Inhalt - Schirner Verlag
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Inhalt Titel der Originalausgabe: Wilhelm Reich. The Evolution of His Work. © 1980, 1995 by David Boadella © 1981 Scherz Verlag, Bern Copyright für die deutsche Übersetzung: Aus dem Englischen von Karl Heinz Siber © Scherz Verlag, Bern 1981 Übersetzungsnutzung mit freundlicher Genehmigung der S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main Alle Rechte für die deutschsprachige Taschenbuchausgabe vorbehalten. 1 Die Energie der Triebe.....................................................13 Freuds Libidotheorie......................................................... 17 Lust und Spannung...........................................................20 Die orgastische Potenz......................................................22 Sexuelle Erregung und Angst...........................................26 Die Orgasmustheorie im Widerstreit der Meinungen������27 Reich, Kinsey und der Masters-Johnson-Report...............35 Sexualität und Liebe.........................................................41 2 Die Struktur des Charakters...........................................44 Das Phänomen der Verdrängung......................................45 Psychoanalytiker unter sich..............................................49 Der Charakterpanzer........................................................55 Charakterbildung und Kindheit.......................................61 Die Charakteranalyse – begeistert begrüßt und heftig abgelehnt.........................................................67 3 Die Krankheit der Gesellschaft.......................................76 Marxismus und Psychoanalyse..........................................81 Sexualberatung und Sexualerziehung...............................85 Reise in die Sowjetunion..................................................91 Das Unbehagen in der Kultur...........................................94 Berliner Jahre....................................................................98 Die Sexpol-Bewegung..................................................... 103 Kampf dem Faschismus................................................... 107 1933 – Jahr der Krise....................................................... 110 ISBN 978-3-89767-602-2 © 2008 Schirner Verlag, Darmstadt 2. Auflage August 2013 Übersetzung: Karl Heinz Siber Satz: Sebastian Carl Umschlaggestaltung: Murat Karaçay, Schirner Printed by: OURDASdruckt!, Celle, Germany www.schirner.com Vorwort................................................................................9 Der Freudomarxismus und andere Spielarten der Reich-Aneignung...................................................... 115 Die sexuelle Revolution.................................................. 121 Was ist sexuelles Chaos?.................................................123 Was ist nicht sexuelles Chaos?........................................124 4 5 6 Die Rhythmen des Körpers...........................................125 Die Physiochemie der Angst...........................................128 Elektrophysiologie........................................................... 132 Die »Plasma-Arme« der Amöbe.....................................134 Aufbruch nach Schweden..............................................136 Die Psychoanalyse frisst ihre Kinder...............................138 Die Sprache des Körpers................................................. 143 Die Vegetotherapie – Irrweg oder bahnbrechende Weiterentwicklung der Psychotherapie?......................... 151 Die Welt der Bione......................................................... 157 Vom Psychoanalytiker zum Biologen..............................164 Die Bione auf dem experimentellen Prüfstand............... 168 Ein »Hirngespinst« konkretisiert sich............................. 177 An den »Bion-Mäusen« scheiden sich die Geister.......... 182 Bioenergetische Strahlung oder Die Erschließung eines neuen Forschungsbereichs.....................................188 Die Entdeckung der Orgonenergie................................. 192 Organismus und Atmosphäre.........................................194 Der Temperatureffekt......................................................197 Der elektroskopische Effekt............................................198 Fluorometrische Effekte und das Experiment XX...........199 Wirkung auf fotografische Platten..................................202 Der Orgon-Akkumulator in Aktion...............................203 Kontrollexperimente.......................................................203 Erklärungen und Interpretationen.................................. 213 Parallelen zu Reichs Orgonforschung............................. 219 7 Die Biologie der Krebszelle............................................ 222 Der Bluttest..................................................................... 227 Bioenergie und Krebs......................................................232 Experimentelle Krebstherapie.........................................237 Reich im Kreuzfeuer der orthodoxen Medizin................243 Erfolgreiche Orgonbehandlungen...................................246 8 Die Freiheit der Entwicklung........................................ 251 Die »emotionelle Pest«....................................................254 Selbstverwirklichung durch Selbststeuerung..................257 Schizophrenie und Autismus..........................................262 Der Säugling als Mittelpunkt der Forschung.................268 Der Christusmord........................................................... 273 9 Das Prinzip des Funktionalismus................................. 278 10 Die Energie des Kosmos.................................................290 Äthertheorie und Orgonomie.........................................295 Ozeanische Gefühle........................................................301 Das »Oranur«-Experiment..............................................304 11 Die Geschichte einer Hexenjagd...................................309 Der amerikanische Feldzug.............................................309 Die kommunistische Verschwörung................................ 321 12 Die Selbststeuerung der Atmosphäre...........................330 Das »Wolkenbrecher«-Experiment.................................. 333 Bestätigungen für Reichs Methode der Wetterbeeinflussung.................................................. 339 Die Entstehung von Wüsten...........................................340 Die paranoide Flucht.......................................................342 In Kontakt mit dem Weltraum.......................................344 Expedition nach Arizona................................................ 351 Die emotionelle Wüste.................................................... 353 13 Das letzte Jahr................................................................. 358 Anhang Der Prozess gegen Wilhelm Reich.................................... 368 Der Mensch Reich................................................................. 391 Anmerkungen und Quellenangaben....................................403 Dank....................................................................................... 417 Bibliografie............................................................................. 418 Personen- und Sachregister...................................................423 Vorwort Wilhelm Reich wurde vor mehr als einem Jahrhundert geboren, aber seine Ideen und seine Entdeckungen gehörten seiner eigenen Einschätzung nach in unser Jahrhundert. Sie sollten das geistige Gut der Menschen sein, die er die »Kinder der Zukunft« nannte. Trotz der revolutionären Qualität seines Werkes, die zur Charakterisierung Reichs als »Mann der Zukunft« führte, wäre er in unserer Zeit wohl erstaunt gewesen zu sehen, wie viele seiner Grundgedanken bereits übernommen worden sind. Reich hatte schon damals die zentrale Bedeutung der Rechte des Neugeborenen hervorgehoben. Auch erkannte er bereits den primären energetischen Kontakt zwischen Mutter und Kind in der Zeit vor, während und nach der Geburt. Schon 1985 übernahm die europäische Sektion der Weltgesundheitsorganisation in einer »Geburtscharta« sechzehn progressive Grundsätze, um diesen prä- und perinatalen Bereich zu schützen. In seinem Konzept der funktionalen Identität von psychischem Kontakt und somatischem Prozess wurden Körper und Seele für Reich zu einer Einheit. Die von Reich eingeführten therapeutischen Prinzipien und Praktiken bereichern heute entscheidend die körperorientierte Psychotherapie. Was Reich »den roten Faden der Erregung« nannte, wurde zum zentralen Fokus seiner Forschung. Er betonte darin, wie wichtig der energetische Stoffwechsel des Organismus für unsere psychosomatische Gesundheit ist. Er studierte vor allem die Auswirkung der Emotionen auf das vegetative Nervensystem. Damit war er dem aktuellen Interesse der Psychotherapie um viele Jahrzehnte voraus, die heute die neurobiologischen Grundlagen der Persönlichkeit u 9 Wi l h e l m R e i c h erforscht. Im Unterschied zu vielen heutigen Ansätzen hat Reich die Psyche niemals auf das Soma reduziert. Er verstand beide als zwei Aspekte eines fundamentalen schöpferischen Prinzips. In seinem politischen Engagement für die Liberalisierung der Gesetze zu Sexualität und