- Vincent Systems GmbH

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10 2011
MEDIZIN Was der erste deutsche Männergesundheitsbericht verrät +++ Seite 14
ASTRONOMIE Sonnenlose Planeten auf Irrflug durchs All +++ Seite 58
TITEL IBIONISCHE PROTHESEN
>> Technik & Kommunikation
TITEL
DER MENSCH
WIRD NEU ERFUNDEN
Ein Arm muss nach einem Unfall amputiert werden, ein
Fuß geht durch eine Diabetes-Erkrankung verloren – die
Betroffenen empfinden solch eine Nachricht als Horror.
Doch moderne Prothesen können die Folgen des Verlusts
von Gliedmaßen mildern und Menschen nach einer Amputation das Leben im Alltag deutlich erleichtern. Sie sind
sehr beweglich, passen sich von selbst an die Gegebenheiten beim Gehen oder Greifen an und lassen sich ohne
Mühe steuern – teils allein per Gedankenkraft. Besonders
nützlich für gehbehinderte Menschen sind Exoskelette,
die als neues Instrument in der Reha dienen können.
Doch nicht nur fehlende Beine, Arme oder Hände rufen
Entwickler von innovativen Prothesen auf den Plan. Auch
Blinde können ihr Augenlicht teilweise wiedererlangen:
dank eines Chips unter der Netzhaut, den Forscher in
Tübingen geschaffen haben.
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DAS BEIN DENKT MIT
Mit modernen bionischen Prothesen kann man gehen
oder greifen wie mit natürlichen Beinen oder Händen.
Seite 104
EBERHART ZRENNER – DER VISIONÄR
Der Tübinger Augenarzt hat einen Mikrochip entwickelt,
der blinde Menschen wieder etwas erkennen lässt.
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REHA AUF INSEKTENART
Mit panzerartigen Skeletten, die um den Körper getragen
werden, laufen Querschnittsgelähmte wieder.
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bild der wissenschaft 10 | 2011
Vollgas trotz Behinderung: Die Amputation eines
Arms oder Beins muss heute niemanden mehr aus
der Bahn werfen. Moderne Prothesen ermöglichen
ihren Trägern – nach einiger Zeit der Gewöhnung und
des Trainings –, den Alltag weitgehend genauso zu
meistern wie vor dem Verlust der Gliedmaßen. Selbst
sportliche Höchstleistungen sind mit den technisch
ausgefeilten Hightech-Kunstgliedern möglich.
möglich.
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M. Svoboda/Vetta/Getty Images
bild der wissenschaft 10 | 2011
TITEL BIONISCHE PROTHESEN
DAS BEIN DENKT MIT
Mit modernen Prothesen können Amputierte laufen
oder greifen – fast wie mit natürlichen Beinen oder Händen.
Einige dieser Hightech-Hilfen lassen sich sogar
allein durch Gedankenkraft steuern.
von Uta Deffke
Und nun: „Das eine Geburtshaus mit dem
anderen verbunden“, schreibt er in seinem
Internet-Tagebuch. Seine Motivation: „Ich
möchte etwas für meine Gesundheit tun
und anderen Amputierten Anstoß geben,
sich mehr zu bewegen.“ Er lud über seine
Homepage zum Mitwandern ein, besuchte
unterwegs Sanitätshäuser und hielt Vorträge. Das erste Jahr nach der Amputation hatte er selbst fast ausschließlich im Rollstuhl
verbracht – weil es bequem war. Dann
machten ihm seine Vermieterin und sein
Orthopädietechniker regelrecht Beine und
animierten ihn, doch wieder zu gehen und
sogar zu wandern. Und so wurde er zum Pilger in Sachen Prothesen.
KOMPAKT
·
·
·
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Bei der Entwicklung neuer Kunstglieder
imitieren die Forscher die natürliche
Biomechanik des menschlichen Körpers.
Miniaturcomputer messen Körperbewegungen und regeln danach die Prothese.
