Poetische und narrative Verfahren

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Poetische und narrative Verfahren
W. Struck / Vorlesung: Einführung in die Literaturwissenschaft / W.S. 2012/12
Literarizität: Poetische und narrative Verfahren
Entsprechend der Definition von Roman Jakobson
wären poetische Texte solche Texte, in denen die
poetische Funktion dominant ist, also sprachliche
Äußerungen, die durch ihre Überstrukturiertheit
von der normalen Sprachverwendung abweichen
und so die Alltagssprache verfremden. Was das für
das Verständnis literarischer Texte bedeutet, soll im
folgenden in der Lektüre von Johann Wolfgang von
Goethes Erlkönig näher betrachtet werden.
Erlkönig
Johann Wolfgang von Goethe
(1782)
Wer reitet so spät durch Nacht und Wind?
Es ist der Vater mit seinem Kind;
Er hat den Knaben wohl in dem Arm,
Er faßt ihn sicher, er hält ihn warm.
Mein Sohn, was birgst du so bang dein Gesicht? Siehst, Vater, du den Erlkönig nicht?
Den Erlenkönig mit Kron’ und Schweif?
Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif. "Du liebes Kind, komm, geh mit mir;
Gar schöne Spiele spiel’ ich mit dir,
Manch bunte Blumen sind an dem Strand,
Meine Mutter hat manch gülden Gewand.” Mein Vater, mein Vater, und hörest du nicht,
Was Erlenkönig mir leise verspricht? Sei ruhig, bleibe ruhig, mein Kind;
In dürren Blättern säuselt der Wind. "Willst, feiner Knabe, du mit mir gehn?
Meine Töchter sollen dich warten schön:
Meine Töchter führen den nächtlichen Reihn,
Und wiegen und tanzen und singen dich ein.” Mein Vater, mein Vater, und siehst du nicht dort
Erlkönigs Töchter am düstern Ort? Mein Sohn, mein Sohn, ich seh’ es genau;
Es scheinen die alten Weiden so grau. "Ich liebe dich, mich reizt deine schöne Gestalt;
Und bist du nicht willig, so brauch’ ich Gewalt!” Mein Vater, mein Vater, jetzt faßt er mich an!
Erlkönig hat mir ein Leids getan!
Dem Vater grauset’s, er reitet geschwind,
Er hält in Armen das ächzende Kind,
Erreicht den Hof mit Mühe und Not;
In seinen Armen das Kind war tot.
1. Schritt: Text und Sprachsystem (Ermittlung
denotativer Bedeutungen)
Zunächst gilt es, möglicherweise unverständliche
Ausdrücke zu klären. In Frage kommt hier an erster
Stelle offenbar das durch den Titel und den Text
besonders betonte Wort „Erl(en)könig“. In der
Regel ist die Denotation zu erschließen über Wörterbücher, die historisch, geographisch (mundartlich) und fachsprachlich dem Sprachsystem, das
dem Text zurundliegt, möglichst nahe kommen:
Duden. Das große Wörterbuch der deutschen Sprache. In sechs Bänden, Mannheim 1976:
„ [wohl in Anlehnung an die erste Zeile
(„Wer reitet so spät durch Nacht und
Wind?“) der Ballade „Erlkönig“ von
Goethe] (Fachjargon): getarnter Probewagen eines neuen Autotyps [...]“
Auch wenn diese Bedeutung von Goethes Gedicht
abgeleitet sein sollte; ein Auto ist dort offensichtlich nicht gemeint. Um den historischen Sprachstand zu ermitteln, ist es notwendig, ein der Entstehung des Textes historisch näherliegendes Wörterbuch zu wählen:
Adelung, Johann Christoph: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart,
Leipzig 1793:
Hier findet sich kein Eintrag zu „Erlkönig“; unter
„Erle“ findet sich: „Ein Baum, welcher ein röthliches Holz, und eine röthliche Rinde hat, und gern
an feuchten sumpfigen Orten wächset; Betula Alnus
[...] Ober- und Niederdeutsch heißt dieser Baum
Eller“.
Campe, Joachim Heinrich: Wörterbuch der Deutschen Sprache, Braunschweig 1807:
„ein erdichtetes geistiges Wesen in der
alten deutschen Fabellehre.
Siehst Vater du den Erlkönig nicht?
Goethe“.
Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm: Deutsches Wörterbuch, Leipzig 1860:
„[...] in HERDERS stimmen der völker
(1778) wurde das dän. ellekonge, d.i.
elverkonge, elvekonge, also elbkönig,
elbenkönig, beherrscher der elbe (sp.
400) falsch übersetzt, was hernach auch
GÖTHEN verführte. einen erlkönig gibt es
in keiner sage.“
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Schließlich noch zwei spezifischere Fachwörterbücher:
kommen „Erdichtung“, „Homoerotik“ oder „Erhabenheit“ explizit im Text vor.
Goethe Wörterbuch, hg. v. der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, der
Akademie der Wissenschaften in Göttingen und der
Heidelberger Akademie der Wissenschaften, 3. Bd.,
Stuttgart/Berlin/Köln: Kohlhammer 1998:
Schon diese wenigen Beispiele zeigen aber , daß
solche Interpretationen keineswegs eindeutig sind:
„Fieberphantasien“ sind nicht das Gleiche wie
„(homoerot-)verführerisch bedrängende[r], tödl
Verderben bringende[r] Gewalt“ (wobei obendrein
völlig unklar bleibt, welchen Status überhaupt eine
solche Aneinanderreihung von Attributen haben
soll – heißt das, daß all diese Eigenschaften notwendig und immer zusammen zu denken sein
sollen oder nur hier in diesem Gedicht oder in der
Phantasie des Interpreten?).