Abtreibung war Reich Vorkämpfer für umfassende Reformen in vielen europäischen Ländern. Seine Vision einer lebensbejahenden Sexualität und Liebe weist jedoch weit über die bis jetzt erreichten Fortschritte hinaus. Sexualität und Liebe betrachtete Reich als die tiefsten Quellen unserer Lebensenergie. Die Entdeckung der energetischen Eigenschaften der Atmosphäre, der umstrittenste Bereich von Reichs Werk, wurde beim Bau des atmosphärischen Energieakkumulators für die Landwirtschaft praktisch umgesetzt. Dieser wurde vom dänischen Landwirtschaftsministerium erforscht und bei der Regenerierung des Bodens, der durch den Vietnamkrieg zerstört worden war, eingesetzt. In den letzten Jahren seines Lebens konzentrierte sich Reich auf die Beziehung zwischen der »inneren Wüste« – der Entfremdung des Menschen von sich selbst – und der »äußeren Wüste« – des Sterbens der Wälder und der Bedrohung der Erde. Dieses Thema wurde von Mikhail Gorbatschov, dem Gründungspräsidenten des Internationalen Grünen Kreuzes, aufgegriffen. Er bemüht sich auf höchster internationaler Ebene, das Umweltbewusstsein zu schärfen und eine Erdcharta zu konzipieren, die von den Regierungen unterschrieben werden soll. Reich erforschte auch die heilende Ausstrahlung der Hände, er sah in ihr die fokussierte Manifestation des menschlichen Energiefeldes. Seit seinem Tod wurden viele wissenschaftliche Kontrollversuche durchgeführt, die Reichs Forschung belegten. Daniel Benor berichtete darüber in seinem zweibändigen Werk über die wissenschaftliche Erforschung des Heilens. Ebenso wurden Reichs Thesen untermauert durch die Biophotonenforschung des Instituts für Biophysik in 10 u Deutschland unter der Leitung von Fritz-Albert Popp. In ihr wurde bewiesen, dass jede lebende Zelle Licht ausstrahlt. Das Leitmotiv von Wilhelm Reich war: »Liebe, Arbeit und Wissen sind die Urquellen des Lebens: lassen wir uns von ihnen leiten«. Dies ist das Leitmotiv, das sich all jene Menschen, welche sich um die Zukunft der Welt kümmern, in immer stärkerem Masse zu eigen machen müssen. Die erste Auflage dieses Buches ist vor fast vierzig Jahren erschienen, sein Inhalt wurde nicht verändert. Da sich seither innerhalb der Forschung rasante Entwicklungen ergeben haben, hat das Buch an Aktualität noch gewonnen. Für mich war die Auseinandersetzung mit dem Lebenswerk von Wilhelm Reich in vieler Hinsicht sehr inspirierend. Aufbauend auf dem therapeutischen Vermächtnis von Wilhelm Reich habe ich inzwischen zusammen mit meiner Frau Dr. Silvia Specht Boadella die Biosynthese entwickelt. Sie ist eine Psychotherapie-Methode, in welcher Körper, Geist und Seele eine Integration erfahren. Reichs Lebenswerk hat auch die über hundert Ausgaben der internationalen Biosynthese-Zeitschrift »Energie & Charakter« inspiriert. 2008 erschien zu seinem fünfzigsten Todestag eine Gedenkausgabe. Von neuem wurde mir dabei bewusst, wie sehr Wilhelm Reich durch sein Werk lebt. Heiden, im Juli 2008 Dr.h.c. David Boadella Internationales Institut für Biosynthese IIBS Forschung Ausbildung Fortbildung Benzenrüti 6 CH-9410 Heiden/Schweiz Tel. +41-(0)71 891 68 55 Fax +41-(0)71 891 58 55 E-Mail: [email protected] www.biosynthesis.org u 11 1 Die Energie der Triebe Wilhelm Reich ließ sich bei der Verfolgung seiner wissenschaftlichen Arbeit zwar nicht von irgendwelchen vorgefassten Ideen leiten, aber er hat immer betont, dass es eine stets gleichbleibende Denkweise, eine ganz bestimmte Logik war, die ihn von einem Forschungsbereich zum anderen führte. Seine frühen Studien in Wien sollte er im Rückblick mit dem Betreten eines Küstenstreifens vergleichen, dessen Erkundung ihm einen völlig neuen Kontinent der Erkenntnis erschloss. Über Reichs Kindheit – er wurde am 24. März 1897 in Dobr zcynica in Galizien geboren – und Jugend ist wenig bekannt. Er wuchs auf dem väterlichen Gut bei Jujinetz in der Bukowina auf und half gern bei der landwirtschaftlichen Arbeit. Fest steht jedenfalls, dass seine jüdische Herkunft seinen Lebensweg in weit geringerem Maße beeinflusst hat, als es zum Beispiel bei Freud der Fall war. Dagegen kann der Selbstmord der geliebten Mutter wohl als das traumatische Ereignis seiner jungen Jahre bezeichnet werden, zumal der Vierzehnjährige offenbar nicht schuldlos an dem Unglück war, da er dem Vater verraten hatte, dass die Mutter ein Verhältnis mit seinem Hauslehrer unterhielt. Drei Jahre nach dem Tod der Mutter starb Reichs Vater an Tuberkulose. 1915 machte Reich das Abitur und trat dann sofort in die österreichische Armee ein, gehörten doch bis zum Zusammenbruch der Donaumonarchie am Ende des Ersten Weltkrieges Galizien und u 13 Wi l h e l m R e i c h die Bukowina zu Österreich. 1916 wurde Reich, der bis Kriegsende 1918 in der Armee blieb, zum Leutnant befördert. Den Ort seiner Kindheit hat er nie wieder besucht … Als Reich im Herbst 1918 nach Wien kam, immatrikulierte er sich zunächst an der Juristischen Fakultät der Universität. Doch der penetrante Formalismus, mit dem die Juristen menschliche Probleme angingen, gefiel ihm ganz und gar nicht, und nach nur einem juristischen Semester wechselte er in die Medizinische Fakultät über, hatte er sich doch schon als Kind brennend für Biologie interessiert. Mit Gesetzen sollte er sich erst in den letzten Jahren seines Lebens wieder befassen. Nach der erzwungenen geistigen Untätigkeit der Kriegsjahre stürzte Reich sich mit großer Begeisterung und Energie auf sein neues Studiengebiet. Als Kriegsteilnehmer konnte er das normalerweise sechsjährige Medizinstudium in komprimierter Form absolvieren und bereits nach vier Jahren abschließen. Er erwies sich als hervorragender Student mit rascher Auffassungsgabe und der Fähigkeit zu gründlicher und systematischer Arbeit. Von Anfang an zeigte sich bei ihm dieser nahezu unbändige Drang, hart zu arbeiten. Er verbrachte wenig Zeit in geselliger Runde, sondern trachtete mit größter Ungeduld danach, sich auf kürzestem Weg mit den wissenschaftlichen und philosophischen Problemen seiner Zeit vertraut zu machen. Die Frage »Was ist Leben?« stand hinter allem, womit Reich sich beschäftigte, und von Beginn an war er darauf bedacht, jede zu enge Spezialisierung zu vermeiden. So las er als Medizinstudent nicht nur medizinische, sondern auch biologische, philosophische, belletristische, sexualkundliche und psychoanalytische Literatur sowie Werke zur Geschichte des Materialismus. Frühe Einflüsse, die sein Bemühen um ein Verständnis der organischen Vorgänge und der Art und Weise ihrer Umsetzung in die subjektive Wirklichkeit der menschlichen Erfahrung prägten, gingen unter anderem aus von Bergsons Arbeiten über kreative Evolution, von Ibsens Peer Gynt, von Kammerers Konzept einer spezifisch biologischen Energie, von 14 u 1 • Die Energie der Tr iebe Drieschs Untersuchungen zur Philosophie des Organischen, von Semons Arbeiten über das Erinnerungsvermögen, von Forels Forschungen zum Instinktverhalten bei Ameisen, von Grimms Buddha und von Blochs Studie zum Sexualleben unserer Zeit. Mit der Psychoanalyse kam Reich durch Zufall in Berührung. Im Januar 1919 riefen einige Medizinstudenten ein sexualkundliches Seminar ins Leben, um auf diese Weise ein Exempel gegen die Vernachlässigung der menschlichen Sexualität im medizinischen Studiengang zu statuieren. Im Rahmen dieses Seminars las Reich zum ersten Mal Schriften von Freud. Im Sommer 1919 trug er dann im Seminar ein Referat über »Triebund Libidobegriffe von Forel bis Jung« vor.I In dieser Arbeit stellte er den Gebrauch des Ausdrucks »Libido« bei vorfreudianischen Autoren seiner Verwendung bei Freud selbst gegenüber. Während man den Begriff früher mit einem bewussten sexuellen Bedürfnis identifiziert hatte, verstand Freud unter Libido eher die Energie des Sexualtriebs. Reich bediente sich in seinem Referat einer Analogie zur elektrischen Energie als dem objektiven Prozess, der solchen subjektiven Wahrnehmungen wie dem Licht oder dem Stromschlag zugrunde liegt. Die Seminarteilnehmer waren von Reichs Interpretation so angetan, dass sie ihn im Herbst des gleichen Jahres zum Leiter des Seminars wählten; im Jahr darauf bewarb Reich sich um die Mitgliedschaft in der Wiener Psychoanalytischen Gesellschaft. Es war zu jener Zeit nicht üblich, Studenten ohne akademischen Abschluss als Mitglieder zuzulassen, aber Reichs Enthusiasmus und Energie beeindruckten alle tief. Am 13. Oktober hielt er ein Referat über »Ibsens Peer Gynt, Libidokonflikte und Wahngebilde«, und wenig später wurde er, erst dreiundzwanzig Jahre alt, Mitglied der Gesellschaft. Die Begegnung mit Freud und mit psychoanalytischen Ideen bestimmte Reichs Berufswahl. Ende 1919 begann er als Psychoanalytiker zu praktizieren. Von nun an sollten sich sein theoretisches Denken I Die Hochziffern im Text verweisen auf die nach Kapiteln geordneten Anmerkungen ab S. 403 ff. u 15 Wi l h e l m R e i c h im psychoanalytischen Bereich und seine klinischen Erfahrungen wechselseitig ergänzen und bestätigen. Im Rückblick auf diese Zeit konzentrierten sich für Reich seine damaligen Interessenschwerpunkte auf vier Fragen, die in nuce schon alles enthielten, was später als »Sexualökonomie« bekannt werden sollte: 1. War Freuds Theorie der Neurosenätiologie vollständig? 2. War seine Trieblehre richtig und umfassend? 3. War eine wissenschaftliche Theorie der psychoanalytischen Technik möglich? 