Fluidische Gelenke sorgen für extrem
hohe Beweglichkeit.
bild der wissenschaft 10 | 2011
Zwölf Kilometer legte er im Schnitt am Tag
zurück, über Stock und Stein, Wurzeln und
Waldwege. Schon kleine Hindernisse oder
abschüssige Strecken können bei einem
solchen Marsch mit einer Prothese zum
Problem werden, wenn das künstliche Knie
unkontrolliert wegknickt. Die Angst zu
stolpern ist ein ständiger Begleiter. Doch
Zahns neues Bein bewegt sich fast so
flüssig wie sein eigenes, und es ist sehr aufmerksam. Es denkt quasi mit. Das Hirn
sitzt unterhalb des Knies: ein Mikroprozessor. Der verarbeitet die Informationen, die
Sensoren über den aktuellen Kniewinkel,
die Geschwindigkeit des Beins und die
Belastung des Fußes liefern. Daraus schließt
der Chip auf die momentane Gangphase
und berechnet die Steuersignale für einen
hydraulischen Dämpfer, der den schwingenden Unterschenkel abbremst und das
Knie nach Bedarf stabilisiert. „Ich weiß, ich
kann mich auf das Bein verlassen, und ich
kann viel natürlicher laufen als mit einer
mechanischen Prothese“, sagt Zahn. Doch
er hat auch lange dafür kämpfen müssen:
Erst nach dreimaligem Widerspruch genehmigte ihm die Krankenkasse das rund
26 000 Euro teure künstliche Bein.
WEDER STELZE NOCH PIRATENHAKEN
„C-Leg“, Computerized Leg, hat das Medizintechnik-Unternehmen Otto Bock diese
Hightech-Prothese mit eigener Ästhetik
getauft: Schienbein und Wade in metallischem Look verbergen die technischen
Komponenten. Eine kosmetische Hülle ist
möglich, aber gar nicht immer erwünscht.
Künstliche Gliedmaßen haben längst das
Stadium der „Holzbeine“ verlassen. Was
vor Jahrhunderten mit Stelzen und Piratenhaken begann, hat sich über bewegliche
Knie- und Armprothesen mit einfachem
Dreifingergriff zu einer Hightech-Disziplin
entwickelt. Mit zunehmender Miniaturisierung und Leistungsfähigkeit elektronischer Komponenten sind intelligente Prothesen möglich geworden, die sich mit Sensoren und Mikroprozessoren selbst steuern
oder über Muskel- und Nervenimpulse
quasi per Gedanken steuern lassen.
DEN MENSCHLICHEN KÖRPER IMITIEREN
„Wir wollen den restlichen Körper entlasten und die verloren gegangenen Funktionen sowie das Erscheinungsbild so gut wie
möglich und mit vertretbarem Aufwand
wiederherstellen“, sagt Erik Laatsch, Leiter
der Elektronikentwicklung bei Otto Bock.
„Der Natur auf der Spur“ lautet dabei die
Devise. Doch das faszinierende Zusammenspiel von Knochen, Muskeln, Sehnen und
Nerven, das dem Menschen so vielseitige,
elegante und energiesparende Bewegungen
ermöglicht, lässt sich nicht eins zu eins
nachbauen. Dazu ist es zu kompliziert. „Wir
können nur versuchen, die Biomechanik
möglichst gut zu verstehen und ihre Funktionsweise mit immer besseren technischen Mitteln zu imitieren“, sagt Laatsch.
Im Testlabor herrscht Geisterstimmung.
Ein Computerbein ist auf einsamer Wanderschaft. Eingespannt zwischen Sensoren
und einer beweglichen Bodenplatte macht
es in unverdrossenem Gleichtakt drei Millionen Schritte – so viele, wie der Mensch
im Durchschnitt in fünf Jahren läuft. So
lange soll eine Prothese mindestens halten.
Das entspricht einem Marsch von Madrid
Beinlos auf Rekordkurs: Der Südafrikaner
Oscar Pistorius gewann auf Prothesen drei
Läufe bei den Paralympics 2008. Und er
qualifizierte sich 2011 als erster Behinderter
für die Leichtathletik-Weltmeisterschaft.
A. Matthews/picture-alliance/empics
1024 KILOMETER FUSSMARSCH liegen hinter
ihm, als Roland Zahn am 6. Juli 2011 vor der
Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik Tübingen einläuft – bei bester Gesundheit. 104
Tage war der 74-jährige Stuttgarter seit dem
Start in seiner Geburtsstadt Leipzig unterwegs. Er wollte zeigen, dass er so weit
laufen kann, auch ohne sein rechtes Bein.
