Vollständige Rezension von Ina Juckel

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Vollständige Rezension von Ina Juckel
Bjarne Riiser Gundersen & Poul Erik Tøjner: Skrik. Historien om et Bilde
Oslo: Forlaget Press, 2013, 415 S., ISBN: 9788275473200 (Sprache: Norwegisch).
Edvard Munchs Der Schrei zählt gegenwärtig wohl zu den teuersten und fortdauernd
wirkungsmächtigsten Bildern der Welt. Es hat zweifelsohne einen ikonischen Status erlangt;
gleichzeitig wird es von manchen wie ein Fetisch begehrt und damit auf gewisse Weise inhaltlich
entleert.
Um diesen beiden Betrachtungsweisen des Bildes und seiner Geschichte selbst auf den Grund zu
gehen, haben sich der Journalist und studierte Ideenhistoriker Bjarne Riiser Gundersen und der
Kunstkritiker und Leiter des Louisiana Museum of Modern Art Poul Erik Tøjner tief in die Faszination
von Der Schrei hineinbegeben. Sie haben versucht, den Facettenreichtum des Bildes zu ergründen
und dessen Tiefe wiederherzustellen. Um der Verflachung von Interpretationen etwas
entgegenzusetzen, sind sie beide sowohl inhaltlich als auch stilistisch vielfältig vorgegangen. So
haben sie sich abwechselnd journalistisch, (kunst)historisch und essayistisch Aspekten wie der
Bildentstehung, der Rezeption, der Popularisierung, der Medialisierung uvm. gewidmet und schaffen
es, kritische Blicke auf die nivellierte Wahrnehmung des Bildes zu werfen.
Bereits zu Beginn des Buches, das bislang ausschließlich in norwegischer Fassung verfügbar ist, bringt
Poul Erik Tøjner die Besonderheit von Der Schrei gut auf den Punkt: „…verket handler om deg“ („In
diesem Werk geht es um dich.“; S. 15). Die Frage, ob der Betrachter das Gezeigte eigentlich selbst
erlebe oder ein Erlebnis sehe, folgt wenig später – wie man diese beantworten mag, möge jeder für
sich entscheiden, auch wenn Poul Erik Tøjner letzteres bekräftigt. Es scheint zumindest eine starke
Wirkung von diesem Bild auszugehen, die nicht zuletzt in seiner ebenso beeindruckenden
Bildsprache begründet ist. Mit dieser, so argumentiert Poul Erik Tøjner, hat sich Munch einen Platz in
der Kunstgeschichte verschafft, wobei hier auch die Motivreihe des Lebensfrieses zu bedeuten sei, in
der Der Schrei einen wichtigen, allerdings nicht zwingend hervorragenden (im eigentlichen Sinne)
Bestandteil ausmacht. Bjarne Riiser Gundersen vergleicht das Verhältnis des Lebensfrieses zu Der
Schrei mit dem einer Sinfonie zu einer Partitur. Und genau hier wird es interessant, denn wie Bjarne
Riiser Gundersen hervorhebt, geht es im Bild um den Laut, genauer den Schrei der Natur, der die
Figur in die angsterfüllte, verstörte Haltung versetzt und sie ihre Ohren zuhalten lässt. Das Gehör und
der Laut haben insofern eine vorrangige Stellung gegenüber dem Sinn der Sicht. Letztere spielt keine
große Rolle, denn vielmehr überträgt sich die Intensität der Angst mittels der zentralen Figur, die
dieses durchdringende Gefühl wie ein Klangkörper an den Betrachter weitergibt.
Dass diese ureigene kommunikative Kraft, die einem Imperativ nahekommt, eine enorme Wirkung
ausübt, die sich – oft fernab von Ästhetik – besonders gut in der Werbeindustrie nutzen lässt,
zeichnen die beiden auf unterhaltsame Weise nach. Ebenso spannend werden die beiden Diebstähle
in den Jahren 1994 und 2004 rekonstruiert, wobei hier eine detaillierte Recherche durchgeführt
wurde, die in ihrer Gründlichkeit wirklich beeindruckend ist. Diese Präzision ist auch der Sprache
beider eigen. Besonders Bjarne Riiser Gundersen vermag es, geschickt und mit einer gewissen
Leichtigkeit den Spannungsbogen aufzubauen, der sich anno 1994 beim ersten Raub von Der Schrei
durch die konkurrierende Sport- und Kunstmanie befeuert entwickelt hatte. Da zur gleichen Zeit in
Lillehammer die Olympischen Winterspiele stattfanden und der Fokus der Sicherheitsbehörden
weniger auf Oslo als auf der Olympischen Spielstätte lag, wurde die Polizeikraft nahezu ausgehebelt.