4. Was machte sexuelle Unterdrückung notwendig? Hätte Reich sich diese Fragen damals bewusst gestellt, so hätte ihn dies, wie er glaubte, für immer von weiterem Forschen abgeschreckt. Er wusste es nicht, aber die Antwort auf die ersten beiden Fragen sollte ihn auf biologisches und bioenergetisches Gebiet führen; die Antwort auf die dritte Frage sollte ihm den Weg zur psychosomatischen Medizin weisen, die vierte ihn geradewegs in die revolutionäre Politik und die Soziologie führen. Da Reich die grundlegenden Konsequenzen dieser nur implizit mitschwingenden Fragen jedoch nicht sah, konnte er mit seiner klinischen und theoretischen Arbeit ruhig und in der Überzeugung fortfahren, im Dienste Freuds und dessen Lebenswerks tätig zu sein. Zugleich ging er mit unerbittlicher Zielstrebigkeit den Problemen nach, die sich ihm im Laufe der Arbeit stellten, und bewies dabei von allem Anfang an seine außerordentliche Fähigkeit zu geistiger Radikalität im wörtlichen Sinne eines zu den Wurzeln vordringenden Denkens. Da Reichs erste wissenschaftliche Theorie, die Orgasmustheorie, als logische Fortführung und Erweiterung der Freud’schen Libidotheorie entstand, soll diese zunächst kurz umrissen werden, um ihr dann die Reich’sche Weiterentwicklung gegenüberzustellen. 16 u 1 • Die Energie der Tr iebe Freuds Libidotheorie Im Jahre 1892 arbeitete Freud zusammen mit Dr. Josef Breuer an einer Untersuchung über hysterische Symptome. Die Verfahren und Theorien der Psychoanalyse entstanden als Antwort auf die von Hysteriekranken aufgeworfenen Probleme. Freud und Breuer entdeckten, dass die hysterischen Symptome zum Verschwinden gebracht werden konnten, wenn der Patient in gefühlsbetonter Weise die Erinnerungen an die ihnen zugrunde liegenden Kindheitserlebnisse reproduzierte. Sie nahmen an, dass es der mit der Erinnerung einhergehende emotionale Vorgang ist, dem sich die therapeutische Wirkung verdankt. Freud sprach seine Überzeugung aus, die Symptome repräsentierten eine abnorme Form der Abfuhr für Erregungsquantitäten, die nicht anderweitig erledigt worden waren.2 Was unter dieser »anderweitigen Erledigung« zu verstehen war, erläuterte Freud, als er die Frage diskutierte, welche Bedingungen dafür verantwortlich sind, dass manche, aber keineswegs alle verdrängten Erinnerungen zu Symptomen führen: »Das Verblassen oder Affektloswerden einer Erinnerung hängt von mehreren Faktoren ab. Vor allem ist dafür von Wichtigkeit, ob auf das affizierende Ereignis energisch reagiert wurde oder nicht.«3 Schon in der Geburtsstunde der Psychoanalyse war also die grundlegende Einsicht vorhanden, dass zwischen der psychischen Krankheit und der affektiven Energie ein Zusammenhang besteht. Wenn Affekte abreagiert werden können, tritt keine psychische Erkrankung auf. In den frühen Jahren der Psychoanalyse befasste Freud sich sehr eingehend mit dem Konzept einer psychischen Energie. Seine medizinisch-biologische Ausbildung wirkte in seinem Wunsch nach, seine Vorstellungen über die psychischen Funktionen in Begriffen physiologischer Erfahrung auszudrücken. Er war fasziniert von den Ideen Johannes Müllers, Ernst v. Brückes und Hermann v. Helmholtz’, der den Grundsatz von der Erhaltung der Energie auf die Physiologie übertragen hatte. Wenn Freud zur Beschreibung der u 17 Wi l h e l m R e i c h in den Affekten und Symptomen seiner Patienten sich äußernden Energie den Begriff »Erregungsquantität« gebrauchte, dann geschah das zweifellos unter dem Einfluss dieser Vorbilder. 1894 war er zu der Auffassung gelangt, dass es sich bei jener Erregung um »etwas« handle, »das der Vergrößerung, Verminderung, der Verschiebung und der Abfuhr fähig ist und sich über die Gedächtnisspuren der Vorstellungen verbreitet, etwa wie eine elektrische Ladung über die Oberfläche der Körper. Man kann diese Hypothese … in demselben Sinn verwenden, wie es die Physiker mit der Annahme des strömenden elektrischen Fluidums tun.«3 Die Analyse hysterischer Symptome enthüllte die sexuelle Herkunft dieser Erregung: »Das wichtigste Ergebnis, auf welches man bei solcher konsequenten Verfolgung der Analyse stößt, ist dieses«, schrieb er: »Von welchem Fall und von welchem Symptom immer man seinen Ausgang genommen hat, endlich gelangt man unfehlbar auf das Gebiet des sexuellen Erlebens.«3 Es sei leicht zu verstehen, erklärte Freud, als er diese Erkenntnis zum ersten Mal aussprach, warum unannehmbare Vorstellungen ausgerechnet im Hinblick auf das Sexualleben entstehen. Im Anschluss an seine frühen Hysteriestudien hatte Freud seine Aufmerksamkeit einer anderen Neurosenart zugewandt, bei der die Beziehung zu sexuellen Versagungen offenkundiger war: der »Angstneurose«. Er machte die Erfahrung, dass die physischen Angstsymptome, die für diese Neurose charakteristisch sind, stets mit einer Reihe spezifischer Störungen im Sexualleben des Betreffenden – wie Abstinenz, coitus interruptus, Impotenz usw. – in Verbindung stehen, dass sie, anders ausgedrückt, immer mit einer »frustrierten Erregung« einhergehen. Wie Freud feststellte, ist in Situationen, in denen die Angstsymptome auftreten, verschwinden und wiederkehren, nachweisbar, »dass jeder solche Schub der Neurose auf einen Koitus mit mangelnder Befriedigung zurückgeht.«3 Während die hysterischen Symptome Folge einer Ablenkung von Erregungsquantitäten sind, die von einer in der Vergangenheit eingetretenen Störung des Sexuallebens herrühren, sind die 18 u 1 • Die Energie der Tr iebe Symptome der Angstneurose, so schloss Freud, auf aktuelle sexuelle Störungen zurückzuführen. Später, als er auch die sexuelle Ätiologie der Phobien und Wahnvorstellungen dargelegt hatte, konnte er seiner sicheren Überzeugung Ausdruck verleihen, dass jede Neurose von einer spezifischen »Störung in der nervösen Ökonomie« verursacht wird und dass bei einem geregelten Sexualleben keine Neurose möglich ist. Freuds Hypothese, die sexuelle Erregung könne sich wie eine elektrische Ladung über die Körperoberfläche verbreiten, statt etwa nur die Sexualorgane zu erfassen, hatte auf der Entdeckung beruht, dass sexuelle Lust – »Libido«, wie Freud sie nun nannte – nicht auf den Genitalbereich beschränkt ist, sondern auch in anderen erogenen Körperzonen erlebt werden kann. Aus den Erinnerungen seiner Patienten schälte sich allmählich die Tatsache heraus, dass Säuglinge und Kleinkinder nicht nur ein sexuelles Erleben in diesem Sinne, sondern auch erotische Gefühle und Fantasien haben. Der Begriff »sexuell« wurde in diesem Zusammenhang so ausgeweitet, dass er alle libidinösen Entbindungen umfasste. »Wer ein Kind gesättigt von der Brust zurücksinken sieht, mit geröteten Wangen und seligem Lächeln in Schlaf verfallen«, schrieb Freud, »der wird sich sagen müssen, dass dieses Bild auch für den Ausdruck der sexuellen Befriedigung im späteren Leben maßgebend bleibt.«4 Damit war die Libidotheorie geboren – Reich sollte sie später als den »Lebensnerv« der Psychoanalyse bezeichnen. Es ist wichtig, sich darüber klar zu werden, wie dieser Lebensnerv beschaffen war, denn die spätere Geschichte der Psychoanalyse führte, wie noch gezeigt werden wird, zu einer zunehmenden Distanzierung sowohl Freuds selbst als auch seiner Jünger von der Libidotheorie. Reichs Aufgabe sollte es sein, den Faden dieser frühen Theorie aufzunehmen, sie zu bestätigen und weiterzuentwickeln und sie so zur Keimzelle für seine gesamte spätere Arbeit zu machen. Im Rückblick auf die Ursprünge seiner Arbeit sollte Reich erkennen, dass es der von Freud übernommene quantitative Gesichtspunkt, dass es das energetisch-ökonomische Prinzip war, das ihn von der psychoanalytischen Bewegung trennte. u 19 Wi l h e l m R e i c h Die Wege der Psychoanalyse und der Sexualökonomie führten in entgegengesetzte Richtungen, weil die Psychoanalyse sich, nachdem sie sich vom Konzept der affektiven Quantität losgesagt hatte, mehr und mehr auf die Inhalte des psychischen Erlebens konzentrierte und sich in Richtung einer bloßen Ideenpsychologie entwickelte, während Reich aufgrund seiner Betonung des energetischen Faktors auf das Gebiet der sexualökonomischen, der physiologisch-energetischen Forschung geführt wurde. Aber dem jungen Reich, der vollauf mit einigen ungelösten Problemen der Libidotheorie beschäftigt war, blieben diese Divergenzen einstweilen noch verborgen. Drei grundlegende Probleme gab es, die Freud im Rahmen seiner Libidotheorie nicht zu lösen vermocht hatte, und es wäre denkbar, dass seine Kapitulation vor diesen Problemen seine spätere Entscheidung beeinflusste, sich von seiner frühen Trieblehre abzuwenden und sich auf die Ich-Psychologie hin zu orientieren. Reich dagegen schuf mit den Antworten, die er auf diese drei Probleme fand, das Fundament seiner sexualökonomischen Theorie: der Orgasmustheorie. Lust und Spannung Das erste Problem betraf die Beziehung zwischen Sexualspannung und Lusterleben. »Es ist uns durchaus unaufgeklärt geblieben«, schrieb Freud, »woher die Sexualspannung rührt, die bei der Befriedigung erogener Zonen gleichzeitig mit der Lust entsteht, und welches das Wesen derselben ist. Die nächste Vermutung, diese Spannung ergebe sich irgendwie aus der Lust selbst, ist nicht nur an sich sehr unwahrscheinlich, sie wird auch hinfällig, da bei der größten Lust, die an die Entleerung der Geschlechtsprodukte geknüpft ist, keine Spannung erzeugt, sondern alle Spannung aufgehoben wird. Lust und Sexualspannung können also nur in indirekter Weise zusammenhängen.