Nach einer Venenentzündung mit Blutvergiftung konnten die Ärzte der Tübinger
Klinik sein Leben nur durch eine Amputation retten. Im Nachhinein erscheint das
Roland Zahn wie ein zweiter Geburtstag,
auf den Tag genau vor fünf Jahren.
TITEL BIONISCHE PROTHESEN
www.bewegung-hilft-dir.de
Flüssigkeit macht flexibel:
In die KIT-Fluidhand – die
Vorstudie einer bionischen
Handprothese – sind acht
miniaturisierte HydraulikAntriebe integriert, direkt
in die Finger. Sie sorgen
für einen weichen, aber
sicheren und festen Griff.
nach Moskau. Auf halber Strecke, in Duderstadt, tüfteln Otto Bocks Ingenieure und
Informatiker in enger Kooperation mit
Medizinern und Orthopädietechnikern an
immer besseren Prothesen.
SCHUB DURCH ZWEI WELTKRIEGE
30 Kilometer schlängelt sich der Bus von
Göttingen durch den Vorharz, nahe an die
ehemalige Zonengrenze. Hierher, in die einsame Mitte Deutschlands, hat es das 1919
gegründete Unternehmen nach dem Zweiten Weltkrieg vom thüringischen Königsee
verschlagen. Mittlerweile ist es weltweit
tätig und gehört international zu den führenden Herstellern von MedizintechnikProdukten. Nicht zuletzt die beiden Weltkriege haben die Entwicklung hochwertiger
Körperersatzteile vorangetrieben. Heute werden in Deutschland vor allem Patienten versorgt, die wegen Durchblutungsstörungen,
durch Unfälle oder Tumore Hand, Arm, Fuß
oder Bein verloren haben. Die Amputierten
können mit ganz unterschiedlichen Prothesensystemen versorgt werden, je nach
ihrem Bedürfnis nach Mobilität. Manche
gehen nur noch kurze Strecken, andere
wollen und können sogar Sport treiben.
Damit die Bewegung des künstlichen Beins
so natürlich wie möglich gelingt, analysieren
die Entwickler ausgiebig die Gangphasen:
Welche Kräfte wirken, wie schwingt das
Bein, wann setzt der Fuß auf, und wie
muss das Bein dabei stabilisiert werden?
Besonders wichtig: das richtige Timing.
Das alles macht der gesunde Mensch unwillkürlich, ohne darüber nachzudenken.
In der Beinprothese übernimmt das ein
Computer, der alle 0,02 Sekunden automatisch misst und regelt. Dadurch hat die Zahl
der Stürze gegenüber herkömmlichen
Prothesen signifikant abgenommen, wie
diverse Studien belegen.
GUT ZU WISSEN: PROTHESEN
Die „eiserne Hand“ des Götz von Berlichingen ist eine der bekanntesten Prothesen der
Welt. Sie hatte bewegliche Finger, die sich durch Zahnräder in verschiedenen Positionen
fixieren ließen. Damit konnte der tapfere Ritter sein Schwert greifen und kämpfen. Die
erste Prothese war die Kunsthand des Götzen allerdings beileibe nicht. So entdeckten
Archäologen an einer ägyptischen Mumie, die um 600 v.Chr. bestattet wurde, einen
künstlichen großen Zeh aus Eisen. Holz und Eisen blieben bis ins Mittelalter die bevorzugten Materialien für Kunstglieder. Die waren allerdings meist starr und dienten bloß
dazu, ein fehlendes Körperteil optisch zu ersetzen. Die Funktion eines amputierten Arms,
Beins oder Fußes können erst moderne Hightech-Prothesen nachbilden. So ermöglichen
Mikrochips in künstlichen Gliedmaßen diverse Bewegungen, manche Menschen treiben
damit sogar Leistungssport. Voraussetzung dafür sind gute Kenntnisse, wie der menschliche Körper Bewegungen realisiert, intelligente Elektronik-Bauteile und robuste Werkstoffe.
