Adel I. Allgemeines und Nachbarregionen - II. Westslaven

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Adel I. Allgemeines und Nachbarregionen - II. Westslaven
Adel
I. Allgemeines und Nachbarregionen - II. Westslaven - III. Ungarn - IV. Südslaven - V. Ostslaven
(Kiever Rus') - VI. Balten - VII. Finno-Ugrier
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I. Allgemeines und Nachbarregionen
1. Allgemeines: Adel (althochdt. adal, altsächs. aðal, altengl. aeðel, altnordisch aðal, dazu poln.
szlachta, tsch. slechta in der Bedeutung 'Abstammung, Geschlecht' bzw. 'vornehmes Geschlecht'
aus mittelhochdt. slahta), Bezeichung für einen bestimmten Kreis von Familien bzw. Sippen,
deren Angehörige eine Vorrangstellung im politischen Leben einnehmen, die auf Besitz und
Herrschaft über abhängige Personen beruht. Diese Stellung ist, ohne daß eine kastenartige
Abschließung erfolgt, in einem bestimmten Kreis von Geschlechtern erblich, d.h. der Adel tritt
stets mehr oder weniger ausgeprägt als Stand in Erscheinung.
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2. Fränkisches und deutsches Reich: Die Ausbildung des Adels erfolgte bei den germanischen
Stämmen im Zusammenhang mit frühen sozialen Differenzierungsprozessen. Bereits Tacitus
erwähnte nobiles bei den germanischen Stämmen. Dieser Stammesadel baute seine führende
Stellung auf der Basis gefolgschaftlicher Verbände aus, und er wurde in den Eroberungszügen
der Völkerwanderungszeit zum führenden Element. Solange die Stammesorganisation Bestand
hatte, blieb dieser Adel jedoch in deren Beziehungsgeflecht eingebunden.
Mit der Herausbildung eines Königtums, das staatliche Gewalt ausübte, veränderten sich
Stellung und Struktur des Adels. Das starke merowingische Königtum unter Chlodwig I. und
seinen unmittelbaren Nachfolgern erkannte ein Eigenrecht des fränkischen Adels nicht an: In der
Lex Salica erscheinen nur die ingenui als Rechtsstand, der alle Freien (→Freiheit und
Unfreiheit←) einschließlich der Adligen umfaßt. Eine Sonderstellung mit erhöhtem Wergeld
wird nur den Angehörigen der königlichen →Gefolgschaft← (antrustiones) zuerkannt (Lex
Salica, LXIV, 4, S. 188; LXX,1 - 2, S. 190). Die Ausrottungstheorie (u.a. K. BRUNNER),
derzufolge das merowingische Königtum den fränkischen Stammesadel weitgehend eliminiert
habe, wird heute nicht mehr anerkannt. Teils vermutet man eine Kontinuität des Adel (z.B. F.
IRSIGLER), teils nimmt man an, daß damals überhaupt kein Adelsstand existierte, sondern nur eine
Oberschicht innerhalb des Rechtsstandes der Freien (so H. GRAHN-HOEK, F. GRAUS, H. K.
SCHULZE). Große Teile des fränkischen Stammesadels behaupteten wohl innerhalb der
königlichen Gefolgschaft eine Vorrangstellung, ohne daß die ständische Adelsqualität zugunsten
eines Dienstverhältnisses zurücktrat. Zugleich vermochten aber auch besonders im
6. Jahrhundert Nichtadlige im Dienst der Könige in solchem Maße Besitz anzuhäufen und
politischen Einfluß zu gewinnen, daß ihre Nachkommen in den Adel aufstiegen.
Das Königtum trug durch stetige Landschenkungen an Gefolgsleute dazu bei, daß Grundbesitz
zur entscheidenden wirtschaftlichen Basis des Adels wurde. Als Grundherren besaßen die
Adligen zugleich Herrengewalt über Unfreie, Freigelassene und "Halbfreie" (Liten), und mit der
allmählichen Ausprägung der →Immunität← beanspruchten sie auch Gerichtsrechte über andere
auf ihrem Besitz ansässige Bauern. Die Entwicklung der adligen →Grundherrschaft← förderte
so gesellschaftliche Differenzierungsprozesse, in deren Verlauf der Stand der Freien weitgehend
zersetzt wurde.
Die ständige Ausweitung des Großgrundbesitzes, die fortschreitende Einbeziehung von Freien in
Abhängigkeitsverhältnisse
sowie
die
monopolartige
Ausübung
staatlicher
Ämter
(→Amt/Amtsträger←), insbesondere des Grafenamtes, durch Adlige förderten im 9. Jahrhundert
ein kontinuierliches Erstarken des Adels und eine Schwächung des Königtums. Als Oberschicht
innerhalb des Adels kristallisierte sich ein Kreis besonders einflußreicher, mit wichtigen
staatlichen
Ämtern
begabte
Adelsgeschlechter
heraus,
die
sogenannte
fränkische
Reichsaristokratie (G. TELLENBACH), deren Angehörige im weiteren Verlauf des 9. Jahrhundert
teils mehrere Großfürsten in ihrer Hand vereinigten, teils Großgrafschaften aufbauten oder
Herzogtümer unter ihre Herrschaft brachten und sich als Fürsten weitgehend vom Königtum
emanzipierten. Zugleich gelang es dem Adel, die höheren kirchlichen Positionen in seine Hand
zu bekommen; die Bischofe und Äbte, aber auch die Domherren an den Bischofskirchen waren
überwiegend adliger Herkunft.
Die Auflösung der karolingischen Grafschaftsverfassung im Laufe des 10. Jahrhundert ebnete
den Weg für die Bildung zahlreicher selbständiger Adelsherrschaften, deren Inhaber teils den
Titel eines Grafen trugen, teils aber auch ohne solchen Titel eine derartige Stellung gewannen.
Als Zentren ihrer regional begrenzten Herrschaftsbereiche wurden Burgen (→Burg←) errichtet,
die zum festen Sitz der jeweiligen Adelsfamilien wurden; auch die Einrichtung von Hausklöstern
kennzeichnete ihr adliges Selbsverständnis. Mit Hilfe von Gerichtsrechten vermochten diese
adligen Herren Streubesitz anderer Herren bzw. kirchlicher Institutionen unter ihre
Oberherrschaft zu bringen. Mit der Bildung von Herrschaftsmittelpunkten gewannen die
Adelsfamilien festere Konturen; sie vererbten ihre Position nunmehr ausschließlich in
agnatischer Linie, während zuvor auch die Verwandtschaft der angeheirateten Frau eine große
Rolle gespielt hatte, insbesondere wenn diese einer vornehmen Familie entstammte. Wie die
Familien der chatelains in Frankreich begannen auch im deutschen Gebiet im späten
11. Jahrhundert Adelsfamilien, sich nach ihrer Burg zu nennen.
Die fortschreitende politische Zersplitterung, die Bildung fürstlicher Herrschaftsbereiche (an der
Ostgrenze auch der →Marken←) sowie kleinerer regionaler Adelsherrschaften und die damit
verbundenen Machtkämpfe erforderten die Verfügbarkeit eines ausreichenden Gefolges
berittener Krieger. Regionale Machthaber ebenso wie der König griffen dafür auch auf
Angehörige ihrer →familia←, also auf Unfreie verschiedener Schattierungen, zurück. Diese
milites oder ministeriales erhielten kleinere Lehen. Trotz ihrer unfreien Herkunft gelang ihnen
bis ins 13. Jahrhundert der Aufstieg in den Adel, wobei allerdings die Abgrenzung zwischen
altfreiem Hochadel und dem neuen niederen Adel wirksam blieb. Die seit dem
12./13. Jahrhundert allgemein zu beobachtende Tendenz, diesen neuen Kleinadel gegen
Aufstiegsbestrebungen weiterer Elemente abzugrenzen, führte insgesamt zu einer schärferen
rechtlichen Abgrenzung des Adelsstandes gegenüber der Masse der Bevölkerung.
BERNHARD TÖPFER
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th
th
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- XII
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3. Skandinavien: Die Herausbildung eines Adels war in Skandinavien, wie überhaupt bei den
Germanen, das Ergebnis sozialer Differenzierungsprozesse innerhalb der sich staatlich
organisierenden Gemeinschaften. Diese waren in der Wikingerzeit geschichtet, Adlige oder
Häuptlinge waren Anführer auf Plünderungs- und Kriegszügen. Vermutlich hatten die
Häuptlinge, ähnlich den aus der Landnahmezeit auf Island bekannten Goden, gleichzeitig
priesterliche Aufgaben in der vorchristlichen Religion. Eine rechtliche Abgrenzung des Adels
von der übrigen freien Bevölkerung war, abgesehen von seiner kriegerischen Tätigkeit, während
der Wikingerzeit unbekannt.
Die Stellung dieser Oberschicht hat sich mit der Herausbildung des Königtums und der
Konsolidierung einer Staatsorganisation (etwa 1000 - 1300) verändert: Der mittelalterliche Adel
entwickelte sich zu einem Rechtsstand. Gleichzeitig wandelte sich auch die wirtschaftliche
Stellung des Adels bzw. der Oberschicht der Häuptlinge, aus Anführern von Plünderungszügen
wurden Großgrundbesitzer. Privilegien grenzten den Adel von der großen Masse der
Bauernbevölkerung ab; entscheidend für die mittelalterliche Definition des Adels war sein
Verhältnis zur Königsmacht. Für Dienste, vor allem für Kriegsdienst, wurden die Adligen von
Steuern und anderen →Abgaben← befreit. Dieser Sachverhalt wurde für Schweden spätestens
durch König Magnus Birgersson Ladulås und das Statut von Alsnö (→Adelsö←) um 1280
festgelegt. Die gewöhnliche Bezeichnung für den Adel war im mittelalterlichen Skandinavien
frälse, d.h. 'befreit' (von königlichen oder staatlichen Steuern).
