hier möchte ich mit dieser Reflektion ansetzen, hebt das 20. Jahrhundert Künstler hervor oder verleiht ihnen die Anerkennung, welche in jenem Jahrhundert zur Referenz wurde und heute als prägend gilt. Diese Künstler stützen sich im Fundament ihrer Schöpfung auf die Philosophen, die Dichter und die wissenschaftlichen Entdeckungen im Allgemeinem, weil es keinen großen Künstler ohne ein festes Substrat geben kann. Es ist dieses Substrat, das aus 1 Gilles Deleuze, Foucault, Paris: Les Èditions de Minuit, 1986, S. 11 2 einem Werk einen Weg zum Verständnis des Menschen und seiner Zeit macht. Die Kunstgeschichte und die Werke in den Museen verdeutlichen und bestätigen diese Worte. Es genügt, dass wir der Arbeit bestimmter Künstler eine aufmerksamere Betrachtung widmen, wie zum Beispiel den Arbeiten von Cézanne, Gauguin, van Gogh, Toulouse-Lautrec, Munch und anderen – Künstlern, die zum Ende des 19. Jahrhundert malten und Paradigmen für Künstler schufen sowie für die Erkenntnis oder den Lebensweg Anderer. Der Reichtum und der Mut, der sich in der Schöpfung der Maler und Künstler des 20. Jahrhunderts verstärken sollte, kann nicht ohne diese Fundamente verstanden werden. Dies ist der Fall bei den schon genannten Künstlern und auch bei Matisse, Picasso, Chirico, Duchamp, Beuys und vielen anderen. So wie man in der Philosophie dem Denken einiger Philosophen nicht aus dem Weg gehen kann, ist es auch bei diesen Künstlern. Dennoch soll nicht ungesagt bleiben, dass auch andere ihre Anwesenheit in der Weltkunst markiert haben und alles beeinflusst haben, was wir heute im 20. Jahrhundert haben, und bleiben wird, solange unsere Neugier und der Freiheitswunsch der Menschen anhält. Mehr noch, vieles davon ist heute verschüttet, entweder wegen ihrer Unbekanntheit oder wegen des Unwillens der Menschen, sie wahrzunehmen. Diese zu öffnen oder sichtbar zu machen, ist der Weg, den ich hier führen möchte. Die Malerei ist der Ort, auf den ich meine Worte beschränken will, und es ist die richtige Stelle, um Erich Wilkers Werk zu betrachten, darüber zu reflektieren und um ein Verstehen zu erreichen. Erich Wilker war ein deutscher Maler, Dichter und Bildhauer, der von 1929 bis 1999 lebte. Obwohl er sein ganzes Leben der Kunst widmete und aktiv an den künstlerischen Strömungen seiner Zeit teilnahm, ist sein Werk nicht in den Kunstbüchern als Referenz genannt oder in den großen Museen Deutschlands oder der Welt ausgestellt. Der Kontakt mit dem Werk und die Neugier darauf entstanden aus einem glücklichen und fruchtbaren Treffen mit Andreas Wilker, der Sohn des Künstlers und Gründer des Erich Wilker Museum, der ebenfalls sein Leben der Kunst widmet. Andreas Wilker ist Schriftsteller, Galerist, Künstler und Designer. Darüber hinaus möchte er durch das Erich Wilker Museum dem Werk seines Vaters die Stellung verschaffen, von der er glaubt, dass sie ihm angemessen sei – angesichts der Tatsache, dass im Werk seines Vaters die Reflektion und Materialisierung einer Idee zu finden ist, die den Rang origineller und hoher Kunst verdient. Ich möchte hier Andreas Wilkers Behauptung analysieren und über Erich Wilkers Werk nachdenken, ausgehend von der These, dass es ein verschütteter Weg sei. 3 Etwa 1910 erscheint auf der Weltkunstszene ein künstlerischer Begriff, der als Abstrakte Kunst bezeichnet wird. Obwohl wir Paris nicht als seinen Geburtsort bestimmen können, weil es wie immer verschiedene Ursprünge gibt, fiel dieser Ausdruck doch hier auf einen fruchtbaren Boden, und von hier strahlte er in das ganze Europa und in die Welt aus, nahm Einfluss und bestimmte die Richtungen von Künstlern verschiedenartiger Stile, Tendenzen und philosophischen Vorstellungen. Fest steht, dass sie dem Menschen eine größere Freiheit, Individualität und Streitbarkeit erlaubte, um die Welt und sich selber zu verstehen. Es war eine Kunst, die nur im 20. Jahrhundert denkbar war, im Jahrhundert der Weltkriege, der Entdeckung und Popularisierung von Dingen wie der Photographie und des Kinos. Eine Zeit, in der neue Schritte getan wurden, und in der eine neue Kunstvorstellung eine neue Renaissance verheißen konnte. Dieses Jahrhundert ist ebenso ein Jahrhundert von Ausdehnung wie ein Jahrhundert von Kontraktion. Wenn die Welt sich auf der einen Seite ausdehnt und auf der anderen Seite zusammenzieht, findet diese Kontraktion im Menschen wie im Kosmos statt. In dieser Bewegung verbessert sich die Welt, denn von überall her kommen Vorschläge, und ein Wille wird offenbar, neue Erklärungen anzubieten und neue Wege zu entziffern. Als ein anderer Zweig großer künstlerischer Bewegungen, die mit dem Impressionismus beginnen, erscheint der Expressionismus, der in Deutschlands eine eigene Besonderheit gewinnt. Darin zeigt sich die unleugbare Verschränkung des Menschen und der Umwelt, in der er lernt, zu denken, zu fühlen und sich auszudrücken. Das Auftauchen verschiedenartiger Bewegungen und ihrer unterschiedlichen Ausdrucksweisen, die sich aneinander reiben und sich teilweise gegenseitig ablehnen, zeigt die Dynamik des Schaffens und zugleich, dass alle dazu dienen, sich für den Dialog und die Vermehrung der Weltanschauungen nützlich zu machen. Es ist undenkbar, über ein Kunstwerk eines deutschen Künstlers nachzudenken, der zeitgenössisch ist oder ihr nachfolgt, ohne diese Bewegung einzubeziehen. Im Fall Erich Wilkers nimmt dies einen besonderen Charakter an, denn dieser Künstler ist nicht nur zeitgenössisch, sondern nimmt an den Kunststömungen seiner Epoche in Deutschland aktiv teil. In einem Szenario aus Konsolidierung und Dekonstruktion verwirklichen wir unsere Leben, und aus dieser Vorstellung heraus können wir den Wert des 20. Jahrhunderts beurteilen. So stellt Heidegger die historische Kraft des Humanismus 4 in Frage und sieht im Licht des wesentlichen Denkens das Wesen des Menschen als einen Glauben, den man in Frage stellen und neu bewerten muss. Dies ist das berühmte und