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bild der wissenschaft 10 | 2011
Querfeldein: Über 1000 Kilometer
wanderte Roland Zahn (links) mit
seiner Beinprothese in mehreren
Etappen durch Deutschland –
von Leipzig nach Tübingen.
Gerade ist das neue C-Leg auf den Markt
gekommen. Dank neuer Algorithmen verspricht es, noch besser geregelt und noch
sicherer zu sein als die bisherigen Modelle.
Und per Fernbedienung oder durch Wippen des Beins kann man es an unterschiedliche Anwendungen anpassen: Gehen, Fahrradfahren ohne Dämpfung oder andere
sportliche Betätigungen wie Skaten oder
Skilanglaufen. Obwohl das C-Leg eine
passive Prothese ohne eigenen Antrieb ist,
benötigt es Energie für die Steuerung. Sie
kommt aus einem Akku, der täglich an der
Steckdose aufgeladen werden muss. Wesentlich mehr Energie verbraucht das
„Power Knee“ der isländischen Firma Össur. Es enthält einen Motor, der das Knie
bewegt. Das Power Knee liefert dem Körper
Energie, die sich beispielsweise zum Treppensteigen nutzen lässt.
ENERGIE AUS DEM AUFTRETEN
Die Stromversorgung ist auch bei Otto Bock
ein Thema. Sie stellt wegen des hohen
Energiebedarfs des C-Leg eine Herausforderung dar. „Wünschenswert wäre es, wenn
man die Energie aus dem bestehenden System gewinnen könnte“, sagt Erik Laatsch.
Bei Füßen gelingt das schon – mit elastischen Materialien, die die Energie beim
Auftreten aufnehmen und beim Abrollen
wieder abgeben können. Hier setzt Otto
Bock etwa auf Blattfedern aus Karbon. Und
so werden die 26 Knochen und zahlreichen
Sehnen, Bänder und Muskeln des Fußes
durch eine raffinierte, aber schlicht anmutende Konstruktion aus Karbonteilen ersetzt.
Der Clou: Die Elastizität ändert sich wäh-
V. Müller
Prothesen sollen durch Körpersignale gesteuert werden. Zum Beispiel über die
noch intakte Armmuskulatur ihres Trägers:
Dabei macht man sich zunutze, dass ein
kontrahierender Muskel einen elektrischen
Impuls auf der Haut auslöst. Der wird dort
von Elektroden abgefangen und dem Mikroprozessor zugeführt. Diese „myo-elektrische“ Steuerung ermöglicht es, die verschiedenen Funktionen der Prothese nacheinander anzusprechen.
rend des Abrollens so, wie es der natürlichen Bewegung entspricht. „Doch selbst ein
perfekt ausgeklügelter Fuß und das beste
Knie nützen nichts, wenn die Prothese nicht
sitzt“, bemerkt Entwicklungsleiter Laatsch.
Es gibt diverse Ansätze, um den Schaft möglichst verträglich und stabil mit dem Stumpf
zu verbinden. So wurden Systeme mit Unter-
druck entwickelt, damit sich das Weichteil
automatisch der individuell gefertigten
Kunststoffhülle anpasst, obwohl es sein
Volumen je nach Belastung ständig ändert.
Bei funktionellen Arm- oder Handprothesen ist die Schnittstelle zum Körper besonders wichtig, denn die Bewegungen der
ddp images/dapd/S. Willnow
Künstlicher Greifer mit Feingefühl: Bei einer außergewöhnlichen Kochshow auf der Messe „Orthopädie
und Reha-Technik“ in Leipzig präsentierte der einarmige Ingenieur Martin Wehrle „Michelangelo“ – eine
Kunsthand aus den Entwicklungslabors von Otto Bock.
Selbst diffizile Handgriffe wie das Schälen einer Banane
gelingen mit der Prothese mühelos.
