Das Ende einer Freundschaft - Yu-Gi-Oh! PHOENIX
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Das Ende einer Freundschaft - Yu-Gi-Oh! PHOENIX
Special: Das Ende einer Freundschaft „Das besondere an den Titanen-Monstern ist also, dass ihre Beschwörung nicht wie beispielsweise bei den Xyz-Monsten von der Stufe der Materialien abhängt, sondern von deren Attribut und Typ. Benannt wurden sie nach einer alten Legende, wonach die Titanen, mächtige Inkarnationen der Elemente, vor vielen Jahren gemeinsam gegen das Böse gekämpft haben“, fasste Professor Maverick, der junge Duellakademie-Lehrer mit dem braunen Pferdeschwanz, für seine Klasse zusammen. Er stand vorne in einem Hörsaal, auf dessen stufenartigen Sitzreihen die Schüler Platz genommen hatten. In dieser Unterrichtsstunde hatten sie intensiv eine neue Beschwörungsart diskutiert, die Steele Industries am vorigen Tag vorgestellt hatte. Professor Maverick sah hinüber zur Uhr, die über dem Eingang des Hörsaals angebracht war und anzeigte, dass die Stunde in fünf Minuten enden würde, und sagte: „So… Für die nächste Stunde…“ „Ben?“, meldete sich Evan vom linken Ende des Hörsaals unvermittelt zu Wort. Professor Maverick, der es mit den Regeln stets gelassen sah und es gewohnt war, von seinen Schülern beim Vornamen angesprochen zu werden, sah hinauf zu dem Teenager mit dem wilden, rot-blauem Haar, der neben seinem besten Freund Christopher Allington saß. „Ja, Evan?“ „Kannst du uns nicht noch ein bisschen mehr über diese Legende der Titanen erzählen?“, fragte Evan und übertrieb es mit seinem interessierten Tonfall etwas. Ein paar Plätze weiter vorne drehte sich Nora Jones, ein sehr hübsches, dunkelhaariges Mädchen, zu Evan um und zwinkerte ihm grinsend zu. Evan zwinkerte zurück. Christopher hingegen blickte schnell in eine andere Richtung, als Nora zu ihnen hochsah. Professor Maverick unterdessen kratzte sich nachdenklich am Kopf. „Nun… Der Legende nach gab es vier Titanen, einer für jedes Element; Feuer, Wasser, Erde und Luft. Normalerweise operierten diese mächtigen Kreaturen voneinander unabhängig, aber um eine übergeordnete, böse Macht zu stürzen, verbündeten sie sich. Dafür suchte sich jeder Titan einen Menschen aus, den er mit besonderen Kräften ausstattete und mit dem zusammen er kämpfte. Mehr weiß ich auch nicht, ein ehemaliger Professor namens Lyman Banner hat wohl Nachforschungen dazu betrieben, aber ich hatte für Mythen und Legenden nie besonders viel übrig.“ „Also Mythen und Legenden wie die der ägyptischen Götterkarten oder der heiligen drei Bestien?“ „Genau.“ „Aber haben sich die nicht letztendlich als wahr erwiesen?“ „Das mag ja sein“, meinte Professor Maverick vorsichtig. „Aber das heißt nicht, dass alle Legenden wahr sein müssen. Nun, wenn du sonst keine Fragen hast“, schloss er mit einem erneuten Blick zur Uhr, die immer noch genug Restzeit anzeigte, um eine Hausaufgabe aufzugeben. 1 „Noch nicht ganz“, entgegnete Evan hektisch. „Dieser Professor Banner… was ist aus ihm geworden?“ „Er ist vor fast zwanzig Jahren tragisch verunglückt“, erklärte Professor Maverick mit ernster Miene in dem Augenblick, als die Pausenglocke läutete und die Studenten lautstark ihre Sachen packten. Der Lehrer rief etwas über dem Lärm hinweg, aus dem die Worte „wartet“ und „Hausaufgaben“ zu hören waren, winkte dann jedoch resignierend ab und wünschte seinen Schülern einen schönen Nachmittag. Auf dem Weg nach draußen, wo das Schulgelände in das strahlende der Licht der frühen Junisonne getaucht war, wurden Evan und Chris auf halber Strecke von Nora eingeholt. „Das hast du ja wieder gut hingekriegt, Evan“, sagte sie grinsend. „Was soll ich sagen“, erwiderte jener mit gespielter Bescheidenheit. „Der Tag ist doch viel zu schön, um ihn mit Hausaufgaben zu verschwenden. Ich hab’ euch Mädels schon einiges an Arbeit erspart, vielleicht lasst ihr mich zum Dank mal ein paar Runden in eurem Swimming Pool drehen.“ „Ja klar, netter Versuch“, entgegnete Nora lächelnd mit einem Kopfschütteln. „Also dann, ich geh’ mal zu meinen Freundinnen. Mach’s gut Evan. Und ist immer wieder schön, mit dir zu reden, Chris…“ „Was hat sie damit gemeint? Hat sie sich über mich lustig gemacht?“, fragte Christopher, der während des ganzen Gesprächs kein Wort geredet hatte, sondern nur schüchtern in eine andere Richtung geblickt hatte, irritiert seinen Freund, kaum das Nora außer Hörweite war. „Bleib’ mal locker“, entgegnete Evan. „Sie hat nur ´nen Witz gemacht, weil du nie mit ihr redest. Wollen wir uns hier hinsetzen… Chris?“ Christopher, der abgelenkt Nora hinterher geschaut hatte, schüttelte wie ein nasser Hund den Kopf. „Okay“, sagte er beiläufig und lehnte sich auf dem Stück Gras vor dem Hauptportal, auf das Evan gedeutet hatte, gegen eine Säule. Kaum saß er, schon zog er ein Schulheft aus seiner Umhängetasche und schlug es auf. „Dein Ernst?“, fragte Evan. „Alter, mach’ mal halblang, am Ende platzt dir noch der Kopf.“ „Wohl kaum“, entgegnete der groß gewachsene Junge mit dem chaotischen, schwarz-weißen Haar, ohne seine leuchtend hellblauen Augen von den Aufzeichnungen abzuwenden. „Es sind nur noch zehn Tage bis zu unserer Abschlussprüfung. Willst du denn gar nicht lernen?“ „Warum sollte ich?“, erwiderte Evan mit einem weiteren Schulterzucken. „Ich kann das alles.“ „Dann erklär’ mir doch mal den Unterschied zwischen interner und externer Spezialbeschwörung“, forderte Chris. 2 „Das eine fängt mit einem E an“, gähnte Evan und pfläzte sich ins Gras, nicht ohne vorher noch einer Gruppe von Mädchen zuzuzwinkern, die kichernd an ihm und Chris vorbeigingen. „Wenn du mal weniger Zeit damit verbringen würdest, irgendwelchen Mädchen nachzuglotzen und mehr damit, zu lernen, wüsstest du das“, tadelte Chris. „Dann würden mir aber eine Menge schöner Anblicke entgehen“, gab Evan zu bedenken. „Hör mal: Es geht hier immerhin um deine Zukunft. Das kann dir doch unmöglich egal sein.“ „Zukunft?“, wiederholte Evan lachend. „Wen juckt es schon, ob ich mit 95 oder 100 Prozent bestehe? Und überhaupt: Du warst an der Duellakademie und dein Dad hat so ungefähr ´ne halbe Million auf der hohen Kante. Reicht dir das nicht als Zukunftsabsicherung?“ „Es geht hier doch nicht um Geld“, meinte Chris. „Es geht um Einfluss, weißt du? Ich will was Großes aus meinem Leben machen. Und um Mädchen kennenzulernen haben wir später noch genug Zeit.“ „Das mag ja sein“, entgegnete Evan schwärmerisch. „Aber die haben dann nicht diese herrlichen Uniformen an… Ich sag’ dir, der Typ, der die Dinger entworfen hat, muss ein echter Schweinehund gewesen sein. So eng wie die anliegen und bei den kurzen Röcken…“ „Charmant…“, meinte Chris trocken und blätterte eine Seite seines Hefts um. „Was soll ich sagen…“, erwiderte Evan und ließ vor seinem inneren Auge seine heißesten Kommilitoninnen in ihren Duellakademie-Uniformen Revue passieren. „Ich bin eben ein Prolet.“ „Der Spruch zieht spätestens nicht mehr, seit du mir das Bild von diesem Marlin gezeigt hast, den du und dein Onkel auf seiner Yacht gefangen habt“, entgegnete Chris. Es stimmte schon: Inzwischen genoss auch Evan ein Luxusleben. Aber das war nicht immer so gewesen. Seine leiblichen Eltern waren einfache Leute gewesen und bevor sie vor fünf Jahren verstarben, hatte er mit ihnen ein Leben an der Armutsgrenze geführt. Aber nach dem Tod seiner Eltern hatten Jane, die Schwester seiner Mutter, und deren reicher Ehemann sie aufgenommen. Evans Gesicht hatte einen ernsten Ausdruck angenommen und er setzte sich auf. „Wenn ich erstmal ein Profi bin und selbst ein Vermögen mache“, begann er. „Dann werde ich andere daran teilhaben lassen. Ich brauche keine Yachten, Ferienhäuser oder Sportwagen, was soll ich damit?“ „Ich merk’ schon, du wirst als der nächste Robin Hood in die Geschichte eingehen“, entgegnete Christopher, ohne von seinen Aufzeichnungen aufzublicken. 3 In den knapp drei Jahren, die er Evan jetzt schon kannte, hatte er gelernt, politische Diskussionen mit ihm zu vermeiden. Evan regte sich gern über „das System“ auf. Er meinte, es sei ungerecht und würde die Reichen nur noch reicher machen, während die Armen ein Dasein ohne jede Hoffnung auf Besserung fristen mussten. Christopher war da anderer Meinung. Sein Vater hatte ihm immer gesagt, dass abstrakte Gebilde wie „das System“ keine Schuld tragen konnten. Nur Menschen konnten das. Und diejenigen, die die Schuld für ihr Leiden dem „System“ zuschieben mussten, waren entweder zu feige oder zu arrogant, um ihr eigenes Handeln in Frage zu stellen. Aber Evan war in dieser Hinsicht unbelehrbar. Deshalb hatte Christopher schon vor einiger Zeit beschlossen, seinen Anflügen von politischem Interesse nicht mehr viel Beachtung zu schenken. „Was sagst du eigentlich zu dieser Legende der Titanen?“, setzte Evan nach einer Weile wieder an. Christopher zuckte mit den Schultern. „Weiß nicht“, sagte er. „Kommt mir wie ein Märchen vor, dass man Kindern erzählt, um ihnen Werte beizubringen. [i]„Haltet zusammen. Gemeinsam könnt ihr viel mehr erreichen als allein…“[/i] du weißt schon.“ „Aber bist du denn gar nicht neugierig?“, fragte Evan. „Was, wenn es wahr ist? Wäre es nicht voll cool, Superkräfte zu haben?“ „Du solltest aufhören, Comics zu lesen“, antwortete Christopher. „Ernsthaft. Du wirst dieses Jahr achtzehn.“ Evan ging nicht darauf ein. „Dieser Banner…“, fing er an. „Der war doch damals der Leiter der Slifers. Deren alte Unterkunft steht doch noch. Vielleicht sollten wir uns mal in seinem Büro umsehen…“ „Keine gute Idee“, entgegnete Chris beiläufig. „Warum denn nicht?“, fragte Evan störrisch. „Die werden uns wohl kaum rausschmeißen, wo die doch so auf uns abfahren. Was kann also schon groß passieren?“ „Wir könnten zum Beispiel draufgehen“, antwortete Chris pessimistisch und blickte endlich von seinem Heft auf. „In dieser Unterkunft ist seit fünfzehn Jahren niemand mehr gewesen. Jede Wette, dass die beim kleinsten Windhauch umfällt wie ein Kartenhaus.“ „Ach komm schon…“, meinte Evan. „Wenn sie fünfzehn Jahre durchgehalten hat, wird sie schon noch eine Nacht länger durchhalten.“ „Ich muss lernen“, meinte Chris ausweichend und vertiefte sich wieder in seine Aufzeichnungen. Er hielt jedoch nicht lange durch, denn in diesem Moment sprang Evan auf, zog seinem Freund ungefragt das Heft aus den Händen und blätterte es durch, auf der Suche nach einem möglichst komplizierten Sachverhalt. 4 „Wieso kann die Beschwörung von Denko – Sekka mit einer Konterfalle annulliert werden, obwohl ihr Effekt sagt, dass verdeckte Zauber- und Fallenkarten nicht aktiviert werden können?“, fragte er schließlich. „Weil eine annullierte Beschwörung nicht als erfolgreich gilt“, betete Chris hinunter. „Der Effekt der Konterfalle aktiviert sich, noch bevor Denko – Sekka offiziell das Feld betreten hat und damit auch bevor ihr permanenter Effekt in Kraft tritt. Und jetzt gib’ mir das zurück. Du hast ein Eselsohr reingemacht…“ Evan verdrehte die Augen, während Chris sich sein Heft zurückholte. „Siehst du? Du kannst das alles. Warum also nicht mal einen drauf machen? Uns wird schon nichts passieren, okay? Komm schon, sei nicht so ein Weichei. Dies ist unser letztes Jahr an dieser Schule. Lass uns noch ein letztes Abenteuer erleben…“ Christopher seufzte. „Na schön“, sagte er. „Aber wenn ich wegen dir sterbe, dann bringe ich dich um…“ Evan grinste. „Von mir aus“, sagte er. „Und wehe, du kneifst…“ ~ Später an diesem Abend schlichen sie sich also heimlich aus ihrem Schlafsaal und marschierten mit Taschenlampen bewaffnet einen finsteren Waldweg entlang. Es war derselbe Weg, den die alten Slifer Red-Schüler genommen haben mussten, um zum Hauptgebäude zu kommen, jedoch hatte ihn die letzten fünfzehn Jahre kaum jemand betreten, sodass er an den Rändern zugewuchert war. Der Wald selbst schien voller Leben: Ständig hörte man Äste knacken, Eulen schuhuen und Fledermäuse davonflattern. Christopher schien dies völlig nervös zu machen. Wann immer ein lautes Geräusch ertönte, wirbelte er hektisch herum und leuchtete mit seiner Taschenlampe in die Baumkronen. Dies fand Evan sehr amüsant: „Alles klar bei dir, Chris? Ich hoffe, du hast Ersatzunterhosen dabei…“ „Haha“, entgegnete Chris trocken und schloss zu Evan auf. „Hör’ mal, dieser Banner ist seit achtzehn Jahren tot. Warum sollte von seinem Zeug noch irgendwas übrig sein? Komm, lass uns umdrehen…“ „Netter Versuch“, antwortete Evan, dabei zielstrebig weitergehend. „Was bist du eigentlich für ein Angsthase? Du hast Glück, dass keine Mädchen dabei sind…“ Christophers Gesicht verhärtete sich. „Ich habe keine Angst“, sagte er bestimmt mit einer Stimme, die etwas tiefer klang als normal. „Sowieso“, erwiderte Evan ungläubig, dann wirbelte er plötzlich herum, leuchtete in die Finsternis des Waldes und schrie panisch: „ACHTUNG!“ Chris schrie, machte wie von der Wespe gestochen einen Satz rückwärts und wirbelte ebenfalls panisch herum, um in den Wald zu leuchten. Nach einer Weile 5 beruhigte er sich und leuchtete suchend das Unterholz ab, bemerkte dann jedoch Evan, der sich vor Lachen kugelte. „Keine Angst also?