„naturmyth Vorstellungen von dämon
Elementargeistern nachempfundene u. –
gebildete Erscheinung [...] als erhabene
Erscheinung von (homoerot-)verführerisch bedrängender, tödl Verderben
bringender Gewalt Siehst, Vater, du den
E. nicht? / Den Erlenkönig mit Kron‘ und
Schweif [...]“
van Rinsum, Annemarie und Wolfgang: Lexikon
literarischer Gestalten. Deutschsprachige Literatur,
2. Aufl., Stuttgart: Kröner 1993:
„ [...] Ein Vater reitet mit seinem Sohn
„bei Nacht und Wind“ heim. In den Fieberphantasien des Knaben erscheint der
Erlkönig und lockt ihn in das Totenreich.
Homoerotische Anklänge.“
Die Suche nach einer lexikalischen Bedeutung des
Wortes „Erlkönig“ ergibt also einen auffälligen
Befund: Während Adelung, also das der Entstehungszeit des Textes am nächsten liegende Wörterbuch, den Begriff nicht kennt, verzeichnen ihn die
späteren Wörterbuch zwar, verweisen dabei aber als
zentrale Referenz auf Goethes Gedicht selbst.
Campe vermutet zwar trotzdem einen Ursprung in
der „alten deutschen Fabellehre“, kann dafür aber
keine Referenz angeben; dagegen ergeben die etymologischen Studien der Brüder Grimm, daß das
Wort vor der Entstehung von Goethes Gedicht nur
ein einziges Mal, nur vier Jahre zuvor, in der deutschen Sprache belegbar ist, ebenfalls in einem Gedicht, nämlich in Herders Übersetzung einer dänischen (Volks-) Ballade. Das bedeutet also, daß dem
Begriff in der deutschen Sprache kein Denotat
zugewiesen werden kann, als Goethe ihn in seinem
Gedicht verwendet. Die Bedeutung des Wortes ist
damit allein aus dem Text (oder allenfalls noch aus
einem intertextuellen Verweis auf den früheren
Text Herders) zu erschließen. Genau das geschieht
dann in den späteren Lexikon-Einträgen, insbesondere in den beiden, die den Begriff speziell innerhalb des Systems der Literatur verankern (das
Goethe-Wörterbuch und das Lexikon literarischer
Gestalten). Die Worterklärungen, die hier gegeben
werden, stellen jedoch streng genommen Interpretationen des Textes dar: sie schreiben dem Begriff
mögliche, aber keineswegs zwingende Bedeutungen zu, das heißt, sie bewegen sich Bereich von
Konnotationen, wobei jeweils verschiedene Möglichkeiten in den Vordergrund gerückt werden,
etwa die „Fieberphantasien des Knaben“: an keiner
Stelle des Textes ist davon die Rede, daß der Knabe
Fieber hat oder ansonsten krank ist, ebensowenig
2. Schritt: Segmentierung des Textes (im Blick
auf poetische Verfahren: Reim und Metrum)
Die Suche nach der Bedeutung des Wortes „Erlkönig“, die offenbar für ein Verständnis des Textes
Erlkönig wichtig ist, verweist also auf diesen Text
selbst zurück. Die Aufmerksamkeit richtet sich
demnach nicht mehr auf das System der Sprache
insgesamt, sondern auf den individuellen Text.
Als eine – relativ komplexe – Äußerung läßt sich
ein Text beschreiben als Ergebnis der grundlegenden semiotischen Prozesse der Selektion (der Auswahl spezieller Elemente aus einem oder mehreren
Paradigmen) und der Kombination (der Anordnung
dieser Elemente in einem Syntagma). Will man
diese Prozesse nachvollziehen, dann ist es sinnvoll,
sie gleichsam in umgekehrter Richtung zu betrachten. Die erste Frage wäre dann, wie und woraus der
Text zusammengesetzt ist. Anders formuliert: wie
läßt sich der Text in kleinere Einheiten unterteilen,
wie ist er zu segmentieren? Die zweite, sich daran
anschließende Frage gilt dann den Regeln, nach
denen diese Einheiten zusammengefügt sind – und
die hier ebenfalls Regeln sind, die nicht (allein)
dem System der Sprache (etwa der Grammatik)
entnommen sind, sondern die nur im Text selber zu
finden sind.
Das Prinzip der Rekurrenz: Strophen und Verse
Ein erstes Kriterium der Segmentierung gibt der
Text deutlich vor: Er ist in acht Abschnitte unterteilt, die jeweils wiederum in vier Zeilen unterteilt
sind, wobei der Zeilenumbruch nicht der in Prosatexten erwartbaren Konvention folgt, die Zeilen zu
füllen. Für den Wechsel zu einer neuen Zeile lassen
sich syntaktische und semantische Kriterien angeben (also Kriterien der Grammatik und der Bedeutung), auffälliger ist jedoch zunächst ein metrischrhythmisches Kriterium: der Zeilenumbruch erfolgt
regelmäßig nach jeder vierten beim lauten Sprechen
des Textes betonten Silbe. Jeder betonten geht in
der Regel eine unbetonte Silbe voran, gelegentlich
aber auch zwei. Als kleinste metrische Einheit ergibt sich also eine Silbenfolge (Versfuß):
3
unbetont-(unbetont)-betont [v v –],
die dann in jeder (Vers-) Zeile viermal wiederholt
wird:
v (v) – / v (v) – / v (v) – / v (v) –
Dabei kommt der zweisilbige Versfuß („v –”:
jambisch) sehr viel häufiger als der dreisilbige.