komplexe Problem der Vergessenheit des Seins, zu dem das Denken degradiert wurde, und welches dieser Philosoph neu in Frage stellen will – und das zugleich die Entwicklung der Technik als Antrieb der Ungleichheit voraussieht, weil er sie nicht als die vergessene Bestimmung der Wahrheit des Seins ansieht.3 Nicht nur Heidegger fällt mir ein, auch Freud und der schon erwähnte Nietzsche. Beide sind Philosophen und Denker, die nicht nur ihre Zeit revolutioniert und begründet haben, sondern die uns einen unentbehrlichen Lehrstoff für einen neuen Blick in uns hinein und aus uns selber hinaus lieferten. Nachdem diese Gedanken entstanden waren, konnte die Welt sich nicht mehr mit dem begnügen, was sie besaß, und der Mensch konnte sich nicht mehr als winzig vor der Macht des Schöpfers fühlen. Denn obwohl manche dies als eine hochmütige Haltung empfinden könnten, war doch eine der größten Errungenschaften des Menschen die Gewissheit, dass alles, was er besitzt, sich auf den Raum beschränkt, in dem er lebt. Wie auch immer, diese Hochmut kann man nicht für unnütz halten. Aus seinem Nachdenken über die Verlassenheit, aus seiner Ablehnung des Transzendenten heraus hat er seinen Platz in der Welt neu bestimmt – auch wenn es noch jene Zerbrechliche gibt, die nach den alten Zufluchtsorten suchen – und an dem der Mensch empfindet und akzeptiert, dass er sich selber überlassen ist, sich selber und seinen Mitmenschen und den Beziehungsnetzen, die er ständig und bis zu seinem letzten Tage webt; und er nicht weiß, wann dieser Tag kommt, an dem er nichts hinterlassen wird, das ihn fortleben ließe. In der Sphäre einer anderen Denkrichtung, in Übereinstimmung mit den deutschen Philosophen und ihren Diskursen, die sich um die Welt verbreiteten, grenzt Joseph Beuys seinen Raum ab und ficht die Technologie an, die Bürokratie und den Niedergang des Menschen. Vor allem richtet sich Beuys gegen den Rationalismus mit all seinen Forderungen und seinem supremen Anspruch. Ebenso fordert er für sich und jeden Menschen das Recht, ein Kunstwerk zu werden. „Ich selbst bin in diesem Augenblick das Kunstwerk. Ich deute nur eine sich entfaltende Richtung an, also zeige ich, dass sich potentiell jeder an diesem Projekt, die Welt in ein Kunstwerk zu verwandeln, beteiligen kann. Daher diese ganze Hutgeschichte, die ich als Tragikkomödie unserer Zeit gegenüber stelle“ 3 Rückübersetzt aus dem Portugiesischen. Martin Heidegger, Sobre o Humanismo, Introdução, tradução e notas de Emmanuel Carneiro Leão, Rio de Janeiro: Tempo Brasileiro, 1967, S. 64-65 5 Auf gleiche Weise wie Picasso und Duchamp konzentriert Beuys in sich die ganze Handlung und ästhetische Einstellung, nicht um den Mensch als Subjekt zu stärken, sondern um die Kunst zu stärken und neu zu erfinden. In der sogenannten Fluxus Kunstbewegung – die beabsichtige, das Vergängliche zu beschwören – fand er zusammen mit John Cage, Henning Christiansen, Wolf Vostell und Georges Maciunas (dem Begründer der Bewegung) eine Stelle, um seine Vorstellungen zu präsentieren und zu entwickeln: sich selber und, als Folge, die Welt in ein Kunstwerk zu verwandeln. Der Boden, auf dem diese Beschwörung möglich war, wurde ihm von der Philosophie, der Literatur und von seinen Vorläufern bereitet. Hier sieht man einen Gedanken gegen die Vernunft, gegen die Institutionalisierung und gegen das Unverständnis der Freiheit und des Tuns des Menschen. Vor allem ist der Wunsch nach der Verwirklichung der Freiheit das Ziel dieses Künstlers. Indem er sich auf die Spiritualität berief, in einem ganzheitlichen Sinne, wandte er sich an jeden Menschen. Die Idee, den Menschen zu komplettieren, sieht man schon in Nietzsche angedeutet, und zwar in seinem Werk Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik. (…) Singend und tanzend äußert sich der Mensch als Mitglied einer höheren Gemeinsamkeit: er hat das Gehen und das Sprechen verlernt und ist auf dem Wege, tanzend in die Lüfte empor zu fliegen. Aus seinen Gebärden spricht die Verzauberung. Wie jetzt die Tiere reden, und die Erde Milch und Honig gibt, so tönt auch aus ihm etwas übernatürliches: als Gott fühlt er sich, er selbst wandelt jetzt so verzückt und erhoben, wie er die Götter in Träume wandeln sah. Der Mensch ist nicht mehr Künstler, er ist Kunstwerk geworden: (...)3 Nietzsches Worte geben einer künstlerischen Erscheinungsform Nahrung, die erst viel später, nachdem sie erdacht und geschrieben wurde, auftreten würde. Wenn Beuys feststellt, dass "jeder Mensch ein Künstler" sei, holt er die Kunst nicht nur aus einer Höhe herab, die man ihr im Denken seit der Renaissance zugewiesen hatte. Er schafft auch die Möglichkeit, das Verständnis von Kunst zu erweitern, so wie er sie neu konzipiert: nicht mehr als Schöpfung eines Subjektes, das sich über alle Menschen erhöht, sondern das, obwohl Schöpfer, doch das Ziel verfolgt, dass jeder andere Mensch ebenso ein Künstler werden kann, indem es bestimmt, was Kunst ist. Mehr noch, er zerrt den Menschen mitten auf die Bühne, nicht als einen Darsteller, sondern als das Werk an sich. Mit anderen Worten bedeutet dies, dass die Abhängigkeit des Menschen von einer zentralen, transzendentalen Macht gebrochen ist. Auf der anderen Seite heißt das nicht, dass der Mensch seinen Glauben verloren hat, oder die Fähigkeit, zu sehen, dass jenseits des Bekannten 3 Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik. Hier zitiert aus Project Gutenberg, Etext No. 7206, 2005-01-01. Im Original zitiert aus: Friedrich Nietzsche, La Naissance de la tragédie ou hellenisme et pessimisme, Tradução do Alemão de Jean Marnold e Jacques Morland, Revista por Jacques Le Rider, in Friedrich Nietzsche Ouvres, Bouqins, Collection Dirigée par Guy Schoeller, Èdition Dirigée para Jean Lacoste et Jacques Le Rider, Paris : Robert Lafont, 1993. S. 38-39. 