“, japste er. „Na ich weiß ja nicht…“ Zornesröte stieg in Christophers blasses, spitzes Gesicht. „Das ist nicht witzig! Willst du, dass ich es den Lehrern sage? Ich kann es so aussehen lassen, als wärst du allein gegangen und ich wäre dir nur gefolgt, um dich aufzuhalten…“ „Oh, jetzt habe ich aber Angst“, entgegnete Evan sarkastisch und ging weiter, bis sie kurz darauf eine große Lichtung erreichten: „Aha…“ Sie standen nun vor einem riesigen, verlassenen Gebäude. Es war ein schmales, zweistöckiges Haus, an dessen Westseite eine Treppe hinauf zu einer hölzernen Veranda führte, von der aus man zu den Türen der Zimmer im oberen Stockwerk kam. Die Treppe nahmen Evan und Chris als Erstes in Augenschein. „Wenn du glaubst, dass ich da raufgehe, hast du dich aber geschnitten“, entschied Chris sofort, kaum kam die Treppe in den Lichtkegel von Evans Taschenlampe. Auch diesem war beim Anblick der feuchten, modrigen Stufen, zwischen denen sich Spinnenweben spannten, nicht wohl zumute, auch wenn er dies seinem Freund gegenüber nie zugeben würde. „In Ordnung. Dann sehen wir eben zuerst unten nach“, entgegnete Evan um einen genervten Unterton bemüht. Sie gingen also die Arkade unterhalb der Veranda entlang. Während Evan mit seiner Taschenlampe die verrosteten Metallschilder neben den Türen zu den einzelnen Schlafräumen ableuchtete, überprüfte Chris die von morschen Holzbalken getragene Decke. Große Spinnennetze waren hier zwischen Decke und Wand gespannt. Deren Bewohner, große Spinnen mit kreuzförmigen Mustern auf ihren fetten Hinterleiben, krabbelten rasch in die Ecken ihrer Behausungen, wenn sie vom Licht von Christophers Taschenlampe erfasst wurden. „Hier ist es!“, rief Evan, der vorausgegangen war, plötzlich und brach damit das gespannte Schweigen, das kurz zuvor geherrscht hatte. Er stand vor der letzten Tür am östlichen Ende der Unterkunft. Daneben kam nur noch eine breite, traditionelle Schiebetür, die offenbar zum Speisesaal führte. Auf dem rostigen Metallschild, das neben der Tür hing, vor der Evan angehalten hatte, stand: „Lyman Banner, Lehrer für Alchemie und Duell-Mystik“. Chris holte auf und Evan griff nach der verrosteten Türklinke. Mühsam drückte er sie nach unten und versuchte, die Tür zu öffnen, doch die blieb verschlossen. Und nicht nur das: Als Evan die Türklinke ein wenig enttäuscht losließ, schnellte diese nicht zurück nach oben, sondern blieb schräg nach unten stehen. Der Federmechanismus im Inneren war offenbar defekt. „Na toll“, meinte Chris sarkastisch. „Dafür sind wir extra wach geblieben? Um vor einer verschlossenen Tür zu stehen?“ 6 „Wenn du so schnell aufgibst, wird aus dir nie ein guter Duellant“, antwortete Evan, griff erneut nach der Klinke und rüttelte an der Tür. „Sieht nicht sehr stabil aus“, urteilte er und ließ die Klinke abermals los. Danach ging alles sehr schnell. Evan trat einen Schritt zurück und warf sich dann mit seiner kräftigen Schulter gegen die Tür, die krachend aufflog und im Inneren des Raums gegen die Wand knallte und dabei einige Mäuse verscheuchte. „Sag mal, ist dir noch zu helfen?!“, fragte Christopher wie vom Blitz getroffen. „Willst du die gesamte Insel wecken?“ Evan lachte, bekam aber sofort einen heftigen Hustenanfall, weil er mit seiner rabiaten Aktion den Staub von zwei Jahrzehnten aufgewirbelt hatte. „Bleib mal locker“, hustete er. „Hier ist kein Schwein im Umkreis von einer halben Meile.“ Als der Staub und Evans Hustenanfall sich halbwegs gelegt hatten, betrat jener den Raum. Christopher folgte ihm zögernd. Es war ein kleines, proppenvolles Zimmer. An einer Wand stand ein Schreibtisch aus billigem Sperrholz, auf dem Boden in der Nähe lag eine dünne, mottenzerfressene Matratze mit gräulichem Bettzeug darauf. Jeder freie Meter Wand war mit Bücherregalen vollgekleistert. „Anscheinend verdient man nicht allzu viel als Lehrer für Hirngespinste“, meinte Chris abfällig, während er das spärliche Mobiliar betrachtete. Evan ging nicht weiter darauf ein: „Okay, dann wollen wir mal sehen, ob unser Freund seine Aufzeichnungen hiergelassen hat. Such’ nach Büchern und Heften, die handgeschrieben aussehen.“ Chris verdrehte die blauen Augen und blies den Staub von den Buchrücken in einem großen Regal an der Ostwand, damit er die Einbände lesen konnte. „In Ordnung, aber wenn du hast, was du suchst, hauen wir hier ab.“ Evan knurrte zur Bestätigung und nahm sich ein Regal in der Nähe des „Bettes“ vor. Hier gab es zahlreiche dicke, in Leder gebundene Wälzer, die komplizierte wissenschaftliche Sachverhalte behandelten, jedoch allesamt nicht handgeschrieben wirkten. Als Evan mit dem Regal durch war, wandte er sich dem Schreibtisch zu. Dessen Oberfläche war voll mit Zeugs, aber auch darunter fand sich nichts Brauchbares. Deshalb öffnete er die Schubladen. In der Unteren fand er endlich etwas Brauchbares. Es war ein über dreißig Jahre alter, ledergebundener Taschenkalender, doch statt Termine darin einzutragen, hatte Professor Banner ihn mit Stichpunkten und Zeichnungen vollgekritzelt. „Amnael…“, las Evan flüsternd vor. Die Notiz war unter „4. November“ eingetragen und den Großteil der Seite nahm ein Symbol, ein Kreis mit einem Punkt in der Mitte, ein. Laut, sodass Chris ihn hören konnte, fuhr er fort: „Hat nicht ein Typ namens Amnael vor zwanzig Jahren versucht, die Akademie zu zerstören?“ 7 „So sagt man zumindest…“, antwortete Christopher skeptisch, ohne sich von dem Bücherregal abzuwenden, das er immer noch durchforstete. Evan runzelte die Stirn und blätterte weiter durch die vergilbten Seiten des Taschenkalenders. Endlich, unter „27. Februar“, fand er, wonach er suchte. Eine Seite, deren unterstrichene, handgeschriebene Überschrift lautete: „Die Legende der Titanen“. Auch diese Seite war mit einer handgefertigten Zeichnung verziert: Ein lateinisch beschriftetes Kreuz, umgeben von vier Kreaturen. Diese waren amateurhaft gezeichnet, aber zu erkennen: Unten eine Seeschlange, die als Ouroboros ihren eigenen Schwanz frisst, beschriftet mit „Aqva“, Wasser, wobei das V in Wirklichkeit ein U war. Rechts darüber ein hässliches, unförmiges Wesen, das Evan als Drache interpretierte, obwohl es eher einem Riesenkrokodil ähnelte, beschriftet mit „Terra“. Links davon ein geflügelter Löwe, beschriftet mit „Aer“, was wohl Luft bedeutete. Und an der Spitze des Kreuzes ein großer, brennender Vogel mit breit gespreizten Flügeln, beschriftet mit „Ignis“. „Chris“, sagte Evan aufgeregt, aber ruhig. „Ich habe es gefunden.“ Christopher drehte sich um. „Gut, dann können wir ja…“, sagte er, beendete den Satz aber nie, weil anschließend viele Dinge gleichzeitig passierten. In einem Anflug von Tollpatschigkeit ließ Chris das Buch fallen, das er gerade in der Hand hielt. Es landete auf dem Boden, wo die dicke Staubschicht das Geräusch des Aufschlags fast gänzlich schluckte. Allerdings lenkte es so Christophers Aufmerksamkeit auf das, was am Boden geschah: Eine fette Ratte mit einem langen, kahlen Schwanz, die direkt zu Christophers Füßen den Boden abgesucht hatte, quiekte erschrocken und rannte aufgescheucht davon, um in einem Loch in der hinteren Wand zu verschwinden. Chris erschreckte sich dadurch dermaßen, dass er einen Satz nach hinten machte und dabei auch noch seine Taschenlampe fallen ließ. Deshalb hörte Evan nur noch, was danach geschah. Der große, dünne Junge prallte mit voller Wucht mit dem Rücken gegen einen Holzpfeiler an der Wand. Evan hörte das Knarren und Splittern des morschen Holzes, während der wichtige Stützpfeiler mitten entzwei geschlagen wurde. Anschließend knarrte und knarzte die gesamte Decke. „Nicht gut…“, sagte Evan, bemüht, seine Angst zu verbergen, und steckte sich den Taschenkalender in die Jackentasche. Mehr schaffte er auch nicht, denn sofort darauf passierte es: Unter der Last der steinernen Decke knickte auch der zweite Stützpfeiler auf Christophers Seite des Raumes ein. Unter ohrenbetäubenden Lärm begann daraufhin die Decke, zusammenzusacken. Bücherregale und was sonst so an der Wand stand oder hing stürzte zu Boden. So auch das Regal, das neben dem Evan stand und nun direkt auf dessen Kopf fiel. Etwas sehr scharfkantiges, das sich im Regal befunden hatte, schabte über seine linke Gesichtshälfte und hinterließ einen sengenden Schmerz. Von ganzem Herzen fluchend klatschte sich Evan die linke Hand auf die frische Wunde und spürte sofort das warme Blut, das zwischen seinen Fingern hindurch sickerte. Ohne weiter nachzudenken torkelte Evan aus dem einstürzenden Gebäude hinaus ins Freie, die Hand aufs Gesicht gepresst. Sofern er es beurteilen konnte, war sein 8 Auge unbeschadet, aber der Schnitt, der über Stirn und Wange verlief, musste sehr tief sein. Er spürte, wie das Blut sein Handgelenk hinunter in seinen Ärmel lief. Auf einer Wiese etwa zehn Meter vor der zerstörten Unterkunft sank er auf die Knie. Sein Herz raste, er atmete schwer. „Chris?“, keuchte er und sah sich mit seinem rechten Augen um, aber er konnte Christopher nirgends entdecken. Das konnte nur eins bedeuten, und diese Erkenntnis ließ ihn einen kalten Schauder über den Rücken laufen… Langsam drehte er sich um und blickte zurück zu der Ruine, die er soeben verlassen hatte und in der Christopher immer noch gefangen sein musste. Das Dach am östlichen Ende war eingestürzt, die Räume darunter eingesackt. Auf diese Weise war eine Art tiefe „Delle“ zwischen den westlichen Räumen und dem noch intakten Speisesaal entstanden, was an einen langen Pappkarton erinnerte, auf dessen Ende sich jemand schweres gesetzt hatte. „Chris!“, schrie Evan abermals und setzte sich taumelnd in Bewegung, die linke Hand fest auf den tiefen Schnitt in seinem Gesicht gepresst. Er rannte hinüber zu der Ruine und stieg über den Haufen der Überreste der Veranda, die sich vor Professor Banners altem Büro gesammelt hatten. Der alte Holzsteg war glatt entzwei gebrochen und einzelne morsche Holzbretter baumelten links von Evan vom noch intakten Teil der Veranda hinab. Suchend leuchtete Evan nun das zerstörte Büro mit seiner Taschenlampe ab. Die von Christopher lag herrenlos auf dem Boden und leuchtete ins Nichts, wobei die Staubverwehungen im Lichtkegel deutlich zu sehen waren. „Chris?“, wiederholte Evan und endlich bekam er eine Antwort: Ein schwaches Stöhnen rechts von ihm. „Chris!“, rief Evan erleichtert und folgte mit dem Lichtkegel seiner Taschenlampe der Quelle des Stöhnens: Einem riesigen Haufen aus Trümmern und Büchern an der Ostseite des Raumes, wo die eingestürzte Decke bereits um einen knappen Meter tiefer hing als im Rest des Zimmers. Mit dem Licht seiner Taschenlampe suchte Evan den Gerümpelhaufen ab und entdeckte endlich etwas: Eine Kreidebleiche Hand mit langen Fingern, die im Ärmel einer blau-weißen Jacke steckte und aus den Trümmern hervorlugte. Evan fluchte, ließ seine Taschenlampe fallen und kniete sich hin. Mit einer Hand fing er schnellstmöglich damit an, im Zwielicht das Gerümpel beiseite zu räumen und legte nach und nach seinen staubigen, mageren Freund frei, der auf dem Rücken unter den Trümmern begraben lag. Als sein Gesicht größtenteils befreit war, schreckte Evan zurück. Es war so blass, dass es im Dunkeln zu leuchten schien. Was Evan aber vor allem besorgte, war die Tatsache, dass Christophers rechte Gesichtshälfte komplett blutüberströmt war. Evan suchte nach dem Ort, wo das Blut am dunkelsten war, und erkannte, dass dieser unter dem letzten Stück Gerümpel liegen musste, dass Christophers Gesicht noch verdeckte: Ein langes Holzbrett, das über seinem rechten Auge lag. Evans Blick suchte das Brett ab und er erkannte schließlich etwas, das das Blut in seinen Adern gefrieren ließ: Dort, direkt über dem Punkt, wo Christophers rechter Augapfel liegen musste, steckte etwas in dem Brett. Der rostige Kopf eines dicken Nagels… 9 Evan fluchte abermals und Chris antwortete mit einem weiteren schwachen Stöhnen. „Keine Angst, mein Freund, ich rette dich“, versprach Evan hektisch. Christopher murmelte etwas Unverständliches und griff mit seiner zittrigen, freien Hand schwach nach Evans Handgelenk. Anschließend holte Evan tief Luft, denn es grauste ihm vor dem, was er jetzt tun musste. Die Augen fest geschlossen, um nicht hinsehen zu müssen, machte er sich an Werk. Vorsichtig hob er das Brett mit der rechten Hand an und schob es beiseite. Was dann folgte war ein widerliches, schmatzendes Geräusch, das einen heftigen Brechreiz in Evan hervorrief. Christopher heulte unter Todesqualen laut auf und Evan spürte, wie die Hand seines Freundes sich an seinem linken Handgelenk zunächst schraubstockhaft verkrampfte, dann aber erschlaffte und zu Boden fiel. „Chris!