Der skandinavische Adel hatte unterschiedliche Wurzeln und war deshalb keine homogene
Schicht. Stormänner und Häuptlinge hatten eigene Gefolgschaften und unternahmen bis in das
12. oder 13. Jahrhundert in allen drei skandinavischen Königreichen auf eigene Rechnung
Kriegs- und Plünderungszüge. Diese Gefolgschaften wurden allmählich in die königliche
Ledung (leiđangr) eingegliedert; die Gruppe der Stormänner büßte durch ihr Verhältnis zur
Königsmacht ihre unabhängige Stellung ein, erhielt aber dafür bestimmte Vorrechte. Andere
Gruppen, die zum Adel aufsteigen konnten, waren die ministeriales, Königsbedienstete und
Angehörige der königlichen Gefolgschaften, v.a. aber vermögende Bauern, die Kriegsdienst zu
Pferd leisteten und dafür Adelsbriefe erhielten (→Heeresorganisation←).
THOMAS LINDKVIST
Lit.: ST. BOLIN, Ledung och frälse, Lund 1934; A. E. CHRISTENSEN, Kongemakt og aristokrati,
Kopenhagen 1945; J. ROSÉN, Kring Alsnö stadga, in: Festskrift till Gottfrid Carlsson, Lund 1952;
C. G. ANDRÆ, Kyrka och frälse i Sverige under äldre medeltid, Uppsala 1960.
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4. Byzantinisches Reich: Die Angehörigen des byzantinischen Adels werden als οι τω̃ν ευ̉
γεγονότων, α̉νδρες ευ̉γενε̃ις oder auch οι δυνατοι bezeichnet, seltener als οι α̉ριοτοι bzw. οι
α̉ριοτετι̃ς. Der alte Adel der spätrömischen Zeit verschwand im 7. Jahrhundert infolge der
Umwälzungen, die mit der Invasion der Slaven auf die Balkanhalbinsel einhergingen, eine neue
Aristokratie wird ab dem 8./9. Jahrhundert erkennbar. Gemeinhin unterscheidet man den eher an
Konstantinopel gebundenen "Beamtenadel", dem auch die Geistlichkeit zuzurechnen ist, und den
auf die Themenorganisation gestützten "Militäradel" der Provinzen; beiden war ein starkes
Streben nach Grundbesitz gemein, dem die freien Bauern genau wie die Inhaber der ab dem
7./8. Jahrhundert entstandenen Militärgüter schrittweise zum Opfer fielen. Ab dem
10. Jahrhundert versuchten die byzantinischen Kaiser dieser Entwicklung, die eine Reduzierung
der steuer- und kriegsdienstpflichtigen Bevölkerung für den Staat bedeutete, durch gezielte
Gesetze entgegenzuwirken, doch blieben sie letztlich erfolglos. Unter den dem Militäradel
entstammenden Komnenenkaisern vergrößerte sich die Macht des Adels noch durch die immer
stärker werdende Verbreitung von (Steuer-) Immunitäten (ε̉ ξκουσει̃α), ab dem 12. Jahrhundert
auch durch das Pronoiawesen.
ANDREAS KÜLZER
Lit.: R. GUILLAND, La Noblesse de race à Byzance, in: ByzSlav 9, 1947/48, 307 - 314; G.
OSTROGORSKY, Observations on the Aristocracy in Byzantium, in: DOP 25, 1971, 1 - 32; L.
MAKSIMOVIĆ, Adel. D. Byzanz, in: LdM I, 1980, 131 - 133; The Byzantine Aristocracy, IX to XIII
centuries, hg. M. ANGOLD, Oxford 1984.
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II. Westslaven
1. Böhmen und Mähren - 2. Polen - 3. Elbslaven - 4. Pomoranen
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1. Böhmen und Mähren: Einen Adel im fränkisch-deutschen Sinne hat es in Böhmen bis zum
13. Jahrhundert nicht gegeben. Die slavische Gentilgesellschaft kannte von altersher, schon vor
den Wanderungen des 6. - 7. Jahrhundert, eine mehr oder weniger ausgeprägte Aristokratie, eine
Schicht von Großen, deren Vertreter offenbar v.a. velъmožъ ('sehr reicher, sehr mächtiger Mann')
genannt wurden. Ihre Vorrangstellung stützte sich auf Reichtum und Prestige, war jedoch nicht
durch Recht und die strengen Regeln des Konnubiums geschützt. Noch die Quellen des 10. 12. Jahrhundert zeigen, daß diese Aristokratie ihre Höfe durch unfreies Gesinde bewirtschaften
ließ, keinesfalls aber Großgrundbesitz und Hörige besaß, und daß ihr Reichtum v.a. in
beweglicher Habe bestand. Die Unterschiede zwischen den Großen und den Freien waren mehr
quantitativer als qualitativer Natur.
Eine kleine Gruppe nahm jedoch schon in der Gentilgesellschaft eine besondere Stellung ein. Es
waren die duces (kъnędzъ), die es, z.T. in beträchtlicher Zahl, bei mehreren slavischen Stämmen
gab; 845 sind z.B. mehr als 14 von ihnen bezeugt (AnnRegFranc, 120). Es kann sich dabei nicht
um Stammesoberhäupter gehandelt haben, denn der Stamm der Čechen (gens Bohemanorum;
→Čechische Stämme←) bildete im 9. Jahrhundert noch eine ethnische und teilweise auch
politische Einheit, die durch die Gesamtheit der Fürsten repräsentiert wurde. Einem einzelnen
Fürsten schematisch einen Teilstamm oder ein Stammesfürstentum zuzuteilen, ist kaum möglich.
In der Regel saßen die Fürstenfamilien auf ihren →Burgen←, unterhielten →Gefolgschaften←
und bezogen →Abgaben← und →Dienste← von der Bevölkerung, wirkliche Herrscher waren
sie jedoch nicht. Sie erscheinen an der Wende des 8. zum 9. Jahrhundert im ganzen mittleren
Donauraum. Reiche Gräberfelder (→Blatnica←, →Mikulčice←, →Nin←, →Kouřim←), der
einsetzende Burgenbau und der Übergang zur Körperbestattung spiegeln einen raschen Aufstieg
mächtiger Fürstensippen wider, der in Mähren, Kroatien und Karantanien unmittelbar in die
Entstehung von Staaten mündete. In Böhmen versuchten die Fürsten einzeln und in ständiger
Rivalität miteinander ihre Macht im engen lokalen Rahmen zu festigen. Erst der
Přemyslidenstaat unter →Boleslav I.← (929 - 971/72) beseitigte den rivalisierenden Adel in den
40er - 90er Jahren des 10. Jahrhundert Ob dies durch Ausrottung oder Mediatisierung geschah,
wissen wir nicht; der Fall der →Slavnikiden← gibt darüber wenig Auskunft, da dieses
Geschlecht vermutlich ein Nebenzweig der →Přemysliden← war. Bisher ist es jedenfalls nicht
gelungen, auch nur Spuren einer Kontinuität zwischen der alten Aristokratie und dem Dienstadel
der Přemysliden nachzuweisen.
Der Prozeß der Herausbildung des Adels begann im staatlichen Rahmen auf neuen Grundlagen.
In den Quellen zeichnet sich das nun wirkende Prinzip klar ab; es ist die Beziehung zum
Herrscher, die eine privilegierte Stellung, Ansehen und v.a. Einkünfte brachte. Die alten Großen
traten in den Dienst des přemyskidischen Herrschers und es gelang den nobiles, obwohl der
Herrscher zunächst anscheinend keine Rücksicht auf die Herkunft seiner Diener nahm und auch
Unfreie (→Freiheit und Unfreiheit←) einsetzte, sich im Laufe der Zeit ein gewisses Anrecht auf
die wichtigen und ertragreichen Ämter (→Amt/Amtsträger←) zu sichern. Der neue Dienstadel
deckte sich also weitgehend mit den Amtsträgern; die Einkünfte, die ihm aus dieser Stellung
zuflossen, bildeten die Grundlage seiner Macht und seines Reichtums. Da diese Einkünfte nichts
anderes waren als ein Teil der Feudalrente, die der Fürst von der Bevölkerung bezog, war der
Dienstadel Teilhaber am Obereigentum des Herrschers am Boden und an der Herrschaft über
Personen, war also in diesem Sinne feudal. Einen wirklichen Großgrundbesitz des Adels gab es
jedoch nicht.
Erst seit der Mitte des 12. Jahrhundert lassen sich wichtige Änderungen beobachten, die auf den
ersten Blick als eine gewisse verstärkte Seßhaftigkeit des Adels auf dem Lande erscheinen. So
nahm schlagartig und massiv die Anzahl neuer steinerner Kirchen an ländlichen Höfen des Adels
zu, in den 30er Jahren begann eine Welle von Klostergründungen durch den Adel und schließlich
setzte sich die Sitte der Benennung der Adelsfamilien nach ihrem Sitz durch. Es war offenbar
eine Folge des raschen wirtschaftlichen Aufstiegs, v.a. der Produktivität der Landwirtschaft, daß
zur Befriedigung der Bedürfnisse des Herrn schon ein bedeutend kleineres Landgut und eine
kleine Anzahl von Leuten genügte. Der Adel bekam erst jetzt die Möglichkeit zu wirtschaften,
statt Beute und Reichtümer zu sammeln. Wir können diesen Adel auch konkret fassen. Es ist eine
geschlossene Gruppe von Sippen, die sich ständig in der Umgebung des Fürsten aufhielt und
unter sich die Ämter in Rotation teilte. Man nannte sie nun nobiles (voher war der Amtstitel
comes üblich), und es taucht auch die alte heimische Bezeichnung →Župan← auf. Die Ämter,
jetzt beneficium oder župa genannt, wurden in der jeweiligen Sippe der Amtsträgers erblich. Ein
Vergleich der mächtigen Geschlechter zeigt, daß es im 13. - 14. Jahrhundert eben dieselben
Geschlechter sind, die schon in der 2. Hälfte des 12. Jahrhundert eine geschlossene Gruppe
bildeten und daß ihr Landbesitz dort liegt, wo diese Geschlechter im 12. Jahrhundert Ämter
innehatten. Ihre Güter sind also durch Usurpation ehemaliger fürstlicher Güter entstanden und
nur z.T. aus Landschenkungen hervorgegangen. Die Folge aber war, daß sich die
Eigentumsrechte des Adels an Grund und Boden im 13. Jahrhundert äußerst verworren
darstellten. Der König betrachtete den überwiegenden Teil des Grundbesitzes des Adels als sein
Eigentum und noch Přemysl Otakar II. versuchte, dies geltend zu machen, was jedoch zu seinem
Sturze führte.