Jeweils vier solche Verszeilen sind dann zur
nächstgrößeren Einheit zusammengefaßt (der
Strophe):
v (v) – / v (v) – / v (v) – / v (v) –
v (v) – / v (v) – / v (v) – / v (v) –
v (v) – / v (v) – / v (v) – / v (v) –
v (v) – / v (v) – / v (v) – / v (v) –
Dieses Schema bildet nun in achtmaliger Wiederholung die metrische Struktur des Textes. Das Prinzip der Wiederholung (Rekurrenz) spielt hier also
eine entscheidende Rolle: größere Einheiten ergeben sich jeweils aus der mehrfachen Wiederholung
der nächstkleineren Einheiten.
Neben dem Metrum findet sich in Erlkönig noch
eine weitere klangliche Struktur: jeweils zwei aufeinanderfolgende Verszeilen sind in der letzten
(betonten) Silbe gereimt, es ergibt sich also ein
paarweiser Endreim, durch den innerhalb einer
Strophe jeweils zwei Verszeilen zu einer Einheit
zusammengefaßt sind.
Die auffälligsten poetischen Verfahren (im Sinne
der poetischen Funktion) bilden hier also Rekurrenzen auf der Ebene der metrischen Form und des
Reimschemas. In einem sehr allgemeinen Sinn ist
der Text damit als lyrischer Text, als Gedicht, zu
klassifizieren, seine einzelnen Segmente als Strophen, Verse und Versfüße (s.u.: Zur Metrik).
Allerdings zeigt sich, daß Erlkönig bei weitem nicht
so schematisch ist, wie es die hier angegebene
Grundformel beschreibt. Wichtig ist hier vor allem
die Tatsache, daß in ein vorwiegend zweisilbiges,
jambisches Metrum gelegentlich dreisilbige Versfüße eingestreut sind. Für die erste Strophe ergibt
sich dadurch folgendes Schema:
Möglichkeit eröffnet, ein bestimmtes, formal-metrisches Ordnungsschema zu erkennen.)
Der erste Vers der 2. Strophe (2/1: Mein Sohn, was
birgst du so bang dein Gesicht?) enttäuscht jedoch
die Erwartung, hier eine Regel gefunden zu haben,
indem er eine Silbe mehr enthält:
v–/v–/vv–/vv–
(10)
Vers 2/2 und 2/3 sind dann wieder neunsilbig, Vers
2/4 (Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif. – ) dagegen
weist nur acht Verse und damit erstmals ein rein
jambisches Metrum auf:
v–/v–/v–/v–
(8)
Diese rein jambische Form setzt sich fort im anschließenden ersten Vers der 3. Strophe (Du liebes
Kind, komm, geh mit mir), tritt danach aber nie
wieder auf, so daß die mögliche Annahme, hier
habe das Gedicht nun endlich zu seiner metrischen
Grundform gefunden, enttäuscht wird. Statt dessen
werden die Variationen immer vielfältiger, es finden sich mehrere Verse mit elf Silben und am Beginn der 7. Strophe dann sogar einer mit zwölf, bei
dem sich die Frage stellt, ob das metrische Grundschema hier überhaupt noch zu realisieren ist (7/1:
Ich liebe dich, mich reizt deine schöne Gestalt: v –
v – v – v v – v v – oder v – v v – v – v – v v – ?).
Man kann also konstatieren, daß das Gedicht ein
metrisches Schema vorgibt, von dem es dann aber
zunehmend abweicht, oder anders formuliert, daß
es innerhalb des vorgegebenen Schemas von einem
Zustand relativer Ordnung zu einem Zustand relativer Unordnung übergeht.
3. Schritt: Analyse narrativer Verfahren
Neben den poetischen Verfahren Metrum und Reim
bieten sich jedoch noch weitere Segmentierungsund Beschreibungsmöglichkeiten für den Text an
(sie werden später unter dem Stichwort narrative
Verfahren genauer betrachtet; hier zunächst einige
erste Hinweise):
(a) Konfiguration
v–/vv–/v–/v–
v–/v–/vv–/v–
v–/v–/v–/vv–
v–/v–/vv–/v–
(9)
(9)
(9)
(9)
Diese Strophe wirkt recht regelmäßig: alle Verse
bestehen aus 9 Silben, in jedem Vers tritt genau
eine Abweichung vom jambischen Grundrhythmus
auf, und, zumindest in den ersten drei Zeilen,
scheint selbst diese Abweichung einer gewissen
Regelmäßigkeit zu folgen, indem sie gleichsam von
vorne nach hinten durch den Text zu wandern
scheint. (Manche Interpreten hören hier die Hufe
des Pferdes über das Papier galloppieren; mir genügt jedoch die Feststellung, daß der Text die
Eine weitere naheliegende Segmentierung ergibt
sich daraus, daß einzelne Textteile offenbar unterschiedlichen Aussageinstanzen (‚Sprechern‘ bzw.
