Martín Solares: Die schwarzen Minuten

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Martín Solares: Die schwarzen Minuten
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Martín Solares: Die schwarzen Minuten
Soumis par Doris Wieser
15-09-2009
Dernière mise à jour : 15-09-2009
MartÃ-n Solares: Die schwarzen MinutenBergisch Gladbach: Bastei-Lübbe, 2008. 494 Seiten. 8,95 € Deutsch von
Barbara Mesquita
Ein fast 500 Seiten starker Debütroman ist ein gewagtes Unternehmen. Der Mexikaner MartÃ-n Solares (*1970) soll
rund sieben Jahre daran gearbeitet haben. Die schwarzen Minuten ist zweifellos einer der ambitioniertesten
Kriminalromane, die Mexiko seit den großen Werken von Paco Ignacio Taibo II zu bieten hatte (wenn man von den noch
nicht übersetzten Romanen von Juan Hernández Luna absieht). Warum der Funke trotzdem nicht so ganz
überspringen will, ist bei einem Roman, der zweifellos an vielen Stellen glänzt, nicht leicht auf den Punkt zu bringen.
MartÃ-n Solares: Die schwarzen Minuten Bergisch Gladbach: Bastei-Lübbe, 2008. 494 Seiten. 8,95 € Deutsch von
Barbara Mesquita
Ein fast 500 Seiten starker Debütroman ist ein gewagtes Unternehmen. Der Mexikaner MartÃ-n Solares (*1970) soll
rund sieben Jahre daran gearbeitet haben. Die schwarzen Minuten ist zweifellos einer der ambitioniertesten
Kriminalromane, die Mexiko seit den großen Werken von Paco Ignacio Taibo II zu bieten hatte (wenn man von den noch
nicht übersetzten Romanen von Juan Hernández Luna absieht). Warum der Funke trotzdem nicht so ganz
überspringen will, ist bei einem Roman, der zweifellos an vielen Stellen glänzt, nicht leicht auf den Punkt zu bringen.
Drogenkartell, Serienmörder, Korruption
Solares erzählt in einer für das Genre ungewöhnlichen epischen Breite von der fiktiven Stadt Paracuán in Tamaulipas,
einem Bundesstaat am Golf von Mexiko, der sonst in der Literatur nicht häufig präsent ist. Paracuán liegt in der Nähe der
real existierenden Städte Tampico und Ciudad Madero, den wichtigsten Ölhäfen der Region. In einer ersten Zeitebene
ermittelt der Polizist Ramón Cabrera, genannt El Macetón (der Dickschädel), im Fall des ermordeten Journalisten
Bernardo Blanco, der eine „kolumbianische Krawatte“ verpasst bekommen hat, das heißt, ihm wurde die Kehle
durchgeschnitten und die Zunge durch den Schlitz von unten herausgezogen. Die Vermutung liegt nahe, dass das
Drogenkartell, das immer stärker von den Kolumbianern beherrscht wird, dahinter steckt. Oder doch nicht? Der Tote hat
jedenfalls an einem Buch über einen Kriminalfall aus den 1970er Jahren gearbeitet. Vielleicht ist das die richtige Piste.
Bevor Cabrera seine Ermittlungen abschließen kann, wird er von einem Drogenmafioso mit dem Auto gerammt und
schwer verletzt ins Krankenhaus eingeliefert. Dieser Erzählstrang bricht auf Seite 124 ab, um einem zweiten Platz zu
machen, der die nächsten 300 Seiten füllt.
Der zweite Strang erstreckt sich über die Jahre 1977 und ’78. Ein Serientäter bringt kleine Schulmädchen um,
zerstückelt sie und legt sie an verschiedenen Stellen der Stadt ab. Der Polizist Vicente Rangel ermittelt. Bald fällt der
Verdacht auf Jack Williams, den Sohn eines US-amerikanischen Industriellen, doch der Bürgermeister verbietet der
Polizei, die mächtigen Ausländer zu belästigen. Der Verdacht rumort lange in Rangel – und im Leser. Am Ende ist der
Mörder ein ganz anderer und darin besteht das eigentliche Skandalon, das Bernardo Blanco aufdecken wollte: Einige
der wichtigsten politischen Karrieren der Stadt sind auf die Leichen der Mädchen gebaut.
Erst auf Seite 437 springt der Plot zurück zur Gegenwartsebene und zeigt die genauen Verbindungen zwischen beiden
Geschichten auf. Schade nur, dass man nach über 300 Seiten Intermezzo einige Namen und Details der ersten
Geschichte wieder vergessen hat und dann tatsächlich auf das Personenverzeichnis, das ganz am Anfang steht,
angewiesen ist. Die ähnliche Konfiguration auf beiden Ebenen und die unzähligen Spitznamen, vereinfachen die Sache
auch nicht gerade. Aber das ist nicht schlimm. Solares hat einen elaborierten Roman vorgelegt, der zunächst einmal viel
Lob verdient.