Der wichtigste Schritt zur Emanzipation des Adels wurde nicht durch die Bemühungen einzelner
Geschlechter, sondern im 13. Jahrhundert durch die Konstituierung der Landgemeinde getan, die
nach 1278 auch das Landesgericht und die Landtafel beherrschte. Damit wurde jedes Mitglied
der Landgemeinde (zeměnín), das seine Güter in die Landtafel eingetragen hatte, zum
vollwertigen Eigentümer seiner Güter, die dadurch als allodial galten (→Allod←). Den letzten
Schritt tat Wenzeslaus II. (Václav), der strikt die Sphäre seiner direkten Herrschaft, das
dominium speciale, von der Sphäre der Landgemeinde, dem dominium generale, trennte. Hinzu
kamen die Einflüsse der ritterlichen Kultur mit ihren standesgemäßen Attributen, wie dem
Wappen, dem Burgenbau u.a., die schnell absorbiert wurden. Der neue Adel, die šlechta (aus
dem Mittelhochdeutschen entlehnt), beschränkte sich aber nicht auf einzelne Geschlechter der
Župane des 12. Jahrhundert Zum Mitglied der Landgemeinde war - zumindest theoretisch - jeder
Freie geworden, was auch den Resten der freien Bauern, v.a. der Schicht der gemeinen freien
Krieger, den milites secundi ordinis, Möglichkeiten zum Aufstieg in den Adel bot. So entstand
der niedere Adel, der aber nicht so zahlreich wie in Polen war. Der Prozeß der Adelsbildung war
an der Wende des 13./14. Jahrhundert keineswegs abgeschlossen, die ständische Absonderung
des Adels dauerte noch lange an.
DUSAN TŘEŠTÍK
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Die Großen in Mähren, die zunächst vielfach auch durch die Herkunftsbezeichnung "Mährer"
(Moravjane, Marvani, Maravenses, Marahenses, Moravi) beschrieben wurden, erscheinen in den
Quellen als nobiles, viri, optimates, velicii, velъmǫži. Die so Bezeichneten waren reiche
(bogatii), edelgeborene (mǫži dobrorodъnii) und ehrenvolle Männer (mǫži cъstъnii/cъstivi). Zu
ihnen zählten auch die vermögenden Gefährten des Herrschers (druzi bogatii), die seine
Ehrengefolgschaft (→Gefolgschaft←; čedъ) bildeten. Als Inhaber von Höfen und Sklaven
wurden sie auch 'Herr' (gospodъe, gospodini) genannt; einzelne begegnen auch unter der
Bezeichnung →Župan←. Zur Schicht der Privilegierten gehörten weiter die Krieger zu Pferde
(milites), die sog. Bediensteten (slugy), die nötigenfalls als berittene Krieger dienten, und
schließlich die Leibwächter und persönlichen Diener (otroci).
Die für das 9. Jahrhundert als Fürsten (kъnędzi, principes) erwähnten Rastislaw und Svatopluk
können sowohl Angehörige der Dynastie der Mojmiriden (→Mojmir/Mojmiriden←) gewesen
sein, als auch die Häupter vornehmer Familien. Funde von insgesamt 44 Schwertern, die in
Mähren Symbole der Herrschaft waren, sind vielleicht als ungefährer Hinweis auf die Zahl der
im Laufe von 120 bis 150 Jahren herrschenden Fürsten zu deuten.
Im Jahr 1055 wurde der mähr. A. (primates) weitgehend entmachtet, als etwa 300 der
vornehmsten Großen (meliores et nobiliores, Cosmas, II,15) aus den mähr. Burgstädten durch
den böhm. Herzog Spythiněv gefangengenommen wurden. Man kerkerte diese Großen auf
Burgen in Böhmen ein und enteignete sie; das Schicksal ihrer Gefolgsleute ist unbekannt. Die
bisher in der Hand des mähr. A.s befindlichen Ämter (→Amt/Amtsträger←) vergab der böhm.
Herzog mit Teilen des Besitzes an Vertraute aus dem böhm. A. Schon nach drei Generationen
nannten sich die Vertreter dieses neuen A.s ebenso wie die des noch verbliebenen altmähr. A.s
"Mährer" (Moravi, Moravienses).
Zu Beginn der Přemyslidenherrschaft wurde der A. mit den Bezeichnungen primates, nobilis
viri, nobiles Moraviae versehen. Dabei offenbart sich eine Unterscheidung in den Hoch-A.
(nobiles viri maiores) und den Klein-A. (minores), der mit den berittenen Kriegern bzw. Rittern
(milites) gleichzusetzen ist. Der Hoch-A. verfügte über die verschiedenen Landes- und Gauämter
(castellanus, camerarius, iudex u.a.). Wie dieser erhielt auch der Klein-A. Besitz, welcher erst
1189 zum Erbgut erklärt wurde (Statuten des Herzogs Konrad Otto III., in: CDBohem I, 329 332, Nr. 322, 323, 326).
Lubomír E. Havlík
Lit.: V. NOVOTNÝ, České dějiny I/3, Praha 1928; ST. ZHÁNĚL, Jak vznikla staročeská šlechta?,
Brno 1930; L. E. HAVLÍK, Morava v 9. a 10. století, Praha 1978 (Studie Československá
Akademie Věd 7); DERS., Moravská společnost a stát v 9. století II, in: SlavAnt 28, 1981/1982,
71 - 112; DERS., Proměny společnosti a postavení Moravy v 10. - 12. století, in: MoravHistSbor
(Moravica Historica), Brno 1986, 46 – 71.
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2. Polen: In der polnischen wissenschaftlichen Literatur werden zwei unterschiedliche Termini
zur Bezeichnung des Adels in Polen benutzt, die zeitlich voneinander abgegrenzt sind: 1) Bis
zum 14. Jahrhundert wird von rycerstwo 'Rittertum' gesprochen, womit - im Unterschied zum
Deutschen - der polnische Adel in seiner Gesamtheit gemeint ist. In der altpolnischen
Terminologie hießen
die Adligen włodyken (K. BUCZEK, H. ŁOWMIAŃSKI, 1984). 2) Vom
14. Jahrhundert an wird für den Adel das polnische Wort szlachta (von mittelhochdt. slahte
'Geschlecht, Herkunft, Gattung, Art') verwendet, das seit damals in Gebrauch war (durch
böhmische Vermittlung). Die lateinischsprachigen polnischen Quellen sprechen von nobiles und
milites. Als milites bezeichnete man sowohl Ritter, d.h. diejenigen die den Rittergürtel trugen, als
auch (nach deutscher Terminologie) Knappen. Fremde Quellen, z.B. päpstliche Urkunden, die
polnische Verhältnisse darstellen, unterscheiden dagegen milites und armigeri (d.h. domicelli).
Außergewöhnlich ist der hohe Anteil des polnischen Adels an der Bevölkerung (ca. 10 % einer
Generation). Quellen zur Frühzeit des Adels fehlen weitgehend, so daß seine Entstehung nach
wie vor kontrovers diskutiert wird. Zum einen vertritt man die These, daß der polnische Adel auf
einen "Ur-Adel" (praszlachta) zurückgeht, zum anderen glaubt man, daß freie Grundbesitzer, die
Heeresdienst leisteten und auch in der Landwirtschaft tätig waren, in den Adel aufstiegen. Dies
wird mit der Überlieferung des →Gallus Anonymus← begründet, der für das 11. Jahrhundert
milites gregarii und nobiles unterschied (Gallus Anonymus I,20); den nobiles schrieb er das
Gewohnheitsrecht auf bestimmte Ämter zu (→Amt/Amtsträger←). Damit stimmt überein, daß
→Widukind← von Corvey (III,69) das Begriffspaar vulgus und optimates für das Heer
→Mieszkos I.← verwendete. Wahrscheinlich setzte sich der polnische Adel aus verschiedenen
Elementen zusammen: Nachkommen des alten Adels, fremde Adlige aus der →Gefolgschaft←
der Fürsten, Repräsentanten der freien Bevölkerung. Diesen Prozeß belegt eine Urkunde Herzog
Kasimirs von Kujawien von 1252, die den milites de genere militari die milites ficticii
gegenüberstellt (Preussisches UB I/1, Königsberg 1882, Nachdr. 1961, Nr. 260, S. 199); auf
letztere ist wohl der kleine Adel zurückzuführen. Seit dem 13. Jahrhundert war der polnische
Adel in Geschlechtern organisiert, deren Genese ebenfalls umstritten ist. Die Vermutung, daß
kleinadlige Familien das Wappen einer mächtigen Familie, mit der sie nicht verwandt waren,
deren Schutz sie aber dadurch erlangten, übernahmen, steht der Auffassung (der Thorner
genealogischen Schule) gegenüber, daß die meisten Adelsgeschlechter auf dem Wege natürlicher
Abstammung aus dem alten Adel hervorgingen. Für die Abstammung der Geschlechter vom
alten Adel spricht die Verwendung der Termini genealogia, stirps, parentela, cognatio und
(altpoln.) plemie ('Abstammung, Geschlecht') in den Quellen sowie eine Formulierung in der
Satzung Kasimirs des Großen: nobilitates stirps ex progenitoribus earum originem semper
ducunt.
Im Gegensatz zu den meisten slavischen Ländern existierte in Polen ein einheitliches
Standesrecht für den Adel. Noch vor der späteren Serie königlicher Privilegien stand dem Adel
das sog. ius militare zu, das nach K. BUCZEK bis ins 11. Jahrhundert zurückreicht. Es bestimmte:
1) das erbliche Eigentum an Grund und Boden, auf dem die Pflicht zum Heeresdienst zu Pferde
(gegenüber dem Herrscher) lastete, 2) die Befreiung des Allodialbesitzes vom größten Teil der
Leistungen des fürstlichen Rechts (→ius ducale←, →Abgaben←), 3) den freien →Zehnt←,
wonach der Zehnt vom Allodialbesitz an eine beliebige Kirche geleistet werden konnte, und 4)
ein höheres →Wergeld← (poln. główszczyzna) einschließlich einer Zusatzbuße, das an den
geschädigten Adligen oder dessen Familie erbracht wurde.
Janusz Bieniak
Lit.: Z. WOJCIECHOWSKI, L'Etat polonais au Moyen âge, Paris 1949, bes. 171 - 182; A.