UMSCHALTEN MIT DEM ARMMUSKEL
Mit Training kann mit zurzeit zwei Elektroden am Arm eine flüssige Bewegung gelingen. Gesteuert wird mit zwei Armmuskeln
– zum Beispiel einer zum Öffnen der Hand
und einer zum Schließen. Spannt der Prothesenträger beide Muskeln an, schaltet er
das Kunstglied eine Stufe weiter, etwa
vom Ellbogen über das Handgelenk zur
Hand. Je nachdem, wie schnell und wie
fest er die Muskeln anspannt, kann die Prothese unterschiedlich rasch und kräftig
darauf reagieren. Martin Wehrle, Mitarbeiter bei Otto Bock, beweist das in einer
TITEL BIONISCHE PROTHESEN
Koch-Show. Auf dem Speiseplan steht ein
Asia-Wok-Gemüse mit marinierten Shrimps.
Wehrle greift mit seiner Prothese die Ölflasche zum Anbraten, fasst zielsicher den
Zahnstocher, auf den die Shrimps gesteckt
werden, hält die Zucchini zum Schneiden
auf dem Brett fest und die Möhre zum
Schälen in der Hand. Mit dem Teigschaber
streift er das Gemüse in die Pfanne und
greift den Knopfdeckel einer Zuckerdose.
Mit dieser auf Video gebannten Kücheneinlage präsentierte Otto Bock im Mai 2010 auf
der Messe „Orthopädie und Reha-Technik“
in Leipzig die Leistungsfähigkeit der myoelektrischen Steuerung – und einen Prototypen der Handprothese „Michelangelo“.
gemeinsam. Außerdem kann das Handgelenk in verschiedenen Stellungen eingerastet werden, ist sonst jedoch gedämpft
beweglich. Das vermittelt zum Beispiel
beim Händeschütteln einen natürlichen
Eindruck.
SENSOR IM DAUMEN
In den Daumen ist ein Kraftsensor integriert, der Stärke und Richtung der Kraft
beim Zudrücken misst, sodass eine ausgeklügelte Regelungstechnik nachjustieren
kann, wenn ein Gegenstand aus der Hand
zu rutschen droht. Zurzeit befindet sich die
Michelangelo-Hand im Praxistest. Die Ergebnisse werden zeigen, welche der im
tenbälge, die über den Gelenken sitzen.
Erhöht sich der Druck der Flüssigkeit, dehnen sie sich aus und das Gelenk knickt ein.
Die Steuerung erfolgt über Minipumpen,
Ventile, Sensoren und einen Mikroprozessor. „Mit dieser Mini-Hydraulik kann man
sehr kleine und bewegliche Hände realisieren“, erklärt Schulz. Wegen des gleich
verteilten Drucks im hydraulischen System
lassen sich zudem verschieden geformte
Objekte einfach und sicher umschließen.
Für ein serienreifes Produkt ist die Fluidhand aber bisher zu kompliziert und teuer.
Stattdessen hat sich Schulz mit seinem
jungen Unternehmen Vincent Systems auf
einen Bereich konzentriert, für den es erst
Otto Bock/M. Moog (2); Klebe Fotodesign (rechts)
Kosmetik und Dauerlauf: Ein Gummi-Überzug verhüllt die Mechanik frisch gefertigter Handprothesen und verleiht ihnen ein natürliches
Aussehen (links). Auf einem Testband muss das „C-Leg“ drei Millionen Schritte absolvieren, um seine Robustheit zu beweisen (rechts).
Das ist ein großer Name, der einen Hinweis gibt auf die Größe der Aufgabe, die es
bedeutet, das Wunderwerk der menschlichen Hand adäquat zu ersetzen. Denn
diese ist zu einer unglaublichen Vielfalt an
Bewegungen in der Lage und kann sich gefühlvoll bis kräftig um jede erdenkliche
Form legen. Immerhin sieben verschiedene
Griffe sind auch mit der MichelangeloHand möglich: Ein Motor bewegt dazu das
Grundgelenk des Daumens, ein weiterer
die Grundgelenke der vier übrigen Finger
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Prototyp präsentierten Funktionen schließlich in die Serienfertigung übernommen
werden, die Ende 2011 starten soll.
Eine noch größere Beweglichkeit ermöglicht die Fluidhand, die am BioRobotLab
des heutigen Karlsruher Instituts für Technologie (KIT) unter Leitung des Ingenieurs
Stefan Schulz entwickelt wurde. Nach dem
bionischen Vorbild des Spinnenbeins ist
jeder einzelne Finger mit bis zu drei hydraulischen Antrieben ausgestattet: kleine Fal-
wenige Lösungen gibt: den Ersatz einzelner
Finger oder Fingergruppen. Eines der
Hauptprobleme dabei ist der vergleichsweise geringe Platz, auf dem alle Komponenten untergebracht werden müssen.