“, schrie Evan panisch, bekam aber keine Antwort. Nun hatte sein Freund endgültig das Bewusstsein verloren. Mit rasendem Herzen und fest verschlossenen Augen tat Evan das Einzige, was ihm einfiel: Er zog sich die eigene Duellakademie-Jacke aus, sodass er nur noch in dem dunkelblauen T-Shirt dastand, das er darunter trug. Anschließend schlang er die Ärmel schräg um Christophers Kopf und versiegelte den provisorischen Verband mit einem festen Knoten. Nun öffnete Evan wieder das unverletzte Auge und betrachtete sein Werk. Der teure, weiße Jackenstoff über Christophers rechtem Auge war bereits nach wenigen Sekunden blutdurchtränkt. Eilig, weil er wusste, dass Chris in großer Gefahr sein musste, legte Evan sich einen der leblosen Arme seines Freundes über die Schulter und zog ihn aus den Trümmern. Was folgte, war ein einziger Gewaltmarsch. Christopher mochte zwar klapperdürr sein, war aber um einiges größer als Evan und insgesamt wahrscheinlich ähnlich schwer. Schon bald musste Evan seine zweite Hand zur Hilfe nehmen, die er bis zu diesem Zeitpunkt fest auf seine Wunde gepresst hatte. Diese schmerzte fürchterlich, aber er zwang sich dazu, weiterzugehen und spürte dabei, wie das Blut ihm das Gesicht hinunter in den Kragen seines T-Shirts floss. Aber seine eigene Verletzung kümmerte Evan gerade recht wenig, denn er wusste, dass es Christopher viel schlimmer getroffen hatte. Er wollte gar nicht darüber nachdenken, wie viel Blut sein Freund inzwischen verloren haben musste. Auf jeden Fall würde es morgen früh, wenn die Akademie erwachte und die Chance bestand, dass man sie hier auf dem verlassenen Waldweg fand, zu spät sein. Deshalb schleppte Evan sich und Christopher weiter über den verwilderten Pfad, obwohl sein Schädel dröhnte und er glaubte, jeden Moment unter der Last zusammenzubrechen. Endlich, nach einer knappen Viertelstunde extremster Anstrengung, erblickte Evan die Umrisse eines Gebäudes. Der riesige Kuppelbau, der das Hauptgebäude der Duellakademie bildete, lag vor ihm, aus einigen Fenstern drang immer noch Licht. 10 Das Gebäude war wie ein Leuchtturm, der die Rettung aus seiner Seenot bedeutete und wie eine Motte wurde Evan von dem Licht angezogen. Er ließ Christopher vorsichtig auf die Erde sinken und markierte ihn mit einer eingeschalteten Taschenlampe, bevor er selbst die letzten Meter rannte. Als er glaubte, in Rufweite des Gebäudes zu sein, drehte er sich um, um sicherzugehen, dass Chris’ lebloser Körper noch deutlich sichtbar war, und öffnete den Mund. „Hilfe!“, schrie er aus Leibeskräften, in der verzweifelten Hoffnung, man möge ihn hören. Anschließend ging er vor Erschöpfung in die Knie. „Hilfe!“, schrie er abermals, dann wurde ihm schwarz vor Augen… ~ Als Evan das Auge wieder öffnete, wurde er geblendet. Er war in einem hell erleuchteten Raum erwacht. Erst nach einer Weile gewöhnte sich sein Auge an die Helligkeit und er erkannte den Raum. Er lag in einem klapprigen, weiß bezogenen Metallbett, von denen es in dem großen Zimmer noch fünf weitere gab. Er war im Krankensaal der Akademie. Erleichtert atmete er auf und sank in die Kissen. Also hatte man ihn gehört und gefunden. Er strich sich übers Gesicht und spürte den dicken Verband, den man über sein linkes Auge gewickelt hatte. Plötzlich öffnete sich eine Tür am Ende des Zimmers und eine junge Frau im weißen Kittel trat ein. Dr. Hefley, die Schulärztin. Sie ging hinüber zu Evan und dieser erkannte, dass ihr hübsches, sommersprossiges Gesicht blass und besorgt wirkte. Ihr buschiges, hellbraunes Haar, das sie als Ponyfrisur trug, war zersaust wie von jemanden, der keine Zeit hatte, sich zu kämmen, seit er aus dem Schlaf gerissen worden war. „Ah, du bist wach“, stellte Dr. Hefley erleichtert fest. „Was… was ist passiert?“, murmelte Evan benommen. Das Gesicht der Ärztin wurde ernst. „Du hast eine sehr tiefe Schnittwunde im Gesicht“, erklärte sie. „Glücklicherweise ist dein Auge unbeschadet. Du kannst den Verband in zwei Tagen abnehmen. Aber du wirst wahrscheinlich eine Narbe behalten…“ Evan seufzte und versuchte, das soeben Gehörte zu verarbeiteten. Allmählich kehrten die Erinnerungen an die Nacht zurück und er ließ seinen Blick über die anderen Betten schweifen. „Wo ist Chris?!“, fragte er erschrocken, als er bemerkte, dass sein Bett das einzige belegte war. Ruckartig setzte er sich auf, was zu einem stechenden Schmerz unter seinem Verband und in seinem Kopf führte. „Bleib ruhig“, sagte Dr. Hefley sanft und berührte seine Schulter, um ihn dazu zu bringen, zurück in die Kissen zu sinken, wirkte dabei selbst aber alles andere als ruhig. „Der Hubschrauber kam eben, um ihn abzuholen. Wir mussten ihn in eine 11 Spezialklinik schicken. Dort wird man versuchen, sein Auge zu retten…“ Sie erschauderte. Als Ärztin musste sie schon so einiges gesehen haben, aber diese Verletzung schien selbst sie an ihre Grenzen gebracht zu haben. Evan unterdessen richtete sich erneut auf, wenn auch diesmal weniger ruckartig. „Geht es ihm gut?“, drängte er. Dr. Hefley machte ein ziemlich betroffenes Gesicht: „Er hat sehr viel Blut verloren. Aber im Hubschrauber sind genug Infusionen vorrätig. Von daher ist er außer Lebensgefahr. Mit deiner Hilfsmaßnahme hast du ihm vielleicht das Leben gerettet…“ Sie deutete auf das Ende von Evans Bett, wo an einem Kleiderbügel ein großer, steriler Plastikbeutel mit Evans Jacke darin hing. Der gesamte rechte Ärmel war komplett mit scharlachrotem Blut vollgesogen. „Was ist passiert?“, fragte Dr. Hefley pflichtbewusst. „Warum wart ihr nicht in euren Betten? Wie habt ihr euch so verletzt?“ Doch Evan kam nicht dazu, zu antworten, weil in diesem Moment die Tür am anderen Ende des Raumes erneut aufflog. „Evan!“, rief eine Mädchenstimme. Nora Jones eilte durch den Raum. Ihr dunkles Haar war eilig zu einem Zopf zurückgebunden und sie trug eine Art Bademantel über einem kurzen, lila Nachthemd. Offenbar hatte sie im Büro der Ärztin drauf gewartet, dass er wach wurde und konnte es jetzt nicht mehr aushalten. „Oh Evan…“, schluchzte sie und warf sich ihm um den Hals. „Ich habe mir solche Sorgen gemacht…“ „Schon okay…“, entgegnete Evan perplex und tätschelte ihr den Rücken. „Mir geht es gut.“ Nora löste sich von ihm und starrte ihn plötzlich mit glühenden Augen an. Plötzlich verführerisch flüsternd fuhr sie fort: „Es gibt etwas, das ich dir schon lange sagen will…“ Und dann, ohne Vorwarnung, schlang sie sich erneut um ihn und küsste ihn mitten auf den Mund. Völlig überrascht, aber nicht unglücklich, erwiderte Evan den Kuss. ~ In den nächsten Tagen bekam Evan an der Akademie noch mehr Aufmerksamkeit, als es sowieso schon der Fall war. Die Jungen fragten ihn neugierig über sein Abenteuer aus und die Mädchen umgarnten ihn wegen seiner Verletzung. Die hatte, wie die Schulärztin vorausgesagt hatte, eine lange, rote Narbe in seinem Gesicht hinterlassen, die bei jeder Berührung schmerzhaft ziepte. Evan selbst machte das nicht wirklich etwas aus. Er war nicht eitel und auf eine gewisse, machohafte Weise fand er die Narbe in seinem Gesicht sogar ganz cool. 12 Allerdings erinnerte ihr Anblick ihn immer an Chris, um den er sich immer noch große Sorgen machte. Gleich am nächsten Morgen versuchte er, in der Spezialklinik anzurufen, aber ihm wurde gesagt, dass Christopher nicht zu sprechen sei. Tags darauf kamen seine Tante Jane und deren Ehemann zu Besuch, um nach ihm zu sehen und dann brach auch schon die letzte Woche vor den Abschlussprüfungen an. Diejenigen Schüler, die die Duellakademie dieses Jahr verlassen würden, waren vom Unterricht befreit und so verbrachte Evan den Großteil der Woche damit, den anderen Schülern beim Lernen Gesellschaft zu leisten und mit Nora rumzuknutschen. Von Chris fehlte tagelang jede Spur. Beim Frühstück am Freitagmorgen jedoch erblickte Evan plötzlich im Speisesaal der blauen Unterkunft eine lange, dunkelhaarige Gestalt. „Chris!“, rief Evan und eilte zu ihm hinüber, um sich zu ihm zu setzen. „Hallo Evan“, antwortete Christopher kühl und strich sich Kaviar auf ein Stück Brot. Sein verletztes rechtes Auge war von einem dicken Verband bedeckt, ähnlich dem, den Evan für zwei Tage getragen hatte. „Ich… ich habe mir Sorgen gemacht. Seit wann bist du wieder da?“, sagte Evan. „Seit gestern Nacht“, antwortete Chris steif, ohne von seinem Frühstück aufzusehen. „Gestern Nacht?“, wiederholte Evan. „Warum sehe ich dich dann erst jetzt?“ Chris zögerte die Antwort hinaus, indem er einen Schluck Kaffee trank. Schließlich sah er auf und blickte Evan kühl ins Gesicht: „Weil wir uns kein Zimmer mehr teilen.“ Evan schaute irritiert drein. Schließlich dämmerte ihm etwas. „Hat dein Vater das arrangiert?“, fragte er. Mr. Allington hatte Evan nie besonders gut leiden können. Er dachte, er übe einen schlechten Einfluss auf seinen Sohn aus. Etwas, das Evan ihm, nachdem er und Christopher sich in einer Nacht beide schwere Gesichtsverletzungen zugezogen hatten, nicht einmal mehr übel nehmen konnte. Unterdessen verengte sich Christophers gesundes Auge. „Nein“, sagte er. „Es war mein Wunsch. Die Akademie hielt es für schwachsinnig, weil wir eh nur noch ein paar Wochen hier sind, aber mein Vater hat dafür gesorgt, dass sie mir trotzdem ein neues Zimmer geben.“ Evan klappte ungläubig der Mund auf. Dann fasste er sich schuldbewusst an die Stirn. „Hör’ mal, es tut mir wirklich unendlich leid“, sagte er aufrichtig. „Ich weiß nicht, was ich mir dabei gedacht…“ „Es tut dir leid?“, wiederholte Chris lautstark und unterbrach damit Evans Entschuldigung. „Das ist auch das Mindeste! Das ist doch alles deine Schuld! Ich habe doch gesagt, dass es eine schlechte Idee war! Mein Vater wollte dich verklagen, aber ich habe ihn daran gehindert. Schließlich war ich selbst blöd genug, auch noch mitzukommen…“ „Ihr wolltet mich verklagen?“, fragte Evan ungläubig. 13 „Ja, allerdings!“, bestätigte Chris. „Und wir hätten allen Grund dazu gehabt. Weißt du eigentlich, wie teuer diese scheiß Spezialklinik war? Du solltest dich also bei mir bedanken!“ „Das glaube ich jetzt nicht…“, meinte Evan und spürte, wie auch in ihm Zorn aufkochte. „Glaubst du, ich wäre stolz auf das, was ich getan habe? Ich habe doch gesagt, dass es mir leid tut. Verdammt, wir sind schließlich Freunde…“ „Ach, sind wir das?“, fragte Christopher schnippisch. „An deiner Stelle wäre ich mir da nicht so sicher. Für dich ist das Leben doch bloß ein großes Spiel. Wann wirst du endlich erwachsen?“ „Chris…“, fing Evan an, verzweifelt nach den richtigen Worten suchend. „Spar’s dir“, entgegnete Christopher kühl und stand auf. „Ich muss lernen.“ Und mit einem Blick, der eindeutig „Und wehe, du folgst mir“ sagte, schritt Chris von dannen, ein abgebissenes Brot, eine halbe Tasse Kaffee und einen halben Teller Rührei zurücklassend. ~ Später an diesem Morgen wollte Evan es noch einmal versuchen. Er entdeckte Chris allein in seine Schulhefte vertieft an eine große Weide in der Nähe der Unterkunft gelehnt und diesmal beschloss Evan, ihn nicht gehen zu lassen, bis sie sich ausgesprochen hatten. Er war fast an der Weide angekommen, als plötzlich zwei schlanke Frauenhände von hinten seine Augen bedeckten. „Wer bin ich, Evan?“, fragte Nora vergnügt, nahm ihre Hände von seinen Augen, ging um ihn herum und versuchte, ihn zu küssen. Evan, dem dies gerade absolut ungelegen kam, drückte sie von sich weg und suchte wieder nach Chris. Dessen gesundes Auge hatte sich entsetzt geweitet, er war blass und starrte erschrocken zu Evan und Nora hinüber. Es war, als würde er nicht glauben, was er sah. „Hey…“, meinte Nora gekränkt. „Was soll das?“ „Tut mir leid, das hat nichts mit dir zu tun“, entschuldigte sich Evan und gab ihr einen flüchtigen Kuss. Als sie sich voneinander lösten, bemerkte Nora plötzlich, was Sache ist: „Hey, Chris ist ja wieder da…“ Evan wirbelte ebenfalls herum und bekam noch den Rücken seines Freundes zu sehen, der eilig davonging. „Ist es wegen ihm?“, fragte Nora mitfühlend. 14 Evan seufzte. „Er macht mich für das verantwortlich, was ihm passiert ist. Er will nicht mehr mit mir sprechen. Dabei will ich ihm doch nur sagen, wie sehr es mir leid tut…“, antwortete er niedergeschlagen. „Du kannst nichts erzwingen…“, meinte Nora beschwichtigend. „Wenn du ihm gesagt hast, dass es dir leid tut, dann lass ihn erstmal in Ruhe. Vielleicht braucht er etwas Zeit, um das alles zu verarbeiten…“ „Mag sein…“, antwortete Evan traurig. „Ich fühle mich nur so schuldig…“ „Ich weiß…“, sagte Nora und streichelte seinen Arm. „Ihr werdet euch schon wieder vertragen...“ Evan antwortete nur mit einem Lächeln. Dann küsste er sie erneut, diesmal mit mehr Leidenschaft. ~ In den nächsten 48 Stunden bekam Evan seinen alten Freund kaum zu Gesicht. Christopher wusste genau, dass Evan am Wochenende die Angewohnheit hatte, bis in die Puppen zu schlafen, und ging deshalb extra früh zum Frühstück, damit er schon fertig war, wenn Evan kam. Tagsüber zog er sich dann völlig zurück. Am Montag begannen dann die Abschlussprüfungen und schafften es selbst Evan abzulenken. Es waren drei stressige Tage, aber das Bisschen Prüfungsangst, das Evan kurzfristig doch noch überkam, erwies sich als ungerechtfertigt. Ihm fielen alle Prüfungen spielend leicht. Am Donnerstag und Freitag standen dann die weitaus spaßigeren praktischen Prüfungen an. Im Halbstundentakt musste jeder Student auf den beiden Duellfeldern unter der Kuppel des Hauptgebäudes drei zufällig ausgeloste Duelle bestehen, einem beliebten Spektakel, zu dem auch viele jüngere Schüler zum Zuschauen kamen. Zu niemandes Überraschung hatte Evan seine ersten beiden Duelle locker gewonnen und stand damit als einer der Besten des Jahrgangs da. Er hatte gehofft, vielleicht in einem der Duelle auf Christopher zu treffen, was diesen dazu zwingen würde, Zeit mit Evan zu verbringen, aber das Losglück war nicht mit diesem. Stattdessen stand ihm im letzten Duell niemand anderes als Nora gegenüber. „Also Evan, Nora…“, sagte Professor Maverick, der mit einem Klemmbrett am Rand des Duellfelds stand und die Prüfung abnahm. „Ihr steht beide bisher ungeschlagen da, deshalb ist das hier im Grunde nur reine Formsache. Habt Spaß.