6 noch etwas Anderes existiert. Sehr einfach gesprochen ist vielmehr auch er selber jenes etwas Andere. In diesem Sinne kann auf dem Feld der Kunst jeder ein Künstler werden, der sein Empfinden auslebt. Sicherlich sieht man hier eine Verbreiterung des Kunstverständnisses. Denn die Revolution, die Duchamp begann, als er das Objekt würdigte und in der Kunst unabhängig machte, ist noch lange nicht vollzogen. Bei Beuys sieht man nicht eine Revanche des Subjekts, sondern die Zentralisierung im Menschen und in der Welt, die er gerechterweise als Plastik begreift. Darüber hinaus zeigt er eine ungezwungene Akzeptanz der eigenen Vergänglichkeit: des Menschen und des Kunstwerkes. In diesem Sinn sind es der Mensch und sein Werk, die sich in der Welt verorten, im Raum ihrer Vergänglichkeit als eine Urerfahrung. Es ist immer noch in diesem Raum, dass eine Ikone einer Kultur – wie der Kojote für die Amerikaner – ins Zentrum der Aufmerksamkeit in einer Galerie rücken kann. Der Künstler ist nicht mehr der Privilegierte, die Schönheit ist nicht mehr absolutes Kriterium, das einem Werk den Status verleiht, Kunst zu sein. Aus der Welt kommend und sich an die Welt wendend, den Menschen erhebend, auf dass er sich in Harmonie mit dem Kosmos setze, brachen Beuys und die Künstler, die mit ihm die Ideen der FluxusBewegung teilten oder die ihm folgten, auch mit der Moderne, weil sie das Subjekt weg vom Mittelpunkt der Schöpfung und von der Konzeption des ästhetischen Objektes dezentralisierten. Zugleich setzten sie die Operation fort, die von Nietzsche beabsichtigt und von Heidegger weiter betrieben wurde, nämlich den Menschen an seinen Ausgangspunkt oder hin zu einer angemesseneren Fragestellung zu führen. Von daher ist das ästhetische Konzipieren in dieser Periode von all dieser spirituellen und intellektuellen Last beschwert. Die Künstler vereinigen sich, um einen universellen Bezug wiederherzustellen. Das Fundament von Fluxus ist die Maxime des Herakles: Das ganze Dasein geht durch den Fluss (fluxus) der Schöpfung und der Zerstörung. In einem Wort ist dies die Synthese der Vergänglichen Kunst. Nichts von alledem ist unbekannt. Es war ein Weg, um zu Erich Wilkers Schaffen zu gelangen. Andreas Wilker zufolge erwies sich mit Eröffnung der Ausstellung Giotto, Beuys & Wilker im Erich Wilker Museum eines von den vielen Themen, die dargestellt wurden, als absolut relevant: Nach dem eigentlichen Ziel der "Modernen Kunst" und der uns nicht bekannten Parallelität zur wissenschaftlichen Revolution zu fragen, was nicht nur heikel ist, sondern auch große Aufmerksamkeit und einen neuen Weg für die Kunst fordert. Wenn es darum geht, einen Blick auf die Arbeit von Erich Wilker zu werfen und zu verstehen, was Andreas Wilker erklären will, darf man nicht die Ereignisse außer Acht zu lassen, 7 die beide erlebt haben oder derer sie Zeuge wurden oder an die sie sich erinnern. So dürfen wir nicht die Wirkung und die Revolutionskraft der Fluxus-Bewegung vergessen, da Erich Wilker zeitgenössisch war und die Ideen beiden bekannt waren. Hier entstand eine weitere künstlerische Bewegung in Deutschlands, in der Nähe von Köln, wo der Künstler Erich Wilker und seine Familie lebten. In dieser Bewegung beansprucht die Kunst diese Ideen nicht mehr isoliert als Subjekt, sondern sah es als notwendig an, die Welt in einer neuen künstlerischen Sprache auszudrücken. Insbesondere verstehe ich, dass die von Duchamp begonnene Revolution, die Beuys vertiefte und neu dimensionierte, in Erich Wilkers Werk eine neue tournage erhielt. Es ist diese tournage, auf die sich Andreas Wilkers Darlegungen stützen. Darüber hinaus betont er die Möglichkeit und Notwendigkeit einer wissenschaftlichen Revolution in der Kunst. Ich möchte das zunächst so stehen lassen, weil das Thema problematisch ist und vielfach polemisch geführt wird. Normalerweise sind wir bemüht, die Kunst von der Wissenschaft zu trennen, mit der Begründung, dass beides nicht verwechselt werden kann. Die erste ist ein freier Ausdruck des Geistes, die zweite die Akkumulation des rationalen, begreifbaren und nachprüfbaren Denkens. Wir akzeptieren als selbstverständlich, dass wir diese Unterscheidung nicht nur treffen können, sondern müssen: zwischen der Kunst und der Nichtkunst, zwischen dem, was enthüllt und dem, was nicht enthüllt. In dieser Sphäre der Dunkelheit und des Enthüllten/Verneinen ist die Kunst angesiedelt, und sie erlaubt zum Beispiel, dass Beuys durch eine Galerie läuft und einem toten Hasen die Bilder erklärt, selbst wenn er dabei von einer Idee getrieben ist, die er dem Publikum erreichbar machen möchte. Ohne den Schatten eines Zweifels durchlaufen die Kunstwerke in den Museen einem Auswahlprozess, von dem wir annehmen, dass strenge Kriterien eingehalten werden. So können wir nicht die Möglichkeit ausschließen, dass wir auch Grundlagen brauchen, die uns die Freiheit nehmen, dieses oder jene Werk zu wählen, einfach so, weil man es gewählt hat oder weil es schön ist. Auch die Zeichnung von Erich Wilker (s. Seite 9) die zur Sammlung des Erich Wilker Museums gehört, wurde nicht auf zufällige Weise angefertigt. Ihre Komponenten sind grundlegend durchdacht und kommunizieren auf diese Weise eine Vorstellung, die analysiert werden soll. Wenn Beuys ausrief, dass die Welt eine Plastik sei, sollte man sein Vermächtnis neu diskutieren; wenn Beuys den zweifelsfreien Ort für die vergängliche Kunst abgesteckt hat, sollte man diesen als Ausgangspunkt nehmen oder ihn neu konzipieren; wenn der Mensch selber ein Kunstwerk ist, sollte man ihn zum Mittelpunkt machen. 8 Erich Wilker setzt in der genannten Zeichnung eine Synthese um: Der Mensch und die Natur sind Kunstwerke, aber deshalb kehrt er nicht zum Naturalismus zurück; hier sieht man die Vorstellung einer Idee, kommt aber nicht beim Abstraktionismus an; da ist eine Erzählung, aber man kann deshalb nicht behaupten, wir stünden vor einem Werk des Figurativismus. So finden wir keine Folgsamkeit gegenüber den von der Kunst der Vergangenheit bestimmten Kriterien vor. Was man sagen kann ist, dass es eine Einheit gibt. Die Elemente, die lange getrennt gesehen wurden oder von denen mal das eine, mal das andere betont wurde, stellen sich vereinigt vor, ohne dass man deswegen behaupten könnte, sie fänden keinen Ausdruck. 