‚Figuren‘) zuzuordnen sind: einem ‚Erzähler‘ bzw.
einer ‚Erzählerin‘, dem Vater, dem Sohn, dem Erlkönig. Dabei korrespondieren die hier auftretenden
Segmentierungen den bisher entwickelten. Ein
Sprecherwechsel findet nie innerhalb einer Verszeile statt und innerhalb einer Strophe nur nach
bestimmten Regeln:
-
‚Erzählerfigur‘ und (mit einer signifikanten
Ausnahme) ‚Erlkönig‘ sprechen in eigenen
Strophen, ‚Vater‘ und ‚Sohn‘ in gemeinsamen
4
(das könnte wiederum mit einer segmentierenden Charakteristik der Figuren verbunden werden: Vater und Sohn gehören der ‚realen’ Welt
an, der Erkönig einer anderen, mythisch-märchenhaften Welt). Eine Ausnahme bildet hier
lediglich Strophe 7 mit Textanteilen von
‚Sohn‘ und ‚Erlkönig‘; so daß hier wiederum
das bereits beobachtete Prinzip vorliegt, nach
dem der Text eine zunächst etablierte Regel
bricht.
-
samkeitssteigernden ‚Kniff‘ verstehen (eine Strategie der ‚Vergegenwärtigung), jedenfalls deutet die
Vergangenheitsform der letzten Zeile des Textes
darauf hin, daß Erzählen und erzähltes Geschehen
nicht gleichzeitig stattfinden. Aber auch das, was
erzählt wird, besteht aus Kommunikationsakten:
einem Gespräch zwischen Vater und Sohn über den
Erlkönig sowie dessen Anrede an den Sohn.
Jede Figurenrede umfaßt mindestens zwei
gereimte Zeilen (so daß der Reim hier zugleich
die Einheit des Sprechenden markiert); auch
hier gibt es eine signifikante Ausnahme: in
Strophe 2 spricht in Vers 1 der Vater, in Vers 2
und 3 der Sohn, in Vers 4 wieder der Vater.
Aufgrund dieser Regeln scheint also der Text Vater
und Sohn zunächst als Einheit zu etablieren, im
Gegensatz zu den Stimmen ‚Erzähler‘ und ‚Erlkönig‘, die jeweils einzeln bleiben. Strophe 2 charakterisiert diese Einheit von Vater und Sohn als Zusammenfügung zweier ungleicher Elemente: die
Rede der Vaters ‚umklammert‘ die des Sohnes, der
Vater ist ‚außen‘, der Sohn ‚innen‘, womit die semantische Aussage der ersten Strophe (Er hat den
Knaben wohl in dem Arm / Er faßt ihn sicher, er
hält ihn warm) unterstützt wird. Diese Umklammerung ist in Strophe 4 und 6 aufgelöst, die Rede
von Vater und Sohn umfaßt jetzt jeweils zwei gereimte Doppelverse, also eine stärker eigenständige
Untereinheit, bis schließlich in der 7. Strophe, in
der zunächst aufgrund einer weiteren bisher etablierten Regel, nach der sich ‚Vater-Sohn‘- und
‚Erlkönig‘-Strophen abwechseln, erwartungsgemäß
der Erlkönig ‚spricht‘, der Sohn gemeinsam mit
diesem auftaucht, also gleichsam in die ErlkönigStrophe überwechselt. Wieder scheint hier also ein
Zustand relativer Geregeltheit in einen relativer
Ungeregeltheit überzugehen – mit dem Zwischenschritt, daß die Vater-Sohn-Symbiose ab der 4.
Strophe aufgelöst ist.
(b) Sprechsituation und besprochene Situation /
Rahmen- und Binnenhandlung
Anhand der ‚Figuren‘ läßt sich noch eine weitere
Segmentierung vornehmen:
Während der ‚Erzähler‘ oder die ‚Erzählerin‘ das
Geschehen von außen zu betrachten scheint und
neutral – gegenüber einem unbeteiligten Publikum
– darüber berichtet, sind die anderen ‚Sprecher‘ auf
unmittelbarere Weise darin involviert. Sie sind Teil
der Situation, über die – in einer anderen Kommunikationssituation - gesprochen wird. Man könnte
sich das so vorstellen, daß in einer Rahmenhandlung ein Erzähler einem Publikum eine Geschichte
präsentiert, die nur er kennt und die sich an anderem Ort und zu anderer Zeit zugetragen hat – die
einleitende Frage könnte man dabei ebenso wie die
Präsensform der ersten Strophe als einen aufmerk-
(c) Diegetischer Bericht und mimetische Darstellung
Schließlich läßt sich der Text auch noch gemäß
seiner Darstellungsart in zwei Teile unterteilen: in
Strophe 1 und 8 wird von einem Erzähler berichtet,
was geschieht (diegetisch/episch), in Strophe 2, 4
und 6 dagegen ist das Geschehen ausschließlich aus
dem Dialog der beteiligten Figuren zu erschließen
(mimetisch/dramatisch). Gewählt wird hier also
zwischen verschiedenen Möglichkeiten, ein Geschehen zu präsentieren; es wäre ja auch denkbar,
daß in Strophe 2 die Erzählerrede fortgesetzt würde
(„der Vater merkte, daß sein Sohn das Gesicht
verbarg. Das Kind schien ihm ängstlich zu sein, und
so fragte er, wovor es sich fürchten würde...“).