“ „Wie du meinst, Ben“, entgegnete Evan und aktivierte lässig seine Duel Disc, schaute dabei aber zum anderen Duellfeld hinüber, wo Christopher einem Ra Yellow-Schüler gegenüberstand. Wortkarg und emotionslos hatte in den letzten beiden Tagen ebenfalls seine beiden Duelle gewonnen, ohne auch nur ansatzweise in eine brenzlige Situation geraten zu sein. Sein rechtes Auge war immer noch verbunden. „Also, Nora, Kopf oder Zahl?“, fragte Ben und zückte die Münze, mit der entschieden wurde, wer den ersten Zug machte. 15 „Kopf“, entschied Nora. Ben schnipste die Münze in die Höhe, fing sie auf und legte sie auf seinen linken Handrücken. „Nora fängt an“, verkündete er. „Ihr könnt beginnen.“ Dies ließen sich die beiden nicht zwei Mal sagen. „Los, Duell“, riefen sie im Chor und zogen jeweils fünf Karten von ihrem Deck auf. Nebenan taten Christopher und sein Gegner das gleiche. „Ich bin dran!“, fuhr Nora fort und betrachtete ihre Hand. „Zeit für einen kleinen Tapetenwechsel! Ich aktiviere den Feldzauber Aromagarten!“ Der Extra-Schacht für Spielfeldzauberkarten an Noras Duel Disc öffnete sich und sie legte eine solche hinein. Plötzlich sah es so aus, als würde die Natur sich die Duell-Halle der Akademie in Zeitraffer zurückerbobern. Rasen und bunt blühende Sträucher wucherten aus dem Boden und als dies geschafft war, befanden sich Evan, Nora und Professor Maverick in einem wunderschönen Garten voll mit unterschiedlichsten Blüten. Die beiden Duellanten standen jeweils unter einen metallenen Bogen, der von weiß blühenden Schlingpflanzen bewuchert war und zwischen ihrem und dem zweiten Duellfeld war eine hohe, gelb blühende Hecke entstanden, die die Sicht versperrte und Evan dazu zwang, sich ganz auf sein eigenes Duell zu konzentrieren. „Als Nächstes beschwöre ich eine gute Freundin: Aromagierin Jasmin!“, verkündete Nora nun und legte eine Karte waagerecht in die Mitte ihrer Duel Disc. Vor ihr erschien daraufhin das Hologramm eines jungen Mädchens mit weißen Haaren und violetten Augen. Sie trug einen passenden, weiß-lilanen Umhang und hatte eine Art Zauberstab in der Hand, auf dessen Spitze ein Bogen aus Blumen und eine weiße Kerze thronten. (DEF: 1900) „Und weil ich jetzt ein Aroma-Monster kontrolliere, kann ich den Effekt meines Gartens aktivieren! Dadurch erhalten meine Monster bis zum Ende deines nächsten Spielzugs 500 Angriffs- und Verteidigungspunkte und ich 500 Lebenspunkte hinzu!“ Eine sanfte Brise kam im Garten auf und verteilte die verschiedenen Düfte, dargestellt als rosa Dampfschwaden. Noras Monster unterdessen schloss die Augen, atmete tief durch und wirkte zufrieden. (DEF: 1900 -> 2400) (Nora: LP 4000 -> 4500) „Jetzt aktiviert sich der Effekt meines Monsters!“, fuhr Nora fort. „Einmal pro Spielzug, wenn ich Lebenspunkte hinzu erhalte, kann ich eine Karte ziehen!“ Das silberhaarige Mädchen lachte kindlich und wedelte mit ihrem Zauberstab. Unterdessen fügte Nora ihrer Hand eine weitere Karte von ihrem Deck hinzu und grinste ebenfalls zufrieden, als sie erkannte, welche es war. „Jasmin hat einen weiteren Effekt“, fing sie an. „Wenn meine Lebenspunkte höher sind als deine, kann ich zusätzlich zu meiner regulären Normalbeschwörung ein Monster vom Typ Pflanze als Normalbeschwörung beschwören! Los, Aromagierin Rosemarie!“ 16 Nora legte die Karte rechts neben ihr bisheriges Monster auf ihre Duel Disc. Vor ihr erschien daraufhin das Hologramm einer weiteren Blumen-Magierin. Diese hatte die Gestalt einer hübschen, jungen Frau mit blauen Haaren und einem dazu passenden Umhang. Auch ihr Zauberstab war mit Blumen und einer blauen Duftkerze geschmückt. (ATK: 1800) Von Noras anderem Monster wurde sie herzlich begrüßt, wie es vielleicht bei Schwestern der Fall wäre. Die kleine, silberhaarige Zauberin umarmte die Blauhaarige auf Hüfthöhe. Anschließend stellten sie sich Schulter an Schulter auf. „Damit beende ich meinen Zug“, schloss Nora. „Du bist dran.“ [Hand: 3 / Backrow: 0] „Alles klar…“, entgegnete Evan. „Mein Zug!“ Er zog ruckartig eine Karte von seinem Deck auf und als er seine Hand betrachtete, zuckte sein Mundwinkel unwillkürlich nach oben: „Ich beschwöre SonneneruptionsDrache im Angriffsmodus!“ Er klatschte die Karte auf seine Duel Disc und mitten im grünen Gras tat sich plötzlich ein See aus flüssiger Lava auf. Daraus stiegen Kopf und Hals eines gehörnten Drachen, der ganz aus Feuer zu bestehen schien. (ATK: 1500) Um das Monster herum begannen Sträucher und Grasbüscheln zu verkokeln. „Hey, hör’ auf, meinen schönen Garten abzufackeln“, ermahnte Nora Evan scherzhaft. „Tut mir wirklich leid“, entgegnete Evan. „Aber ich mag es nunmal gerne ein wenig… heißer. Deshalb aktiviere ich jetzt den Zauber Zwei vom gleichen Schlag! Ich ändere meinen Sonneneruptions-Drachen in den Verteidigungsmodus, um einen zweiten von meinem Deck zu beschwören!“ Der Lavasee verbreitete sich und kurz darauf stieg ein weiterer Drachenkopf daraus empor, während Evan nach der Karte griff, die seine Duel Disc hervor schob und diese auf deren Oberfläche klatschte. (DEF: 1000) „Wenn ich Zwei vom gleichen Schlag aktiviere, kann ich in diesem Spielzug keine anderen Monster als Spezialbeschwörung beschwören. Deshalb betrete ich nun die End Phase! Jetzt aktivieren sich die Effekte meiner beiden Drachen und fügen dir jeweils 500 Punkte Schaden zu!“ In den Mäulern der Drachen bildeten sich plötzlich zwei glühende Feuerbälle. Diese schossen kurz darauf quer über das Feld, versengten dabei ein paar Grashalme und trafen schließlich Nora unter ihrem Bogen. (LP: 4500 -> 3500) [(Evan) Hand: 4 / Backrow: 0] (Aromagierin Jasmin: DEF 2400 -> 1900) „Ich bin dran!“, rief die, als der Angriff vorüber war und zog grob eine Karte von ihrem Deck. „Ich aktiviere den Effekt meines Gartens! Ich erhalte 500 Lebenspunkte hinzu und meine Monster 500 Angriffs- und Verteidigungspunkte!“ Es kam erneut eine frische Brise auf, die die Düfte über das Spielfeld trugen und Noras Monster atmeten tief durch. Gleichzeitig wurden die Brandschäden, die Evans Monster an der Vegetation verursacht hatten, auf wundersame Weise geheilt und 17 das Gras rund um die brennenden Drachenköpfe fing aufs Neue an zu kokeln. (Nora: LP 3500 -> 4000) (Aromagierin Rosemarie: ATK 1800 -> 2300) (Aromagierin Jasmin: DEF 1900 -> 2400) „Jetzt aktivieren sich die Effekte meiner Monster!“, setzte Nora wieder an. „Dank Aromagierin Jasmin kann ich eine Karte ziehen und mit Aromagierin Rosemarie kann ich einen deiner Drachen in den Angriffsmodus zwingen!“ Die Silberhaarige Blumenzauberin schwenkte ihren Stab und Nora zog eine Karte von ihrem Deck. Anschließend zeigte ihr anderes Monster mit ihrem Stab auf einen von Evans Drachen und beschrieb eine kreisende Bewegung. Daraufhin strömten blaue Duftwolken aus dem Stab in die Nase des brennenden Ungeheuers, das entspannt durchatmete, sich aufrichtete und noch heller glühte. (ATK: 1500) „Und jetzt los, Rosemarie! Greif Sonneneruptions-Drache an mit Veilchenflamme!“ Die junge Frau in dem blauen Gewand hielt sich die Spitze ihres Stabs vor die Lippen und blies in die Flamme der Kerze auf dessen Spitze. Doch statt dass diese ausging, entstand eine große, blaue Stichflamme, die über das Feld in Richtung von Evans rauschte, dann jedoch in der Luft verpuffte. Unterdessen hatten die beiden Drachenköpfe angefangen, wild umeinander zu tanzen, sodass es unmöglich war, sie voneinander zu unterscheiden. So auch für Noras Monster, das irritiert hin und her blickte und mit ihrem Stab nutzlos in der Gegend herumfuchtelte. „Was ist los?“, fragte Nora verwirrt. „Die Effekte meiner Monster wirken“, erklärte Evan. „Solange ein anderes Monster vom Typ Pyro auf meinem Feld liegt, können sie nicht angegriffen werden. Sich beschützen sich selbst und damit auch den jeweils anderen. Du kannst also nicht angreifen.“ Nora wirkte verärgert. „Na schön“, sagte sie. „Ich setze eine Karte verdeckt und beende meinen Zug.“ [Hand: 4 / Backrow: 1] „Dann bin ich dran“, entgegnete Evan, nachdem zu den Füßen ihrer Gegnerin eine vergrößerte Kartenrückseite erschienen war, und zog eine Karte von seinem Deck. „Ich ändere Sonneneruptions-Drache wieder in den Verteidigungsmodus“, fuhr er fort und drehte die Karte auf seiner Duel Disc waagerecht. (DEF: 1000) „Als Nächstes aktiviere ich den Effekt von Burner, Drachenherrscher der Funken in meiner Hand! Ich werfe ihn zusammen mit Blizzarddrache ab, um Blaster, Drachenherrscher des Infernos von meinem Deck zu beschwören!“ Evan schob die beiden Karten von seiner Hand auf den Friedhof, griff nach der Karte, die seine Duel Disc daraufhin hervorschob und klatschte sie auf deren Oberfläche. Vor ihm erschien daraufhin das Hologramm eines kleinen, roten Drachen mit einem Rückenpanzer aus festem Magma, der seine Form veränderte und um ein Vielfaches wuchs. Hinterher war er ein riesiges, dickes Ungeheuer, dessen ganzer Körper mit 18 einer Schicht aus hartem, schwarzem Gestein bedeckt war, die von orange glühenden Adern durchzogen war. (ATK: 2800) „Leider kann Blaster in dem Spielzug, in dem er auf diese Weise beschworen wurde, nicht angreifen. Deshalb setze ich jetzt eine Karte verdeckt und aktiviere den Schnellzauber Superverjüngung! Die lässt mich in der End Phase eine Karte ziehen für jedes Monster vom Typ Drache, das ich in diesem Spielzug auf den Friedhof abgeworfen habe! Das macht zwei Karten für Blizzarddrache und Burner, Drachenherrscher der Funken!“ Eine weitere holografisch vergrößerte Kartenrückseite erschien zu Evans Füßen, der seiner leeren Hand kurz darauf zwei neue Karten für den Effekt seiner Zauberkarte hinzufügte. Anschließend bildeten sich erneut zwei Feuerbälle in den Mäulern der beiden Drachenköpfe, mit denen sie Noras Lebenspunkten erneut um 1000 erleichterten. [(Evan) Hand: 3 / Backrow: 1] (Nora: LP 4000 -> 3000) (Aromagierin Rosemarie: ATK 2300 -> 1800) (Aromagierin Jasmin: DEF 2400 -> 1900) „Ich bin dran!“, meinte Nora mit zusammengebissenen Zähnen und zog eine Karte von ihrem Deck. Gleich im Anschluss griff sie nach der Karte, die sie am Ende ihres letzten Zuges verdeckt gesetzt hatte. „Ich aktiviere die permanente Falle Trockene Winde! Jedes Mal, wenn ich Lebenspunkte hinzu erhalte, zerstört die eins deiner Monster!“ Ein vergrößertes Hologramm der Fallenkarte klappte neben Nora hoch. Darauf zu sehen waren zwei bisher unbekannte Blumenmagier, ein rothaariger Mann und eine blonde Frau, die Rücken an Rücken in einem gelben Wirbelwind standen. „Als Nächstes aktiviere ich den Effekt von Aromagarten!“, fuhr sie fort und das ganze Schauspiel wiederholte sich: Eine frische Brise verteilte die Düfte und heilte die Brandschäden, Noras Monster atmeten tief durch. (Nora: LP 3500 -> 4000) (Aromagierin Rosemarie: ATK 1800 -> 2300) (Aromagierin Jasmin: DEF 1900 -> 2400) „Jetzt aktiviert sich der Effekt von Jasmin und lässt mich eine Karte ziehen. Außerdem aktivieren sich die Effekte von Rosemarie und Trockene Winde! Mit Rosemarie ändere ich einen deiner Sonneneruptions-Drachen in den Angriffsmodus, Trockene Winde zerstört den anderen!“ Ein heftiger Wirbelwind, in dem gelbe Blätter trieben, wurde plötzlich von der vergrößerten Fallenkarte entfacht und schoss fast wie ein Strahl quer über das Spielfeld. Auf der anderen Seite erfasste er einen der brennenden Drachenköpfe, dessen Hologramm sich augenblicklich in Luft auflöste. Gleichzeitig atmete der andere den blauen Duft ein, der von Rosemaries Stab ausging, richtete sich auf und das Feuer an seinem Körper leuchtete heller. (ATK: 1500) „Und jetzt los, Rosemarie! Greif an mit Veilchenflamme!“ Erneut legte sich die blauhaarige Zauberin ihren Stab ans Kinn und blies in die Kerze auf dessen Spitze, diesmal mit Erfolg. Die blauen Flammen trafen den verbliebenen Drachenkopf, der sich sofort in Luft auflöste, und drangen zu Evan durch. 19 (LP: 4000 -> 3200) Nora wirkte zufrieden, dass sie endlich durch Evans Verteidigung gebrochen war. „Ich beende meinen Zug“, sagte sie, wobei eine neue vergrößerte Kartenrückseite neben ihr erschien. „Das heißt, dein Drache kehrt jetzt auf deine Hand zurück!“ [Hand: 6 / Backrow: 0] „So ist es“, bestätigte Evan und griff nach der Karte, woraufhin das Hologramm des großen Drachen mit dem Magmapanzer verschwand. „Ich bin dran!“, fuhr er fort und zog schwungvoll eine Karte von seinem Deck. Als er sah, was er gezogen hatte, grinste er zufrieden. Auf einmal setzten sich die Karten in seiner Hand zu einem großen Ganzen zusammen und ihn beschlich das Gefühl, dass er ohne eine Niederlage seine Prüfung bestehen würde… „Als Erstes aktiviere ich den Zauber Falle entfernen! Damit gehören deine Trockenen Winde der Vergangenheit an!“ Er steckte die Karte von seiner Hand in seine Duel Disc, woraufhin sie neben ihm holografisch vergrößert wurden. Zeitgleich zersprang das Hologramm von Noras permanenter Fallenkarte in tausend Teile. Zufrieden zückte Evan anschließend eine weitere Karte von seiner Hand: „Als Nächstes aktiviere ich den Effekt von Tidal, Drachenherrscher der Wasserfälle von meiner Hand! Ich werfe ihn zusammen mit Hydrogeddon von meiner Hand ab, um ein Monster von meinem Deck auf den Friedhof zu schicken! Und ich entscheide mich für seinen kleinen Freund Stream, Drachenherrscher der Tröpfchen!“ Er schickte die beiden Karten von seiner Hand auf den Friedhof und griff anschließend nach der Karte, die sein Deck hervor schob, um sie ebenfalls dorthin zu schicken. „Und was hat dir das jetzt gebracht?