GĄSIOROWSKI, Rycerstwo, in: SSS IV, 1970, 620 - 624 (mit älterer Lit.); J. PAKULSKI, Z
metodologii i metodyki badań nad rodami rycerskimi w średniowieczu, in: Acta Universitatis
Nicolai Copernici. Historia 8, 1973, 23 - 37; A. GIEYSZTOR, Le lignage et la famille nobiliaire en
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Pologne aux XI , XII et XIII siècles, in: Famille et parenté dans l'occident médiéval, Rome
1977, 299 - 308; A. BOGUCKI, "Rittermeszig man" w najstarszym zwodzie prawa polskiego, in:
PrzeglHist 69, 1978, 121 - 125; M. CETWIŃSKI, Rycerstwo śląskie do końca XIII w., pochodzenie
- gospodarka - polityka, Wrocław 1980; S. RUSSOCKI, The Origins of Estate Consciousness of the
Nobility of Central Europe, in: ActaPolHist 46, 1982, 31 - 45; J. BARDACH, La formation et les
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structures de l'Etat polonais du X jusqu'au XII siècle, in: Gli Slavi occidentalie meridionali,
Spoleto 1983, 201 - 242 , bes. 223 - 230 (Settimane 30); A. GĄSIOROWSKI, Czynniki
rozwarstwienia stanu szlacheckiego w Średniowiecznej Polsce, in: Struktura feudalní společnosti
na území Československa a Polska do přelomu 15. a 16. století, Praha 1984, 61 - 98; The Polish
Nobility in the Middle Ages, hg. A. GĄSIOROWSKI, Wrocław 1984; O. KOSSMANN, Polen im MA II,
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URL: http://www.uni-leipzig.de/gwzo/wissensdatenbank/artikel.php?ArtikelID=24.2200
3. Elbslaven: Eine herausgehobene soziale Schicht tritt in den slavischen Gebieten westlich der
Oder seit dem 8./9. Jahrhundert hervor, dabei je nach Region und Zeit in unterschiedlicher
Intensität (Belege bei J. BRANKAČK, 1964). Ihre Vorrangstellung, die erblich war, beruhte wohl
auf besonderen politischen, administrativen und militärischen Herrschaftsrechten sowie auf ihren
- im Vergleich zum Gros der Bevölkerung - größeren Anteil an Grund und Boden und
beweglichem Eigentum. Doch gibt es über die materielle Basis des Adels bei den Elbslaven für
die Frühzeit keine Nachrichten (H. ŁOWMIAŃSKI).
Drei Phasen in der Entwicklung des elbslavischen Adels lassen sich unterscheiden (nach G.
LABUDA): In der ersten Periode, im 8. - 9. Jahrhundert, erwähnen die Quellen für fast alle Stämme
(→Sorben←, →Wilzen←, →Obodriten←) Stammesfürsten (reges oder duces), und neben ihnen
wird eine Gruppe zahlreicher einflußreicher Adliger faßbar (reguli, principes, primores, seniores,
meliores), deren Stellung aber im einzelnen kaum bestimmbar ist: die Stammesaristokratie
(→Stamm← [esverband]). Sie spielte nicht nur in den politischen Verbänden eine herausragende
Rolle, sondern auch in den Außenbeziehungen, v.a. zum Frankenreich. Dabei verfolgten
Repräsentanten des Adels zwar eigenständige Interessen, doch handelten sie mitunter im Dienst
der Nachbarmächte.
In der 2. Phase, im 10. und 11 Jahrhundert, verlor die Stammesaristokratie in einigen Gebieten
ihre Bedeutung. Das Anwachsen der Macht von Fürsten, wie bei den Obodriten, und der
Volksversammlung, wie bei den Lutizen (→Wilzen←), wird dabei eine Rolle gespielt haben, und
gleichzeitig vollzog sich vielleicht die Vereinigung kleinerer Gebiete zu größeren Territorien. In
der letzten Phase, als im 12. Jahrhundert die Unabhängigkeit der Slaven zwischen Elbe und Oder
ein Ende fand, trat wieder eine Schicht von Adligen
hervor,
nun
angepaßt
an
die
neuen
feudalen
Verhältnisse
(→Staat/Staatsbildung,
-organisation←).
Eine scharfe Abgrenzung des Adels von den Familien der Stammesfürsten ist nicht sichtbar.
Zumindest nahm der Adel auf ihre Einsetzung Einfluß, ebenso wie auf die Entscheidungen der
→Volksversammlungen←. Auch waren die Übergänge zu einer gehobenen bäuerlichen Schicht
fließend. Die Interpretation der archäologischen Quellen hat insbesondere die Bedeutung der
Burgen (→Burg/Burgwall←, Befestigung) erkennen lassen. Größe, Innenbebauung und Anlage
beweisen eine Funktionalität zugunsten der Fürsten und Adligen (Verteidigung, militärische und
administrative Kontrolle, Repräsentation). "Fürstengräber" (→Bestattung/Bestattungssitten←)
zeichnen sich durch prächtige Konstruktion und eine Ausstattung mit Schwertern und Sporen
aus.
Vom Grundeigentum einzelner Adliger wird erst für das 11. Jahrhundert, d.h. unter den
Bedingungen deutschen Oberherrschaft, berichtet: Nach einer Urkunde aus dem Jahre 1071
übergab der Ritter Bor aus Meißen dem dortigen Bistum fünf Dörfer (CDSax I/1, Nr. 142); unter
den Zeugen der Urkunde, die Ritter des Markgrafen von Meißen waren, überwiegen die
slavischen Namen (Quellenzeugnisse für slavischen Adel gibt es auch für Thüringen und das
nordöstliche Bayern). Die Erwähnungen solcher Adliger häufen sich dann in den nördlichen
Gebieten - Mecklenburg, Pommern, Rügen - nach ihrer Eingliederung in die Grenzen des Reichs.
Die Haltung der elbslavischen Großen gegenüber den deutschen Oberherren war nicht
einheitlich, doch passten sie sich der neuen politischen und wirtschaftlichen Ordnung z.T. schnell
an und übernahmen Sprache und Kultur der Eroberer. Die Kluft zur bäuerlichen Bevölkerung
vertiefte sich, was die aus den Grabungsfunden gewonnen Daten zum Durchschnittsalter (J.
HERRMANN, 1986) erkennen lassen: Während die Lebenserwartung der meisten Menschen
zwischen dem 9. und 11./12. Jahrhundert auf 35 Jahre sank (vorher 40 Jahre), erhöhte sich das
Alter des Adels um ca 5 % auf 44 bis 47 Jahre.
Jerzy Strzelczyk
Lit.: K. TYMIENIECKI, Społeczeństwo Słowian lechickich. Ród i plemię, Lwów 1928, 139 ff.; R.
KÖTZSCHKE, Zur Sozialgesch. der Westslawen, in: Jbb. für Kultur und Gesch. der Slawen, NF 8,
1932, 5 - 36; Siedlung und Verfassung der Slawen zwischen Elbe, Saale und Oder, hg. H. LUDAT,
Gießen 1960 (darin Beitrr. von W. Schlesinger, M. Hellmann, W. H. Fritze); J. BRANKAČK, Stud.
zur Wirtschafts- und Sozialstruktur der Westslawen zwischen Elbe-Saale und Oder aus der Zeit
vom 9. bis zum 12. Jahrhundert, Bautzen 1964, 157 - 178, 184 - 193; H. ŁOWMIAŃSKI, Początki
Polski III, Warszawa 1967, 464 - 512; G. LABUDA, Możni u Słowian, VI. Słowiańszczyzna
połabska, in: SSS III, 1967, 320 - 323; J. HERRMANN, Siedlung, Wirtschaft und ges. Verhältnisse
der slaw. Stämme zwischen Oder/Neiße und Elbe, Berlin 1968, 174 - 212, 245 - 248; H. JAKOB,
Zur Gentilaristokratie der Main- und Regnitzwenden, in: Archiv für Gesch. und Altertumskunde
von Oberfranken 62, 1982, 13 -21; Slawen in Dtld.; Welt der Slawen. Gesch. - Ges. - Kultur, hg.
J. HERRMANN, Berlin 1986, 286 – 288.
URL: http://www.uni-leipzig.de/gwzo/wissensdatenbank/artikel.php?ArtikelID=24.2300
4. Pomoranen: Die schriftlichen Quellen zum pomoranischen Adel fließen dürftig. Aus der
Chronik des →Gallus Anonymus← lassen sich gewisse Rückschlüsse auf die Sozialstruktur des
östlichen Teils des pomoranischen Siedlungsgebietes, aus den Viten des heiligen →Otto von
Bamberg← auf die gesellschaftlichen Verhältnisse im westlichen Teil gewinnen. Allerdings
spiegeln die Otto-Viten Verhältnisse einer Zeit wider, in der die fürstliche Gewalt bereits gestärkt
war. Ebenso waren weite Gebiete der Lutizen (→Wilzen←) westlich der Oder in das
pomoranische Herrschaftsgebiet einbezogen, dessen Schwerpunkt sich dadurch von der
Persante-Gegend in den Odermündungsbereich verlagert hatte. Für die Zeit ab der Mitte des
12. Jahrhundert stehen Urkunden zur Verfügung, die in Pommern geschrieben wurden.
Im 9. Jahrhundert waren in Folge einer Machtverdichtung im pomoranischen Siedlungsgebiet an
Siedlungsmittelpunkten wie →Kolberg← und →Belgard← Hauptburgen entstanden. Die Herren
dieser Burgen mögen Vorfahren der späteren pomoranischen Führungsschicht gewesen sein;
auch die späteren pommerschen Fürsten, deren erster bezeugter Vertreter, →Wartislaw I.←,
allerdings nicht ohne Zweifel genealogisch mit den duces des 12. und 13. Jahrhundert in
Verbindung stehen, stammten wohl aus dem Persante-Raum.