9 Die Komposition wird nicht gestört durch ein Mangel an Kriterien, die wir kennen und die wir vielfach anwenden. Die Form wird betont, um ihren eigenen Diskurs hervorzuheben. Gleichzeitig nimmt sie die Gesamtheit des Ausdrucks für sich in Anspruch. Auf diese Weise erreicht der Künstler die Abstraktion, ohne Abstraktionist zu werden. Es ist nicht nötig, dass die Farbe sich zeigt, weil die Zeichnung es mit ihren mal leichten, mal starken Strichen übernimmt, eloquent zu sein. Weder findet sich Übertreibung, noch ein Interesse am Schockieren, noch der Versuch eines Blickfangs durch Stilmittel der Affektiertheit oder Übertreibung. Mit nur wenigen Linien wird der Diskurs dargestellt und erklärt. Eine einzige Ebene gewinnt ihre Einheit vor uns und, eins ums andere, vereinigen wir alle Elemente. Auf dieser gleichen Ebene finden sich Natur, Mensch, Bewohner der gleichen Welt und die Vorstellung von dem, was aus ihr werden kann. Die Kontinuität, die nicht linear, sondern von Brüchen markiert ist, wird einer Figur zugewiesen, in der wir uns selbst erkennen und die zugleich jene ist, die wir in der Vorstellung, die wir uns von ihr machen, vereinigen. Metaphysik? Vielleicht, wenn wir sie neu durchdenken. Der Mensch darf bei seinem Fortschreiten nicht seine Herkunft vergessen. Aus diesem Grund, und ich denke das ist unbestritten, finden wir in Erich Wilkers Kunst Elemente, die im deutschen Expressionismus begründet sind. In der Zeichnung, die man visualisieren kann, begibt sich eine Frau, das Oberteil ihres Körpers verdunkelt, leichten Schrittes an einen unbekannten Ort. Vor sich hat sie einen ebenfalls verdunkelten Baum, der sein Laub verloren hat, und der sich in sich selbst zurückzieht, uns und der Welt zuwinkend. Darüber ist die Ruhe bei der Leichtigkeit jener Figur erreicht, die dahin treibt und die Bewegung fortsetzt – Bewegung, von der man nicht weiß, von welchem der Charaktere sie begonnen wurde, denn sie verbinden sich in einem zirkularen und aszendenten Zusammenspiel. Außerdem übernimmt die Dialektik, vom Künstler als Grundlage verstanden, die Verantwortung dafür, die Elemente zu vereinigen und ihre Unabhängigkeit zu sichern. Der Weg zur Synthese ist erreicht, ausgehend von der Bewegung, über die der Künstler uns schließen lässt, sie aszendiere. Wenn der Mensch ein Produkt seiner Zeit ist, wie Hegel sagte, verkündet Erich Wilker durch seine Kunst diese Idee. Zugleich verhinderte die politische Bewegung, die sein Leben und das seiner zeitgenössischen Künstler begleitete, dass wir Dialektik so verstehen, wie Hegel sie uns hinterließ. Von daher ist es der Arbeit und der Leistung des Menschen zuzuschreiben, was wir über sein Verständnis und seine Beständigkeit herausstellen können. Nach dem Krieg, dessen Rauch im ganzen Europa noch nicht verzogen war, folgte schnell die Zeit der Genesung des Menschen und des Wiederaufbaus dessen, was er in seiner Kindhaftigkeit oder aus Notwendigkeit 10 zerstört hatte. Aus dieser Perspektive und aus der Gesamtheit der Arbeiten von Erich Wilker, die ich kenne, ist es der Vorschlag zu einem Ausweg, zu einem Weg mit mehr Licht, wenn dieses unser Wunsch ist und es unsere Eitelkeit erlaubt, diesen zu beschreiten. Natürlich, der Künstler ist kein Prophet, der uns Wege zeigt, die vor uns liegen, denn es hängt von uns ab, welchen Weg wir, jeder von uns oder alle zusammen, gehen wollen. Nachdem das gesagt ist, zurück zu Andreas Wilkers Darlegungen: Selbst wenn die Kunst die Obskurität präsentiert, die ihr Charakteristikum ist; selbst wenn dies noch verstärkt wird von unserer Sensibilität und den Gefühlen, die sie erwecken kann; auch wenn wir wiederholen, dass es nicht nötig ist, die Kunst zu verstehen, sondern sie nur genießen wollen – die Wahrheit ist, dass sie nicht einer Sphäre entkommt, die ausschließlich von der Vernunft erfasst werden kann. Wenn Andreas Wilker eine objektivere Haltung fordert, beansprucht er Ernsthaftigkeit und dass wir nicht vergessen: Die Kunst wird niemals aufhören, auch eine Ausarbeitung des Verstandes zu sein, der einstuft, aussucht, wählt, nachdenkt und einer besonderen Genauigkeit unterwirft, was er für abgeschlossen hält, wenn auch nur teilweise. Darüber hinaus macht er auf die Notwendigkeit aufmerksam, die verschütteten Wege sichtbar zu machen, damit ihr wirkliches Verständnis gemacht werden kann. Ich folge dem von ihm eröffneten Weg, denn er ist die Person, die das hier behandelte Werk am besten kennt, und auch eine Eigenschaft mitbringt, die uns versagt bleibt: mit dem Künstler zusammengelebt zu haben. Wenn wir Sokrates folgen, dass in der Kindheit unser Denken entsteht, mag es gut möglich sein, dass der Sohn die Kunst des Vaters verfolgt hat und sie von daher, wie kein Zweiter, verstanden hat. In seinem Buch, Erich Wilker 1929-1999, führt Andreas Wilker, begleitet von einer grundlegenden Biographie, mit einer Auswahl durch das Werk des Künstlers, die offenlegt, nach welchem Prinzip dieses Werk entstanden ist. Ich folge dieser Wegweisung, weder um die Richtung des Künstlers zu interpretieren noch darüber nachzudenken, sondern um in diesem ersten Augenblick seine Kunst kennen zu lernen. Wie ich im Titel dieses Beitrages andeute, erschöpft sich meine Studie hiermit nicht. Sie teilt sich in zwei Phasen auf: Die erste ist eine Erkundung und die zweite eine Konsolidierung. Die erste ist also die grundlegende Voraussetzung, damit die zweite stattfinden kann, denn ich beabsichtige, die größte mögliche Anzahl von Stücken zu begreifen, die mir möglich sind, um ihre Neuartigkeit zu entdecken. In der zweiten Phase gehe ich vom Prinzip aus, dass, wenn es in diesem Werk etwas zu enthüllen gibt, es im