Deshalb waren die mit einem kleinen
Motor ausgestatteten Finger bisher immer
sehr groß und unförmig, verglichen mit der
übrigen Hand. Die Entwickler des Unternehmens Vincent Systems konzentrieren
sich darauf, besonders kleine, leichte und
dennoch leistungsstarke Komponenten zu
entwickeln. „Wir befinden uns dabei immer
an der Grenze der Leistungsfähigkeit von
Materialien und Elektronik“, sagt Schulz.
ZEHN VERSCHIEDENE GREIFMUSTER
Natürlich lassen sich die einzelnen Finger
auch zu einer vollständigen „VincentHand“ zusammensetzen. Darin können
vier Motoren für die Finger und zwei für
die beiden Achsen der Daumenbewegung
insgesamt zehn verschiedene Greifmuster ansteuern. Eine ähnlich große Beweglichkeit erreichen die beiden britischen Unternehmen Touch Bionics und RST Steeper
mit ihren fünfmotorigen Prothesenhänden
„iLimb“ und „BeBionic“.
konnten bestimmte Regionen im Brustmuskel aktivieren, von wo die Impulse mit
Hautelektroden abgeleitet wurden. Diese Art
der Kommunikation mit der Prothese kann
man gedankengesteuert nennen, denn sie ist
intuitiv und muss nicht extra erlernt werden: Der Gedanke an eine Arm- oder
Handbewegung führt im Brustmuskel zur
Kontraktion. Weil die Nerven gespreizt
sind und verschiedene Muskelareale aktivieren, lassen sich so auch mehrere Bewegungen gleichzeitig ausführen. Christian
Kandlbauer war der erste Europäer, der eine
solche Prothese eingesetzt bekam. Er
konnte eindrucksvoll die Alltagstauglichkeit der künstlichen Gliedmaßen beweisen.
Forscher und Firmengründer Stefan Schulz präsentiert seine neuesten Technologien – eine
Fingerprothese sowie die mit sechs Motoren ausgestattete „Vincent-Hand“.
All diese Hände lassen sich myo-elektrisch
über die Armmuskeln steuern. Forscher
arbeiten aber daran, die für die eigentlichen
Handbewegungen zuständigen Nerven in
die Steuerung einzubinden. Berühmt wurde
2007 der damals 20 Jahre alte Österreicher
Christian Kandlbauer, der durch einen Stromschlag beide Arme verloren hatte – einen
davon an der Schulter. Um dennoch eine
Prothese steuern zu können, verlegten ihm
Ärzte die Reste seiner Armnerven in den
Brustmuskel. Dort sprossen sie aus und
Inzwischen ist Christian Kandlbauer gestorben: Er kam im Oktober 2010 bei einem
Verkehrsunfall ums Leben.
AUFWENDIGE MUSTERERKENNUNG
Grundsätzlich ist es schwierig, die myoelektrischen Potenziale von der Haut abzuleiten. Eine aufwendige Signalaufbereitung
und Mustererkennung in den Daten sind
notwendig, um die Absichten eindeutig
auszulesen. Forscher um Klaus-Peter Hoffmann, Abteilungsleiter für Medizintechnik
DIREKT IN DEN KNOCHEN
Es gibt Patienten, die mit keiner der gängigen Prothesenschaft-Konstruktionen
zurechtkommen, weil sie etwa an chronischen Hautreizungen leiden. Für sie
haben Forscher der Uniklinik Lübeck zusammen mit dem Lübecker Orthopädietechnik-Unternehmen Eska Implants eine
Alternative entwickelt: eine sogenannte
Endo-Exo-Prothese. Sie wird wie eine
künstliche Hüfte direkt in den Oberschenkelknochen implantiert. Ein potenzieller
Kandidat für eine solche Operation ist
zum Beispiel ein 42-jähriger Handwerker,
der in 17 Jahren 54 Schäfte anpassen
lassen musste. Er ist bis nach Lübeck gereist – zu Horst Aschoff, Chefarzt an den
Sana Kliniken. Dieser ist derzeit der Einzige in Deutschland, der die aufwendige
und nicht ganz unproblematische Operation macht. Kritisch ist der Körperdurchtritt: Das in die Haut gestanzte Loch, durch
das die metallene Prothese nach außen
gelangt, muss sich wieder sauber verschließen, damit es zu keiner Wundoder gar Knocheninfektion kommt. „Es
funktioniert“, sagt Aschoff. Die Wundfläche zwischen Metallrohr und Körpergewebe vernarbe mit der Zeit, wenn die
Strecke zwischen dem äußeren Hautrand
und dem innen liegenden Knochen nicht
zu lang sei. Absolute Sicherheit könne es
natürlich nicht geben, meint der Chefarzt.