«4 Wie konnte, so lautete das Problem, eine Spannung, die in anderen Situationen als unlustvoll erlebt wird, auf sexuellem Gebiet mit Lustgefühlen verbunden sein. »Wenn ich durch eine öde Gegend in 20 u 1 • Die Energie der Tr iebe geschäftlicher Angelegenheit reise«, schrieb Reich, »zum Beispiel in höherem Auftrage, der mich persönlich wenig tangiert, so wird die resultierende Spannung auf die baldigste Erledigung des Auftrages gehen und nur unlustvoll sein. Anders, wenn mich eine geliebte Person im Ankunftsort erwartet; die Spannung wird vielleicht eine höhere, aber zum Teil (in Erwartung des Wiedersehens) lustvolle sein. Meine Reise bringt mir Positives.«5 Die von der Sexualspannung vermittelte Lust liegt also in der antizipierten Spannungslösung durch die orgastische Entladung. »Die Erregung geht von den erogenen Zonen am ganzen Körper aus, erreicht in der Konzentration am Genitale ihren Höhepunkt und klingt an ihrem Ausgangspunkt wieder aus. Es ist wie das Aufschäumen der Meereswellen an der felsigen Küstenwand, die sie wieder in weiter Fläche zurückwirft. Es ist begreiflich, dass die Verhinderung des Abklingens der Erregung an den erogenen Zonen im coitus interruptus die unlustvollen Spannungen erzeugen muss, die letzten Endes zu neurasthenischen und angstneurotischen Symptomen führen.«5 Das lustvolle Erleben hängt daher von einer zufriedenstellenden Entladung der Erregung in den Konvulsionen des Orgasmus ab. Es ging nicht darum zu entscheiden, ob der Trieb die Lust erzeugt oder die Lust den Trieb, sondern die Lustempfindungen und die motorische Aktivität waren zwei Aspekte eines und desselben Erregungsvorgangs. Mit der Skizzierung dieser Beziehungen begann Reich, tastend noch und ohne sich dessen bewusst zu sein, die Basis für sein späteres psychosomatisches Konzept von Identität und Gegensatz zu legen. Sexuelle Aktivität führt nicht in jedem Fall zu erotischen Gefühlen. Erotische Gefühle führen nicht notwendig zu sexueller Aktivität. Beide können sich vielmehr als Gegensätze zueinander verhalten. Im befriedigenden sexuellen Erleben verschmelzen sie jedoch miteinander. Reich erkannte, dass die Suche nach dem Wesen der Sexualerregung unweigerlich ins »tiefste Dunkel des Biologischen« führen würde. u 21 Wi l h e l m R e i c h Reich stellte diese Gedankengänge zum ersten Mal in seinem Aufsatz Zur Triebenergetik5 vor, den er 1921 der Wiener Psychoanalytischen Gesellschaft vortrug. Wie er sich später erinnerte, wurden sie nicht verstanden, und er beschloss, sich in seinen Referaten eine Zeitlang auf klinisches Material zu beschränken. Die orgastische Potenz Freud hatte seine Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie mit den Bemerkungen beschlossen: »Der unbefriedigende Schluss aber, der sich aus diesen Untersuchungen über die Störungen des Sexuallebens ergibt, geht dahin, dass wir von den biologischen Vorgängen, in denen das Wesen der Sexualität besteht, lange nicht genug wissen, um aus unseren vereinzelten Einsichten eine zum Verständnis des Normalen wie des Pathologischen genügende Theorie zu gestalten.«4 Es war klar, dass ein an Impotenz leidender Mann oder eine frigide Frau als sexuell gestört bezeichnet werden mussten. Dagegen gab es keine genauen Vorstellungen darüber, was man unter einer ungestörten Sexualität zu verstehen hatte. So vertraten viele Psychoanalytiker – in diametralem Widerspruch zu der von Freud zwei Jahrzehnte zuvor ausgesprochenen libidotheoretischen Auffassung – die Ansicht, viele Neurotiker verfügten über ein normales Sexualleben. Wenn ein Mann zum Koitus fähig war, galt er als »sehr potent«. Niemand beschäftigte sich zu jener Zeit genauer mit den Einzelheiten der den Sexualakt begleitenden Fantasien oder mit den Details des individuellen Sexualverhaltens. Die Psychoanalyse kümmerte sich um vergangene Erlebnisse und Kindheitserinnerungen. Reich jedoch wollte herausfinden, welche qualitativen Erfahrungen solchen vagen Andeutungen wie: »Ich habe gestern abend mit dem oder der geschlafen«, zugrunde liegen. Je sorgfältiger er registrierte, was seine Patienten über ihr Verhalten und ihre Empfindungen beim Sexualakt oder bei der Onanie erzählten, desto deutlicher erkannte er, dass sie alle ohne Ausnahme in ihrer orgastischen Befriedigungsfähigkeit schwer gestört waren. Auf diese Weise schloss 22 u 1 • Die Energie der Tr iebe er enge Bekanntschaft mit dem, was die Wiener Gesellschaft der Zwanzigerjahre als »normale« Sexualität betrachtete, mit ihren stereotypen Attitüden einer »Männlichkeit«, die das Sich-Großtun mit sexuellen Eroberungen beinhaltete und der jeweiligen Partnerin statt Zärtlichkeit nur Verachtung und Abscheu entgegenbrachte, und einer »Weiblichkeit«, die ein passives Sich-Ergeben in den Geschlechtsverkehr bedeutete, hinter dem sich latente Angst oder einfach das Fehlen jeglicher Lustempfindung verbarg. Nach dreijährigen Untersuchungen zu diesem Gegenstand trug Reich im November 1923 sein erstes längeres Referat vor: »Über Genitalität vom Standpunkt der psychoanalytischen Prognose und Therapie.«6 Es wurde mit frostigem Schweigen aufgenommen und zog eine feindselige Debatte nach sich, bei der Reichs die frühe Freud’sche Auffassung bestätigende Schlussfolgerung, dass bei einem geregelten Sexualleben keine Neurose entstehen könne, angegriffen und diskreditiert wurde. Auf dem Psychoanalytischen Kongress in Salzburg im darauffolgenden Jahr bekräftigte Reich diese seine Folgerungen in einer Arbeit über »Die therapeutische Bedeutung der Genitallibido«, in der er seine Theorie durch eine größere Zahl von Fällen untermauerte.6 In dieser Arbeit führte er auch formell den Begriff der »orgastischen Potenz« ein. Darunter verstand er die Fähigkeit, sich »dem Strömen der biologischen Energie ohne jede Hemmung hinzugeben«, die Fähigkeit »zur vollständigen Entladung aller aufgestauten Sexualerregung durch unwillkürliche, lustvolle Kontraktionen des Körpers.« In seinem Buch Die Funktion des Orgasmus legte Reich die bis dahin ausführlichste Darlegung dieser grundlegenden Konzeption vor, die immer wieder missverstanden und von Kritikern, die die von Reich getroffenen, sorgfältigen qualitativen Differenzierungen nicht nachvollziehen konnten oder wollten, verdreht und verspottet worden ist.14 Bevor wir uns jedoch mit den Reaktionen auf die Orgasmustheorie beschäftigen, wollen wir noch einen Blick auf die Phänomenologie sowohl des gesunden wie des gestörten sexuellen u 23 Wi l h e l m R e i c h 1 Erlebens werfen, wie es sich auf der Basis der Reich’schen Theorie darstellt: Entwicklungsphasen der Sexualerregung Orgastische Potenz Orgastische Impotenz 1. Vorspiel Biologische Bereitschaft. »Ruhige Erregung«. Beiderseitige lustvolle Vorfreude. Übermäßige oder zu geringe Erregung. »Kalte« Erektion. »Trockene« Vagina. Vorspiel ungenügend oder zu lange. 2. Penetration Eingeleitet von einem spontanen Verlangen einzudringen bzw. einem spontanen Verlangen der Frau, den Phallus aufzunehmen. Zärtliche Berührungen. Steigerung des Lustgefühls. Entweder: sadistisches Hineinstoßen beim Mann und Vergewaltigungsfantasie bei der Frau; oder: Angst vor dem Eindringen bei einem oder beiden und Absinken der Lustempfindung im Moment der Penetration. 3. Phase der willkürlichen Bewegungen Willkürliche, aber mühelose, rhythmische, sanfte, nicht hastige Bewegungen. Keine ablenkenden Gedanken, Aufgehen im Lusterleben. Weitere Steigerung des Lustempfindens. Ruhephasen führen nicht zu einem Nachlassen der Lust. Angestrengte Friktionsbewegungen, nervöse Hast. Ablenkende Gedanken oder Fantasien drängen sich zwanghaft auf. Beherrschend der Gedanke der »Pflichterfüllung« gegenüber dem Partner, Angst vor dem »Versagen« oder Entschlossenheit, »es zu schaffen«. Ruhepausen führen wahrscheinlich zu abruptem Erregungsabfall. • Die Energie der Tr iebe Entwicklungsphasen der Sexualerregung Orgastische Potenz Orgastische Impotenz 4. Phase der unwillkürlichen Bewegungen und Muskelkontraktionen Die Erregung führt zu unwillkürlichen Kontraktionen der Genitalmuskulatur (die beim Mann die Ejakulation einleiten und dem Höhepunkt vorausgehen). Die gesamte Körpermuskulatur gerät mit in rhythmische Kontraktionen, während die Erregung vom Genitale in den Körper zurückströmt. Empfindungen des »Schmelzens« im Körper. Bewusstseinstrübung im Augenblick des Orgasmus. Unwillkürliche Bewegungen stark abgeschwächt oder in manchen Fällen ganz fehlend. Empfindungen bleiben auf das Genitale beschränkt und breiten sich nicht auf den ganzen Körper aus. Unwillkürliche Muskelreaktionen werden unter Umständen dem Partner zuliebe simuliert. Drücken und Stoßen mit krampfhaften Kontraktionen, um einen Höhepunkt zu erreichen. Das Gehirn behält die Kontrolle, die Bewusstseinstrübung tritt nicht ein. 5. Entspannungsphase Lustvolle körperliche und geistige Entspannung. Gefühl der Harmonie mit dem Partner. Starkes Verlangen nach Ruhe oder Schlaf. »Nachglühen«. Bleiernes Ermattungsgefühl, Abscheu, Ekel, Gleichgültigkeit oder Hass gegenüber dem Partner. Keine vollständige Erregungsabfuhr, als Folge davon manchmal Schlaflosigkeit. Omne animal post coitum triste est. Die Konzeption der orgastischen Impotenz lieferte Reich den Schlüssel zur Lösung des dritten von der Freud’schen Libidotheorie nicht geklärten Problems. 