Laufe des gesamten Weges des Künstlers ent- 11 standen ist, jetzt die Zeit gekommen ist, dieses zu tun. Dann soll der Pfad, der zur Zeit verschüttet ist, allen bekannt gemacht werden. Zum Einstieg in das erwähnte Buch hat der Autor vier Werke ausgewählt: das erste trägt den Titel "Primaveracampo vigilante", 1977, Bleistift, Tusche und Acryl auf Zeichenkarton; das zweite "Ohne Titel", 1991, Bleistift, Pastellkreide auf getöntem Zeichenkarton; das dritte "Medireales – Geht in die Bernia", 1977, Bleistift und Tusche auf Zeichenkarton; und das vierte "Ohne Titel", 1993, Tusche und Acryl auf Zeichenkarton. Das erste Stück fällt schon von seinem Titel her auf – der Künstler arbeitete in seinem Atelier im spanischen Calpe und beherrschte die spanische Sprache, daher der Name. Auch fällt die Wortzusammensetzung "Primaveracampo" auf. Der Titel dient als ein Wegweiser zum Verständnis des Werkes. In diesen Sinne erweist sich die Zusammenfügung der Jahreszeit und der Blumen, des Parfums und der Hitze, die auf dem Feld heraufzieht, als ein wesentliches Thema in dem Werk des Künstlers. In einem weiteren Sinne geht es hier um etwas, dem Andreas Wilker in einem Abschnitt seines Buches höchste Relevanz zuschreibt, der Neufindung des "Naturraumes". Einer der gebräuchlichen Zugänge für das Verständnis der Blüte der Philosophie in Griechenland ist, das Klima, die Landschaft und die Vollendung der Natur als entscheidende Elemente für die Inspiration und die philosophische Fragestellung zu sehen. Calpe, ein paradiesischer Ort, könnte von einem Künstler nicht auf andere Weise kontempliert werden. Wenn der Naturraum stets präsent und wesentlich im Werk dieses Künstlers war, was ihm einen Charakter absoluter Zeitgenössigkeit mit unseren heutigen Anliegen verleiht, wurde dies in seinem spanischen Atelier noch betont. Zudem will der Blick auf die Natur, wie ihn die Dichter in der Zeit Homers und Hesiods pflegten, der durchdringendste und schärfste sein. Von daher seine Absicht, sich von Techniken und Illusionen zu befreien, die eine Intention verleihen, wie viele von uns sie für das Verständnis fordern. Die Offenheit eines originellen Blickes ist in dieser ersten Zeichnung (s. Seite 13) präsent, die von 1977 datiert, als der Künstler begann in seinem Atelier in Calpe zu arbeiten. Das Vertrauen in eine natürliche Welt, in den notwendigen Gleichklang zwischen dem Menschen, der Erde und dem Kosmos finden sich in diesem Werk, das, wie ein großer Teil der anderen Werke, lediglich 32,5 cm x 23,5 cm misst. Für diesen Künstler ist die Begrenzung der Größe des Werkes wie auch seiner Darstellung ein Bedürfnis. 12 Obwohl er das (künstlerische und intellektuelle, Anm. d. Ü.) Klima verschiedener Bewegungen kennen gelernt hatte: In Deutschland glaubte er insbesondere an den Diskurs, der sich in der Malerei und in der Zeichnung niederschlägt, und diesem widmete er einen Großteil seines Schaffens. In jedem Werk zeigt sich die kontinuierliche Arbeit für das Verständnis eines Objektes. Mehrfache Dimensionen werden zu einem einzigen Zweck präsentiert: zu enthüllen, was sein Blick und sein Verständnis entdeckt haben. Die Innovation ist die Ansichtskarte des Werkes. Da es um ein Werk geht, das sich zu einem Kreis fügt, in dem die Natur und der Mensch untrennbare Ausgangs- und Ankunftspunkte sind, gibt es auch die Anerkennung der Fruchtbarkeit. Daher sind die Natur und die Frau beständige Figuren in seinem Werk. Wenn der Künstler beabsichtigte, zum ersten Mal zu sehen – so wie die Dichter Homer und Hesiod gesehen haben, oder wie heute die Indianer im amazonischen Regenwald Brasiliens sehen – ist es natürlich, dass er 1 Michel Foucault, Les mots et les choses: une archéologie des sciences humaines. Paris: Èditions Gillimard, 2001, S. 15 13 die Frau in ihrer Mütterlichkeit konzipiert, was der Erde in ihrer größten Funktion entspricht – der einer Vervielfältigung. Zugleich will er nicht in die Vergangenheit zurückschauen und zum Beispiel das bereits Gelebte vorstellen. Die Frau, die sich erhebt, sich aber unwiderruflich an die Erde bindet, ist zeitgenössisch und nicht nur das: sie ist reif für ihre Zeit. Das mag bedeuten, dass, obwohl die Technologie den Menschen zu grandiosen Entdeckungen geführt hat, dennoch in der tellus mater sein Platz ist, was er nicht vergessen darf und auch nicht erlauben darf, dass wir es vergessen. Dem rumänischen Religionshistoriker Mircea Eliade zufolge sollte man sich daran erinnern, dass die Erde seit Homer und Hesiod zelebriert wird und dass wir leider heutzutage die Gesänge vergessen, die niemals vergessen werden sollten. Eliade schreibt: Eine große Zahl von Konfessionen, von Mythen und Riten mit Bezug zur Erde, zu ihren Gottheiten und zur "Großen Mutter" sind uns überliefert. In einem gewissen Sinne die Fundamente des Kosmos legend, wird die Erde mit einer religiösen Vielschichtigkeit ausgestattet. Sie wurde verherrlicht weil sie "war", weil sie sich zeigte und zeigte, weil sie gab, Früchte produzierte, empfing.6 Nach meinem Verständnis hatte Erich Wilker das Bedürfnis, zu zelebrieren, was fundamental für das Wiedererwachen des Menschen ist. Es war keine gedankenlose Einstellung, im Gegenteil. Wenn wir sein Werk verfolgen, oder wenn wir ihn sprechen hören (auf der Website des Erich Wilker Museums), begreifen wir, wonach er in den verschiedenen Manifestationen oder Sprachen strebte, in denen er sein Denken entwickelte. Was wir heute fordern – einschließlich dessen, wofür Al Gore den Nobelpreis erhielt – ist in seinem Werk vorhanden. Ein Aufruf zur Erhaltung und Anerkennung der Erde als notwendiges Element für das Verständnis dessen, was ein Kunstwerk ist, und dessen, was es enthüllen kann, wie Heidegger es wollte, macht es auch Erich Wilker, reich an Eleganz und Kraft. Eliade zeigt die Wichtigkeit und das Entzücken auf, das uns begleitet, wenn wir verstehen, dass es der Mythos ist, der uns fehlt, und dessen Verlust Nietzsche unsere Schande nennt. Die Anerkennung unserer Bindung an die mütterliche Brust ist dringend. Diese Anerkennung ist einer der Grundsätze der Kunst Erich Wilkers. Indem er die Bindung Mensch-Erde als Prinzip nimmt, erfasst er sie als unseren Ort, als unsere Gegenwart und unsere Zukunft. Hier wird nicht für eine Funktion für die Kunst plädiert, denn wir wissen, dass das ihre Stellung herabwürdigen würde, sondern die Kunst ist eine Göttin, die mit der Absicht erscheint, zu enthüllen und 6 Mircea Eliade, Tratado de História das Religiões, Tradução de Fernando Tomaz e Natália Nunes, Prefácio de Georges Dumèzil, Dritte Auflage. Porto: Editora Asa, 1997. 