Nicht völlig eindeutig zu bestimmen ist hier jedoch
die Rede des Erlkönigs: spricht hier eine Figur im
Rahmen des dramatischen Dialogs oder wird die
Rede durch jemand anderen wiedergegeben – worauf in der vorliegenden Form die Anführungszeichen verweisen. Durch wen aber spricht dann der
Erlkönig?
****
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Aufgrund der bisher gemachten Beobachtungen
läßt sich zunächst der Text genauer klassifizieren:
es handelt sich um eine Ballade, eine Gedichtform,
die vorwiegend lyrische poetische Verfahren
(Metrum, Strophenform, Reim) verbindet mit dem
Erzählen einer Geschichte, in Form einer Erzählerrede und/oder eines dramatischen Dialogs.
Darüber hinaus finden sich hier die Daten, an die
eine Interpretation des Textes anknüpfen kann.
Auffällig ist dabei, daß aufgrund der gewählten
Darstellungsform einige entscheidende Informationen gerade nicht geliefert werden. Der objektivsachlich erscheinende Erzähler präsentiert nur einige sehr ‚dürre‘ Daten für den Anfang und das
Ende der erzählten Geschichte: ein Vater reitet mit
seinem Kind durch den Wald; als die beiden dann
auf dem Hof ankommen, ist das Kind tot. Der Erzähler beschreibt oder besser benennt also eine
signifikante Differenz zwischen Anfang und Ende,
nämlich die zwischen Leben und Tod. Aber aus
dem, was sich dazwischen entspannt, hält sich der
Erzähler gleichsam heraus. Eine Erklärung für das
Geschehen müssen wir also aus der Rede der Figuren ableiten, und damit stehen wir vor einer
Schranke: Figurenrede ist grundsätzlich perspektivgebunden. Eine Figur gibt nur ihre Sicht der Welt
wieder; sie kann nur die Informationen weitergeben, über die sie selbst verfügt, und sie muß keinesfalls alle Informationen richtig wiedergeben –
Figuren können sich täuschen und sie können andere täuschen wollen.
So liefern Vater und Sohn sehr unterschiedliche
Beschreibungen dessen, was sie sehen und hören,
auch wenn sie sich offenbar auf die gleichen Objekte (den gleichen Referenten) beziehen:
Siehst, Vater, du den Erlkönig nicht?
Den Erlenkönig mit Kron’ und Schweif?
Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif.
Mein Vater, mein Vater, und hörest du nicht,
Was Erlenkönig mir leise verspricht? Sei ruhig, bleibe ruhig, mein Kind;
In dürren Blättern säuselt der Wind. „Erlenkönig mit Kron‘ und Schweif“ und „Nebelstreif“ stehen sich – trotz des Reimes - ebenso
unvereinbar gegenüber wie ein leises Versprechen
und das Säuseln von Wind in dürren Blättern. Die
Beschreibungen stellen also im Grunde selber Interpretationen des Gesehenen und Erfahrenen dar
und sie etablieren zwei verschiedene Modelle von
Welt: einmal existiert die Welt des Erlkönig tatsächlich (für den Sohn), einmal erscheint sie als
Täuschung (für den Vater – oder jedenfalls in der
Welt, wie sie der Vater für den Sohn darstellt).
Nur im ersten Fall bildet der Angriff des Erlkönig
eine akzeptable Begründung für das Ende. Nun geht
man aber – in der Regel zu recht – davon aus, daß
die in literarischen Texten dargestellten Welten im
wesentlichen der ‚normalen‘ Welt entsprechen, so
lange keine deutlichen gegenteiligen Signale gegeben werden (wie beispielsweise im Märchen oder
in der phantastischen Literatur). Setzt man ein dominant naturwissenschaftlich-rationales Weltbild
voraus, dann wird man nach einer Ursache für den
Tod des Kindes suchen müssen, die mit einem
solchen Weltbild vereinbar ist; etwa die Vorstellung, der Knabe habe Fieber, was sowohl seinen
Tod als auch ein vorangehendes Phantasieren erklären kann (allerdings eine ganze Reihe weiterer
Frage offenläßt: ist der Knabe schon von Anfang an
krank oder wird er es erst auf dem Ritt – und vielleicht sogar durch diesen? warum sind die beiden
nachts unterwegs?)
Mit der Erklärung, daß der Sohn Fieber habe, wird
der Gegensatz einer rational-naturwissenschaftlichen und einer märchenhaft-phantastischen Welt
(der Welt des erwachsenen, vernünftigen Mannes
und des noch an Märchen glaubenden und obendrein fieberden Kindes) aufgelöst. An seine Stelle
tritt nun die Vorstellung, daß es eine Entsprechung
geben könnte zwischen der Düsternis des Waldes
und den Fantasie-Bildern des Kindes, daß also
äußere und innere Natur (Wald und Fieber-Fantasie) sich zu überlagern scheinen. Diese Parallelisierung setzt sich fort in den (in einigen der Wörterbücher gefundenen) Deutungen, die nicht (allein)
von einem körperlichen Fieber, sondern von einer
inneren Triebnatur des Knaben ausgehen (seiner
erwachenden Sexualität). Damit entstünde eine
Isotopie-Ebene zwischen dem Menschen als
Naturwesen und dem Wald als Naturraum.