24 u u 25 Wi l h e l m R e i c h Sexuelle Erregung und Angst Freud hatte bereits 1895 die Hypothese vertreten, dass die Stauung nicht abgeführter Sexualenergie die Ursache gewisser Formen der neurotischen Angst bildet. Wo Angst ohne erkennbaren psychischen Inhalt, einfach aufgrund »frustraner Erregung« auftrat, sprach er von »Aktualangst« im Unterschied zur psychoneurotischen Angst, die aus Kindheitserlebnissen herrührt. Er vermochte indes nie zu erklären, wie sexuelle Erregung sich denn nun in Angst »verwandeln« kann, und so gelangte er zu dem Schluss, dass »eine Fortführung der Libidotheorie deshalb vorläufig nur auf dem Wege der Spekulation möglich« sei.4 Reich betrachtete seine Arbeit als Weiterentwicklung und Ergänzung der ursprünglichen Freud’schen Theorie der Angstneurose, insofern er die energetische Grundlage nicht nur der »Aktualangst«, sondern auch der psychoneurotischen Angst deutlich machte. Freud neigte dazu, zwischen den beiden Angstarten eine klare Trennungslinie zu ziehen. Reich jedoch gelangte aufgrund klinischer Erfahrungen zu der Ansicht, dass jede Psychoneurose einen aktualneurotischen Kern und umgekehrt jede Aktualneurose einen psychoneurotischen Überbau besitzt. Reich benannte die Aktualangst in »Stauungsangst« um und wandte sich dann der Frage zu, wie aus angestauter Sexualerregung Angst entstehen kann. Im Jahre 1924 behandelte er in der Psychoanalytischen Poliklinik zwei Patientinnen mit nervösen Herzbeschwerden. Er stellte fest, dass jedes Mal, wenn sie in genitale Erregung gerieten, das angstvolle Beklemmungsgefühl in der Herzgegend nachließ. Umgekehrt führte jede Hemmung der vaginalen Empfindungen prompt zu Beklemmungs- und Angstgefühlen im Herzbereich. Bei der zweiten Patientin gesellten sich zu den Herzbeschwerden noch große juckende Quaddeln (Urticaria) auf der Haut. Reich kam nun zu der Auffassung, dass nicht etwa eine Umwandlung sexueller Erregung in Angst stattfand, sondern dass vielmehr dieselbe Erregung, die sich in der 26 u 1 • Die Energie der Tr iebe Genitalzone als Lust äußerte, als Angst empfunden wurde, sobald sie das kardiovaskuläreII System besetzte. Diese Einsicht führte ihn zum Entwurf einer vorläufigen Konzeption der neurotischen Angst als dem psychischen Gegenstück einer jeden vasomotorischenIII Neurose.7 Die Weiterentwicklung dieser Auffassung zu einer vollständigen psychosomatischen Theorie sollte noch viele Jahre dauern und erforderte weitere Forschungen, auf die später in entsprechenden Zusammenhängen näher eingegangen werden wird. Die Orgasmustheorie im Widerstreit der Meinungen Als Reich seine Orgasmustheorie, deren Grundlinien wir gerade skizziert haben, in Salzburg erstmals vorstellte, gratulierte ihm zwar Karl Abraham zur gelungenen Formulierung des ökonomischen Faktors in der Neurose, aber zur selben Zeit begann die Psychoanalyse eigentlich, sich der Libidotheorie zu entledigen, da sie scheinbar nicht zu neuen Einsichten hatte führen können. Eine breite Kluft begann sich aufzutun zwischen der ursprünglichen Freud’schen Triebtheorie mit der zentralen Vorstellung einer psychischen Energie und den neuen ich-psychologischen Theorien, die den Gesichtspunkt der psychischen Struktur in den Vordergrund stellten. Die auf den bioenergetischen Einsichten der frühen Psychoanalyse aufbauende Orgasmustheorie nahm gerade in jenen Jahren Gestalt an, in denen Freud mit neuen Hypothesen aufwartete, die in manchen Punkten eine radikale Revision seiner bisherigen Auffassungen brachten. Den bedeutsamsten Schritt weg von der Libidotheorie in ihrer ursprünglichen Form unternahm er 1926 mit seiner Schrift Hemmung, Symptom und Angst. Wir haben gesehen, dass eines der mittels der psychoanalytischen Methode Freuds nicht lösbaren Probleme in der Erklärung jenes Mechanismus bestand, durch welchen Libido in Angst umgewandelt wird. Nun schaffte er dieses Problem II Herz und Gefäße betreffend. Von den Gefäßnerven ausgelöst. III u 27 Wi l h e l m R e i c h aus der Welt durch die Formulierung einer neuen Angsttheorie, auf deren Grundlage er seine früheren Schlussfolgerungen widerrufen konnte. Im Hinblick auf die phobische Angst meinte er jetzt: »Niemals geht die Angst aus der verdrängten Libido hervor.«8 Das Auftreten von Angst in Zusammenhang mit verdrängten Vorstellungen solle, so forderte Freud nun, »nicht ökonomisch erklärt werden«. – »Der Unterschied liegt darin, dass ich vormals die Angst in jedem Falle durch einen ökonomischen Vorgang automatisch entstanden glaubte, während die jetzige Auffassung der Angst … uns von diesem ökonomischen Zwange unabhängig macht.«8 Während in der ursprünglichen Theorie die Angst als eine Folge der Nichtabfuhr angesammelter Erregung gegolten hatte, betonte die neue Theorie stärker die angeborene biologische Konstitution des Kindes. Susan Isaacs brachte dies später in aller wünschenswerten Klarheit zum Ausdruck: »Ob, wann und wie wirksam das Kind seine eigenen Wünsche verdrängt, das wird immer mehr vom inneren Gleichgewicht der Kräfte als von äußeren Ereignissen als solchen abhängen … Die Bewertung, die das Kind nach Maßgabe seiner Fantasien unserem faktischen Verhalten verleiht, wird darüber entscheiden, welches Maß von Angst es in einer bestimmten Situation erlebt, und es ist diese Angst, die den Verdrängungsmechanismus in Gang setzt.«9 Auf diese Weise wurde die Beziehung zwischen Libido und Angst, zu deren Bestätigung und tieferem Verständnis die Orgasmustheorie beitrug, von den Psychoanalytikern mehr und mehr in Abrede gestellt. Clara Thompson kommentierte diesen Wandel wie folgt: »Freuds Interesse am Gegenstand [Angst] konzentrierte sich zunehmend auf die Frage der Beziehung zwischen Angst und Symptomen. Seine erste Theorie hatte ein ursächliche Erklärung für die Angst geboten, hatte sie als Folge der Störung der Orgasmusfähigkeit entweder durch äußerliche Ereignisse oder innere Hemmungen begriffen. Bei der neuen Theorie bleibt die physiologische Basis der Angst ungeklärt.«10 »Die Frage, aus welchem Stoff die Angst gemacht wird«, erklär28 u 1 • Die Energie der Tr iebe te Freud lapidar, »hat an Interesse verloren.«11 Anstelle einer auf reichhaltiges klinisches Beobachtungsmaterial und das Konzept der psychischen Energie gegründeten Triebtheorie erwuchs – eingestandenermaßen! – eine Mythologie: »Die Trieblehre ist sozusagen unsere Mythologie. Die Triebe sind mythische Wesen, großartig in ihrer Unbestimmtheit.«11 Freud wies die Orgasmustheorie niemals in aller Form zurück, aber als Reich ihm das Manuskript von Die Funktion des Orgasmus am 6. Mai 1926 überreichte, fand es eine entschieden kühle Aufnahme. »So dick?« fragte Freud mit einem Blick auf das Konvolut – eine Reaktion, die Reich tief enttäuschte. Freud nahm, wie die psychoanalytische Bewegung überhaupt, gegenüber der sexualökonomischen Auffassung Reichs eine deutlich ambivalente Haltung ein. Einerseits schrieb er Reich gegen Ende 1926, das Buch sei »wertvoll, reich an Beobachtungsmaterial und Gedankeninhalt«12, andererseits bezeichnete er die Orgasmustheorie herablassend als Reichs »Steckenpferd«. Einige Analytiker begrüßten die Reich’schen Auffassungen und anerkannten sie als grundlegende Neuerungen von beträchtlicher Bedeutung; dazu gehörten viele jüngere Analytiker. Folgende Rezension der Funktion des Orgasmus gibt den Tenor dieser enthusiastischen Zustimmung zu Reichs Gedanken eindrucksvoll wieder: »Dieser außerordentlich wertvollen und inhaltsreichen Arbeit ist es wirklich gelungen, die Freud’sche Sexualtheorie und Neurosenlehre, auf die sie sich stützt, anhand eines beträchtlichen Materials inhaltlich auszugestalten und gedanklich zu vertiefen. Ersteres, indem sie die Bedeutung des genitalen Orgasmus für Aufbau und gesamte Psychoplastik der Neurose zum ersten Mal mit voller psychologischer Systematik aufhellt; und zu vertiefen, indem sie die Freud’sche Lehre von den Aktualneurosen exakter mit einem psychologischen und physiologischen Sinn zu erfüllen weiß … Ich stehe nicht an, in diesem Werke von Reich die wertvollste Gabe zu sehen, die uns die psychoanalytische Forschung seit Freuds Ich und Es gegeben hat.«13 u 29 Wi l h e l m R e i c h Der vielleicht namhafteste Freudianer jener Jahre, der Reichs Theorie der orgastischen Potenz wirklich verstand und für die klinische Anwendung nutzbar machte, war Eduard Hitschmann, der Direktor der Psychoanalytischen Poliklinik in Wien. Viele Analytiker standen jedoch in erbitterter Opposition zu Reich, sei es aus persönlichen oder aus theoretischen Gründen. Die rührigsten unter ihnen waren Paul Federn, der eine Zeitlang Reichs Lehranalytiker gewesen war, und Hermann Nunberg. Es ist zwar niemals eine Arbeit veröffentlicht worden, die ernstzunehmende Argumente gegen die Reich’schen Folgerungen ins Feld geführt hätte, dennoch erscheint es mir wichtig, sich mit jenen Autoren zu beschäftigen, deren Ausführungen den Eindruck einer objektiven Kritik erwecken; vor allem die Auffassungen Paul Schilders und Abram Kardiners sind in diesem Zusammenhang von Interesse. Bei der Darlegung der Fallgeschichte eines an Angstneurose leidenden Mannes schrieb Paul Schilder – ehemaliger Psychiatrieprofessor Reichs in Wien –, der Patient sei »auch orgastisch potent im Reich’schen Sinne des Wortes. Ich habe vollständige orgastische Potenz verhältnismäßig häufig bei schweren Neurosen erlebt. Die Beziehung zwischen der Qualität des Orgasmus und der Schwere einer Neurose ist, wenn sie existiert, keinesfalls eng. Reichs diesbezügliche Feststellungen sind zu schematisch. Die Neurose ist keine Orgasmusstörung, sondern eine Störung in den zwischenmenschlichen Beziehungen und in der Psychosexualität.