14 zu verhüllen. Wir sollten uns fähig machen, ihre Schleiern zu entfernen; jene Schleier, die, vorläufig, jeden Versuch untersagen, sie mit anderem Wissen zu verwechseln oder sie neben anderem Wissen für minderwertig zu halten. Viele Künstler haben die Natur zum Gegenstand ihrer Schöpfung gemacht. Nach meinem Verständnis hat der Künstler, so wie ich ihn jetzt sehe, mehr als das getan, da sein Blick nicht einer mit Abstand ist, von außerhalb, sondern ein anwesender Blick; der Blick von jemandem, der sich sowohl als Erde/Natur als auch sich als Mensch begreift. Der Blick von außen wird hauptsächlich einem sehr besonderen Moment der Kunstgeschichte zugeschrieben: Dem Moment, in dem der Mensch verstand, dass die Kunst nur die perfekte Abbildung der Natur war oder gar die Absicht hatte, der Natur eine Vollkommenheit zuzuschreiben, die zu erreichen sie nicht fähig war.7 Wenn wir allerdings mit der Absicht zur Vergangenheit zurückkehren, sie wieder genauso entstehen zu lassen, wie sie uns von anderen zurückgelassen wurde, werden wir nichts ausrichten, und darin liegt weder die Absicht noch die Arbeit des Künstlers. Erich Wilker, und noch einmal verweise ich auf die Aufnahme seiner Stimme auf der Website des Erich Wilker Museums, erläutert die Notwendigkeit einer neuen Sprache, die einen neuen Blick auf die Natur befördern kann. Seit er die Notwendigkeit dieser neuen Sprache bewiesen hatte, suchte er nach ihr – und das mag die Geschichte seines Lebens sein – in der Malerei, in der Zeichnung, im graphischen Druck, in der Skulptur, in seinen Reflektionen und in der Dichtung. Als nächstes kann man das Aquarell auf Zeichenkarton (Ohne Titel) betrachten, 23cm x 26cm, datiert 1953, aus einer Periode, die Andreas Wilker als "Jugendund Frühwerk" bezeichnet, welches von 1948 bis 1959 reicht. Aus dem, was ich an Werken dieser Periode sehen kann (acht Werke), ist zu schließen, dass sein künstlerischer Ausdruck von Beginn an eine Zeitgemäßheit anstrebte. In dieser Zeit (1948) befand er sich in Berlin, am Bogensee und begann, sein Wissen über die Dialetik und den historischem Materialismus zu sammeln. Die Erfahrungen des 2. Weltkrieges, der Zusammenbruch einer ganzen Zeitepoche, die Suche nach dem Verständnis und der Bedeutung dieser Zeit, kann man in dem auf Seite 16 gezeigten Aquarell, erkennen. Wirtschaftliche und politische Verhältnisse trieben ihn bald nach WestDeutschland zurück. In diesem Aquarell herrschen die kalten Farben vor, was zu den Lüften, zu den Gedanken, zu den Aspirationen der Berliner oder der Einwohner der Umgebung führen mag. Sehr jung reifte in Erich Wilker schon das Verständnis, dass das Leben des Menschen nur verstanden werden kann, wenn 7 Erwin Panofsky, Idea: A evolução do conceito do belo, Tradução de Paulo Neves, Zweite Auflage. Coleção Tópicos, São Paulo: Martins Fontes, S. 144. 15 man nach seinen Wurzeln sucht, seien sie historisch, philosophisch, künstlerisch, mythologisch oder religiös. Denn wie in jeder Suche nach den Ursprüngen gibt es eine tiefe Religiosität in seinem Werk. Eine Religiosität, die sich nicht an Ideologien oder Dogmen bindet, sondern an das Verständnis und den Ausdruck der Universalität des Menschen, wie es sich auch in Wilkers erwachsenen Werken bestätigt. Obwohl das Werk uns auf einen gefesselten Prometheus verweisen mag, überrascht es uns durch die Betonung, dass nichts den Menschen unterwerfen kann, insbesondere nicht eine Beschränkung des Denkens und des Fühlens, weil er seine größte Freiheit in den Ursprüngen seines Daseins schon erworben hat. Auch wenn man es als ein Jugendwerk sieht, ist es interessant, zu sehen, was ihm eigen ist: die Darstellung ruft Unruhe und Angst hervor, was von den Farben noch betont wird, die außer dem Code, den sie überbringen, sich auch unterbrechen, ohne sich zu treffen, weil sie einander mit schroffer Liebenswürdigkeit Platz gewähren. Andererseits, selbst wenn das Wort nicht frei gesprochen werden dürfte, fordert der Mund zu seinem Durchlass auf; die offenen Augen, die Angst ausstrahlen, können fröhlich werden; das was springt und man als Gedanken sehen kann, enthüllt die Unfähigkeit für ein gutes Denken. Wenn ich auf der einen Seite sagen mag, dass wir eine Darstellung des bestraften Deutschlands erblicken, kann ich auf der anderen Seite sagen, dass Gefangenschaft des Wortes und des Denkens weder ewig noch lokal sind; die Geschichte zeigt, dass es mal hier und mal da statt findet, in einer unendlichen Projektion von Manifestierungen. Die künstlerischen Einflüsse dieses Werkes sind offensichtlich, aber gleichzeitig bergen sie den Hinweis, dass sich ein Künstler ankündigt, der sich damit auseinandersetzt, was wir können und was sein kann. Damit meine ich nicht, dass das Werk sich auf ein politisches Manifest reduziert, dann wäre es kein Kunstwerk. Was ich sehen kann, ist, dass, obwohl die Kunst auf ihre Lokalität verweist, zumal es sich um vergängliche Kunst handelt, sie doch universell bleibt. Wenn die Installation ein singuläres Beispiel der beschränkten Dauerhaftigkeit eines Werkes ist, indem sie ihre Vergänglichkeit ausdrücklich zur Schau stellt, kann sie doch bleiben: mit der Hilfe anderer Instrumente wie der Photographie, des Videos oder durch die Schrift und die