Allerdings kann man einer solchen – vereindeutigenden – Interpretation entgegenhalten, daß der
Text selbst durch eine raffinierte Konstruktion die
entscheidende Frage gerade offenläßt: die Frage,
wie der Erlkönig sich im Text manifestiert. Er ist
weder der Rede des Erzählers zuzuordnen, noch
dem dramatischen Dialog. Es ist allein der Sohn,
der über den Erlkönig spricht, aber kann er es auch
sein, der für ihn spricht? Wer spricht, wenn der
Erkönig spricht: eine Stimme, die nur der Sohn
hören kann, eine Stimme, die nur der Vater nicht
hören kann (oder will), eine Stimme, die einer äußeren, realen oder irrealen, Aussageinstanz zuzuschreiben ist, eine innere Stimme des Sohnes (die
Stimme seines Unterbewußten), die durch eine
andere Instanz (den Erzähler? den Sohn?) zitiert
wird?
Mit (dem) Erklönig steht nicht nur ein Begriff im
Zentrum des Textes, der im Sprachsystem der Zeit
nicht eindeutig zu bestimmen ist, sondern auch eine
Aussageinstanz von äußerst prekärem Status, d.h.
eine Aussageinstanz, von der nicht auszumachen
ist, welche Art von Realität ihm zukommt.
Eben diese Stimme nimmt aber schon rein quantitativ den größten Redeanteil im Text ein: auf den
Erzähler entfallen 8 Verse, auf den Sohn ebenfalls
8, auf den Vater 6, auf den Erlkönig 10. Noch auffälliger ist die qualitative Differenz der Attribute,
6
die den jeweiligen Welten des Vaters und des Erlkönigs zugeschrieben werden:
Kron und Schweif
Nebelstreif
bunte Blumen
dürre Blätter
Strand
alte Weiden
gülden Gewand
"scheinen grau"
wiegen, tanzen, singen
ruhig
schöne Spiele
bang
schön
(in der Erzählerrede:)
Töchter
sicher
Mutter
warm
liebes Kind
feiner Knabe
Reihen
düstern Ort
Gewalt
Leids
Alle Ausdrücke in der linken Spalte werden vom
Erlkönig oder über ihn bzw. im Zusammenhang mit
ihm geäußert, die auf der rechten Spalte dagegen
vom oder über den Vater.
Auch wenn die linke Spalte mit ‚Düsternis‘, ‚Gewalt‘ und ‚Leid‘ negative Attribute enthält, verweist sie doch sehr viel stärker als die rechte auf
das semantische Feld (die Isotopie) ‚Leben‘ (in
seinen positiven wie negativen Aspekten), während
die rechte Spalte mit ‚dürre Blätter‘ und ‚alte Weiden‘ kaum übersehbare Konnotationen von Erstarrung, Leblosigkeit und Tot aufruft – eine Welt, aus
der mit den Gefährdungen des Lebens auch die
Freuden ausgeschlossen sind.
Zusammenfassend läßt sich also sagen: es wird eine
Geschichte erzählt, in der es um einen Übergang
von einem Anfangszustand zu einem Endzustand
geht; die vom ‚Erzähler‘ präsentierte Rahmenhandlung bestimmt diese Zustände sehr grundlegend als Leben und Tod. Die Binnenhandlung aber
präsentiert ein System von Oppositionen, die nicht
unmittelbar mit diesen Zuständen identifizierbar
sind:
•
•
•
•
•
•
•
Phantasie vs. Verstand (in den Wahrnehmungsweisen von Sohn und Vater);
Mythos/ Märchen vs. Rationalität;
lebendige (verlebendigte, vermenschlichte,
anthropomorphisierte) vs. tote Natur („Kron
und Schweif“ vs. „Nebelstreif“);
Verschwendung, Überfluß, Reichtum (sowohl
materiell: Gold, als auch habituell: Gesang,
Tanz, Spiel) vs. Nüchternheit;
Unbekümmertheit vs. Sorge;
Gefahr vs. Sicherheit; bunt vs. grau;
Kindheit vs. Erwachsensein.
Diese letzte Opposition ist nun selbst, ebenso wie
die von Leben und Tod, temporalisierbar, das heißt,
sie kann als eine Geschichte beschrieben werden,
die vom Übergang von einem Ausgangszustand
‚Kindheit‘ zu einem Endzustand ‚Erwachsensein‘
erzählt. Die Möglichkeit, eine ganze Reihe der
‚Versprechungen‘ des Erlkönigs sexuell zu konnotieren, legt tatsächlich nahe, daß das Kind sich in
einer Schwellensituation befindet, dem mit dem
Erwachen seiner Sexualität verbundenen Ende der
Kindheit. Aber damit ist die Frage keineswegs
gelöst, was die Parallelisierung dieser Grenze mit
der zwischen Leben und Tod zu bedeuten hat: stirbt
das Kind, weil es sich nicht aus der Welt seiner
Kindheit lösen kann oder will, stirbt es, weil es sich
nicht aus dieser Welt lösen darf (das heißt, weil der
Vater es nicht aus seiner Umklammerung und damit
nicht in die Unabhängigkeit einer autonomen Existenz entläßt), stirbt es, weil es die (Vernunft-) Welt
der Erwachsenen zu spät oder weil es die (Trieb-)
Welt der Erwachsenen zu früh erreicht? Stirbt vielleicht nur das Kind, indem es doch in der Welt der
Erwachsenen angelangt, dabei aber einen Teil seiner Existenz (die Phantasie) verliert? Die verschiedenen Oppositionspaare und die keineswegs eindeutigen narrativen Vermittlungen zwischen den
jweiligen Polen (die Geschichten, die vom Anfangs- zum Endpunkt führen) eröffnen eine ganze
Reihe von Deutungsmöglichkeiten, die das Geschehen bildhaft (bzw. figurlich; dazu mehr in der
folgenden Vorlesung) auslegen; etwa
-
daß der sachlich klassifizierende Verstand des
Vaters die Phantasie des Kindes tötet
-
oder daß das Kind sich in seine eigene, hyperaktive Phantasie verstrickt und dadurch nicht
mehr in die wahre Welt zurückfindet
Vor allem diese zweite Deutung würde die eigentlich irritierende Tatsache, daß die Welt des Todes,
in die das Kind hinübergleitet, mit äußerst ‚lebendigen’ Attributen ausgestattet ist, dadurch bewältigen, daß eine weitere zentrale Opposition eingeführt wird:
•
Schein (falsche Versprechen des Erlkönigs) vs.