In den Otto-Viten werden principes (terre), (natu) maiores, primates (plebis), nobiles,
sapientiores, honorabiles de terra genannt; die Urkunden sprechen von (viri) nobiles
und
nobiliores. Bei der Entscheidung über die Annahme des Christentums gaben diese "Führer des
Volkes", die oft schon vorher durch Berührung mit den Sachsen für das Christentum gewonnen
waren, den Ausschlag (→Mission←). In den →Volksversammlungen← mußten sie sich
allerdings den Einfluß mit den heidnischen Priestern teilen. Durch nobilitas (generis), divitiae,
potentia, gloria erhoben sie sich gegenüber der Masse, honor und reverentia wurden ihnen
entgegengebracht. Ihre Stellung in der Verwaltung kennzeichnen Termini wie precones et
magistratus, barones et capitanei tocius provincie. Edle hatten sich schon im Gefolge
Wartislaws I. befunden. Die vermögenden Adligen leisteten unter Stellung von Reitern und
Pferden Kriegsdienste. Ihre wirtschaftliche Potenz basierte auf ausgedehntem Grundbesitz, auf
der Teilhabe am Handel, dessen Zentren die großen frühstädtischen Siedlungen wie Kolberg,
→Kammin← und →Pyritz← waren, und auf der Beteiligung an der Ostseepiraterie. Die
Besitzungen auf dem Lande waren grundherrschaftlich organisiert und wurden von Hintersassen
bewirtschaftet. Die Quellen lassen auf erblichen Besitz ganzer Dorfsiedlungen schließen.
Mit der Festigung staatlicher Strukturen unter der Dynastie der Greifen (→Pomoranen←)
entstand eine Landesverwaltung, die sich auf Kastellaneiburgen stützte. Als →Kastellane← ihre Vertreter werden tribuni genannt - und Burgmannen wurden pomoranische und lutizische
Adlige in die fürstliche Administration einbezogen (zu 1159 erste Erwähnung eines Kastellans
im lutizischen Usedom). An den Fürstenhöfen versahen einheimische Adlige nach deutschen
Vorbild eingerichtete Hofämter (pincerna, dapifer, camerarius). Im ostpommerschen Herzogtum
der Samboriden (Pommerellen), das die Länder Schlawe und Stolp einschloß, fanden sich bis
zum Aussterben des samboridischen Herrschergeschlechts (1294) in der Landes- und
Hofverwaltung auch Amtsbezeichnungen, die ein eher slavische Gepräge tragen (palatinus =
woiwoda, woiski [= tribunus], podschesle, podstole [= subdapifer], podkomor [= subcamerarius],
iudex = sanda).
Der →Landesausbau← mit Hilfe deutscher Siedler bewirkte eine Krise des pomoranischen
Adels. Ab 1228/30 sind slavische Angehörige des Ritterstandes im Greifenherzogtum bezeugt,
zuerst unter lutizischen Adligen. 1236/37 wurde aber am Demminer (→Demmin←) Hofe
→Wartislaws III.← die slavische Umgebung durch deutsche Ritter ersetzt. Z.T. mußten slavische
Adlige dem neuen Siedelwerk weichen (z.B. die Bahner Erben), z.T. waren sie in
Hinterpommern in den Landesausbau eingebunden. Eheliche Verbindungen zwischen deutschen
und pomoranischen Adel kamen vor, waren westlich des Gollen-Berges (östlich Köslin) aber
selten. Hier hielten sich nur wenige pomoranische Geschlechter, wie die Borcken und Vidanten,
die Kameke und Natzmer - hier wird das Kamminer Stiftsland zu einem "Rückzugsgebiet";
östlich des Gollens dagegen blieben mehrere pomoranische Geschlechter (die Bonin, Kleist,
Puttkamer, Zitzewitz u.a.) durch die Zeit der deutschen Siedlung erhalten. In Sprache und
ritterlicher Lebensweise glichen sie sich jedoch an, ein neuer pommerscher Lehns- und
Landesadel entstand.
Rudolf Benl
Lit.: L. QUANDT, Zur Urgeschichte der Pomoranen, in: BaltStud 22, 1868, 121 - 213; E. SAUER,
Der A. während der Besiedlung Ostpommerns (der Länder Kolberg, Belgard, Schlawe, Stolp)
1250 - 1350, Stettin 1939, bes. 198 - 254; M. SCZANIECKI, Główne linie rozwoju feudalnego
państwa zachodnio-pomorskiego, in: CzasPrawHist 7, H. 1, 1955, 49 - 91; H. BOLLNOW, Stud. zur
Gesch. der pommerschen Burgen und Städte im 12. und 13. Jahrhundert, Köln - Graz 1964
(Veröff. der Hist. Kommission für Pommern V, 7); A. GĄSIOROWSKI, Możny u Słowian III, 3, in:
SSS III, 1967, 314; K. SŁASKI, Kształtowanie się wczesnofeudalnego państwa zachodnio2
pomorskiego (1124 - 1220), in: Historia Pomorza I, red. G. Labuda, Teil 2, Poznań 1972 , 19 83, bes. 32 - 42; W. ŁOSIŃSKI, Początki wczesnosredniowiecznego osadnictwa grodowego w
dorzeczu dolnej Parsęty (VII - X/XI w.), Wrocław u.a. 1972, 294 - 310; L. SOBEL, Ruler and
Society in Early Medieval Western Pomerania, in: Antemurale 25, 1981, bes. 43 - 56, 86 - 124;
R. BENL, Untersuchungen zur Personen- und Besitzgeschichte des hoch- und spätma. Pommern,
in: Balt-Stud NF 71, 1985, 7 - 45, bes. 8 - 18, 44; DERS., Die Gestaltung der
Bodenrechtsverhältnisse in Pommern vom 12. bis zum 14. Jahrhundert, Köln - Wien 1986, bes. 9
- 142 (Mitteldt. Forsch. 93).
URL: http://www.uni-leipzig.de/gwzo/wissensdatenbank/artikel.php?ArtikelID=24.2400
III. Ungarn
Die altungarische Gesellschaft setzte sich im wesentlichen aus drei Schichten zusammen. Die
Elite bestand aus den sieben Stammesfürsten der ungarischen Stämme und den Söhnen
→Árpáds←, die als Fürsten der angeschlossenen drei Stämme der chazarischen →Kavaren←
fungierten; zu diesen Vornehmen sind auch die reichen Sippenoberhäupter zu zählen. Im
archäologischen Material sind sie durch Grabbeigaben aus Gold repräsentiert. Die Mittelschicht
bestand
aus
den
bewaffneten
Jobagionen
(milites),
Mitgliedern
der
militärischen
→Gefolgschaft← der Fürsten und der Sippenoberhäupter, die in Einzelgräbern oder kleineren
Grabgruppen mit silbernen Beigaben bestattet wurden. Die Zahl der berittenen Krieger (arab.
faris, persisch suvar) betrug vor der Landnahme (um 870) 20 000 (al-Gardīzī, Ibn Rusta). Nach
der Landnahme (→Ungarn← III. 2.) findet sich die Reiterei im 10. Jahrhundert in oft nach
ungarischen und kavarischen Stämmen benannten Dörfern (je 30 - 40, genannt in Urkunden seit
1009), die später im Dienst der älteren Komitats-Burgen (→Komitate←) standen oder zu
Besitzungen solcher königlicher Kirchenstifte gehörten, die ursprünglich Hofdomänen der
→Árpáden← gewesen waren. Die Jobagionen waren die Nachfolger von Gefolgsleuten der
früheren Stammesfürsten. Sie hatten an den ungarischen Streifzügen (→Ungarneinfälle←)
teilgenommen, waren aber im 10. Jahrhundert (besonders um 945) durch die Árpádensöhne
besiegt und an militärisch wichtigen Punkten angesiedelt worden; später gehörten sie zum
Personal der Árpáden bei der Staats- und Kirchengründung. Diese bewaffnete Mittelschicht der
Freien (milites oder liberi) erscheint aber ebenso auf den Domänen der ältesten von den
ungarischen Königen im 11. Jahrhundert gegründeten und ausgestatteten Bistümer und Abteien.
Die neue Aristokratie, die sich teilweise aus bekehrten ungarischen und kavarischen
Sippenoberhäuptern, teilweise aus schwäbischen und bayerischen Rittern (hospites), die
gepanzerte Ritter mitbrachten, zusammensetzte, sollte sich auch auf ungarische Krieger stützen,
weshalb das Gesetz →Stephans I.← auch die milites der Großen behandelt. Die Nachfolger der
neuen Grundbesitzer, die ihre Güter von König Stephan I. erhielten oder als ungarische
Häuptlinge die Gegenden ihrer alten Winterquartiere behalten durften, werden in den späteren
lateinischen Texten als de genere X. bezeichnet, nach jenem, der zur Zeit der Staatsgründung
Güter erhalten hatte; dagegen sind nur einige Jobagio-Sippen nach Stammesnamen benannt. Die
Namen der ältesten Grundbesitzer wurden so bis zum Beginn des 14. Jahrhundert überliefert und
bezeugen die Bedeutung ihrer Träger. Die damals begründete sog. Sippengrundherrschaft der
genera, die Vererbung nur innerhalb der Sippe gestattete, war, da sie vom "Heiligen König"
stammte, von dem ius regia nicht tangiert. Durch dieses fiel Grundbesitz, der aus späteren
Donationen stammte, in die Hand des Königs zurück, wenn es keinen direkten Erben gab. Darauf
basierte die außerordentliche Macht des Königs über den Ungarn, die →Otto von Freising←
nachdrücklich beschrieb (I,33). Unter solchen Verhältnissen gab es in Ungarn bis zur 2. Hälfte
des 13. Jahrhundert keine riesigen Privatdomänen, abgesehen von denen zweier genera, deren
Ahnen zur Familie der Árpáden gehörten, der Sippen der →Aba← und der →Csák←. Die
Struktur der Aristokratie wandelte sich nach dem Tod →Bélas III.←, als seine Söhne, Emmerich
und →Andreas II.←, den fremden Höflingen der Königinnen (Konstanza von Aragon und
Gertrud von Meran) große Domänen schenkten; die mit dem Titel "Baron" versehenen etwa zwei
Dutzend Magnaten-Familien teilten sich zudem die Hofwürden und erlangten außerdem die
Einkünfte einiger Komitate. Die lateinische Bezeichnung servientes regis für die Mittelschicht
des ungarischen Ungarns bildete und verbreitete sich im 13. Jahrhundert seit der Zeit der
"Goldenen Bulle" (1222). Dies steht mit dem Erwerb der großen Domänen durch die fremde
neue Aristokratie im Zusammenhang, sowie mit dem Versuch der Magnaten, den Kleinadel mit
den freien bewaffneten Burgjobagionen in den Vasallenstand zu zwingen. Die servientes regis
organisierten sich in den Komitaten gegen die Macht der Barone; mit ihren Namen betonten sie,
daß sie direkt vom König abhingen und in seinem Heer kämpften. Es gelang ihnen, sich in den
Komitaten unter einem gewählten vicecomes mit je vier iudices servientium zu organisieren und
eine fast autonome Organisation des Mitteladels zu bilden sowie in den Komitatsversammlungen
Rechtsprechung auszuüben. In den Urkunden sind die congregationes servientium seit 1232
belegt. Die Bewegung führte unter König Andreas II. zur Vereinigung der Königsfreien und
Burgjobagionen und zur Herausbildung eines einheitlichen Adelsstandes, der zunächst direkt
gegen die mächtigen Magnatengruppen auftrat, später aber mit den Vornehmen der sächsischen,
bayerischen, kumanischen und walachischen hospites juristisch eine Einheit bildete (una
eademque nobilitas). Eine stärkere Konzentration von privatem Grundbesitz und der öffentlichen
Würden
ist
nach
dem Tatarensturm
zu
beobachten,
als
König
→Béla IV.←
ein
Burgenbauprogramm verkündete, das zur Herausbildung privater Burgdomänen führte und
innere Kämpfe zwischen den Magnaten-Parteien auslöste. Zwar gelang dem ersten Anjou-König,
Karl Robert, und seiner Partei nach dem Tod des mächtigsten Oligarchen Matthaeus de genere
Csák († 1321), alle seine Gegner zu besiegen (mit Ausnahme seiner beiden, anfänglich treu, nach
1330 - 1340 infidelis gewordenen walachischen Woiwoden Bazarab und Bogdan). Doch bildeten
sich neue Koalitionen der Barone, die sich auch unter den Nachfolgern Karl Roberts bekämpften.