«15 Schilder verwendet hier den Begriff der orgastischen Potenz im Sinne der »Fähigkeit, einen Höhepunkt zu erleben«, was eben gerade nicht der Reich’schen Definition entspricht. Der Patient, dessen Fall Schilder erörterte, hatte eine Mutterfixierung, die eine tiefere Beziehung zu anderen Frauen verhinderte. Er war bei seinen oberflächlichen Beziehungen zu Mädchen, die er auf der Straße kennenlernte, erektiv potent, zeigte aber den typischen Zwiespalt zwischen sinnlichen Gefühlen einerseits und idealisierten Liebesgefühlen für einen unerreichbaren Mutterersatz andererseits, einen 30 u 1 • Die Energie der Tr iebe Zwiespalt, den sowohl Freud wie auch Reich als klassisches Merkmal des Neurotikers diagnostiziert hatten. Schilder bedient sich also in seiner Argumentation des Reich’schen Begriffs der »orgastischen Potenz« im Hinblick auf einen Fall, den Reich als »klassische orgastische Impotenz« klassifiziert hätte – um Reich dann vorzuhalten, dass der fragliche Mann eindeutig ein Neurotiker war. Dabei ist es genau diese falsche Alternative zwischen Orgasmusstörungen und Störungen der zwischenmenschlichen Beziehungen, die durch die Orgasmustheorie überwunden wird. Volle orgastische Potenz war für Reich gleichbedeutend mit der Fähigkeit, sich dem Partner ganz zu öffnen, ohne dass neurotische Probleme den emotionalen Kontakt blockieren. So verstanden, ist der Orgasmus nichts Geringeres als einer der sensibelsten Erlebnisbereiche überhaupt in den Beziehungen zwischen Mann und Frau, und gerade in diesem Sinne war Schilders Patient psychisch verkrüppelt.16 In einen sehr ähnlichen Fehler verfällt Abram Kardiner; er berichtet über den Fall eines fünfundzwanzigjährigen Mannes, der – einziges Kind seiner Eltern – sich über seine Probleme bei der Herstellung befriedigender Beziehungen zu Frauen beklagte. Wie Kardiner bemerkt, zeigte der Patient »keine Störung der orgastischen Potenz oder Leistungsfähigkeit«, er hatte »nur Schwierigkeiten, mit Frauen zurechtzukommen«.17 Das ist etwa so, als würde man sagen, eine bestimmte Person habe keine Verdauungsstörungen, leide allerdings an Magengeschwüren, Übersäuerung und Blähungen.18 Es ist vielleicht keine Überraschung, dass Kardiner unfähig war, die dynamische Bedeutung der Reich’schen Konzeption zu begreifen, denn er war einer jener Analytiker, die sich von der Libidotheorie losgesagt hatten. »Libido«, schrieb er, »fügt unserem Wissen nichts hinzu und sollte daher fallengelassen werden.«17 Den Gipfel der Absurdität im Missverstehen des Reich’schen Standpunkts erreicht jedoch G. Blum, dessen Buch Psychoanalytic Theories of Personality einen sinngemäß mit »Reichs Verirrung« überschriebenen Abschnitt enthält. »Im Anschluss an seine mit u 31 Wi l h e l m R e i c h höchster Anerkennung bedachten frühen Beiträge«, teilt Blum uns darin mit, »verlegte Reich sich auf den extremen Standpunkt, die Sexualität, wie sie sich im Orgasmus äußert, sei für das Verständnis der Leiden des Individuums und der Gesellschaft von zentraler Bedeutung.«19 Weit entfernt davon, im »Anschluss an seine frühen Beiträge« entstanden zu sein, bildete die von Reich zwischen 1921 und 1924 entwickelte Orgasmustheorie vielmehr die Grundlage für alle seine folgenden Werke einschließlich der charakteranalytischen Theorie, ja, nahm sie teilweise sogar vorweg. Selbst Anna Freud bezeichnete Reichs Herausarbeitung qualitativer Unterscheidungen bezüglich des Orgasmus als einen wichtigen Beitrag innerhalb der psychoanalytischen Bewegung. In den Zwanzigerjahren waren jene, die Reichs Auffassungen angriffen, in der Minderzahl. Entweder ignorierte man seine Theorien einfach oder behandelte sie, ohne Hinweis auf Reich als ihren Urheber, so, als seien sie wissenschaftliches Allgemeingut. Kardiner zum Beispiel schrieb die »starke Betonung der orgastischen Potenz« in der Psychoanalyse kurzerhand dem Einfluss Freuds und der feministischen Bewegung zu. Und Charles Berg zitiert in seinem Buch Clinical Psychology zwar die Bemerkung Reichs, der Orgasmus sei das »Aschenbrödel der Wissenschaft«, um dann jedoch Reichs sexualökonomische Angsttheorie so darzustellen, als sei sie von ihm, Charles Berg, selbst entwickelt worden.20 Otto Fenichel, der zu Anfang der Dreißigerjahre eng mit Reich zusammenarbeitete, verweist an zahlreichen Stellen seines mittlerweile klassisch gewordenen Lehrbuchs der Psychoanalyse auf Aspekte der Orgasmustheorie.22 Aber alle diesbezüglichen Verweise sind sehr indirekt formuliert und verschleiern die Tatsache, dass diese Ideen auf Reich zurückgehen und dass sie bedeutsame Konflikte innerhalb der psychoanalytischen Bewegung widerspiegeln.23 Reich, dessen Auseinandersetzung mit Fenichel an anderer Stelle noch zu erörtern sein wird, schrieb über Fenichels Umgang mit der Orgasmustheorie: »Es stellte sich heraus, dass Fenichel weder 32 u 1 • Die Energie der Tr iebe ein gefühlsmäßiges noch ein wissenschaftliches Verständnis für die sexualökonomische Bedeutung des Problems aufbrachte. Aber alles hängt an dem Standpunkt, den man zu dieser Frage einnimmt, denn von ihr und nur von ihr aus kann man alles, was ich in den vergangenen zwölf Jahren in schmerzhaften Kämpfen ausgearbeitet habe, verstehen oder missverstehen.«24 Das Konzept der orgastischen Potenz hat überlebt – aber getrennt von Reichs anderen Theorien, mit denen zusammen es entwickelt wurde und die es überhaupt erst ermöglicht hat. Es wurde verwässert, zurechtgestutzt und schließlich auf unverfängliche Weise in den corpus der psychoanalytischen Lehre aufgenommen, die es doch niemals wirklich integriert hat. Dennoch erfreute sich die Orgasmustheorie schließlich und endlich allgemeiner Anerkennung – auf Kosten welcher Konflikte innerhalb der Bewegung und welcher Verfolgungen vonseiten der Psychiatrie im Allgemeinen wird im Folgenden zu zeigen sein –, wie der Artikel über »orgastische Impotenz« im Psychiatric Dictionary deutlich zeigt: Unfähigkeit, im Sexualakt den Orgasmus oder den Höhepunkt der Befriedigung zu erreichen. Viele Neurotiker gelangen durch den Sexualakt zu keiner adäquaten Abfuhr ihrer sexuellen Energie. So kann beispielsweise ein Neurotiker »unter Umständen versuchen, durch beständige Wiederholung des Sexualakts zur Befriedigung zu kommen«. Damit vermittelt er zwar den Eindruck hoher genitaler Potenz, erreicht aber in Wirklichkeit niemals echte Befriedigung und kann sein Verlangen nicht stillen. Auch legen viele Neurotiker infolge ihrer Unfähigkeit zur Erreichung echter Endlust stärkere Betonung auf Vorspiel-Aktivitäten. In anderen Fällen mag der physiologische Ablauf des Sexualakts normal erscheinen; aber wenn eine Person, deren Sexualität in Wahrheit infantil geblieben ist, eine entgegenwirkende Angst durch den künstlichen Vollzug eines »erwachsenen« Sexualakts abzuwehren versucht, kann dieser Akt niemals volle Befriedigung bringen. Das Sexualverhalten ist rigide, und obwohl eine gewisse u 33 Wi l h e l m R e i c h 1 • Die Energie der Tr iebe narzisstische Funktionslust erlebt wird, entspricht diese doch nicht der vollkommenen Entspannung eines richtigen Orgasmus. Bei dieser Art »Pseudosexualität« stören narzisstische Ziele das wahre sexuelle Empfinden. Schließlich kann es beim Neurotiker zu einer Abnahme des bewussten Sexualinteresses kommen. Dadurch zeigt sich sein beständiger Kampf mit seiner unterdrückten Sexualität, der »seine verfügbare Sexualenergie vermindert«. In manchen Fällen ist jedoch der fehlende Energiebetrag gering, sodass das Sexualleben des Patienten scheinbar ungestört ist und er subjektiv das Gefühl hat, ein befriedigendes Sexualleben zu führen. Nach Fenichel besteht ein wichtiges Kennzeichen orgastischer Impotenz in der Unfähigkeit dieser Patienten zu lieben. Ihr Bedürfnis nach Eigenliebe, nach Selbstbestätigung, beeinträchtigt ihre Fähigkeit zur Objektliebe. Bei der näheren Erläuterung der Mechanismen orgastischer Impotenz zitiert Fenichel Reichs Analyse des sexuellen Erregungsablaufs. Nach Reich ist zur Erreichung einer »ökonomisch ausreichenden Entladung im Orgasmus« die volle Entfaltung der »zweiten Phase« der Sexualerregung erforderlich, in der es zu unwillkürlichen Konvulsionen der Beckenbodenmuskulatur kommt. Der Höhepunkt des Lusterlebens tritt ein, wenn die sexuelle Erregung in dieser zweiten Phase ihren Gipfel erreicht, und fällt mit einem Verlust der Ich-Kontrolle zusammen. Bei einem orgastisch impotenten Ich fehlt dieser Lusthöhepunkt. Vielmehr kommt es gerade an diesem Punkt zu einem Umschlag der Lust in Angst.25 das in einer konvulsionsartigen Spannungs-Entladung des ganzen Körpers.