Weltweit fanden seit 1999 über 100
Operationen nach dieser Methode statt
– davon rund 55 in Lübeck. Die meisten
dieser Eingriffe seien ohne große Komplikationen verlaufen. Nur bei zwei Patienten
habe man die Prothese wieder entfernen
müssen. Dennoch herrscht in der Fachwelt Skepsis gegenüber dem Verfahren.
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TITEL BIONISCHE PROTHESEN
ERSATZTEILE FÜR DEN KÖRPER
NEUROIMPLANTAT
Aufgabe: Verbesserung der
Leistungsfähigkeit des Gehirns
Entwicklungsstand: zugelassen für
Parkinson-Patienten (wird von den
Krankenkassen bezahlt), für andere
Zwecke noch im Versuchsstadium
NETZHAUT-CHIP
Aufgabe: Wiederherstellung oder
Verbesserung des Sehvermögens
Entwicklungsstand: erstes Produkt
COCHLEA-IMPLANTAT
Aufgabe: Wiederherstellung
der Hörfähigkeit
Entwicklungsstand: Produkte
KÜNSTLICHE LUNGE
Aufgabe: Ersatz der Lungenfunktion
Entwicklungsstand: klinische Tests
KUNSTHAUT
Aufgabe: Ersatz zerstörter
Hautflächen (zum Beispiel
durch Brandwunden)
Entwicklungsstand:
Labortests, Prototypen
KÜNSTLICHES HERZ
Aufgabe: Ersatz der natürlichen
Herzfunktion
Entwicklungsstand: Forschung
BIONISCHER ARM
Aufgabe: Ersatz für
verlorene Gliedmaßen
Entwicklungsstand:
Prototypen im Einsatz
KÜNSTLICHE BLASE
Aufgabe: Übernahme
der Funktion einer entfernten Harnblase (etwa
wegen Blasenkrebs)
Entwicklungsstand:
Prototypen
EXOSKELETT
Aufgaben: Gehhilfe, Rehabilitation
von gehbehinderten Menschen,
Verstärkung der Muskelkraft
Entwicklungsstand: Prototypen,
erste Produkte im Test
INTELLIGENTES KNIE
Aufgabe: Nachbildung der Kniefunktion
Entwicklungsstand: Produkte
und Neuroprothetik am Fraunhofer-Institut
für Biomedizinische Technik in St. Ingbert,
arbeiten daran, Elektroden direkt in den
Muskel zu implantieren. Die Energieversorgung sowie die Signalübertragung zwischen der Elektrode und dem Mikroprozessor sollen berührungslos über elektromagnetische Spulen realisiert werden, die
sich außerhalb des Körpers befinden.
Staunen statt Schrecken:
Während die früher
gebräuchlichen Holzbeine
recht abstoßend wirkten,
kann man sich mit einer
modernen Beinprothese
überall sehen lassen.
medicalpicture/P. Enge
RAUE OBERFLÄCHE AUS PLATIN
Solche implantierbaren Elektroden stellen
besondere Herausforderungen an die Materialien: Sie müssen biologisch verträglich
sein und dürfen in der salzhaltigen Körperflüssigkeit keinen Schaden nehmen, um
lebenslang zuverlässig zu funktionieren.