“, kommentierte Nora die scheinbar nutzlose Verschwendung von Handkarten. „Ganz einfach“, entgegnete Evan. „Jetzt, wo mein Friedhof gefüllt ist, kann ich Blizzarddrache, Stream, Drachenherrscher der Tröpfchen und Burner, Drachenherrscher der Funken aus dem Spiel entfernen, um diesen bösen Buben zu beschwören! Erscheine, Frost- und Flammendrache!“ Evan griff nach seinem Friedhof, um sich die drei Karten in die Jackentasche zu stecken. Anschließend legte er eine Karte von seiner Hand auf die Oberfläche seiner Duel Disc, woraufhin das Hologramm eines neuen Monsters auf seinem Feld erschien. Es handelte sich dabei um einen gewaltigen Drachen mit einem langen, grauen, schlangenhaften Körper und zwei Köpfen. Diese hätten unterschiedlicher kaum sein können: Der rechte war blau und eisig, der linke bestand komplett aus orange glühenden Flammen. (ATK: 2300) „Ich aktiviere den Effekt meines Monsters!“, fuhr Evan fort. „Ich werfe eine Karte ab, um eins deiner Monster zu zerstören! Ich wähle Aromagierin Rosemarie!“ 20 Er schob seine letzte Handkarte auf den Friedhof und deutete anschließend auf Noras Feld. Der zweiköpfige Drache unterdessen bog seinen feurigen Kopf nach oben, wobei sich im Maul ein glühender Feuerball bildete. Diesen schleuderte das Ungetüm anschließend auf die blauhaarige Zauberin, die dem Angriff schutzlos ausgeliefert war. Doch kaum war ihr Hologramm verschwunden, schon brauste ein kleiner Wirbelwind auf und wirbelte blaue Blütenblätter durch den Garten. „Wenn ein Aroma-Monster zerstört wird, erhalte ich durch den Effekt meines Gartens 1000 Lebenspunkte hinzu!“, erklärte Nora und atmete die frische Luft ein, woraufhin sich der Wind legte. (LP: 3500 -> 4500) „Also hat dir deine Aktion rein gar nichts gebracht. Mit deinem Drachen kommst du nicht über meine Jasmin!“ „Aber ich bin ja auch noch lange nicht fertig!“, entgegnete Evan und griff erneut nach seinem Friedhof. „Ich aktiviere den Effekt von Blaster, Drachenherrscher des Infernos von meinem Friedhof! Ich habe ihn eben gerade für den Effekt von Frost- und Flammendrache abgeworfen und kann ihn als Spezialbeschwörung beschwören, indem ich meine beiden Sonneneruptions-Drachen aus dem Spiel entferne!“ Zwei weitere Karten wanderten in seine Jackentasche, eine dritte klatschte er auf die Oberfläche seiner Duel Disc. Vor ihm erschien daraufhin erneut des großes, roten Drachen mit dem Magmapanzer. (ATK: 2800) „Und jetzt kommt das große Finale!“, kündigte Evan an und griff nach seiner verdeckten Karte. „Ich aktiviere die Falle Hochwasser auf der Feuerinsel! Ich kann sie aktivieren, wenn ich ein Feuer- oder Wassermonster der Stufe 7 oder höher kontrolliere! Dann erhalte ich Effekte, davon abhängig, ob ich Feuer- oder Wassermonster kontrolliere! Ich habe beides, deshalb aktivieren sich sämtliche Effekte! Als Erstes der Wasser-Effekt! Der erlaubt es mir, beliebig viele WasserMonster zu beschwören, die in diesem Spielzug abgeworfen wurden, um Monstereffekte zu aktivieren! Dies trifft auf Tidal, Drachenherrscher der Wasserfälle und Hydrogeddon zu!“ Plötzlich ertönte ein Rauschen und von irgendwo hinter Evans Rücken brach eine gewaltige Flutwelle über das Kampffeld hinein. Mit sich trug sie zwei Monster: Ein riesiger Drache mit langen, dünnen Vorderläufen, der ganz aus blauem Eis zu bestehen schien (ATK: 2600) und eine Art breit gebauter Dinosaurier, der aussah wie schlammiges Wasser, das Form angenommen hatte. (ATK: 1600) Letzterer wurde jedoch, als die Flutwelle ihren Zenit erreicht hatte und zurückwich, wieder mitgerissen, sank zusammen und verschmolz mit den Fluten. „Wenn ich durch den Effekt von Hochwasser auf der Feuerinsel Monster beschwöre, muss ich eins meiner Monster auf den Friedhof schicken. Deshalb musste Hydrogeddon leider wieder gehen“, erklärte Evan. „Außerdem aktiviert sich jetzt der Feuer-Effekt meiner Fallenkarte! Der lässt mich ein Monster auf dem Feld zerstören! Und ich wähle Aromagierin Jasmin!“ Der große Drache mit dem Magmapanzer streckte seinen Kopf nach oben und stieß ein lautes Brüllen aus. Kurz darauf geschah es wieder ganz plötzlich: Ein flammender Meteor stürzte von der Decke und traf Noras verbliebenes Monster hart am Kopf, wobei sich das Hologramm augenblicklich in Luft auflöste. 21 Anschließend brauste erneut ein Wirbelwind auf verteilte weiße Blütenblätter. Nora erhielt 1000 Lebenspunkte durch ihren Feldzauber hinzu, kommentierte es jedoch nicht weiter, weil sie wusste, dass es nichts änderte. (LP: 4500 -> 5500) „Tut mir wirklich leid“, sagte Evan. „Aber ich bin hier, um zu gewinnen! Los Jungs, greift an!“ Synchron streckten die drei riesigen Drachen auf Evans Feld die Hälse und beschossen Nora mit Flammenstößen und eisigen Strahlen. Schützend hielt sie sich einen Arm vors Gesicht und sank auf die Knie (LP: 5500 -> 0) „Na warte, das kriegst du eines Tages zurück“, sagte Nora und richtete sich auf, lächelte dabei aber. Evan jedoch war abgelenkt. Der Garten und die hohe Hecke waren verschwunden, sodass er wieder einen Blick auf Christopher werfen konnte. „Los, Drache des Lichts und der Finsternis, greif’ ihn direkt an!“, rief der gerade und senkte die Lebenspunkte seines Gegners damit auf 0. Ohne eine emotionale Regung zu zeigen, deaktivierte er seine Duel Disc, nahm das Lob des Lehrers, der die Prüfung abnahm, mit einem Kopfnicken entgegen und verließ das Kampffeld. ~ Zwei weitere Wochen vergingen, in denen die Prüfungen ausgewertet wurden. Es waren schöne, sonnige Tage voller Muße, so recht genießen konnte Evan sie jedoch nicht. Denn zwischen ihm und Chris herrschte immer noch Eiszeit. Tatsächlich bekam er seinen Freund in den ganzen zwei Wochen kaum zu Gesicht und den Versuch, den Kontakt zu erzwingen, hatte er aufgegeben. Zum ersten Mal in näheren Kontakt mit ihm trat er bei der Verkündung der Prüfungsergebnisse, wo die beiden, um für ihre herausragenden Leistungen gefeiert zu werden, gemeinsam nach vorne gebeten wurden. Jedoch mied Chris seinen Blick und war nach der Prozedur auch gleich wieder von dannen. Am nächsten Tag fand dann die große Abschlussfeier statt. Gegen Mittag legte die Fähre an, auf der sich die Angehörigen der Absolventen befanden. Wieder war es ein wunderschöner, milder Sommertag und Evan schwitzte in seinem extra für diesen Anlass maßgeschneiderten, mitternachtsblauen Anzug ganz schön. Unbehaglich fummelte er am Kragen seiner dunkelroten Krawatte herum und ließ den Blick über die Familien der Schüler schweifen, wobei seine Aufmerksamkeit insbesondere den Studentinnen und den Schwestern in den kurzen Cocktailkleidern galt. Nora plauderte ein Stück weiter angeregt mit ihren Eltern. Sogar Richard Steele war als besonderer Ehrengast eingeladen worden, um den herausragenden Duellantenjahrgang zu verabschieden. Begleitet wurde er von seinem Sohn, einem drahtigen, mürrisch dreinblickenden Vierzehnjährigen, der bereits so groß wie sein Vater war und den ausgemergelten Eindruck von jemandem erweckte, der in kurzer Zeit einen gewaltigen Wachstumsschub durchgemacht hatte. Gekleidet war er in einer blauen Duellakademie-Jacke. Von seinem Onkel George, der über die wirtschaftlichen Größen der Stadt stets bestens Bescheid wusste, hatte Evan erfahren, dass Richard Steele Jr. vor kurzem mit Bestnote an der Duellakademie aufgenommen worden war und am Ende des Sommers seine Ausbildung antreten würde. 22 Evan selbst stand in der Nähe des Hafens mit ebenjenem Onkel George und dessen Frau, die sich an der Schönheit der Insel erfreuten. In der einen Hand trug er ein Sektglas, die andere ruhte in der Tasche seines Jacketts. Die Schwester seiner Mutter war Anfang fünfzig, hatte langes, burgunderfarbenes Haar und sah für ihr Alter sehr gut aus. Ihr Mann war über zehn Jahre älter als sie, groß und fast kahlköpfig. „Evan!“, ertönte ein Stück weiter plötzlich eine hohe, weibliche Stimme und riss diesen aus seinen Gedanken. Er drehte sich zu der Quelle der Stimme um und erblickte ein blondes Mädchen mit strahlend blauen Augen in einem makellosen weißen Kleid. „Lisa?“, begrüßte Evan Christophers kleine Schwester lächelnd. Er hatte sich mit ihr angefreundet, als im letzten Sommer ein paar Wochen mit Christopher und seiner Familie in deren Ferienhaus in der Südsee verbracht hatte. Ihr sonniges Gemüt war einfach bezaubernd. „Mensch, lange ist’s her. Schön dich zu sehen! Erstaunlich, wie groß du geworden bist…“ Lisa nickte erfreut und wollte ihm die Hand geben, aber Evan entschied sich dazu, sie stattdessen brüderlich zu umarmen. Fast ein Jahr hatten sie sich nicht gesehen, seitdem war sie tatsächlich einige Zentimeter gewachsen. Aus dem mittlerweile fast dreizehnjährigen Mädchen war eine kleine Frau geworden. „Kommst du uns diesen Sommer wieder besuchen?“, fragte sie fröhlich. „Wir müssen unbedingt mal wieder zusammen Tennis spielen!“ „Bloß nicht“, lachte Evan, auch um der vorangegangenen Frage auszuweichen. „Ich will nicht schon wieder von einem kleinen Mädchen besiegt werden…“ Lisa kicherte, drehte sich dann jedoch um, als ein Pfiff ertönte. Verursacht hatte ihn Mr. Allington ein Stück weiter. Er stand dort zusammen mit dem Rest seiner Familie sowie Mr. Steele und dessen gelangweiltem Sohn. Evan erhaschte einen kurzen Blick auf Christopher und zum ersten Mal seit langem trafen sich ihre Blicke. Chris starrte ihn kühl aus seinem gesunden linken Auge an, sein rechtes war immer noch verbunden. Sein etwas weit wirkender Anzug und die schmale Krawatte waren pechschwarz. Man könnte meinen, er sei auf einer Beerdigung. Nach nicht einmal einer Sekunde wandte er sich ab. Auch Christophers jüngerer Bruder Daniel war anwesend. Er trug ein schlichtes, schwarzes Hemd passend zu seinem langen, rabenschwarzen Haar, das ihm in Strähnen in die Augen fiel. Er wirkte ähnlich ausgezerrt und desinteressiert wie der Sohn von Mr. Steele. „Lisa, komm!“, rief Mr. Allington. Lisa zog eine Schnute. „Bin ich ein Hund?“, fragte sie in Richtung Evan, wandte sich aber zum Gehen. „Tschüss Evan!“, rief sie ihm hinterher und winkte zum Abschied, während sie wieder zu ihrer Familie rannte. „Ich habe neulich Golf mit seinem Vater gespielt“, erzählte Onkel George, dem aufgefallen war, dass Evan immer noch zu Chris hinüber starrte. „Er ist überhaupt nicht gut auf dich zu sprechen.“ 23 „George, bitte…“, unterbrach ihn Tante Jane, die merkte, wie sich Evans Griff um das Sektglas festigte. „Schon okay“, meinte Evan. Es war nicht das erste Mal, dass er einen der Golfkumpels seines Adoptivonkels gegen sich aufbrachte. In einem seiner Versuche, ein innigeres Verhältnis zu seinem Ziehsohn aufzubauen, hatte er diesen einmal mit auf den Golfplatz genommen. Um dem sterbenslangweiligen Sport zu entkommen, war Evan unter dem Vorwand, Getränke zu holen, mit der achtzehnjährigen Tochter des Golffreundes im Golf Cart weggefahren. Über eine Stunde später hatten Onkel George und sein Freund die beiden wild knutschend in ebenjenem Cart vorgefunden. Der Vater des Mädchens, der seine Tochter bis zu diesem Moment für eine brave Kirchenmaus gehalten hatte, war stocksauer und Onkel George hatte nie wieder angeboten, Evan mit auf den Golfplatz zu nehmen. „Ich weiß. Chris meint, er wollte mich verklagen“, schloss er. „Ich würde lügen, wenn ich behaupte, dass ich ihn nicht verstehen kann“, entgegnete Onkel George streng und erntete dafür einen vorwurfsvollen Blick von seiner Frau. Evans Miene versteinerte. „Ich weiß selbst, dass ich absoluten Mist gebaut habe“, sagte er aufrichtig. „Glaub’ mir, ich würde alles tun, um die Sache rückgängig zu machen. Aber es ist nunmal passiert. Da hilft eine gerichtliche Auseinandersetzung auch nicht weiter…“ Sein Onkel kam aber nicht dazu, darauf zu antworten, denn in diesem Moment bat Professor Maverick um Aufmerksamkeit, um die Feierlichkeiten fortzuführen. Es folgte ein feierliches Mittagsmahl unter freiem Himmel, anschließend Reden vom Schuldirektor und von Mr. Steele, dann wurden alle erfolgreichen Absolventen auf die Bühne gebeten, wo ihnen unter Applaus das Abschlusszeugnis überreicht wurde und sie anschließend von Professor Maverick mit einem Schulterklopfen verabschiedet wurden. Als alle wieder saßen und Evan unter Schweiß sein Jackett ausgezogen hatte, trat Professor Maverick erneut auf die Bühne. „Und zu guter Letzt steht noch eine ganz besondere Tradition an“, verkündete er. „Schließlich ist das hier die Duellakademie und kein Jahr vergeht ohne das große Abschlussduell! Und ich denke, wir sind uns alle einig, wer dieses führen sollte! Wer sonst als die beiden größten Talente, die diese Schule in den letzten fünfzehn Jahren besucht haben und denen gewiss eine große Zukunft als Profiduellanten bevor steht: Evan Drake und Christopher Allington!“ Applaus ertönte, während sich die Aufgerufenen von ihren Plätzen erhoben und auf ein Zeichen Professor Mavericks hin die Bühne betraten. „Irgendwelche Einwände?“, fragte der Lehrer die beiden Jungen, die sich zu seinen Seiten aufgestellt hatten. Evan starrte Chris ernst ins gesunde Auge. Dieses verengte sich, Christopher schüttelte jedoch den Kopf, um die Frage zu verneinen. Evan grinste zufrieden und schnappte dem Lehrer das Mikrofon weg. „Alles klar!“, sagte er munter zur Menge der Schüler und Familienangehörigen. „Aber wer will sich bei dem traumhaften Wetter schon drinnen duellieren? Ich schlage vor, 24 wir machen es stattdessen gleich da vorne!