«26 Aber während Erikson ungeachtet seines Festhaltens an Reichs »irriger« Konzeption respektiert und anerkannt blieb, gewann die Auffassung, Reich habe eine Art persönlicher Sexbesessenheit entwickelt, an Boden. Manchmal wurde diese Ansicht sehr zurückhaltend formuliert – was das Missverständnis freilich nicht geringer machte –, wie etwa von Lewis Mumford, der meinte, Reichs Originalität bestehe in der »Verschreibung des Orgasmus als Universalheilmittel für die Leiden der Menschheit – Trugschluss einer eindimensionalen Erlösung«.27 In anderen Fällen scheute man sich nicht, Reich das bösartige Etikett »Orgasmuskönig« anzuhängen. Viele von denen, die sich heftig gegen Reichs »Vorliebe« für die Sexualfrage wandten, hatten vergessen, dass in den Kindertagen der Psychoanalyse genau dieselben Vorwürfe gegen Freud erhoben worden waren: Ernest Jones präsentiert in seiner Freud-Biografie eine eindrucksvolle Sammlung von geradezu pathologischen Reaktionen auf Freuds frühe libidotheoretische Arbeiten. Als im Gefolge der Untersuchungen von Kinsey und von Masters/Johnson über ein Viertel Jahrhundert später der Orgasmus plötzlich zu einem respektablen Diskussionsthema wurde, konnte man Reichs Arbeit abtun als etwas, das durch diese modernen Forschungen abgelöst oder überholt worden ist. Aber ein Vergleich zwischen Reichs Orgasmustheorie und diesen Studien belehrt uns eines Besseren. Ein weiterer psychoanalytischer Autor, der Reichs Konzept teilweise übernommen hat, ohne auf seinen eigentlichen Urheber hinzuweisen, ist Erik H. Erikson, der schreibt: »Genitalität besteht also in der ungehinderten Fähigkeit, eine von prägenitalen Störungen freie orgastische Potenz zu entwickeln, sodass bei voller Gefühlsbeteiligung sowohl von Penis wie von Vagina die genitale Libido (und nicht bloß die in Kinseys ›Abfuhr‹ entladenen Sexualprodukte) in heterosexueller Wechselseitigkeit zur Befriedigung gelangt, und Reich, Kinsey und der Masters-Johnson-Report 34 u Die Veröffentlichung der Kinsey-Reports in den Jahren 1948 bzw. 1953 und der großangelegten Studien von Masters und Johnson 1966 führte, besonders durch ihre anschließenden »Populär«-Versionen, dazu, dass dem Phänomen des Orgasmus zum ersten Mal allgemeine – und vor allem öffentliche – Aufmerksamkeit zuteil wurde. Plötzlich u 35 Wi l h e l m R e i c h war das Wort Orgasmus zu einem Begriff geworden; Filme über das Thema entstanden, das Wesen der Orgasmusreaktion wurde zu einem vertrauten Gegenstand von Büchern und Theaterstücken und eine unübersehbare Zahl von »Handbüchern« kam auf den Markt, die sich ausgiebig und detailliert der Erörterung von Techniken zur sexuellen Stimulation des Partners widmeten. Die feministische Bewegung nahm das Thema auf, und viele wortgewaltige Werke erschienen, die sich mit der Kontroverse zwischen dem sogenannten »klitoralen« und dem sogenannten »vaginalen« Orgasmus befassten. Es ist bemerkenswert, dass inmitten dieses aufflammenden öffentlichen Interesses, in einer Phase, in der der Orgasmus »demokratisiert« wurde, nur sehr wenige Autoren auf Reichs Arbeiten zu diesem Gegenstand verwiesen.35 Kinsey selbst führte gleich zu Beginn der theoretischen Einleitung zu seiner ersten Studie die Unterscheidung zwischen »Orgasmus« und »orgastischer Lust« ein. Da er sich auf derselben Seite auch auf die Arbeit Reichs bezieht, entsteht der Eindruck, dass er die Bedeutung des Begriffs »Orgasmus«, wie er ihn verwendet, von der Bedeutung abzuheben sucht, die Reich ihm gab. »Und so haben wir«, schreibt Kinsey, »in der vorliegenden Arbeit alle Fälle von Ejakulationen als Beweise des Orgasmus aufgefasst, ohne auf die verschiedenen Erregungsstufen, auf denen der Orgasmus stattfand, Rücksicht zu nehmen.«28 In seinem Buch über das weibliche Sexualverhalten gibt Kinsey die gleiche Definition: »Viele Psychologen und Psychiater, die die Befriedigung nach dem Sexualakt hervorheben, weisen darauf hin, dass die Nachwirkungen dieser Abfuhr sexueller Spannungen eine der Hauptursachen dieser Befriedigung sind. Sie sind aus diesem Grunde geneigt, den Terminus Orgasmus sowohl auf die Spannungsentladung als auch auf die Nachwirkungen dieser Abfuhr auszudehnen. Es ist jedoch in mancher Hinsicht vorteilhafter, den Begriff Orgasmus auf die plötzliche und abrupte Abfuhr selbst einzuschränken, und in diesem Sinne haben wir auch den Terminus im vorliegenden Bande angewendet.«29 36 u 1 • Die Energie der Tr iebe Kinseys Arbeit konzentriert sich also auf die Akme, auf die Anatomie und Physiologie der am sexuellen Höhepunkt beteiligten Organe und Vorgänge sowie auf die zur Erzielung einer irgendwie gearteten Spannungsabfuhr angewendeten Praktiken. Im Vergleich zu Reichs ursprünglicher Unterscheidung wird deutlich, dass Kinsey mit dem Begriff Orgasmus ein breites Spektrum des Sexualverhaltens vom verhältnismäßig gesunden bis zum schwer gestörten abdeckt. Während Reich als Kliniker mithilfe der Beschreibungen, die seine Patienten lieferten, die Verschiedenheiten ihrer orgastischen Reaktionen erforschte, beschränkte Kinsey sich auf die Darstellung von Verhaltensunterschieden in den dem Orgasmus vorausgehenden Stadien. Was den orgastischen Höhepunkt selbst betrifft, so war er nur daran interessiert, Gleichartigkeiten zwischen den Leuten zu entdecken, um ein standardisiertes Kriterium, die Akme, entwickeln zu können. Nirgends hat sich diese Tendenz, alle qualitativen Unterscheidungen zu standardisieren und auf eine durchgängig physiologische Beschreibung zu reduzieren, deutlicher gezeigt als in den hitzigen Debatten, die sich an der kontroversen Frage »vaginaler« oder »klitoraler« Orgasmus entzündeten. Freud hatte 1905 seine Theorie über die weibliche Sexualität entwickelt, die zu einer der grundlegenden psychoanalytischen Lehrmeinungen werden sollte. Er glaubte, dass jedes Mädchen in seiner normalen sexuellen Entwicklung von einer Phase der klitoralen zu einer der vaginalen Erregbarkeit fortschreitet. Klitorale Sexualität identifizierte er mit Männlichkeit und Unreife, vaginale Sexualität mit Weiblichkeit und Reife. Marie Robinson widmete ein ganzes Kapitel ihres Buches The Power of Sexual Surrender der Darlegung ihrer Ansicht, der Orgasmus der wirklich reifen Frau finde stets in der Vagina statt, während die Frau, die nur KlitorisOrgasmen hat, an einer spezifischen Form der Frigidität leide. Und als Kinsey sich durch seine Forschungen veranlasst sah, die Existenz eines »vaginalen Orgasmus« aus physiologischen Gründen, nämlich wegen des Fehlens sensorischer Nerven in der Vagina, infrage zu u 37 Wi l h e l m R e i c h stellen, beeilten sich von seinen Ergebnissen alarmierte orthodoxe Freudianer, seine Auffassung zu widerlegen und den Freud’schen Standpunkt zu bekräftigen.30 Dagegen stärkten die Untersuchungen von Masters und Johnson wiederum jenen den Rücken, denen die Klitoris als entscheidendes oder zumindest vorrangiges Organ sexueller Erregung und Lust für viele normale und reife Frauen galt; und die Psychologen Inge und Sten Hegeler gingen so weit zu behaupten: »Jeder weibliche Orgasmus ist ein Klitoris-Orgasmus, gewöhnlich direkt, weniger häufig indirekt. Es ist sehr wichtig, dies zu erkennen, wenn man die wirkliche Natur eines Orgasmus verstehen will. Ein Orgasmus wird praktisch mit dem ganzen Körper empfunden: in der Muskulatur und auch in den Wänden der Vagina, die sich beim Orgasmus kontrahieren. Der Orgasmus geht nicht von der Vagina aus … Es entspricht einem lange Zeit herrschenden Aberglauben und Missverständnis, dass ein vaginaler Orgasmus schöner und würdiger sei als ein klitoraler. Aber der vaginale Orgasmus existiert nicht. Was als vaginaler Orgasmus angesehen wird, ist in Wirklichkeit eine indirekte Reizung der Muskelfasern und Nervenenden der Klitoris am Eingang zur Vagina.«31 Die Schwierigkeit, diese einander widersprechenden Anschauungen zusammenzubringen, rührt von der willkürlichen Einschränkung des Terminus »Orgasmus« auf den isoliert gesehenen Höhepunkt her. Masters und Johnson stellen nach einer erschöpfenden Beschreibung der Physiologie des Orgasmus die Frage: »Sind klitoraler und vaginaler Orgasmus wirklich zwei anatomisch wesensverschiedene Dinge? Vom biologischen Standpunkt lautet die Antwort auf diese Frage eindeutig: Nein … Unter anatomischen Gesichtspunkten besteht absolut kein Unterschied in der Reaktion der Unterleibsorgane auf wirksame sexuelle Stimulation … Wenn eine Frau auf wirksame Stimulation mit orgastischen Reaktionen antwortet, reagieren Vagina und Klitoris stets nach demselben physiologischen Muster.«32 Und Ruth und Edward Brecher gelangten auf der Grundlage der Untersuchungen von Masters und Johnson zu dem Schluss, dass es 38 u 1 • Die Energie der Tr iebe »weder einen rein klitoralen noch einen rein vaginalen Orgasmus gibt. Es gibt vom physiologischen Standpunkt aus nur eine einzige Art von Orgasmus … den sexuellen Orgasmus.«33 Die Unterscheidung, welche die Freudianer zu treffen versucht hatten, beruhte auf einem nur partiellen, unvollständigen Verständnis des orgastischen Vorgangs, denn die qualitative Unterscheidung zwischen unreifer und reifer Sexualität fand erst eine klinische Basis, als die Arbeiten Reichs ein weitaus präziseres und eindeutigeres Kriterium für die Abgrenzung der unreifen und der reifen Sexualität erbrachten: das Konzept der orgastischen Potenz. Die Arbeit Kinseys und die von Masters/Johnson standen, weil die Gültigkeit ihrer Schlüsse auf die Merkmale beschränkt war, die für alle Arten sexueller Höhepunkte zutrafen, in keiner Weise im Widerspruch zu der von Reich eingenommenen Position. Indem sie jedoch ihre Aufmerksamkeit auf jene Vorgänge konzentrierten, die gleichermaßen bei orgastisch potenten und orgastisch impotenten sexuellen Reaktionen vorkamen, bewegten sie sich in entgegengesetzter Richtung. Keine Unterscheidung ist in ihren Büchern getroffen zwischen einem lediglich genitalen Erleben mit nur minimaler Beteiligung des übrigen Körpers und einem umfassenderen Erleben. Akme ist gleich Akme ist gleich Akme. Ebenso wenig wird zwischen willkürlichen und unwillkürlichen Muskelbewegungen unterschieden. Masters und Johnson schreiben: »Die quergestreifte Muskulatur der Bauchwand und der Glutäalgegend wird häufig von der Frau willkürlich angespannt, um die Sexualspannung zu erhöhen, insbesondere um von der Plateauphase zum Orgasmus zu gelangen.