Berichte der Helfer und Teilnehmer. So wird heute, neben der Verfügbarkeit der fortschrittlichen Medien, die einen Gegenstand bleiben lassen, der Rückgriff auf das Gedächtnis hoch geschätzt. Die Universalität, die einst die Fundamente der Kunst waren, ist im Werk des jungen Erich Wilker angelegt. Es ist mit diesem Ziel, dass er auf die 16 Meister vergangener Zeiten und seine Zeitgenossen rekurriert – eine Tatsache, der wir durch seinen schöpferischen Prozess hindurch folgen können. Das ist kein Problem, im Gegenteil, es entsteht kein großes Werk, wenn es nicht von den großen Meistern ausgeht. Der Dialog ist eine der Voraussetzungen für die Schöpfung eines originellen Werkes. Seit seiner Jugend führte er einen Dialog, in dem er schon wahrnahm, dass der Zyklus des Daseins eine neue Krümmung erhalten würde, seinen Sinn für seine Umwelt schärfend, sah dieser Künstler: Nur durch die vielfältigen verfügbaren Mechanismen, einschließlich der technologischen Entdeckungen, konnte sichtbar gemacht werden, was da war, was aber aus verschiedenen Gründen nicht jeder sehen konnte. Auf seinem Weg hat er nie aufgehört, Mittel auszuprobieren – mit dem einen Ziel, seinen künstlerischen Diskurs klarer zu machen. 17 Das Werk, das man unten sehen kann (und das mir insbesondere Adamastor von dem portugiesischen Poeten Camões ins Gedächtnis ruft), ist in der Periode anzusiedeln, die Erich Wilker die "Nada-Periode" genannt hat (Nach der Abstraktion). Diese Periode ist von der Absicht des Künstlers geprägt, einen eigenen Weg zu suchen, ausgehend von seinem eigenen Denken, seinen persönlichen Erfahrungen und den Ergebnissen seiner eigenen Arbeit. In einem weiteren Verständnis des Begriffes würde ich sagen, dass dieser Künstler ein Handwerker der Kunst ist. Damit möchte ich sagen, dass wir durch sein Werk hindurch, in all seinem Schaffen die Abfolge seines Denkens nachvollziehen können. Das heißt, mehr als alles andere verfolgte er der Darstellung der Vernunft. Daher ist eine Bereitschaft notwendig, seine Dichtung (was ich in der zweiten Phase meiner Lektüre beabsichtige) und seine letzten Werke kennen zu lernen, die auch eine neue Reflexion über das Verständnis von Kunst fordert. "Nach der Abstraktion" ist auf Portugiesisch als eine Projektion oder eine Wegweisung zu verstehen, die einen konkreten Ausgangspunkt hat, die aber auch verpflichtend zu einem Ankunftspunkt strebt. Aus der Bedeutung des Begriffs heraus fassen wir es so auf, dass der Künstler eine work in progress vorantreibt, oder dass seine Schöpfung ihre Enthüllung anstrebt. Zur Zeit der Nada-Periode (1959/1962) begann der Künstler einfach ein neues tournement, in dem er von sich forderte, Abstand zu nehmen von dem Trubel der Städte und der Ereignisse. Er brauchte schöpferische Introspektion. 18 Der Rückzug ist von entscheidender Bedeutung, um den Geist zu öffnen und zu offenbaren. Vorübergehend findet er über die Farbe und die Form den Ausdruck als Mittelpunkt seines Diskurses, dass dies die Substanz ist, die er mit Klarheit für sich erfassen will. Deswegen sein Weg zur Abstraktion. Nach den Werken der Jugend ist es der Übergang zu einer Sprache, in der das Konzept als Fundament für die Kunst notwendig wird. Das Werk oben verweist auf diesen Weg. Die Ruhe des Blau, in Bewegung versetzt, die auf ihre Weise Ordnung und Transparenz erfordert, zeigt, dass es den Weg zur Ankunft gibt, dass aber das Ziel noch nicht erreicht wurde. Doch wartet es auf jene, die sich in seine Richtung begeben. Bewegung, Stillstand, Fülle und Leere sind Themen, die in dem Werk zusammen kommen. Was gemacht wurde, wo wir uns befinden und was getan werden muss, sind die Themen, die wir in der Einfachheit des Werkes aufgezeichnet sehen. Dorthin möchte der Künstler voranschreiten. Die Suche nach dem Konzept als einer soliden Basis – denn Erich Wilker versteht, dass nur die Abstraktion und der Besitz von Ideen die Enthüllung befördern können – führte den Künstler zu Werken wie dem unten abgebildeten. In den Werken dieser Periode kann man schon erkennen, dass sowohl das Denken als auch der Ausdruck dem Künstler eigen sind, und dass sie aus einer beständigen Arbeit resultieren, in der alle Erfahrungen die eines Menschen in seiner Zeit sind, wissend um die Existenz eines Weges, dem der Mensch folgen soll. Seine einsame Arbeit, im Raum seines Ateliers, nur mit der Kunst, ist Vorbereitung für die massive Aktivität, die sich in den zwanzig Jahren danach entwickeln würde. Die Vorstellung und das Verständnis der Wirklichkeit führen den Menschen auf unterschiedliche Wege. Zur gleichen Zeit, als Beuys behauptete, die Welt sei eine Plastik, dass also alles in der Welt Kunstwerk sei und der Mensch einen anderen Weg einschlagen könne als den bisherigen, schuf Erich Wilker Stück für Stück ein neues habitat für den Menschen. Der Bau dieses Raumes begann, wie schon oben erwähnt, mit einem neuen Blick auf die Welt. Trotzdem war der Blick nicht ganz der von Homer und Hesiod, sondern ein Blick, der sich nachdrücklich fragend auf eine Welt richtet, die beinahe vor ihrer Zerstörung steht. Dieser Raum ergibt sich als Notwendigkeit aus den Trümmern, die über Europa verstreut lagen; die gleiche Notwendigkeit, die zum Beispiel Wim Wenders zum Blick auf das zerstörte Berlin8 trieb. Trotzdem: Der Künstler schlägt nicht eine gelegentliche, unbeabsichtigte oder zufällige Rückkehr vor. Seine Heimkehr ist das Ergebnis einer Reflektion und einer Begegnung. Seine Dichtung, sowohl die bildhafte als auch die geschriebene, legen das Denken als locus und zugleich als Verwirklichung aus. Hier kommen mir die Verse des Parmenides und seine Verachtung der Dicephalos (der zweiköpfigen Menschen) in den Sinn9 . Allerdings möchte ich betonen, dass der Künstler die Sensibilitäten und den Blick der ursprünglichen Unbefangenheit nicht gering schätzt. Statt dessen fordert er, der im 20. Jahrhundert lebt und die 19 Unvernunft und das Übermaß sieht und wie die Hybris sich des Menschen bemächtigt, einen abwägenden, aufmerksamen Blick. Der neue Raum oder das neue Haus wurde auf dem Land gebaut, einem im Werk des Künstlers stets beschworenen Ort. Im unten abgebildeten Werk ist die Bedeutung klar: Es gibt in diesem Raum keinen Platz für zweiköpfige Menschen, statt dessen ist Platz für die fruchtbare Frau, die Spenderin von Leben, die zusammen mit diesem neuen Menschen dafür zuständig wäre, die neue Aufgabe zu bewältigen. Der Platz des Menschen ist sein Platz. Der Mensch ist – auch – Unvernunft. Dem kann weder der Künstler noch jemand anders widersprechen, doch glaubt er daran, dass die Vernunft unentbehrlich ist, wenn es darum geht, wieder aufzubauen, was als Chaos vor uns liegt. 