Sein (wahre Welt des Vaters)
Nur: eine klare Aussage dazu findet sich im Text
nicht.
Diesen scheinbar frustrierenden Befund könnte man
nun aber selbst zur Grundlage einer Interpretation
machen. Schließlich stellt der Text selbst verschiedene Interpretationen der Welt einander gegenüber.
Und er gibt zumindest an einer Stelle einen Hinweis
darauf, daß es sich auch bei der scheinbar so objektiven Weltsicht des Vaters um eine Deutung handeln könnte:
„Mein Sohn, mein Sohn, ich seh‘ es genau;
Es scheinen die alten Weiden so grau. -“
So „genau“ diese Äußerung zu sein scheint, enthält
sie doch an entscheidender Stelle eine Mehrdeutigkeit: das Wort „scheinen“ ist polysem – einerseits
kann es in etwa die Bedeutung von „leuchten“,
„schimmern“, „blinken“ haben (Lichtschein), andererseits kann es als Verb zu „anscheinend“,
7
„scheinbar“ gebraucht werden (Anschein). Hier ist
offenbar zunächst die erste Bedeutung (Schein im
Sinne von Sichtbar-Werden, Sichtbar-Sein) naheliegender, allerdings ergibt sich dann in der Kombination mit „grau“ eine gewisse Irritation. „Grau“ ist
eher das Gegenteil von „scheinend“, „schimmernd“, „leuchtend“; die Kombination ‚grau
leuchtend‘ ist zumindest ungewöhnlich. Es könnte
also auch sein, daß doch nur graue Weiden da zu
sein scheinen, wo tatsächlich Erlkönigs Töchter
spielen. Die Äußerung selbst ist also keineswegs so
genau, wie der Vater behauptet. Auch da, wo die
Sprache rein sachlich-beschreibend ist, läßt sie
unterschiedliche Interpretationen zu; damit aber ist
die Grenze zwischen der rationalen und der phantasiegeleiteten Weltsicht und Weltinterpretation nicht
mehr so absolut. Nicht Schein und Sein stehen einander gegenüber, sondern verschiedene, grundsätzlich gleichberechtigte Interpretationen.
Der Versuch, eine solche Uneindeutigkeit aufzuheben, führt nicht zu mehr Genauigkeit, sondern nur
zu einer schlechter erkennbaren Ungenauigkeit. In
diesem Sinne kann man auch das auf mehreren
Ebenen beobachtete Spiel verstehen, in dem der
Text Ordnungsschemata aufbaut, um dann sofort
wieder dagegen zu verstoßen.
Die mit der Sprache selbst gegebene Unsicherheit
korrespondiert weiterhin der anfangs konstatierten
Denotatlosigkeit des zentralen Begriffs „Erlkönig“:
während der eine Begriff (Erlkönig) quasi zu wenig
an Bedeutung aufweist, besitzt der andere (scheinen), zu viel – zwei Optionen, zwischen denen
Sprache sich grundsätzlich bewegt. Anders, im
Sinne Roman Jakobsons, formuliert: neben der
referentiellen Funktion ist immer mit weiteren
Funktionen zu rechnen, insbesondere auch mit der
poetischen.
Hinweise zur Metrik
Die Metrik beschreibt rhythmische Wiederholungsstrukturen (Rekurrenzschemata), d.h. die regelmäßige Wiederkehr eines bestimmten Wechsels von
betonten und unbetonten Silben, unabhängig davon,
welche konkreten Worte gebraucht und was ausgesagt wird.
Versfuß: kleinste metrische Einheit, beruhend auf
einer geregelten Abfolge von Hebung/Länge/Betontheit und Senkung/Kürze/Unbetontheit (Notation: – = betonte
Silbe, Hebung; v = unbetonte Silbe, Senkung)
zweisilbige Versfüße:
Jambus
v–
Trochäus – v
Spondeus – –
dreisilbige Versfüße:
Daktylus – v v
Anapäst
vv–
Versmaß: ergibt sich aus der Reihung von Versfüßen in einer Verszeile. Einige der gebräuchlichsten
Beispiele:
Blankvers (jambischer, fünfhebiger Vers):
v– v– v– v– v–
[...]
So great an object. Can this cockpit hold
The vasty fields of France? Or may we cram
Within this wooden O the very casques
That did affright the air at Agincourt?
[...]
Solch großen Vorwurf. Diese Hahnengrube,
Faßt sie die Ebnen Frankreichs? Stopft man wohl
In dieses O von Holz die Helme nur,
Wovor bei Agincourt die Luft erbebt?