“ Er deutete mit dem Finger auf einen Fleck direkt vor ihm. Die Zuschauer drehten sich um und sahen den Ort, auf den er gezeigt hatte: Eine große, hohe Wiese direkt an der Klippe, wo die inzwischen vom Meer aufgezogene steife Brise das Gras wellenförmig streichelte. Und so geschah es: Kurze Zeit später standen sich beide auf ebenjener Wiese gegenüber. Von der einen Seite hatte sich die Gesellschaft im Halbkreis aufgestellt, um ihnen zuzusehen, von der anderen Seite hörte man die Wellen gegen den Fels krachen. Evan hatte sein Dreihundert-Dollar-Jackett achtlos ins Gras geworfen, krempelte sich die Ärmel seines Hemdes hoch, knöpfte es einen Knopf weiter auf, lockerte den Knoten seiner Krawatte und legte sich die Duel Disc an. Ihm gegenüber tat Christopher es ihm gleich, ging dabei aber deutlich sorgfältiger mit seinen Klamotten um. Sein Jackett gab er seiner Mutter und Krawatte und der Ärmel des rechten Arms, der nicht die Duel Disc trug, blieben unberührt. „Hast du das hier arrangiert?“, fragte Chris skeptisch und es war das erste Mal seit einer Ewigkeit, dass er direkt mit Evan sprach. „Wie man’s nimmt“, entgegnete der ernst. „Es war von Anfang an vorgesehen, dass wir das Abschlussduell führen. Im Angesicht der jüngsten Entwicklungen hat Ben mich gefragt, ob dies auch in Ordnung sei und ich habe ihn ausdrücklich darum gebeten, den Plan beizubehalten.“ Chris gab lächelte auf arrogante Art amüsiert. „Verstehe“, meinte er. „Na ja, mir soll’s Recht sein. Das hier war lange überfällig.“ Evan grinste. „Los Duell!“, rief er und Christopher stimmte ein. Anschließend aktivierten beide ihre Duel Discs und zogen fünf Karten von ihren Decks. „Fang’ du an“, sagte Evan im Anschluss. „Wie du willst…“, entgegnete Chris und betrachtete seine Hand. „Ich beschwöre Drachcard im Verteidigungsmodus.“ Er legte die Karte waagerecht auf seine Duel Disc, woraufhin vor ihm das Hologramm eines Lindwurms, eines Drachen ohne Vorderbeine, mit schwarzem Rücken und lila Bauch erschien und die Flügel vor der Brust verschränkte. (DEF: 1900) „Damit beende ich meinen Zug“, schloss Chris. [Hand: 4 / Backrow: 0] „Dann bin ich dran!“, entgegnete Evan und zog ruckartig eine Karte von seinem Deck. „Ich aktiviere den Zauber Verteidigung stoppen! Damit zwinge ich dein Monster in den Angriffsmodus!“ Ein vergrößertes Hologramm der Zauberkarte erschien kurz neben Evan, während Christophers Monster die Flügel ausbreitete und ein krächzendes Fauchen ausstieß. (ATK: 1300) 25 „Als Nächstes beschwöre ich einen alten Freund!“, fuhr Evan fort. „Los, Hydrogeddon!“ Er klatschte die Karte auf seine Duel Disc und vor ihm erschien das Hologramm eines breit gebauten Dinosauriers, der ganz aus schlammigem Wasser zu bestehen schien, das ihn in Wellen vom Kopf zum gegabelten Schwanz strömte. (ATK: 1600) „Los, greif’ Drachcard an!“ Mit einer überraschenden Agilität machte die Kreatur einen großen Sprung nach vorne und attackierte das gegnerische Monster mit seinen aus Wasser geformten Vorderläufen, deren Klauen sich im Sprung verlängerten und das Hologramm des kleinen Lindwurms ohne Probleme dazu brachten, sich aufzulösen. (Christopher: LP 4000 -> 3700) „Ich aktiviere den Effekt meines Monsters!“, fuhr Evan fort, als jenes zu ihm zurückgekehrt war. „Wenn er ein Monster durch Kampf zerstört, kann ich einen weiteren Hydrogeddon von meinem Deck beschwören!“ Das Monster stieß ein Brüllen aus und teilte sich danach wie ein riesiges Bakterium in zwei identische Ebenbilder, während Evan nach der Karte griff, die seine Duel Disc hervorschob, und jene auf deren Oberfläche klatschte. (ATK: 1600) „Los, greif’ ihn direkt an!“ Das neue Wasserungetüm legte den Kopf in den Nacken und bespuckte Christopher anschließend mit einer großen Kugel schmutzigen Wassers aus seinem Maul. Der Junge mit dem verbundenem Auge hielt sich eine Hand vors Gesicht, als der Angriff ihn traf. (LP: 3700 -> 2100) „Ich beende meinen Zug“, schloss Evan. [Hand: 4 / Backrow: 0] „Ich bin dran!“, antwortete Christopher kühl und zog eine Karte von seinem Deck. Als er sie betrachtete, schmunzelte er und steckte sie ohne viel Federlesen in seine Duel Disc. „Ich aktiviere Elegante Wohltäterin! Damit ziehe ich drei Karten und werfe anschließend zwei ab!“ Ein vergrößertes Hologramm der Zauberkarte erschien neben Christopher, darauf zu sehen war ein blonder Engel, über deren Handfläche eine weiß leuchtende Karte schwebte. Unterdessen füllte Christopher seine Hand auf und zog anschließend zwei braune Monsterkarten daraus hervor, um sie auf den Friedhof zu schicken. „Das bisher war nur Vorgeplänkel. Jetzt werde ich allen endgültig beweisen, wer hier der beste Duellant ist!“, fuhr er unvermittelt fort. „Ich aktiviere den Effekt eines Monsters von meinem Friedhof! Ich beschwöre es als Spezialbeschwörung, indem ich ein Licht- und ein Finsternis-Monster abwerfe! Licht meines Verstandes, leuchte mir den Weg und blende meinen Gegner! Erscheine, Lichtpulsar-Drache!“ 26 Er schob zwei weitere Karten von seiner Hand auf den Friedhof und griff anschließend danach, um eine der zuvor abgeworfenen Karten herauszuholen, die er auf die Oberfläche seiner Duel Disc klatschte. Auf seinem Feld erschien daraufhin ein seltsames, holografisches Lichtgebilde: Ein kugelrunder, weiß leuchtender und leicht pulsierender Stern, der schnell und ohne erkennbares Muster rotierte und dabei immer wieder aus zwei Polen breite, kräftige Lichtstrahlen ausstieß, was ein wenig an einen Leuchtturm erinnerte. Nach einer Weile explodierte das Ding und leuchtete dabei so hell, dass Evan geblendet die Augen zukneifen musste. Als er sie öffnete, war ein riesiger Drache auf Christophers Feld erschienen. Dieser hatte eine graublaue Färbung, jedoch wurde sein Körper zu großen Teilen von einer silbernen Rüstung bedeckt. Er stand auf zwei Beinen mit mächtigen, klauenbewährten Vorderläufen als Arme. Auf seiner Brust klaffte ein Loch, aus dem ein helles, bläuliches Licht drang. (ATK: 2500) „Wenn Eklipsen-Lindwurm auf den Friedhof geschickt wird, kann ich ein Licht- oder Finsternis-Monster vom Typ Drache der Stufe 7 oder höher von meinem Deck aus dem Spiel entfernen. Ich wähle Drache des Lichts und der Finsternis“, erklärte Chris, zeigte seinem Gegner die Karte, die er für die Beschwörung seines Monsters auf den Friedhof gelegt hatte, und griff dann nach der Karte, die sein Deck hervor schob, um sie sich in die Brusttasche seines Jacketts zu stecken. Unterdessen erschien über der Mitte des Kampffelds eine holografische Sonne, die zusammen mit der echten Sonne hoch oben am Himmel einen fremdartigen Eindruck erweckte. Davor schob sich kurz darauf ein runder, schwarzer Schatten, sodass von der zweiten Sonne nur noch ein schmaler, runder Kreis übrig war. „Aber ich bin noch lange nicht fertig!“, verkündete Chris. „Als Nächstes entferne ich Drachcard und Eklipsen-Lindwurm von meinem Friedhof aus dem Spiel, um ein weiteres bekanntes Gesicht zu beschwören! Finsternis meines Herzens, hülle mich in Dunkelheit und zerstöre, was dir im Weg ist! Erscheine, Finstereruptions-Drache!“ Erneut griff Christopher nach seinem Friedhof, um zwei Karten daraus in seine Brusttasche zu stecken. Anschließend zückte er eine weitere Karte von seiner Hand und klatschte sie auf seine Duel Disc. Erneut erschien ein rätselhaftes Lichtgebilde auf dem Kampffeld. Diesmal handelte es sich um eine schwarze Kugel mit tiefen Rissen, aus denen unheilvolles, rotes Licht drang. Auch dieses Ding zuckte und pulsierte und erinnerte dabei auf unheimliche Art an ein schlagendes Herz. Auch dieses Ding explodierte nach einer Weile und machte einem großen Drachen Platz. Auch dieser stand auf zwei Beinen, jedoch hatte er statt zu Armen umgebildeten Vorderläufen ein zweites Paar ledriger Flügel in einem dunklen Lilaton, die zusammen mit dem größeren ersten Paar ein X bildeten. Das Ungetüm hatte einen leuchtend orangefarbenen Bauch, der im Kontrast zu dem stachligen, schwarzen Panzer stand, der den Großteil seines Körpers bedeckte. Auch auf seiner Brust klaffte ein rundes Loch, aus dem ein gelbes Glühen drang, wie von flüssigem Metall. (ATK: 2400) „Und jetzt los! Gebt ihm, was er verdient hat und vernichtet seine Monster! Lichtpuls und Dunkelflamme!“ 27 Christophers Monster gehorchten. Der blau-silberne Drache schoss einen gebündelten Lichtstrahl aus seinem Maul ab, der einen der beiden WasserDinosaurier traf und zum Verschwinden brachte, während der andere den unheimlichen, schwarzen Flammen zum Opfer fiel, die der zweite Drache spie. Evan unterdessen hielt sich instinktiv einen Arm vors Gesicht, um sich vor den Resten der Angriffe zu schützen, die zu ihm durchdrangen. (LP: 4000 -> 2300) „Was ist nur los mit dir?“, fragte Evan, als der Angriff vorbei war. „Das ist das erste Mal seit Wochen, dass wir richtig miteinander reden…“ Chris antwortete zunächst nicht. „Du bist so naiv…“, sagte er schließlich. „Wieso sollte ich noch mit dir Reden wollen, so als wäre nichts passiert? Bereust du denn gar nicht, was du getan hast?“ „Ob ich es bereue?“, wiederholte Evan todernst. „Mehr als alles andere“, antwortete er anschließend ehrlich. „Aber ich kann die Vergangenheit nun einmal nicht ändern. Warum also gibst du mir keine Chance, es wieder gutzumachen?“ „Du kannst es nicht wieder gut machen!“, entfuhr es Christopher daraufhin lautstark, wobei er ein wenig zusammenzuckte. „Ich setze zwei Karten verdeckt und beende meinen Zug. Du bist dran.“ Mit einer geübten Handbewegung ließ Chris zwei Karten in seine Duel Disc gleiten, deren Rückseiten anschließend holografisch zu seinen Füßen dargestellt wurden. [Hand: 1 / Backrow: 2] „Tut mir leid, dass du so denkst“, entgegnete Evan traurig. „Aber wie du willst, klären wir das mit einem Duell! Mein Zug!“ Schwungvoll zog er eine Karte von seinem Deck und betrachtete sie mit grimmiger Zufriedenheit. „Ich aktiviere den Effekt von Blaster, Drachenherrscher des Infernos in meiner Hand! Ich werfe ihn zusammen mit Lavadrache ab, um eine deiner Karten zu zerstören! Und ich entscheide mich für Lichtpulsar-Drache!“ „Nicht so schnell!“, warf Christopher ein und griff nach seiner rechten verdeckten Karte. „Ich aktiviere die Falle Boden aus einer anderen Dimension! Damit werden alle Monster, die in diesem Spielzug auf den Friedhof gelegt würden, stattdessen aus dem Spiel entfernt!“ Evan zog die Brauen zusammen, während er die Karten in seine Hosentasche steckte, statt sie auf den Friedhof zu legen. „Trotzdem wird dein Monster zerstört!“, wandte er ein. „Und wegen deiner Fallenkarte wird es ebenfalls aus dem Spiel entfernt!“ Ungerührt griff Christopher nach der Karte, um sie von seiner Duel Disc zu nehmen und sich in die Brusttasche zu stecken. Die Duel Discs ließen es jedoch aussehen, als würde der blaue Drache in der silbernen Rüstung von einem vom Himmel fallenden, flammenden Meteor getroffen, woraufhin sich sein Hologramm in Luft auflöste. 28 „Als Nächstes aktiviere ich noch den Effekt von Tidal, Drachenherrscher der Wasserfälle in meiner Hand! Ich beschwöre ihn als Spezialbeschwörung, indem ich meine beiden Hydrogeddons aus dem Spiel entferne!“ Er griff nach seinem Friedhof, um sich die übrigen Monster daraus in die Hosentasche zu stecken und anschließend eine weitere Karte auf seine Duel Disc zu klatschen. Eine holografische Flutwelle entstand daraufhin hinter seinem Rücken und schwappte über das Kampffeld. Dort stiegen die Wassermassen auf wundersame Weise in die Höhe und nahmen die Form eines riesigen Monsters an. Das Wasser gefror in Windeseile und was übrig blieb, war ein gewaltiger Drache mit einem stachligen Rücken und langen, dünnen Armen, der ganz aus blauem Eis zu bestehen schien. (ATK: 2600) „Los, greif’ Finstereruptions-Drache an! Kalter Strahl!“ Der riesige Drache ließ seine gefrorenen Gelenke krachen, sodass seine volle Bewegungsfähigkeit hergestellt war. Anschließend stieß er einen schrillen Schrei aus, der Einem einen eiskalten Schauer über den Rücken laufen ließ, woraufhin ein gebündelter, bunter Strahl aus seinem Maul geschossen kam, der um sich herum einen blassen Nebel erzeugte. Auf halbem Weg über das Kampffeld erschien jedoch plötzlich eine schwache Barriere, mehr ein bräunliches Flimmern, für kurze Zeit in der Luft um Christophers Feld herum. Als der Strahl diese passierte, wurde er merklich schwächer. Er war zwar noch stark genug, um Christophers Monster zum Verschwinden zu bringen, jedoch blieben dessen Lebenspunkte völlig unberührt. „Was ist passiert?“, fragte Evan überrascht. „Ich habe meine permanente Falle aktiviert!“, erklärte Christ und tatsächlich: Neben ihm war das vergrößerte, magentafarbene Hologramm einer Karte hochgeklappt. „Dank Geisterbarriere erhalte ich keinen Kampfschaden, solange ich Monster kontrolliere!“ „Na schön…“, meinte Evan. „Aber dank deiner ersten Falle wird dein Monster trotzdem aus dem Spiel entfernt! Damit beende ich meinen Zug!“ [Hand: 2 / Backrow: 0] „Ganz recht…“, flüsterte Christopher daraufhin bedrohlich und nahm langsam seine letzte Monsterkarte von seiner Duel Disc und steckte sie sich in die Brusttasche. Anschließend rief er plötzlich lautstark: „Ich bin dran!