20 Vom Standpunkt der Komposition und des Ausdruck des Werkes empfand der Künstler die Notwendigkeit, das Gedicht hinzu zu fügen, um seinen Diskurs stärker und klarer zu machen. Bei der neuen Vorstellung seiner Arbeit wird Erich Wilker als ein Experimentator der Sprache gesehen. Ein diskontinuierlicher Suchender neuer Wege. Der Konzeptualismus und die Figurative Dichtung würden verstärken, was seine Malerei und seine Zeichnung unter Ausschöpfung aller Möglichkeiten zu Tage fördern. Ich verstehe, dass Erich Wilker in einem Moment, in dem die Kunst allgemein das Niederreißen von Barrieren schätzte – in einer quasi unverantwortlichen Euphorie, wenngleich sie notwendig war – sich schon an einem weiter entfernten Ort befand. Er schaute dem Geschehen zu und lachte wie einst Foucault, der sagte, man werde ihn suchen, wo er längst nicht mehr sein würde. So sehe ich es als seinen Ausgleichsvorschlag, zur Vernunft zu rufen, zum Ordnen des Denkens und zur Kunst als einer geistigen Elaboration, obwohl alle das Recht haben, dort ihr Quartier zu finden. Also zusammengefasst: Wir schreien nach einer universellen Begegnung. Auch wenn es unbekannt bleibt, womit, entsteht dadurch trotzdem eine neue Illusion: Das Verständnis, dass alles von uns in die Hand genommen, gesichtet und wieder erbaut werden kann. 1989 setzt der Künstler die Arbeit der Konsolidierung seines Denkens in den verschiedenen Sprachen fort. In dieser Periode veröffentlicht er viele Bücher und konstruiert eine Poesie, in der eine Einheit zwischen Vers und Bild entsteht. Trotzdem: In der auf Seite 22 abgebildeten Zeichnung (Ohne Titel, 1989, Tusche, Acryl und Zeichenkarton) macht die sichtbare und verständliche Schrift Platz für den Nicht-Ort, und es ist an dem Betrachter, das Wort zu ergreifen. Nach meinem Verständnis erschöpft sich die Darstellungskraft in der Zeichnung, dem Teil also, der dem Künstler zufällt. Deswegen zieht er sich zurück und bittet um unser Eingreifen. Ein weiteres Mal stellt er eine Aszendenz dar. Auch ist der Frau der Platz bestimmt, den er ihr in seinem ganzen Werk gibt. Ich glaube trotzdem nicht, dass er eine weibliche Welt fordert, sondern dass er sich eine von Sensibilität, Fruchtbarkeit und Vernunft regierte Welt wünscht. Die Totalität, die wir beim Blick 8 Wim Wenders, Der Himmel über Berlin. Rückübersetzung aus dem Portugiesischen unter Zuhilfenahme des englischen Originals. Denn niemals soll gewaltsam behauptet werden, dass Dinge sind, die nicht sind. Ich befehle Dir: Halte Deine Gedanken fern von diesem Weg, denn auf ihm wandern die Sterblichen, die nichts wissen: zweiköpfige Menschen. Ihre Behinderung erfüllt sie mit umherirrenden Gedanken. Sie sind zugleich taub und blind und verwirrt, bewegen sich wahllos in Horden – diejenigen, die meinen, dass Sein und Nichtsein das Gleiche sei. G. s. Kirk; J. E. Raven; M. Schofield, Os Filósofos Pré-Socráticos, Tradução de Carlos Alberto Louro da Fonseca, Vierte Auflage, Lisboa: Fundação Calouste Gulbenkian, 1994, S. 257. 9 21 auf die Zeichnung erfassen, lässt mich an die Idee von Gerechtigkeit und von Vernunftherrschaft denken. Die Zerstörung ist ersichtlich, doch gibt es Platz für den kollektiven Aufbau, wenn auch mit viel Mühe, und nur möglich, wenn wir zusammen in die gleiche Richtung schreiten können. In dieser Arbeit kann man einen Appell zugunsten der Einigkeit und für das Zusammenleben sehen. Auch wenn sie im gleichen Augenblick Ängste oder eine danteske Weltanschauung inspiriert, bleibt doch die Möglichkeit, zu bauen, und zwar in der besten möglichen Art. 22 Um zu einer Folgerung zu kommen und diesen ersten Teil des Artikels abzuschließen, stelle ich ein Werk aus der Endphase des Schaffens Erich Wilkers vor, wo er die neuen technischen Mittel als eine Brücke für den Ausdruck seiner Kunst verwendet. Das Stück trägt seinen Titel im rechten Auge, Um (vor stell) bar, datiert 1992, Laserdruck auf handgeschöpftem Papier. Es macht wegen des müden, aber starren Auges unruhig, das uns anschaut, nach einem langen Weg, an dessen Ende 23 die Reife erlangt wurde oder die Vollkommenheit dessen, was das Leben sein könnte. Da hält es inne, um mitzuteilen, dass das Werk noch nicht beendet ist. Nur ein Teil der Brille deutet an (verstellbar – oder das, was sich noch ändern kann, also flexibel, nicht spezifiziert, unbestimmt), dass der Prozess sich fortsetzt, dass noch vieles kommen wird. Wenn man einige der Wörter, die anscheinend unverbunden nebeneinander stehen, einzeln betrachtet, kann man ein Manifest für die künftige Kunst finden – und gleichzeitig eine Kritik dessen, was als Kunst konsumiert wird, und was sich Kunst nennt. Ich verstehe und glaube daran, dass dieser noch verschüttete Weg uns neue Richtungen für unser künftiges Voranschreiten aufzeigen kann – und dass er zu einer Trostfindung in der Kunst führt. Neiza Teixeira Prof. Dr. der Philosophie Geschichte, für Andreas Wilker, anfang Februar, wenn in Europa Winter ist und in der Stadt Porto der Regen uns segnet. Auf der Höhe meines Fensters, im Jahr 2008. Erste Rohübersetzung aus dem brasilianischen Portugiesisch von Fernanda Schettino Canelas Nachbearbeitung von Neiza Teixeira, März 2008 24