[W. Shakespeare: Herny V; dt. Übersetzung von
A.W. Schlegel]
Ins Nichts mit dir zurück, Herr Prinz von Homburg,
Ins Nichts, ins Nichts! In dem Gefild der Schlacht,
Sehn wir, wenns dir gefällig ist, uns wieder!
Im Traum erringt man solche Dinge nicht!
Nun, o Unsterblichkeit, bist du ganz mein!
[Heinrich von Kleist, Prinz Friedrich von Homburg]
Alexandriner (jambisch-sechshebig, mit einer Zäsur
nach der 6. Silbe, im klassizistischen Drama paarweise gereimt):
v–v–v–/v–v–v–
Die du mit ewger Glut, mich Tag und Nacht begleitest
Mir die Gedanken füllst und meine Schritte leitest
O Rache wende nicht im letzten Augenblick,
Die Hand von Deinem Knecht. Es wägt sich mein Geschick
Mit unsern Weibern auch, ist es ein übel Spiel
Sie haben nie kein Geld und brauchen immer viel.
(Johann Wolfgang Goethe, Das Jahrmarktsfest zu
Plundersweilern, 2. Fs.)
Hexameter: sechsfüßiger Daktylus, am Ende unvollständig (= "katalektisch"):
–v(v) –v(v) –v(v) –v(v) –vv –v
Schwindelnd trägt er dich fort auf rastlos strömenden Wogen,
Hinter dir siehtst du, du siehst vor dir nur Himmel und Meer
[Friedrich Schiller: Der epische Hexameter]
Pentameter: sechsfüßiger Daktylus mit zwei Katalexen im dritten und sechsten Fuß:
– v (v) – v (v) – – v v – v v –
Knittelvers, vierhebig, mit männlicher und weiblicher Kadenz, Füllungsfreiheit:
8
Werd's rühmen und preisen weit und breit
Daß Plundersweilern dieser Zeit
Ein so hochgelahrter Docktor ziert
Der seine Collegen nicht cujoniert
[Johann Wolfgang Goethe: Das
Jahrmarktsfest zu Plundersweilern]
Strophe: Aus der Kombination von Versen ergeben
sich Strophenformen, so beispielsweise das
Distichon: ein Hexameter gefolgt von einem
Pentameter:
Kadenz: Bei Versen, die mit einer betonten Silbe
enden, spricht man auch von "männlichem" Versschluß, bei unbetontem Ende von "weiblichem";
entsprechend bei reimenden Versen von "männlichem” und "weiblichem” Reim. Wenn nur eine
unvollkommene vokalische oder konsonantische
Übereinstimmung der Reimsilben vorliegt, spricht
man von "unreinen Reimen” (Himmel - Schimmer;
gehn - schön).
Im Hexameter steigt des Springquells flüssige Säule,
Im Pentameter drauf fällt sie melodisch herab.
[Friedrich Schiller: Das Distichon]
Literaturhinweise:
Gedichtformen (z.B. Hymne, Elegie, Ode, Stanze,
Ghasel, Ballade, (Volks-) Lied): Bestimmte
Gedichtformen können durch festgelegte Kombinationen von Vers-/Strophenformen definiert sein;
z.B. Sonett:
•
-
•
-
14 Verszeilen
verteilt auf 4 (2) Strophen:
- 2 x 4 Zeilen (2 Quartette)
- 2 x 3 Zeilen (2 Terzette)
vor allem im Barock gelten weitere Kriterien,
etwa ein spezielles Reimschema:
- a – b – b – a in den Quartetten
- cdcdcd; ccdede; cdcdee in den Terzetten
- bevorzugtes Versmaß: Alexandriner
- zumeist antithetischer Aufbau (das letzte
Terzett bringt eine entscheidende semantische Wendung)
Die Kriterien können jedoch auch allgemeiner sein,
so gilt etwa für das (Volks-)Lied nur die Forderung,
daß es irgendein wiederkehrende Schema aufweisen
muß; für die Ballade kommt dann etwa als anderes
Definitionskriterium die Existenz einer (epischen)
Narration, einer Geschichte dazu.
Reimtypen: Strophen- und Gedichtformen können
zugleich durch bestimmte Reimschemata gekennzeichnet sein, z.B.
Paarreim: a - a - b - b
Kreuzreim: a - b - a - b
umarmender Reim: a - b - b - a
Kettenreim: a-b-a/b-c-b oder a-b-a/c-b-c
verschränkter Reim: a - b - c - d / a - b - c - d
Binnenreim: Neben solchen Endreim-Formen gibt
es auch Reime im Versinneren ("Sie blüht und glüht
und leuchtet”; Heinrich Heine, "Die Lotusblume”).
Alliteration: eine Variante des Reims, bei der der
Gleichklang nicht am Wortende, sondern am Anfang steht, beispielsweise im Stabreim:
Winterstürme wichen
dem Wonnemond,
in mildem Lichte
leuchtet der Lenz
(Richard Wagner, "Der Ring des Nibelungen”)
•
•
Hans-Werner Ludwig (Hg.): Arbeitsbuch
Lyrikanalyse, 2. Aufl. Tübingen 1981
Dieter Breuer: Deutsche Metrik und
Versgeschichte, München 1981
Christian Wagenknecht: Deutsche Metrik. Eine
historische Einführung, München 1981
Otto Knörrich: Lexikon lyrischer Formen,
Stuttgart 1992