Bewusst dosierte Gewalt, glaubhafter Kontext
Sehr bewusst und sinnreich dosiert Solares die Darstellung von Gewalt. Der Blick fällt nie direkt auf die zerstückelten
Körper der Mädchen und trotzdem weiß der Leser am Ende, was ihnen zugestoßen ist. Der Erzähler beschreibt lediglich,
welche Wirkung der grauenhafte Anblick der Leichenteile auf die Ermittler ausübt, eine Technik, die an die der
Mauerschau im Theater erinnert. Anders verfährt er jedoch, wenn es um die Darstellung der von Gesetzeshand
ausgeführten Gewalttaten geht. Die Beamten der Bundessicherheitsdirektion bestrafen beispielsweise einen Spitzel,
indem sie ihm die Augen ausstechen. Das wird kurz, aber sehr deutlich geschildert, sodass der Leser mit seinem inneren
Auge direkt auf die Szene blickt. Dieser Unterschied in der Darstellung ermöglicht eine differenzierte Sozialkritik. Der
Serienmörder – ein nicht weiter interessanter Psychopath – ist nicht der, der uns etwas über Mexiko und unsere heutige
Welt sagen könnte, denn er ist krank. Die entstellten Mädchenkörper minutiöser zu beschreiben wäre daher reiner
Voyeurismus. Was aber in den oberen Gesellschaftsschichten unternommen wird, um die Tat zu vertuschen, wirkt durch
die eben beschriebene Technik besonders abscheulich. Man nimmt hin, dass Menschen gefoltert werden, ein
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unschuldiger junger Mann lebenslänglich ins Gefängnis kommt und einige andere, wie Bernardo Blanco, ihr Leben
lassen. Diesen Preis zahlt die durch und durch korrupte Gesellschaft, um ein paar karrieregeile Emporkömmlinge zu
protegieren. Und dass das realistisch ist, glauben wir Solares gern, denn von vergleichbaren Skandalen kann man oft
genug in mexikanischen Zeitungen lesen. So resümiert auch der augenlose Romero:
„Alle paktierten sie miteinander: die Regierung, der Präsident, und das alles auf dem Rücken der toten Mädchen. So wie
überall auf der Welt war auch diese Stadt rings um die Gräber gewachsen“ (S. 431).
Ebenso wenig fehlt es dem Roman an Ironie und einem selbstreflexiven Gestus, was durch das Evozieren einiger
literarischer Gestalten und dem Genre affinen Autoren erreicht wird (z.B. Rubem Fonseca, Truman Capote,
Dürrenmatt, Stevenson, Hitchcock). Auch historische Personen wie der Schriftsteller Traven Torsvan (ein exilierter
Deutscher) oder der berühmte Kriminologe Quiroz Cuarón, der seinerzeit als der „mexikanische Sherlock Holmes“
bezeichnet wurde, erzeugen eine ironische Distanz zum eigenen Werk. Quiroz Cuarón wird als unabhängiger Experte
zu Hilfe gerufen und nutzt die Gelegenheit, seine mathematische Formel zum Lösen von Serienmorden zu testen. Und
tatsächlich funktioniert sie. Quiroz weiß innerhalb eines Tages, wer der Mörder ist. Doch leider kann er dies nicht mehr
kommunizieren, er wird vergiftet und nimmt die Wunderformel, auf die die Welt noch heute wartet, mit ins Grab. In
Solares’ Mexiko haben solche Allheilmittel keinen Platz.
Grauer Brei, offene Enden
Man möchte meinen, der Autor habe alles richtig gemacht: Ein grausiges Verbrechen mit schauderhaften Folgen,
eingebettet in einen spezifischen gesellschaftlichen Kontext mit allem nötigen Tiefgang, glaubwürdige Figuren, eine
mehrstimmige Narration und eine kleine Ãœberraschung am Ende.
Aber Solares hat den Leser etwas aus den Augen verloren, der alle Mühe hat, den Fundus an einzelnen Episoden zu
entrümpeln. Nahezu jede der schier unzähligen Figuren erhält ihre eigene Geschichte, die über Erinnerungsfetzen
oder bestimmte literarische Motive mit dem Fall verknüpft sind. Die eigentlich gut erdachten Handlungselemente
verschwimmen in der Unmenge an ihnen ebenbürtigen Elementen. Solares hat aus hundert guten Zutaten am Ende
einen grauen Brei gerührt, in dem man die Rosinen nicht mehr findet. Die Spannung fällt durch zu viele retardierende
Elemente streckenweise rapide ab, der Brei wird immer zäher.
Auch ein paar Enden lässt der Mexikaner lose flattern. Ein Krimileser hätte sie jedoch gerne verknüpft gewusst – und
nicht nur ein Krimileser, sondern jeder Leser mit einem Gefühl für die Daseinsberechtigung von
Handlungselementen, die ja auf deren Funktion beruhen sollte. So wird an einem Tatort umständlich herausgearbeitet,
dass der Mädchenmörder die Leichenstücke durchs Fenster in die Toilette geworfen haben muss. Warum er das
getan hat, erklärt uns Solares aber letztendlich nie. Genauso verärgert die späte Entdeckung der Rechtsmedizinerin,
dass Schafswolle unter den Fingernägeln der Opfer zu finden war. Der Täter soll die Mädchen mit Lämmern angelockt
haben. Aber wie und warum genau? Diese und weitere Details hätte Solares sich sparen können, denn eine andere
Funktion als ihre Auflösung haben sie nicht.
Fazit: Geduldige Leser werden an vielen Stellen belohnt. Ungeduldigen Spannungsliebhabern ist dagegen
abzuraten.Erschienen im Titelmagazin am 07. Februar 2009
www.titel-magazin.de
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