Berlinale: La vie en rose

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Berlinale: La vie en rose
Berlinale: La vie en rose
Grosses Kino um eine kleine Frau: Edith Piaf
Autor: U. Gellermann
Datum: 09. Februar 2007
----Filmtitel: La vie en rose
Regie: Oliver Dahan
Ich hatte das vergessen. Lesen musste man von den Franzosen was und auch
über die Franzosen, Geschichtsmächtig waren sie für Europa und auch darüber
hinaus. Als sie starb war ich kaum Achtzehn und mein Französischlehrer an
mir verzweifelt. Sie war für mich eine alte, gebeugte Frau, lächerlich
geschminkt, die einen viel zu jungen Mann geheiratet hatte. Die erste Gauloise
war mir ein Muss, der schwarze Rollkragenpullover, der billige Rotwein und der
dünne Band Sartre gehörten zum Kostüm des frisch gebackenen
Existenzialisten, man hatte ja Intellekt oder gab es zumindest vor. Und sie, sie
sang derweil Liebeslieder, das musste nun wirklich nicht sein. Bis zum
gestrigen Abend hatte ich vergessen, dass die Piaf mein gefühltes Frankreich
war.Jeden Ton, jedes Lied kannte ich, die der Film "La vie en rose", der
Eröffnungsfilm der Berlinale, für mich bereit hielt und ich hätte auch mit
geschlossenen Augen jenes Frankreich erkannt, das es in Wahrheit so nicht
gibt, nie gab. Nicht das Frankreich des Henri Quattre, das Napoleons oder Zolas,
das Verstandesfrankeich der bürgerlichen Revolution und der Philosophie.
Sondern das Frankreich der schönen, flüchtigen Geste, das Land der
kapriziösen Launen, das Land, das mit Vornamen Paris heißt und mit
Nachnahmen Provence, das Land, in dem man ein wirkliches Lied Chanson
nennt und in dem diese kleine, große Frau unwirkliche Gefühle durch bloßes
Singen erzeugen konnte: Edith Piaf.Er will ja nur spielen, der Regisseur Olivier
Dahan, mit der Geschichte der Piaf, die er vom Ende her erzählt, mit den Aufs
und Abs dieses kurzen, intensiven Lebens und vor allem mit den Gefühlen der
Zuschauer und dann, dann beißt er einfach zu, dann schaltetet er im schnellen
Wechsel der Bilder und Zeiten den Verstand des Publikums aus, verlangt
Auslieferung und Übergabe und wer sich nicht ausliefert, der traut sich selber
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nicht. An zwei oder drei Stellen, mitten in Auftritten der Piaf, stellt der Regisseur
den Ton ab, lässt den überschminkten Mund der Hauptdarstellerin
irgendwelche Worte formen und was in anderen Fällen garantiert lächerlich
wirken würde, das darf in diesem Film tragisch sein und dramatisch und
bodenlos traurig.Es ist die Ärmlichkeit der Geburt und der Glanz einer
unglaublichen Karriere, denen die Dramatik des Films entspringt und es sind
zwei Frauen, die den Film über 140 Minuten tragen. Zum einen ist es Marion
Cotillard, die Hauptdarstellerin, die uns die erwachsene Sängerin gibt, deren
Kunst nicht in der simplen Kopie, sondern in der Neuschöpfung einer Piaf
besteht, der wir plötzlich nahe sind obwohl wir sie nicht kannten. Und es ist
Marion Chevallier, die uns mit dem Kind Edith beschenkt, jenem elenden und
zugleich magischen Geschöpf, das von seiner Mutter verlassen in einem Bordell
aufwächst, einem saufenden Vater in den Wanderzirkus folgen muss und ihr
erstes Lied an einer Strassenecke singt, weil die schäbigen Künste des Vaters
zum Broterwerb nicht reichen: Die Marseillaise.Furios nimmt die erwachsen
werdende Edith den Ton auf, singt auf Pariser Plätzen und in schmuddeligen
Kneipen um ihr Leben, womit sollte sie es sich sonst erhalten, mit dem
trotzigen, frechen Straßenton, den sie bis bis an ihr Ende, bis zu jenem
berühmten "Nein, ich bereue nichts" behalten wird, längst geprägt von
Krankheit, Alkohol und Morphium. Der Film lässt wenig aus vom Leben der Piaf,
die unglücklichen Lieben, die unerträgliche Zicke die sie sein konnte und die
rührend einfache Frau, die an einem sonnigen Strand in den USA sitzt und vor
sich hin strickt. Fast alle die verschiedenen Piafs kommen zu ihrem Auftritt
und münden in der einen verzehrenden Leidenschaft: Zu singen und zu singen
und zu singen. Eine Facette der Sängerin erzählt uns der Film nicht: Während
der deutschen Besatzungszeit tritt sie in Kriegsgefangenlagern auf und
schmuggelt gefälschte Arbeitserlaubnisse heinein, um Soldaten die Flucht zu
ermöglichen. Aber das wäre vielleicht zu viel des Guten gewesen. "La vie en
rose" ist großes Kino. Überzeugen Sie sich selbst. Ab dem 22. Februar.
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