“ Ruckartig zog er eine Karte von seinem Deck und als er erkannte, welche es war, breitete sich ein manisches Grinsen auf seinem schmalen Mund und in seinem gesunden Auge aus, das Evan gar nicht von ihm kannte. „Von meiner Hand aktiviere ich diese Karte!“, verkündete er und pfefferte sie regelrecht in seine Duel Disc. „Einen kleinen Zauber namens Dimensionsfusion!“ „Dimensionsfusion?!“, wiederholte Evan ungläubig. „Aber die kostet dich 2000 Lebenspunkte!“ 29 „Ich weiß!“, entgegnete Christopher und lachte schrill auf. Es war, als wäre eine Sicherung bei ihm durchgebrannt. „Aber dafür können wir jetzt beide so viele unserer aus dem Spiel entfernten Monster wie möglich beschwören! Und davon habe ich einige…“, fuhr er düster fort und holte vier Karten aus seiner Brusttasche, um sie vor sich aufzufächern. „Erscheint, meine Monster! Lichtpulsar-Drache, Eklipsen-Lindwurm, Drachcard und FinstereruptionsDrache!“ Was folgte, war ein surrealistischen Schauspiel: Im Raum über den Köpfen der Kontrahenten tat sich jeweils ein tiefer, klaffender Riss auf. Es war, als wäre der strahlend blaue Sommerhimmel nur eine Art Zeltplane, die aufgeschlitzt wurde, sodass sich offenbarte, was dahinter lag: Ein chaotischer Wirbel aus dunklen Farben. Aus diesem zwängten sich nun Christophers Monster zurück auf die hohe, grüne Wiese: Der blaue Drache mit der silbernen Rüstung (ATK: 2500), der kleine, schwarze Lindwurm (DEF: 1900), ein weiterer Lindwurm, schwarz und weiß mit einer roten Musterung (ATK: 1600) sowie der schwarze Drache mit den vier Flügeln. (ATK: 2400) (Christopher: LP 2100 -> 100) „Du Idiot!“, meinte Evan und griff nach den Karten in seiner Hosentasche. „Ich habe doch genau so viele Monster aus dem Spiel entfernt wie du! Und dafür bezahlst du fast deine ganzen Lebenspunkte?“ Anschließend legte auch Evan in einer geübten Bewegung vier Karten auf die Oberfläche seiner Duel Disc, die holografisch vor ihm dargestellt wurden: Die beiden Hydrogeddons (DEF: 2x 1000), Lavadrache, ein achtbeiniger, rosafarbener Drache mit einem orange glühenden Rückenkamm (DEF: 1200) und Blaster, Drachenherrscher des Infernos, ein riesiger Drache mit einem roten Bauch, dessen Rücken mit einem schwarzen Panzer aus harter Magma bedeckt war. (ATK: 2800) „Ich habe noch 100 Lebenspunkte übrig“, stellte Christopher fest. „Mehr als genug, um dich zu besiegen! Denn mit dem Folgenden werde ich Sache besiegeln! Ich biete Drachcard und Eklipsen-Lindwurm als Tribut an, um deinen schlimmsten Albtraum zu beschwören! Zwei Seelen, die in meiner Brust schlummern, bündelt eure Kräfte in einer einzigen, allmächtigen Kreatur! Die ultimative Macht von Licht und Schatten! Drache des Lichts und der Finsternis!“ Die beiden kleineren Monster auf Christophers Feld verschwanden und machten einem viel größeren, seinem absoluten Lieblingsmonster platz, das schon zahllose Duelle für ihn gewonnen hatte: Ein gewaltiger Drache mit zwei Schwänzen, der wie in der Mitte geteilt wirkte. Seine rechte Körperhälfte war schneeweiß, der dazugehörige Flügel ähnelte dem eines Schwans. Die linke Körperhälfte jedoch war pechschwarz, der linke Flügel sah aus wie der einer Fledermaus. Beeindruckt starrte Evan auf die Feldseite seines Gegners. Chris hatte die Karten so hingelegt, dass sie perfekt ineinander übergingen: Der neue Drache stand in der Mitte, zu seiner Rechten, neben der weißen Körperhälfte, stand der helle Drache in der silbernen Rüstung, links der schwarzen Körperhälfte des großen Monsters der komplett schwarze Drache. Es sah aus, als wäre ein finsterer Spiegel in der Mitte des Feldes aufgestellt. Christopher, das wusste Evan genau, liebte dieses Feld. Er pflegte, seine wichtigsten Duelle auf diese Weise zu beenden. „Los, Lichtpulsar-Drache, zeig’ seinem Monster deinen Lichtpuls!“ 30 Erneut schoss der blau-weiße Drache einen gebündelten Lichtstrahl aus seinem Maul ab. Dieser durchschlug das Hologramm eines der beiden Wasser-Dinosaurier, das sich augenblicklich in Luft auflöste. „Als nächstes du, Finstereruptions-Drache! Vernichte den zweiten mit Dunkelflamme!“ Der schwarze Drache gehorchte und stieß einen mächtigen Stoß schwarzer Flammen aus, der den zweiten Hydrogeddon regelrecht verdampfte. „Und jetzt du, Drache des Lichts und der Finsternis“, fuhr Christopher mit abschließendem Tonfall fort. „Greif’ Lavadrache an mit Chaosstrom!“ Der zweifarbige Drache warf den Kopf in den Nacken und stieß kurz darauf einen düsteren Strahl schwarzer Energie aus, der dem achtbeinigen Drachen auf Evans Feldseite keine Chance ließ. „Ich beende meinen Zug“, schloss Christopher zufrieden. [Hand: 1 / Backrow: 0] „Während der End Phase meines Gegners kehren Blaster, Drachenherrscher des Infernos und Tidal, Drachenherrscher der Wasserfälle auf meine Hand zurück, weil sie beide als Spezialbeschwörung beschworen wurden. Das ist eine Bedingung, dein Drache kann sie also nicht annullieren“, brummte Evan unzufrieden und griff nach seinen verbliebenen Monstern, um sie, wie Chris zweifellos geplant hatte, auf die Hand zurück zu nehmen. „Ich weiß…“, bestätigte der Evans Annahme. „Und genau so weiß ich, dass du zum Beschwören deiner Monster ihre Effekte aktivieren musst. Und das weiß Drache des Lichts und der Finsternis zu verhindern… Aber nur die wenigsten Duellanten kennen den Unterschied zwischen Effekten und Bedingungen. Du warst immer der einzige an diesem Ort, der mir auch nur annähernd ebenbürtig war.“ „Der einzige, der dir auch nur annähernd ebenbürtig war?“, wiederholte Evan kritisch. „Ich war viel mehr als das, das wissen wir beide! Ich war der einzige hier, der dein Freund war! Warum also wirfst du das alles hin? Warum bekämpfst du mich, als wäre ich dein schlimmster Feind?“ „[i]Ich[/i] werfe alles hin?“, polterte Christopher. „Wessen geniale Idee war es denn, nachts in heruntergekommenen Ruinen rumzuschleichen?“, er machte eine Pause und holte schnappend Luft. „Wer ist denn zuerst rausgerannt, um seine eigene Haut zu retten und ist dann erst zurückgekehrt, um seinen angeblich besten Freund zu retten?“ Plötzlich legte sich eine gespannte Stille über das Publikum, während Evan erstarrte und blass wurde. Er hatte nicht gewusst, dass Chris sich an dieses Detail erinnern konnte. Erneut überkam ihn die Reue wie eine kalte Welle und ließ ihn ganz kleinlaut werden: „Chris… bitte, ich wollte das nicht. Es war einfach ein Reflex. Es tut mir leid. Du musst mir glauben: Ich bereue nichts so sehr wie mein Verhalten in dieser Nacht. Ich weiß genau, dass ich Scheiße gebaut habe! Ich würde alles tun, um es 31 rückgängig zu machen, hörst du, alles! Ich kann es aber nicht. Was bleibt mir also übrig, als mich zu entschuldigen?“ „Entschuldigungen bringen mein Auge auch nicht zurück!“, entgegnete Christopher unbarmherzig. Ein paar der Frauen und Mädchen, die ihnen beim Duell zusahen, schnappten erschrocken nach Luft und Evan schrumpfte noch ein wenig mehr zusammen. Chris schien die Macht seiner Worte zu genießen. „Ganz genau…“, flüsterte er düster. „Sie konnten mein Auge nicht retten. Sie mussten es rausschneiden.“ Plötzlich deutete er mit Mittel- und Zeigefinger seiner rechten Hand auf den Verband in seinem Gesicht: „Ich hätte diesen Verband schon vor Wochen abnehmen können. Aber ich wollte ihn behalten, bis ich mit der Schule fertig bin, weil ich mich geschämt habe.“ Auf einmal fing Chris an, zu zittern und erneut breitete sich ein irres Grinsen in seinem Gesicht aus. Es war beängstigend. „Aber das tue ich jetzt nicht mehr. Sollen sie doch alle sehen, was aus mir geworden ist! Was du mit mir angerichtet hast!“ Er fing an, mit der freien rechten Hand am Hinterkopf an seinem Verband herumzufummeln. Dieser löste sich und fiel daraufhin sanft zu Boden. Nicht wenige schrien, als sie das sahen, was sich unter dem Verband verbarg. Auch Evan wich erschrocken einen Schritt zurück. Die Haut rund um das, was einmal Christophers rechtes Auge gewesen war, war runzlig und voller Narben. Das Auge selbst hatte keinerlei Ähnlichkeit mit dem gesunden Linken. Denn statt strahlend hellblau war der komplette Augapfel rabenschwarz und ähnelte dem eines Haifischs. Es erweckte einen kalten, leblosen Eindruck, während sich die Sonne darin spiegelte. Außerdem wirkte es viel größer als das natürliche Auge, was aber, so vermutete Evan, daran lag, dass auch jeweils ein Stück der Augenlider fehlte. Es war einfach nur angsteinflößend. „Chris…“, sagte Evan entsetzt. „Das ist… kannst… kannst du damit sehen?“ „Aber ja“, bestätigte Christopher, unablässig grinsend. „Drei Mal schärfer als ich es mit einem menschlichen Augen je könnte. Mein Vater hat keine Kosten gescheut… Aber siehst du, was aus mir geworden ist? Siehst du die Reaktionen der Anderen? Sie halten mich für ein Monster, und das ist allein deine Schuld! Also mach jetzt endlich deinen Zug, ich will das hier schnell hinter mich bringen.“ „Was ist nur los mit dir?“, fragte Evan, der es bereute, zurückgewichen zu sein, und wieder einen Schritt vorwärts machte. „Den Chris, den ich kannte, hat es nicht interessiert, was die Anderen denken. Der Chris, den ich kannte, hat sich nicht um sein Aussehen geschert!“ Chris antwortete zunächst nicht. Sein Lächeln schwand und er blickte stattdessen wieder traurig und ernst. Auf einmal wirkte er wieder ausgesprochen menschlich. „Vielleicht solltest du dich einmal fragen, ob der Chris, den du geglaubt hast, zu kennen, wirklich existiert hat“, sagte er betrübt. 32 Diese Aussage war für Evan wie ein Schlag ins Gesicht. „Nein…“, hauchte er. „Das glaube ich nicht. Ich weigere mich, das zu glauben!“ Christopher blickte weiterhin ernst. „Dann kann ich dir auch nicht helfen. Machst du jetzt deinen Zug, oder was?“ Evan schloss die Augen und wandte den Kopf ab. „Na schön!“, presste er hervor. „Aber ich tue es nur für dich! Ich werde alles tun, um das hier zu retten!“ Und mit einem Ruck zog er eine Karte von seinem Deck. Doch im Grunde wusste er, dass Christopher Recht hatte: Um seine Drachenherrscher zu beschwören, musste er ihre Effekte aktivieren, die Christophers Drache des Lichts und der Finsternis jedoch einfach annullieren würde. Er konnte auf diese Weise zwar die Angriffspunkte des gegnerischen Monsters senken, aber die Kosten in Form von abgeworfenen Handkarten oder aus dem Spiel entfernten Monstern würde er trotzdem erbringen müssen. Wirklich in die Offensive gehen konnte er also noch nicht… „Ich setze zwei Karten verdeckt und beende meinen Zug“, verkündete Evan und zu seinen Füßen erschienen zwei neue, holografisch vergrößerte Kartenrückseiten. [Hand: 3 / Backrow: 2] „Ist das schon alles?“, fragte Christopher überheblich. Offenbar fühlte er sich schon als Sieger, während er gelassen eine Karte aufzog und kaum beachtete, weil er ihre Effekte sowieso nicht nutzen konnte. „Na ja, was will man auch erwarten bei einem Monster wie Drache des Lichts und der Finsternis? Egal was du setzt, er annulliert es. Du bist verloren…“, fuhr er genüsslich fort. Im Publikum blickten die Familien der Schüler entsetzt drein, manch eine Verwandte hatte sich vor Spannung die Hände auf den Mund gelegt. Dann, plötzlich, weiteten sich Christophers schreckliche, ungleiche Augen und er bellte laut: „Chaosstrom!“ Erneut warf der zweifarbige Drache den Kopf in den Nacken und stieß einen Strahl finsterer Energie aus, um die Lebenspunkte seines Gegners endgültig auf 0 zu senken… Siegessicher drehte Christopher sich schon um, wohl, um zu seiner Familie zu gehen, oder einfach, um Evan hinter sich zu lassen. Als er jedoch aus den Augenwinkel realisierte, dass seine Monster nicht verschwanden, hielt er inne und runzelte die Stirn. „Wo willst du hin?“, fragte Evan am anderen Ende des Kampffelds. „Wir sind noch lange nicht fertig!“ Christopher wirbelte herum und erkannte die Fallenkarte, die neben Evan hochgeklappt war: „Angriff Annullieren?!“ „Ganz genau“, bestätigte Evan selbstbewusst. 33 „Aber wie ist das möglich?“, fragte Chris irritiert, aber dann schien er selbst zu verstehen. „Konterfallen können nur von anderen Konterfallen annulliert werden…“, flüsterte er langsam. „Genau das!“, bestätigte Evan. „Erinnerst du dich noch, im Gras unter den Torbögen, wo ich dich abgefragt habe?“ Christopher antwortete nicht. Einen Moment lang schaute er ins Leere, dann verzerrte sich sein entstelltes Gesicht wieder zornig. „Und wenn schon“, meinte er geringschätzig. „Das verzögert es nur! Ich beende meinen Zug.“ [Hand: 2 / Backrow: 0] „Das werden wir ja sehen“, entgegnete Evan, auch wenn er wusste, dass es leere Worte waren. Er stand mit dem Rücken zur Wand, ihm fiel keine Karte in seinem Deck ein, die ihm helfen konnte, fast keine… „Mein Zug“, fuhr er ruhig fort und zog eine Karte von seinem Deck. Anschließend schloss er die Augen und atmete tief durch, bevor er die Karte betrachtete. Als er sie schließlich in seinen Fingern umdrehte und ansah, riss er seine Augen sofort weit auf. Das musste ein Zeichen sein, dachte er. Ein Zeichen, dass er die Freundschaft zu Chris vielleicht doch noch retten konnte, wenn er es nur richtig anstellte… „Ich aktiviere den Effekt von Blaster, Drachenherrscher des Infernos in meiner Hand! Ich werfe ihn zusammen mit Sonneneruptions-Drache ab, um eine deiner Karten zu zerstören! Und ich wähle Geisterbarriere!“ Evan schob die beiden Karten von seiner Hand auf den Friedhof, woraufhin ein flammender Meteor am Himmel erschien und auf Christophers Feld zuraste. „Was soll der Unsinn?