Diese Tatsache gab dem Dieb Pål Enger die Gelegenheit, sich fast unbeachtet in der Nationalgalerie
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in Oslo Der Schrei anzueignen. Dass es sich weder beim ersten Dieb, Pål Enger, noch beim zweiten,
Petter Tharaldsen, nach deren Selbstauffassung um kriminelle Grobiane, sondern offenbar um
Bewunderer des Motives handelte, die selbst später künstlerisch arbeiteten, wird hier näher
beleuchtet. Dabei untersuchen die beiden Autoren auch die mit den Diebstählen verbundene
Berichterstattung, Polizeiarbeit und öffentliche Meinung.
Doch die Bekanntheit des Bildes ist nicht erst durch die Diebstähle immens geworden, sondern hat
auch nach dem anfänglichen Skandal in der Ausstellung des Vereins Berliner Künstler 1892 weitere
Hochphasen erlebt. Besonders in den 1950er Jahren symbolisierte Der Schrei in seiner Darstellung
existenzieller Angst eben genau selbige, die den Beginn des Atomzeitalters prägte. In den 1960er
Jahren hingegen wurde das Motiv gleichsam ikonisch, stand es doch für die Freiwerdung des
Individuums und zugleich für die damit verbundene Unsicherheit des Einzelnen. Hier schwingen
bereits deutlich sowohl Utopie als auch Dystopie mit, die dieses Bild denkbar und fühlbar macht.
Wahrscheinlich ist nicht zuletzt dadurch sein Platz auf dem Cover des Time Magazine 1961 so
kennzeichnend für die Entwicklungen und Sorgen dieser Zeit.
Poul Erik Tøjner widmet sich in einem weiteren Kapitel der Frage, was wir denn eigentlich auf diesem
Bild sehen. Entgegen der geläufigen Auffassung, es handle sich um eine Frau (das allerdings nicht
zwingend), die schreie, liege der Fokus vielmehr auf den Ohren, die sich das zentrale Wesen im Bild
zuhält. So figuriert – weitergedacht – dieses als Resonanzkörper, der den Schrei der Natur in seiner
Intensität an den Betrachter überträgt. Nachfolgend führt Bjarne Riiser Gundersen die oben bereits
erwähnte Verbindung zum Laut fort und stellt die interessante These auf, dass Der Schrei einem
Gesamtkunstwerk gleichkomme, so wie es die Oper tue: Hier verschmelzen sinnliche Eindrücke und
zehren von der Malerei, Dichtung (s. Munchs Gedicht zum Bild), dem Drama und der Sinfonie.
Besonders der Vergleich zur Musik ist meines Erachtens ein denkwürdiger Punkt in der Deutung des
Bildes, der es synästhetisch (auf)wertet und seiner Komplexität den nötigen (Frei)Raum gibt.
Neben den anregenden Erörterungen zur Bildrezeption beschäftigen sich Poul Erik Tøjner und Bjarne
Riiser Gundersen in ihrer gemeinsamen Arbeit mit den Einflüssen vor und nach der Entstehung dieses
ikonischen Bildes und mit seiner Wiederaufnahme durch andere Künstler. Insbesondere durch Andy
Warhols Zitat erreichte Der Schrei eine weitere Ebene in seiner Reproduzierbarkeit, die durch die
anfänglichen Druckversionen Munchs ohnehin dem Bild eigen war. Gleichfalls verfolgen sie den Weg
der Wertsteigerung, den das Bild seit seiner Entstehung erfuhr: So war dieser von 1910 bis 2006
allein um 16 Mio. % gestiegen! Zweifelsohne gehört eben auch dieser Aspekt zu der Berühmtheit und
Popularität dieses Bildes, der es „massekulturens kollektive blikk“ (Bjarne Riiser Gundersen, S. 349),
soll heißen dem „kollektiven Blick der Massenkultur“, aussetzt. Die Kritik Bjarne Riiser Gundersens
richtet sich dabei vorrangig gegen die Entkontextualisierung: Allzu oft ‚figuriert‘ das Wesen
alleinstehend und entfremdet, und gleicht damit Baudrillards simulacrum, das als Kopie, jedoch ohne
weiteren Bezug auf das Original existiere. Die teils stark entleerte Stelle, die das Wesen dann noch
einnimmt, kann zwar Potenzial zum Bedeutungsgewinn bereithalten, andererseits diesem auch
vollkommen entgegenstehen.
Eine Vereinseitigung nicht nur des Bildes, sondern auch des Künstlers durch eine Beschränkung auf
dieses eine, wenn auch ikonische Bild, widerstrebt beiden Verfassern und ist letztlich auch Anlass
gewesen, es zu rehabilitieren. Dies ist ihnen mit bildreicher, geschliffener Sprache in pointierten und
anregenden Erörterungen und Entdeckungen gelungen. Die rund 400 Seiten sind, ergänzt durch eine
besondere Auswahl von Abbildungen, ein Lese- und Denkvergnügen und laden ein, selbst
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herauszufinden, wie ihr Fazit zu Der Schrei auf den Betrachter des Bildes und Leser des Buches
persönlich wirkt, nämlich als Eingriff und ein Bild, das sich förmlich und inhaltlich aufdrängt, ob man
es will oder nicht.
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