Den Mitgliedern des mittleren Ungarns gelang es dadurch, als familiaris-Vasallenschicht der
Großen ihren Adelsstand zu retten.
György Györffy
Lit.: B. HÓMAN, Gesch. des ung. MA, I - II, Berlin 1940 - 1943; GY. GYÖRFFY, Wirtschaft und Ges.
der Ungarn um die Jahrtausendwende, Wien - Köln - Graz 1983, 102 ff.; J. SZÜCS, Az utolsó
Árpádok, Budapest 1993, passim.
URL: http://www.uni-leipzig.de/gwzo/wissensdatenbank/artikel.php?ArtikelID=24.3000
IV. Südslaven
1. Kärnten, Steiermark, Krain; Istrien - 2. Dalmatien, Kroatien, Slawonien - 3. Bosnien, Serbien
- 4. Bulgarien
URL: http://www.uni-leipzig.de/gwzo/wissensdatenbank/artikel.php?ArtikelID=24.4000
1. Kärnten, Steiermark, Krain; Istrien: Beitrag von Dušan Kos liegt in slowenischer Sprache vor.
2. Dalmatien, Kroatien, Slawonien: Die ersten Hinweise auf eine soziale Differenzierung bei den
Kroaten bieten archäologische Funde aus der Zeit um das Jahr 800. Fränkische Schwerter und
Luxuswaren belegen die Entstehung einer Führungsschicht im Zusammenhang mit den
Eroberungen Karls des Großen, und in den ersten erhaltenen Urkunden aus dem 9. Jahrhundert
treten die župani (→Župan←) im Gefolge des Fürsten auf. Es ist aber bisher nicht möglich, den
Ursprung dieses Adels zu klären. Drei Thesen stehen für Kroatien nebeneinander: 1. Der Adel
entwickelte sich unter dem Einfluß des ungarischen Feudalismus erst nach 1102; 2. der Adel ist
von Oberhäuptern der verschiedenen Stämme (die kroatische Bezeichnung für Adel - plemstvo kommt von pleme 'Stamm') herzuleiten; 3. "Kroate" und "Adliger" sind Synonyme; älteren
Auffassungen nach wurden die Kroaten nämlich nach der Landnahme im 7. Jahrhundert
Herrscher über andere Slaven in Dalmatien/ Kroatien - neuere Forschungen zur kroatischen
Ethnogenese betrachten die Kroaten nicht als ethnische, sondern als soziale Gruppe mit
kriegerischer Tradition, die erst im 9. Jahrhundert ihren Namen den dalmatinischen Slaven
aufzwingen konnte.
Neben den schon erwähnten župani entwickelte sich bis Ende des 11. Jahrhundert auch die
Schicht der nobiles (plemići), das waren Kleinadlige in größeren Gemeinschaften (→Stämmen,
Sippen←), die über eigene Länder (plemenšćina, baština) verfügten. Die Oberhäupter dieser
Gemeinschaften erhielten im Laufe des 11. Jahrhundert von den Königen besondere Privilegien
und gewannen als Grundherren über das ehemalige territorium regale bedeutend an Macht. Man
kann vermuten, daß einige von ihnen schon in der 2. Hälfte des 11. Jahrhundert ganze Županien
als Erbgüter verwalteten. Die Entwicklung des Adels kann man als eine Synthese aus der
fürstlichen →Gefolgschaft← und der Stammesführung ansehen.
Unter den Árpádenkönigen (→Árpáden←), die nur geringe Macht in Kroatien ausübten, spielten
die erblichen Župane und andere Großadelige eine wichtige Rolle. V.a. gelang es dem
Geschlecht der Šubič von Bribir, in der 2. Hälfte des 13. Jahrhundert eine fast völlig selbständige
Herrschaft in Kroatien, Dalmatien und teilweise Bosnien aufzubauen. Neben der Bestätigung des
erblichen Titels comes (župan) von Bribir erreichten sie die Erblichkeit des Titel banus von
Kroatien.
Die Kleinadeligen, die seit dem 12. Jahrhundert (wenn nicht früher) in mehreren
Stämmen/Sippen lebten, versuchten sich gegen den Druck der Großadeligen zu wehren. Ihre
Gemeinschaft, nobiles duodecim generationum regni Croatiae genannt, entstand jedoch
wahrscheinlich erst im 14. Jahrhundert (erste Erwähnung 1350/51).
Eine Besonderheit stellten die comites von Krk dar. Unter venezianischer Herrschaft wurden sie
im 12. Jahrhundert zu erblichen Fürsten (comites, knezovi) von Krk ernannt. Ende dieses
Jahrhunderts wurden sie von König →Béla III.← mit der Gespanschaft →Modruš← belehnt,
später auch mit →Vinodol←. In ihrem Bereich nobilitierten sie ihre Untertanen im
13. Jahrhundert durch Befreiung von Steuerzahlungen.
Über den Adel im frühmittelalterlichen Slawonien ist nichts bekannt. Die ersten Adelsfamilien
kamen in der Zeit des Beginns der Árpádenherrschaft aus Ungarn nach Slawonien. Das
Geschlecht der Acha erhielt z.B. große Besitzungen in der Nähe von Zagreb. Auch andere
ausländische Geschlechter, wie die von Güssing (Gisingovci) oder Gut-Keled, spielten,
besonders in Ostslawonien, eine bedeutende Rolle. Im 13. Jahrhundert entwickelten sich durch
königliche Schenkungen auch einheimische Adelsgeschlechter, unter denen die comites von
Blagaj (auch Baboniči genannt) am wichtigsten waren. Seit der Zeit König Andreas' II. (III)
werden die Magnaten als nobiles regni oder nobiles terrae bezeichnet.
Das ganze Land wurde in Entsprechung zu Ungarn seit dem Anfang des 12. Jahrhundert in
königliche Gespanschaften (županije) unter comites aufgeteilt. In der Umgebung der königlichen
→Burgen←, die die Verwaltungszentren dieser Gespanschaften bildeten, entwickelte sich die
Schicht der jobagiones castri, die neben den servientes regis die freie Bevölkerung ausmachten.
Mit dem Zerfall des Systems der königlichen Gespanschaften verloren einige von ihnen ihre
Freiheit, andere aber stiegen zum Kleinadel auf. Sie lebten in Gemeinschaften (communitas
nobilium), meistens als Bauern, obwohl manche von ihnen auch Leibeigene besaßen. Auf den
kirchlichen Besitzungen, die mit Militärdienst belastet wurden, entstand die Schicht der nobiles
praedialisti, die ebenfalls zu den Kleinadeligen gehörten. Im Jahre 1273 versammelten sich die
Kleinadeligen zum erstenmal zu einer Generalversammlung (sabor, congregatio regni Sclavonie
generali). Natürlich konnte der König Personen auch wegen ihrer Verdienste adeln. Im letzten
Viertel
des
13. Jahrhundert
verarmten
viele
Groß-
und
Kleinadelige
infolge
des
Bevölkerungswachstums, und die Kirche und einige reiche Kaufleute erwarben ihre Güter.
In Dalmatien kann man einen Zusammenhang zwischen den spätantiken und dem
mittelalterlichen Patriziat vermuten. Die ersten Angaben über eine Führungsschicht stammen aus
dem 7. und frühen 8. Jahrhundert aus →Split← und Trogir. Seit dem Anfang des 10. Jahrhundert
ist das Geschlecht der Madier in →Zadar← zu verfolgen, das der Stadt und der Provinz mehrere
priores, Bischöfe, proconsules, tribunes u.a. gab. Ähnliche Geschlechter finden sich im
11. Jahrhundert auch in Split und Dubrovnik. In den Urkunden des 11. Jahrhundert wird die
Bevölkerung Dalmatiens in maiores und minores unterteilt, wofür nicht rechtliche, sondern
Vermögensverhältnisse entscheidend waren; zur gleichen Zeit erscheint der Terminus nobiles in
einer Dubrovniker Urkunde von 1023. Im Laufe des 12. und 13. Jahrhundert bildete sich eine
Schicht von Wohlhabenden heraus, deren Mitglieder (consiliarii, iudices, consules) im
wesentlichen die Macht ausübten (kroat. vlastela zu vlast 'Macht, Herrschaft' als Bezeichnung
für Patrizier). Die Herausbildung eines rechtlich definierten Patriziats durch den Ausschluß aller
Nichtpatrizier aus dem städtischen Rat fällt erst ins 14. Jahrhundert
Neven Budak
Qu.: F. RAČKI, Documenta historiae croaticae periodum antiquam illustrantia, Zagreb 1877;
CDCroat I - VII, 1904 - 1909, 1976. Lit.: V. MAŽURANIĆ, Prinosi za hrvatski pravno-povjestni
rječnik, Zagreb 1908 - 1922; F. ŠIŠIĆ, Povijest Hrvata u doba narodnih vladara, Zagreb 1925; A.