“, fragte der. „Du weißt genau, dass Drache des Lichts und der Finsternis jeden anderen Effekt annulliert!“ Der riesige, zweifarbige Drache stieß ein Brüllen aus, wobei sich um ihn herum eine blasse Barriere ausbreitete, wie eine Kuppel aus trübem Glas. Als der Meteor auf diese traf, schien er regelrecht zu verdampfen, wobei nur winzige Staubkörner übrig blieben. (Drache des Lichts und der Finsternis: ATK 2800 -> 2300) „Schon, aber dafür sinken die Angriffspunkte deines Monsters um 500!“, entgegnete Evan und griff nach seinem Friedhof, um drei Karten daraus hervor zu holen und aufzufächern. „Als Nächstes beschwöre ich Frost- und Flammendrache als Spezialbeschwörung, indem ich meine beiden Hydrogeddons und Soneneruptions-Drache von meinem Friedhof aus dem Spiel entferne! Das ist eine Beschwörungsbedingung, dein Drache kann sie also nicht annullieren!“ Er steckte sich die drei Karten in die Hosentasche und klatschte anschließend die Karte, die er zu Beginn des Spielzugs gezogen hatte, auf die Oberfläche seiner Duel Disc. Vor ihm erschien daraufhin das Hologramm eines riesigen Drachen mit einem 34 langen, grauen, schlangenhaften Körper und zwei Köpfen. Der rechte war von einem eisigen Panzer umgeben, der linke schien nur aus Feuer zu bestehen. (ATK: 2300) „Los, greif’ Drache des Lichts und der Finsternis an!“, forderte Evan. „Aber unsere Monster haben doch gleich viele Angriffspunkte…“, entgegnete Chris bestürzt. „Ich weiß“, bestätigte Evan. Ich will, dass unsere Monster gemeinsam untergehen…“ Und so geschah es: Evans zweiköpfiger Drache spie einen kalten Strahl und einen Stoß Flammen aus seinen Mäulern, die in der Luft zu einer Spirale verschmolzen. Gleichzeitig stieß der zweifarbige Drache auf der gegnerischen Feldseite einen weiteren Strahl finsterer Energie aus. In der Mitte des Kampffelds trafen sich die Strahlen, was zu einer heftigen Explosion führte, in der beide Monster verschwanden. Doch die Zerstörung von Christophers Monster blieb nicht ohne Folgen. Kaum war es verschwunden, schon tat sich ein riesiges schwarzes Loch auf dem Boden seines Feldes auf und verschlang alle anderen Karten, sodass er mit einem leeren Feld zurück blieb. „Wenn Drache des Lichts und der Finsternis zerstört wird, werden alle anderen Karten, die ich kontrolliere, zerstört“, erklärte Christopher. „Dafür kann ich ein Monster aus meinem Friedhof wählen und als Spezialbeschwörung beschwören. Außerdem aktiviert sich der Effekt von Lichtpulsar-Drache! Wenn er vom Feld auf den Friedhof gelegt wird, kann ich ein Finsternis-Monster vom Typ Drache der Stufe 5 oder höher von meinem Friedhof beschwören! Ich beschwöre also Schöpfungsdrache und Finstereruptions-Drache!“ Das schwarze Loch zog sich zusammen und dort, wo eben noch der Kern gewesen war, leuchtete plötzlich ein blendend heller Lichtblitz, der Evan dazu zwang, die Augen zu schließen. Als er sie wieder öffnete, war Christopher schon wieder von zwei mächtigen Monstern flankiert: Dem bereits bekannten, schwarzen Drachen mit den vier Flügeln (ATK: 2400) sowie ein neuer, zornig wirkender, dunkelroter Lindwurm mit einer gehörnten Keule an der Schwanzspitze. (ATK: 2200) „Du weißt wohl einfach nicht, wann Schluss ist“, bemerkte Evan geringschätzig. „Ich beende meinen Zug.“ [Hand: 1 / Backrow: 1] „Wann Schluss ist?“, wiederholte Christopher spöttisch. In seinem Gesicht zeichnete sich wieder der zuvor nie dagewesene Wahnsinn ab. „Warum sollte Schluss sein? Ich bin kurz davor, dich zu besiegen!“ „Bist du das?“, fragte Evan. „Und hättest du das nicht vielleicht auch geschafft, ohne die Hälfte deiner Lebenspunkte für eine Karte zu bezahlen? Tat das wirklich Not? Weißt du, was der Unterschied zwischen uns ist? Im Gegensatz zu dir kann ich mich zurückhalten und versuche nicht um jeden Preis, zu gewinnen. Ich vertraue auf mich und mein Deck. Ich weiß, dass es beim Duellieren nicht ums Gewinnen geht. Deshalb werde ich auch immer der bessere Duellant sein…“ 35 „Das ich nicht lache!“, tat Christopher das Gesagte ab. „Worum soll es denn sonst gehen? Für Verlierer ist kein Platz in dieser Welt! Und habe ich nicht soeben bewiesen, dass ich der bessere Duellant bin? Glaubst du etwa wirklich, dass du noch eine Chance hast?“ Evan antwortete nicht, er zog nur ernst die Brauen zusammen und starrte seinem alten Freund tief in die ungleichen Augen. Dies schien Christopher noch weiter auf die Palme zu bringen. „Einmal pro Spielzug kann ich durch den Effekt von Schöpfungsdrache ein Monster vom Typ Drache abwerfen, um meiner Hand ein anderes vom Friedhof hinzuzufügen“, erklärte er schwer atmend. „Verstehst du? Wenn ich ein Monster vom Typ Drache ziehe, kann ich mir meinen Drachen des Lichts und der Finsternis zurückholen und dein Albtraum geht von vorne los!“ „Dann hängt wohl alles von diesem Zug ab“, erkannte Evan ruhig. Christopher zog eine zornige Grimasse. Offenbar machte es ihm zu schaffen, dass Evan keinerlei Furcht ihm gegenüber zeigte, egal, wie sehr Christopher versuchte, ihm Angst einzujagen. „Mein Zug!“, brüllte er schließlich und zog mit einem großen Schwung die oberste Karte seines Decks. Als er sie jedoch betrachtete, fiel sein Gesicht in sich zusammen. „Schlecht gezogen?“, fragte Evan in einem Tonfall, als hätte er es von Anfang an gewusst. Christopher antwortete nicht. Er fügte die Karte kommentarlos seinem Blatt hinzu und kniff die Augen zusammen, wobei Evan auffiel, dass er sein künstliches Auge nicht komplett schließen konnte. „Finstereruptions-Drache! Vernichte ihn mit Dunkelflamme!“, bellte er schließlich laut, riss die Augen auf und schlug mit einer Faust in die Luft. Der große, schwarze Drache öffnete daraufhin sein Maul und spie einen Stoß schwarzer Flammen direkt auf Evan. Doch der war schneller. „Genau darauf habe ich gewartet!“, rief er triumphierend und drehte seine verdeckte Karte um. „Ich aktiviere meine Falle! Flammende Spiegelkraft! Wenn du angreifst, zerstört sie all deine Monster im Angriffsmodus und fügt uns beiden Schaden in Höhe der Hälfte ihrer zusammengezählten Angriffspunkte zu!“ Christophers brilliantes Gehirn hatte diesen Betrag schnell ausgerechnet: „2300 Punkte…“, flüsterte er. „Genau so viele, wie ich Lebenspunkte übrig habe“, bestätigte Evan und fuhr dann mit sanfterer Stimme fort: „Wie sieht’s aus, mein Freund? Einigen wir uns auf Unentschieden?“ Sie hatten jedenfalls keine Wahl. Von dem vergrößerten Hologramm der Fallenkarte aus verschlang kurz darauf eine gewaltige Kuppel aus scharlachroten Flammen das 36 Kampffeld, die auf ihrem Weg Christophers Monster zum Verschwinden brachte und beide Spieler versengte. (Evan: LP 2300 -> 0) (Christopher: LP 100 -> 0) Als die Hologramme sämtlicher Karten verschwunden waren, deaktivierte Evan mit einem Lächeln im Gesicht seine Duel Disc und schritt auf seinen Freund zu, der auf die Knie gesunken war. Jedoch stand Christopher auf, bevor Evan ihn erreichen konnte. Ohne einen Blick zurück zu werfen, drehte er sich um und verschwand mit gesenktem Kopf in der Menge, um zu seiner Familie zu gehen. Evans Lächeln verschwand augenblicklich. „Na, das sieht man auch nicht alle Tage“, verkündete Professor Maverick und betrat die hohe Wiese, die eben noch das Kampffeld gewesen war. Er sprach betont munter, um von Christophers niedergeschlagenem Abgang abzulenken. „Das große Abschlussduell ist tatsächlich in einem Unentschieden ausgegangen! Das ultimative Zeichen der Ebenbürtigkeit dieser beiden außergewöhnlichen Studenten!“ Das Publikum aus den Familien der Schüler wirkte jedoch immer noch größtenteils irritiert oder verängstigt. Nach einer Weile kamen sie jedoch zur Besinnung, applaudierten und begannen Unterhaltungen, während einige von ihnen, hauptsächlich Evans ehemalige Mitschülerinnen, auf das Feld stürmten, um ihm zu gratulieren. Sie alle schienen ihn als den würdigen Sieger wahrzunehmen. Evan jedoch war anderer Meinung. Dieses Duell hatte keinen Sieger, er hatte es nicht geschafft, Christopher zurückzuholen… ~ Nun neigte sich die Abschlussfeier dem Ende. Es vergingen noch etwa zwei Stunden in lockerer Gesellschaft, während denen die Fähre vorbereitet wurde, die Schüler und ihre Familien für immer von der Insel bringen würde. Von Christopher und seinen Eltern fehlte jede Spur, nur Lisa und Daniel waren da. Sie saßen zusammen mit dem Sohn von Mr. Steele unter einem großen Baum und schlürften gelangweilt Orangensaft aus Sektgläsern. Evans Tante und Onkel standen unter einem großen, weißen Pavillon und unterhielten sich mit ein paar befreundeten Eltern. Evan selbst, auch wenn er im Gedanken natürlich immer noch bei Chris war und ständig nach ihm Ausschau hielt, genoss die freie Zeit, die er zurückgezogen mit Nora verbringen konnte. Sie bedienten sich reichlich am Erwachsenensekt und als die Fähre schließlich anlegte, gehörten sie zu den letzten, die sich auf den Weg an Bord machten. Die Sonne hatte angefangen, unterzugehen und die Insel in ein wunderschönes, orangefarbenes Licht getaucht. Die leicht angetrunkene Nora hatte ihren Arm über Evans Schulter gelegt, kicherte ausgelassen und hickste hin und wieder, während die beiden sich zusammen zur Fähre begaben. Als diese jedoch in Sichtweite kam, sah Evan am Fuß der Brücke, die an Bord führte, eine Gestalt, die ihn dazu brachte, Nora stehen zu lassen und loszusprinten. „Das war’s jetzt also?“, fragte er, als Christopher, der gerade einsam das Schiff betreten wollte, in Hörweite kam. Langsam drehte er sich herum und Evan lief erneut ein Schauer über den Rücken, als er das künstliche, schwarze Auge erblickte, das wie ein Loch in Christophers Gesicht klaffte, er ließ sich jedoch nichts anmerken. Er sagte nichts, wartete ab, dass Evan weitersprach. 37 Der seufzte. „Es tut mir leid, was passiert ist. Wirklich. Bitte, ich will dein Freund sein!“ Nun öffnete Christopher endlich den Mund. Seine Stimme war nicht zornig, er sprach in nüchternem, desillusionierten Tonfall: „Es tut dir wirklich leid? Alles, was passiert ist?“ „Was meinst du mit [i]Alles[i]?“, entgegnete Evan irritiert. Ein freudloses, trauriges Lächeln breitete sich in Chris’ entstelltem Gesicht aus. „Verstehst du es immer noch nicht?“, fragte er. „Es geht hier doch gar nicht um mein Auge. Es ging nie darum.“ „Aber worum dann?“, fragte Evan hilflos, bemerkte dabei aber, dass Christopher ihm gar nicht ins Gesicht sah, sondern einen Punkt beobachtete, der irgendwo über seiner Schulter lag. Evan drehte sich herum und sah Nora, die sich ein Stück abseits im Schneidersitz ins Gras gesetzt hatte und diskret die Wolken beobachtete. Und dann fiel es ihm plötzlich wie Schuppen von den Augen: Er erinnerte sich an Christopher, der in ihrer Gegenwart kein Wort hervor brachte, der ihn fragte, was sie meinte, als sie einen Witz über ihn gemacht hatte, der überstürzt geflohen war, als er gesehen hatte, wie Evan sie küsste… Es war, als wäre er mit einem Faustschlag ins Gesicht erwachsen geworden; als wäre das Kind, das er vorher gewesen war, nur zu blind gewesen, um das Offensichtliche zu sehen… „Es ist wegen Nora, stimmt’s?“ „Hast ja lange gebraucht“, entgegnete Chris trocken. „Chris…“, fing Evan an. „Ich wusste nicht…“ „Nun, du hast dir ja auch nie besonders viel Mühe gegeben, es in Erfahrung zu bringen“, erwiderte Christopher. Das war ein schwerer Schlag für Evan. Auf einmal dämmerte ihm, weswegen Chris neuerdings so abweisend ihm gegenüber war, und wie tief diese Wunde sein musste… „Nun… ja…“, meinte Evan vorsichtig. „Es ist nur, ich hatte keine Ahnung, dass du…“ „Dass ich mich für Mädchen interessiere? Dass ich Gefühle habe?“, unterbrach ihn Chris nüchtern. „Chris… Es tut mir leid“, sagte Evan, nachdem er eine Weile lang nach passenden Worten gesucht hatte. Es war das Einzige, was ihm einfiel. „Lass gut sein“, meinte der niedergeschlagen. „Im Grunde ist es doch nur der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Die Bewahrheitung eines Verdachts, der mich seit drei Jahren plagt. Evan Drake, der Star von Morgen, dem alles hinterher geworfen wird. Der nicht nur ein Duellgenie ist, sondern der auch witzig und gutaussehend ist. Und ich, für den immer nur die Silbermedaille übrig bleibt.“ 38 „Sag sowas nicht…“, meinte Evan. Er wollte einen Schritt auf seinen Freund zu machen, aber er stand da wie angewurzelt. „Was soll ich nicht sagen? Die Wahrheit? Aber Eine Frage habe ich noch…“, entgegnete Christopher und nun war zum ersten Mal in diesem Gespräch ein wenig Zorn in seiner Stimme, vor allem aber Verzweiflung. „Warum musste es ausgerechnet sie sein? Ich meine, du könntest doch jede haben! Hättest du mir nicht wenigstens einen Traum lassen können?“ „Chris… Es ist nicht, wie du denkst!“, antwortete Evan nicht minder verzweifelt. „Ich spiele nicht einfach nur mit ihr! Sie bedeutet mir sehr viel!“ Doch für Chris schien es darauf nur eine Antwort zu geben: „Liebst du sie?“ Damit hatte Evan nicht gerechnet. „Nun… Ich weiß nicht, wir sind erst seit ein paar Wochen zusammen…“, stammelte er. „Also nicht“, übersetzte Christopher trocken. „Chris…“, meinte Evan hilflos. „Nein“, sagte der schlicht und schüttelte den Kopf. „Wir haben uns nichts mehr zu sagen.“ Und mit diesen Worten drehte Christopher sich um und ohne einen Blick zurück betrat er die Fähre, auf den Weg in ein Leben als Erwachsener, ohne Evan. 39 40