Außerdem sollen sie möglichst leicht und
flexibel sein, um sich im Gewebe bewegen
zu können, ohne es zu verletzen. Für die
Life-Hand-Elektroden nutzten die Forscher
den Kunststoff Polyimid als Basis. Die elektrischen Kontakte bestehen aus einer aufgerauten Platinschicht, um die Oberfläche
künstlich zu vergrößern und dadurch die
Signale besser erfassen zu können.
2009 wurden einem italienischen Patienten
für 24 Tage vier dieser Elektroden vom
Durchmesser eines menschlichen Haares
implantiert: je zwei in den Nerven für Daumen und Zeigefinger und zwei für die anderen Finger. Die Chirurgen zogen die Elektroden längs durch den Nerv und schlossen
sie mit dünnen Drähten durch die Haut an
die Prothesensteuerung an. „Das war der
erste Test an einem Menschen – und er war
ein Erfolg“, freut sich Hoffmann: „Der Patient konnte einzelne Griffe ausführen und
eine Faust machen. Und wir konnten zeigen,
Dass man mit technischer Raffinesse das
Empfindungsvermögen des natürlichen
Vorbilds erreichen kann, hält Klaus-Peter
Otto Bock/M. Moog
Noch einen Schritt weiter gingen die Fraunhofer-Forscher im EU-Projekt „Life-Hand“
gemeinsam mit italienischen Kollegen: Sie
entwickelten Elektroden, die direkt die
Nerven anzapfen. Hier sind verschiedene
Modelle denkbar: von Ring-Elektroden, die
den ganzen Nerv umklammern, bis hin zu
Sieb-Elektroden, durch die sich einzelne
Nervenfasern kontaktieren lassen. „Das kann
eine deutlich differenziertere Steuerung
ermöglichen, allerdings ist es auch operativ
wesentlich komplizierter und aufwendiger“,
betont Hoffmann. Denn der einzelne Nerv
besteht aus vielen Fasern, die unterschiedliche Erregungen weiterleiten können.
haptische Sensorik gibt es bereits. So haben
die KIT-Forscher für die Fluidhand Vibrationssensoren entwickelt, die die Oberflächenbeschaffenheit erspüren können. Auch
im Unternehmen Otto Bock arbeiten die
Ingenieure daran.
dass Signale, die wir über dieselben Elektroden in den Nerv appliziert haben, im Gehirn ein Tastgefühl auslösen.“
KAMPF GEGEN DEN PHANTOMSCHMERZ
Auf diesen Effekt setzt auch der Medizintechnik-Ingenieur Thomas Stieglitz. Er hat
an der Universität Freiburg den Lehrstuhl
für Biomedizinische Mikrotechnik inne. In
einem Forschungsprojekt verfolgt er das
Ziel, den Phantomschmerz zu bekämpfen,
der viele amputierte Patienten quält. Der
Schmerz entsteht – so die gängige Theorie –
dadurch, dass die Nerven brachliegen und
in den entsprechenden Hirnarealen Ersatzreaktionen stattfinden. Die Idee der Forscher ist es daher, den Nerv zu beschäftigen
– und zwar mit anderen Empfindungen als
Schmerz. Auf diese Weise, so das Fernziel,
sollen sich Gefühle direkt übertragen lassen, die von Sensoren in den Fingern aufgenommen werden. Ansätze für eine solche
Hoffmann allerdings für unmöglich. Denn
das Gefühl der menschlichen Hand speist
sich aus etwa 17 000 Rezeptoren. Diese Zahl
zeigt nicht nur die Größe der Aufgabe, vor
der die Medizintechnik steht, wenn sie dem
Menschen verloren gegangene Körperfunktionen ersetzen will. Man müsse auch abwägen, ob es stets nötig sei, dem Original
so nah wie möglich zu kommen, meint
Hoffmann. So wollten viele Patienten zwar
eine Rückmeldung ihrer Prothese über die
Kraft haben, aber nicht unbedingt über
die Temperatur oder Struktur einer angefassten Oberfläche – zumal, wenn dafür
eine aufwendige und womöglich riskante
■
Operation erforderlich wäre.
UTA DEFFKE ist Wissenschaftsjournalistin in Berlin. Die Physikerin begeistert sich für die
Forschung im Grenzbereich
zwischen Mensch und Technik.
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