DABINOVIĆ, Hrvatska državna i pravna povijest, Zagreb 1940; N. KLAIĆ, Povijest Hrvata u ranom
srednjem vijeku, Zagreb 1971; DIES., Povijest Hrvata u razvijenom srednjem vijeku, Zagreb
1976; Enciklopedija hrvatske povijesti i kulture, ed. I. KARAMAN, Zagreb 1980; L. STEINDORFF, Die
dalmat. Städte im 12. Jahrhundert, Köln - Wien 1984.
URL: http://www.uni-leipzig.de/gwzo/wissensdatenbank/artikel.php?ArtikelID=24.4200
3. Bosnien, Serbien: vorgesehen mit 120 Zeilen.
4. Bulgarien: Als Ergebnis eines allmählichen Zerfalls gentiler Bindungen und der damit
verbundenen sozialen und ökonomischen Differenzierung bildete sich die Adelsschicht bei
Slaven und Protobulgaren schon seit vorstaatlicher Zeit heraus.
Aus der Mitte der Stammesaristokratie, die an der Spitze der Militärorganisation der Stämme
(→Stamm← [esverband]) stand, wählte man den Anführer: knjaz (Fürst) bei den Slaven, Khan
(→Herrschertitel←) bei den Protobulgaren. Bekannte Adelsgeschlechter der Protobulgaren, die
in der "Bulgarischen Fürstenliste" (→Inschriften←), aber auch in Steininschriften aus dem
9. Jahrhundert erwähnt werden, sind →Dulo←, Vokil, Ugain, Ermiar, Čakarar u.a. Die
Niederlassung von Slaven und Protobulgaren auf der Balkanhalbinsel und die Gründung des
Bulgarischen Staates stärkte die Rolle des Adels, da ein bedeutender Teil des eroberten Bodens
und der Kriegsbeute in die Hand der Krieger gelangte. Die protobulgarische Aristokratie bestand
im 8. - 9. Jahrhundert aus zwei Schichten - Boïlen und Bagaïnen. Aus der Mitte der Boïlen
wurden die wichtigsten militärischen und zivilen Würdenträger bestimmt, den Bagaïnen überließ
man weniger bedeutende Verwaltungsposten. Neben dem protobulgarischen Adel, dessen
Repräsentanten Schlüsselpositionen im Staat innehatten, gab es in den einzelnen Slavinien
weiterhin lokale slavische Fürsten. Es handelt sich um einen spezifischen administrativen
Dualismus, der sowohl dem protobulgarischen als auch dem slavischen Adel Machtbefugnisse
einräumte. Mit dem Voranschreiten ethnogenetischer Prozesse beschleunigte sich die
Verschmelzung beider Adelsgruppen.
Um die Mitte des 9. Jahrhundert war der Dualismus bereits überwunden. Allmählich
verschwanden die Slavinien endgültig, an ihre Stelle traten Komitate. Es bildete sich der Stand
der →Bojaren← heraus, der Vertreter des protobulgarischen und des slavischen Adels umfaßte.
In Quellen aus dem 9. - 10. Jahrhundert werden z.B. von Konstantin Porphyrogennetos zwei
Arten von Bojaren erwähnt - "innere", denen Posten in der Hauptstadt übertragen wurden, und
"äußere", die Verwaltungsposten in der Peripherie bekleideten. Erwähnt werden auch die sog.
"Großen Bojaren", die als Beratungsorgan des Herrschers den Hofrat bildeten.
Unter byzantinischer Herrschaft (seit 1018) existierte weiterhin ein Teil des bulgarischen Adels;
zugleich entstanden neue Adelsgeschlechter, z.B. das Geschlecht der →Aseniden←. Nach der
Wiederherstellung des Bulgarischen Reiches (1186) spielte der Adel, dessen Vertreter weiter als
Bojaren bezeichnet wurden, eine wichtige Rolle. In seiner Hand befand sich der größere Teil des
Bodens und die wichtigsten staatlichen und militärischen Ämter. Aus Urkunden der Zaren aus
dem 13. - 14. Jahrhundert und anderen Quellen geht hervor, daß zwischen großen und kleinen
Bojaren unterschieden wurde. Aus der Mitte der großen Bojaren wurden die bedeutenden
Würdenträger in der Hauptstadt und den Provinzen bestimmt, den kleinen überließ man niedere
Dienste. Eine wichtige Funktion nahm weiterhin der Bojarenrat als Beratungsorgan des
Herrschers wahr. Als Großgrundbesitzer, die über eine abhängige Bevölkerung und
Immunitätsrechte verfügten, aber auch als höhere Staatsbeamte, die mit administrativen
Befugnissen ausgestattet waren, begannen einzelne Bojaren nach größerer Selbständigkeit zu
streben, was langfristig eine finanzielle und militärische Schwächung des bulgarischen Staates
bedeutete.
DIMITĂR ANGELOV
Qu.: Konstantin Porphyrogennetos, De cerimoniis I, ed. J. J. REISKE, Bonn 1829, 681 - 682;
Gramoty bolgarskich carej, Drevnosti, ed. G. IL'INSKIJ, in: Trudy slavjanskoj kommissii
Imperatorskogo Moskovskogo Archeologičeskogo Obščestva 5, M. 1911, reed. London 1970.
Lit.: S. S. BOBČEV, Istorija na starobălgarskoto pravo, Sofija 1910; JU. TRIFONOV, Kăm văprosa za
starobălgarskoto boljarstvo, in: Spisanie na Bălgarskata Akademija na naukite 26, 1923, 1 - 70;
M. ANDREEV, Vatopedskata gramota i văprosite na bălgarskoto feodalno pravo, Sofija 1965; M.
ANDREEV, D. ANGELOV, Istorija na bălgarskata feodalna dăržava i pravo, Sofija 1972; M. ANDREEV,
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Părvobălgarski nadpisi, Sofija 1979; DERS., Părvobălgarite. Bit i kultura, Sofia 1981; Istorija na
Bălgarija II, Părva bălgarska dăržava, Sofija 1981, 169 - 181; III, Vtora bălgarska dăržava, Sofija
1982, 193.
URL: http://www.uni-leipzig.de/gwzo/wissensdatenbank/artikel.php?ArtikelID=24.4400
V. Ostslaven (Kiever Rus')
Historisch-vergleichende Untersuchungen synchro-stadialer Gesellschaften und lexikologische
Forschungen belegen den auf dreierlei Weise möglichen Erwerb des Adelsstatus: durch Erreichen
eines bestimmten (hohen) Alters, Zugehörigkeit zu einem 'angesehenen' (znatnyj) Geschlecht
oder durch persönliche Tapferkeit. Der Adelsstatus war Voraussetzung für die Wahl in höchste
Stammesämter (→Amt/Amtsträger←, Stamm[esverband]), wobei der "Herrscher" oder Fürst
(knjaz') aufgrund seiner Zugehörigkeit zu einem "angesehenen" Geschlecht, der militärische
Anführer hingegen, der Wojewode (→Heeresorganisation←. voevoda), wegen besonderer
Tapferkeitsmerkmale auserkoren wurde.
Belege für die Existenz einer herausgehobenen Schicht bei den ostslavischen Stämmen sind
spärlich und stammen überwiegend aus einer Zeit, als die Stammesorganisation bereits im
Niedergang begriffen und den übergeordneten herrschaftlichen Ansprüchen der Kiever Fürsten
unterworfen war.
Älteste Termini mit der Wurzel star- (alt-), die die Stammesoberschicht nach Alterskriterien
bezeichneten, wurden seit Anfang des 11. Jahrhundert immer seltener verwendet. Ob es sich bei
den in Bezug auf die Drevljanen im 10. Jahrhundert belegten "besten" Männer und "Ältesten"
um einen ökonomisch von der Masse der übrigen Stammesgenossen abgehobenen und über diese
politische Herrschaft ausübenden Adel gehandelt hat oder lediglich um Personen mit gewissen
Strafgewaltsbefugnissen und einem besonderen Gewicht bei Beratungen, ist ungeklärt. Versuche,
ein Besteuerungssystem zugunsten eines lokalen Stammesadels indirekt aus der Tatsache zu
erschließen, daß die von den normannischen Varägern und den →Chazaren← über die Ostslaven
errichteten Tributherrschaften auf bereits vorhandenen herrschaftlichen Organisationsformen
aufbauten,
können
nur
hypothetisch
sein.
Hinweise
für
einen
durch
Grundbesitz
herausgehobenen ostslavischen Adel im 8. und 9. Jahrhundert gibt es weder in den schriftlichen
Quellen noch im archäologischen Befund. Ob es sich bei den sog. frühostslavische grady (HolzErde-Befestigungen) um Herrensitze der in den Quellen erwähnten "Fürsten, Ältesten" und
"besten" Männer, um befestigte bäuerliche Einzelhöfe, um nicht ständig bewohnte Fluchtburgen
oder um Versammlungsorte bzw. Kultstätten im Mittelpunkt siedlungsgeographischer
Mikrolandschaften gehandelt hat, ist im Einzelfall umstritten.
Institutioneller Ort adligen Lebens und politischen Handelns in der Kiever Rus' war die fürstliche
→Gefolgschaft← (družina). Die ältere Gefolgschaft (staršaja družina) versah die wichtigsten
Funktionen in der fürstlichen Verwaltung und im Heer. Die jüngere Gefolgschaft (mladšaja
družina) rekrutierte sich aus den otroki, detskie und junye (die 'Jungen', vergleichbar den
merowingischen pueri) und war mit untergeordneten Aufgaben im Fürsten- und Hofdienst
betraut. Die Mitglieder der älteren Gefolgschaft wurden zu Wojewoden, Tausendschaftsführer
(tysjackij) und Statthaltern (Posadnik, namestnik) ernannt, die in teilweise beträchtlicher
Enfernung vom Zentrum die fürstliche Macht in Städten und Verwaltungsbezirken (volosti)
repräsentierten. Charakteristisch ist auch der semantische Aspekt der für die Mitglieder der
Gefolgschaft benutzten Termini. So bezeichnet knjažij muž einen erwachsenen Mann, dessen
Souverän der Fürst war. Bei otroki und detskie handelt es sich um jüngere, nicht
gleichberechtigte Familienmitglieder. Diese von Alterskriterien geprägten Begriffe aus dem
familiären Bereich wurden zwecks Kennzeichnung konkreter Rangverhältnisse innerhalb der
feudalen Hierarchie auf die Gefolgschaftsstruktur übertragen, was als Ausdruck für das objektive
Bedürfnis nach Schaffung einer eigenen feudalen Terminologie, unabhängig von römischen und
byzantinischen Traditionen, zu betrachten ist. Es ist jedoch unklar, ob sich diese Gruppen
ursprünglich wirklich rein altersmäßig unterschieden oder ob die Altersbezeichnungen von
Anfang an auf den unterschiedlichen Rang der einzelnen Gefolgschaftsgruppierungen verwiesen.