«34 Morton Herskowitz, ein Mitarbeiter Reichs, der eine der intelligentesten Einschätzungen der Forschungen von Masters und Johnson im Vergleich zu denen Reichs geliefert hat,35 weist darauf hin, dass die beiden Sexualwissenschaftler, hätten sie sich die Frage gestellt, warum manche Frauen vor dem Orgasmus Hinterbacken und Unterbauch anspannen, während andere dies nicht tun, vielleicht dahin gekommen wären, die Funktion der muskulären Blockierungen zu entdecken, die eine volle Hingabe an den »Strom der Gefühle« verhindern. u 39 Wi l h e l m R e i c h »Viele Menschen sind in der Lage«, schreibt Kinsey, »den normalen Verlauf ihrer sexuellen Reaktion zu kontrollieren, um dadurch die Ausübung des Aktes oder besonders lustbetonte Phasen zu modifizieren oder zu verlängern … Durch kontrollierte Atmungsfrequenz, indem sie ihre Muskeln in beständiger Spannung halten«, und durch weitere Mittel, die er aufzählt, »ist es möglich, die Einleitung des Aktes zu verlängern und das Ansteigen der Reaktion zu verzögern, die die physiologischen Vorgänge zum Höhepunkt bringt.«29 Die Darstellung, die Kinsey von den den Orgasmus begleitenden körperlichen Vorgängen gibt, umfasst ein breites Spektrum höchst unterschiedlicher Reaktionen; während nämlich manche Menschen ihre Reaktionen »drosseln« und einen verhältnismäßig eng lokalisierten, gehemmten und unnatürlich »ruhigen« Orgasmus erleben, kann bei anderen das normale System der Selbstkontrolle mit explosiver Kraft gesprengt werden: »Bei den extremsten Formen sexueller Reaktion kann ein Individuum sich zusammenkrümmen und den ganzen Körper in fortgesetzte, heftige Bewegung versetzen, den Rücken beugen, die Hüften hin- und herwerfen, den Kopf verdrehen, Arme und Beine ausstrecken, murmeln, stöhnen, seufzen oder schreien, in ganz ähnlicher Art wie ein Mensch, der extreme Qualen erleidet. Gelegentlich kann der Sexualpartner während der unkontrollierten Reaktion eines intensiv reagierenden Individuums gequetscht, geschlagen, heftig gestoßen oder getreten werden.«29 Kinsey beschreibt hier die Pathologie des Orgasmus, aber er sagt es nicht und deutet auch in keiner Weise an, dass ein Unterschied – es sei denn ein gradueller – besteht zwischen einer wilden Erregung dieser Art und einem natürlichen Orgasmus. Reichs spätere Untersuchungen muskulärer Spannungen sollten zeigen, dass derart heftige Reaktionen nur auftreten, wenn die normale konvulsivische Reaktion durch kontrahierte Muskelknoten in verschiedenen Teilen des Körpers blockiert ist, vergleichbar mit einer festgebundenen Schlange, die sich aufbäumt und ausschlägt. In einem Round-Table-Gespräch über den weiblichen Orgasmus wurde diese Art der Reaktion wieder einmal fälschlicherweise mit 40 u 1 • Die Energie der Tr iebe orgastischer Potenz gleichgesetzt, während die Reife der Person anscheinend mit dem erfolgreichen Funktionieren der Selbstkontrollsysteme in eins gesetzt wird: »Von der klinischen Erfahrung her wissen wir seit langem, dass man den Orgasmus nicht in irgendeine direkte Beziehung zur Reife setzen kann. Einige der Leute, die ich kannte und die über eine große, lebhafte, gewaltige orgastische Potenz verfügten, entsprachen in keiner Weise der psychiatrischen Definition einer emotional gereiften Person, was ihre Beziehungen zu anderen Menschen anging. Andererseits scheint es, dass bei einer sehr großen Zahl von Menschen, die über alle Attribute (sowie auch die Stigmata) der Reife verfügen, diese ›Reife‹ die physische Lust am Sex beeinträchtigt.«36 Einer der Autoren, die mit ihren einschlägigen Arbeiten der von Reich getroffenen Unterscheidung am nächsten kamen, war J. Marmor, der zwischen »Graden der kortikalen Hemmung« und der »kortikalen Ungehemmtheit« differenzierte, diesen Gedanken allerdings nicht zu einer konsistenten Theorie weiterentwickelte.37 Nach seiner Auffassung ist bei starker kortikaler Hemmung (Angst, Schuldgefühle, Befürchtungen usw.) höchstens eine orgastische Reaktion auf spinalem Niveau oder aber gar keine sexuelle Reaktion möglich. Wo eine solche Hemmung fehlt, ist eine adäquate physische Entspannung und psychologische Reaktionsbereitschaft, also ein »ausgewachsener«, voll ausgelebter Orgasmus zu erwarten. Reich benutzte sehr gern den Ausdruck »ruhige Erregung« für die ungehemmte, aber nicht »explosive« sexuelle Reaktion des reifen Menschen. Sexualität und Liebe Während Kinsey und Masters/Johnson die orgastische Reaktion von der Gesamtheit der Sexualbeziehung abspalteten und sie als einen mit objektiven Mitteln messbaren und quantifizierbaren Vorgang zu beobachten suchten, betrachtete Reich die Erfahrung des Orgasmus als untrennbar verbunden mit dem gesamten Reaktionssystem und der Kontaktfähigkeit einer Person. Störungen der u 41 Wi l h e l m R e i c h orgastischen Erlebnisfähigkeit deuten auf Persönlichkeitsstörungen hin und wirken sich im psychosomatischen Sinn auf die allgemeine Gesundheit des Organismus aus. Aus diesem Grunde haben jene beiden Mitarbeiter Reichs – Philipson und Lowen –, die am meisten für die Weiterentwicklung seiner Konzepte und für die noch deutlichere Herausarbeitung seiner Unterscheidungen taten, die Orgasmusfunktion in den Zusammenhang der Untersuchung der zwischenmenschlichen Beziehungen überhaupt gestellt. So schreibt der dänische Psychoanalytiker Tage Philipson in seinem Buch über natürliches und unnatürliches Liebesleben: »Es ist eine natürliche Folge unserer Auffassung, dass Sexualität und Liebe bei gesunden Menschen immer zusammengehören. Sex kommt vom Herzen und kehrt zum Herzen zurück. Es ist leicht verständlich, dass eine Verbindung zwischen den Liebesgefühlen des Herzens und der Sexualität eine freie Beweglichkeit innerhalb des Organismus zur Voraussetzung hat. Nur unter dieser Bedingung kann die Kraft der Liebe den gesamten Organismus ergreifen, sodass der anatomische Mittelpunkt auch zu einem funktionellen Mittelpunkt für den gesamten Organismus wird. Man kann es auch so ausdrücken: Das Lebensgefühl soll vom Mittelpunkt aus durch den ganzen Organismus strömen und den ganzen Organismus erfüllen. Damit will ich sagen, dass die vollkommen gesunde Person die Person mit vollkommen freien Liebesgefühlen sein muss, die Person, die fähig ist, ihre Liebesgefühle im Organismus frei nach allen Richtungen strömen zu lassen. So wird ihre Liebe überall sein: im Herzen, in den Augen, im Gehirn und in all ihren Gefühlen, ihrem Körper und ihrer Seele. Wenn diese Voraussetzung erfüllt ist, werden auch andere Gefühle durch den gesamten Organismus strömen können – Hass, Trauer, Angst usw. –, und der Orgasmus als Höhepunkt des sexuellen Erlebens wird ebenfalls den gesamten Organismus ergreifen können … Die gesunde Person ist die ungeteilte Person, die Person mit freien und gesunden Gefühlen und mit einer ebenso freien und ungeteilten Persönlichkeit.«38 Alexander Lowens Buch Liebe und Orgasmus liefert eine einge42 u 1 • Die Energie der Tr iebe hende Untersuchung der sexuellen Funktionen und ihrer Störungen sowie beider Beziehungen zu Kindheitserlebnissen einerseits und zur Persönlichkeitsentwicklung im Allgemeinen andererseits.39 Durch das ganze Buch zieht sich die klare Unterscheidung zwischen dem Mangel an innerer Befriedigung, den ein Mensch empfindet, der sexuell anspruchsvoll und »leistungsfähig« sein mag, aber einen »Orgasmus« nur im begrenzten Kinseyschen Sinn des Wortes erleben kann, und der inneren Fülle, der Jugendlichkeit und Freude, die ein Mensch empfindet, der über die Fähigkeit verfügt, als ungeteiltes menschliches Wesen in eine Liebesbeziehung einzutreten. Lowen bekräftigt die Auffassung Reichs, dass orgastische Potenz ein Ausdruck der Gesundheit und nicht ein Patentrezept zu ihrer Erlangung ist, und erteilt damit denen eine deutliche Antwort, die Reichs Ausführungen als einen Versuch missverstehen, den Orgasmus zum Allheilmittel zu deklarieren. Während Philipson und Lowen die Reich’sche Orgasmustheorie für detailliertere Studien des menschlichen Liebeslebens und der Persönlichkeitsstruktur fruchtbar machten, war Theodore Wolfe einer der ersten, die erkannten, dass die Orgasmustheorie auch einen neuen Weg zur psychosomatischen Medizin eröffnet. Zusammen mit seiner Frau, Dr. Flanders Dunbar, war er einer der Pioniere der psychosomatischen medizinischen Forschung in Amerika. Er war überzeugt, dass die Angst das zentrale Problem nicht nur der Neurosenpsychologie, sondern auch der psychosomatischen Forschung ist. Wolfe durchforstete im Hinblick darauf die medizinische und psychoanalytische Literatur, um so ein besseres Verständnis der Beziehungen zwischen Angstdisposition und einer Reihe bestimmter psychosomatischer Beschwerden zu gewinnen. Er trug über hundert verstreute Hinweise zusammen, doch blieb seine Arbeit – zunächst – Fragment, da er nicht über das funktionale Konzept verfügte, das nötig gewesen wäre, um die Dynamik dieser Prozesse zu verstehen. Mit Reichs Orgasmustheorie fand Wolfe schließlich jene bioenergetischen Einsichten, nach denen er suchte – den Schlüssel zur Lösung des psychosomatischen Problems.40 u 43