Im Bedarfsfall versahen alle Gefolgschaftsangehörigen Kriegsdienst. Außerdem gab es innerhalb
der družina eine besondere Schicht von Berufskriegern, die gridi (Grið), die als Leibwache des
Fürsten agierten und andere, die ausschließlich militärische Funktionen wahrnahmen. Die
Gefolgschaft war ein offenes soziales System; sie setzte sich aus Slaven, Finno-Ugriern,
Angehörigen von Turkvölkern und skandinavischen Varägern zusammen, die in der Frühphase
der Kiever Rus' in ihr dominierten. Der ausgeprägte Synkretismus der Družina-Kultur, die sich
deutlich von ihrer Umgebung abhob, ist eine Folge dieser ethnischen Vielfalt. Als besonders
sozialer Organismus vereinte die družina in sich militärische, administrative und höfische
Elemente, wobei der Dienst für den Fürsten das Grundprinzip bildete. Gleichzeitig war die
Gefolgschaft hinsichtlich ihrer Zusammensetzung enger gefaßt als das Militär- und
Verwaltungssystem des Kiever Reichs, einschließlich des fürstlichen Hofes, insgesamt. Deshalb
kann man die družina als spezifische, auf den Dienst für den Fürsten gegründete
Organisationsform des altrussischen Adels betrachten, für die eine vertikale Mobilität ihrer
Bestandteile charakteristisch war.
Wichtiges, der materiellen Beziehung Fürst - Gefolgschaft (Belohnung - Dienst) übergeordnetes
ethisches Element war das durch mündliche Absprache vereinbarte, nach der Christianisierung
durch Kreuzkuß bekräftigte, jederzeit beiderseits kündbare Treue- und Freundschaftsverhältnis.
Leben und Besitz der Gefolgschaftsmitglieder wurden durch das höchste →Wergeld← (vira)
geschützt.
Die ökonomische Macht der altrussischen Gefolgschaften beruhte v.a. auf Beutegewinn und im
Handel realisierten Tributeinkünften. (→Tribut←). Tribut (dan'), der in mehr oder weniger
regelmäßig stattfindenden Umfahrten (poljud'e) eingetrieben wurde, sorgte für ihren Unterhalt
und stellte die für den →Handel← (besonders mit Byzanz auf dem "Weg von den Varägern zu
den Griechen") erforderlichen Waren (Felle, Honig, Wachs, Pferde usw.) bereit. Die Eintreibung
der Abgaben in seit dem 10. Jahrhundert nachweisbaren festen, aus dem übrigen Land für die
Fürsten ausgesonderten Bezirken (pogosti), war mit der Gastung, d.h. der Aufnahme und
Verpflegung des Fürsten oder seiner Beauftragten verbunden.
Neben der aus der besonderen handelsökonomischen Interessenlage des altrussischen Adels
erklärbaren Stadtorientiertheit - die Adelshöfe (dvory) waren um die fürstliche Herrenburg
(kreml') der befestigten Burgstädte (goroda) (→Burg/Burgwall←, Stadt) gelegen - hat die
eigentümliche Senioratserbfolge, die ein häufiges Überwechseln des Fürsten mit seiner
Gefolgschaft in verschiedene Herrschaftsbereiche und Länder (zemli) zur Folge hatte, den
Prozeß
der
Herausbildung
und
Fortentwicklung
einer
landsässigen,
über
autogene
Herrschaftsrechte verfügenden Aristokratie außerordentlich verzögert. Zweifelsfrei nachweisbar
ist adliger Grundbesitz (von Unfreien und halbfreiem Gesinde, [čeljad'], bewirtschaftetes,
erbliches, von Dienst unabhängiges Privatland) erst seit der 2. Hälfte des 11. Jahrhundert Die
Masse des Landes befand sich jedoch noch im 12. und 13. Jahrhundert in der Hand freier Bauern
(smerdy). Ackerbau spielte für die adligen Besitzungen eine untergeordnete Rolle, wichtiger
waren Viehzucht (Pferde), die Ausbeutung der tierreichen Wälder und Beutnerei, d.h. für den
Handel bedeutsame Wirtschaftszweige. Der Prozeß der Grundbesitzaneignung durch
Gefolgschaftsmitglieder fand seinen terminologischen Ausdruck im Auftreten des Begriffs
→"Bojaren"←, einer Sammelbezeichnung für die reichen und angesehenen, über Landgüter
verfügenden, gewöhnlich aber in der Stadt bzw. im fürstlichen Umkreis lebenden Personen von
hohem politischen und sozialen Status. Es ist allerdings nicht sicher, ob der Terminus als
Bezeichnung einer bestimmten sozialen Kategorie vor Mitte des 12. Jahrhundert bereits im
Gebrauch war. In narrativen Quellen jener Zeit wurden bisweilen unter diesem Begriff sämtliche
Kategorien des hohen Adels subsumiert, im Südwesten des Reiches (Halič-Wolynien) hingegen
speziell die niederen landbesitzenden Adligen. Daß es neben den Gefolgschaften und Reichen
der Städte eine aus der Stammesepoche überkommene eingeborene landbesitzende Oberschicht
gegeben habe, die im Laufe der Zeit mit jenen zu einem einheitlichen Adel verschmolz, ist eine
zwar in der Forschung verbreitete, allerdings anhand der spärlichen und problematischen
Quellen nur schwer zu belegende Hypothese. Einen dem Inhalt nach anderen Integrationsprozeß
bildete das Verschmelzen der mladšaja družina mit dem Beamtenapparat des Fürstenhofes. Diese
Entwicklung war v.a. dadurch gekennzeichnet, daß die höfischen Beamten verstärkt zur
Übernahme von Verwaltungs- und Gerichtsämtern herangezogen wurden, die ursprünglich allein
von Angehörigen der jüngeren Gefolgschaft wahrgenommen wurden. Die ökonomische
Grundlage dieses Integrationsprozesses bestand in einer forcierten Verbreitung eigener
Wirtschaften sowohl bei otroki und detskie als auch anderen Dienstleuten des Fürstenhofes.
Begrifflichen Ausdruck fanden diese Entwicklungen in der 2. Hälfte des 12. Jahrhundert mit der
Einführung des neuen Terminus dvorjane (dvor 'Hof', 'Hofleute') sowie der weiten Verbreitung
des alten Begriffs sluga ('Diener'), teilweise in Verbindung mit dem Adjektiv dvorskij in der
Bedeutung von 'Hofdiener'. Diese Termini wurden seit der 1. Hälfte des 13. Jahrhundert als
Sammelbezeichnung für alle Gruppierungen der jüngeren Gefolgschaft verwandt. In den
nordöstlichen Fürstentümern der Rus' bevorzugte man den Begriff dvorjane, während sluga eher
für die südwestliche und westliche Landesteile charakteristisch war.
Im 13. Jahrhundert standen die dvorjane im Mittelpunkt weitreichender ökonomischer und
sozialer Entwicklungen. Auf eigene Initiative bzw. durch entsprechende Zuweisung des Fürsten
erwarben sie Dörfer einschließlich dazugehöriger abhängiger Bevölkerung als Erbgut (Votčina).
Neben dem stabilen Allodbesitz der Fürsten und Bojaren schufen auch diese neuen Wirtschaften
für die Entwicklung von Kaufmannschaft und zakladničestvo (Kommendation) günstige soziale
und ökonomische Bedingungen. Die dvorjane wurden im 13. - 14. Jahrhundert zu einer
privilegierten adligen Gruppe deren gesellschaftlicher Status durch den Dienst für den Fürsten,
durch Zugehörigkeit zum fürstlichen Verwaltungs-, Gerichts- und Militärapparat bestimmt
wurde.
In den Fürstentümern →Novgorod← und Pskov im Nordwesten der Rus' bestand eine
Besonderheit bei der Herausbildung des Hochadels in dessen bojarisch-kaufmännischen
Charakter. In Novgorod hat sich eine aus grundbesitzenden Bojaren, ehemaligen fürstlichen Hof(ogniščane)
und
Gefolgsleuten
(grid'ba)
bestehende
einheimische
Stadtaristokratie
herausgebildet, die sich die wichtigsten Ämter (posadnik, tysjackij) und kommunalen
Institutionen (Herrenrat) aneignete, die Macht des Fürsten auf die Rolle eines vertraglich
gebundenen militärischen Beauftragten und seitens des Posadnik kontrollierten Gerichtsherrn
begrenzte und somit die Verfassungsentwicklung Novgorods zu einer oligarchisch bestimmten
Stadtrepublik durchsetzte. Im Südwesten der Rus', im Fürstentum Halič-Wolynien, hat sich das
landbesitzende Bojarentum gegen die hier schon fast ständisch begriffene Freiheit der Städte
(Einflüsse aus Polen und Ungarn) und z.T. auch gegen fürstliche Interessen durchzusetzen
vermocht.
Das Verhältnis Fürst - Adel barg jedoch objektiv stets mehr Interessenübereinstimmungen als
Gegensätze in sich, so daß es zu einer ständischen Entwicklung nicht gekommen ist und die
traditionellen kooperativen Gefolgschaftsbeziehungen auch im politischen Milieu verstärkter
fürstlicher Machtkonzentratlion ihre Gültigkeit behielten.
MICHAIL BORISOVIČ SVERDLOV
Hartmut Rüss
Lit.: J. PORAJ-KOŠIČ, Očerk istorii russkogo dvorjanstva ot poloviny XI do konca XVIII veka,
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Drevnosti russkago prava, I - III, SPb. 1903 ; A. E. PRESNJAKOV, Knjažnoe pravo v Drevnej Rusi,
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4
D'JAKONOV, Očerki obščestvennogo i gosudarstvennogo stroja Drevnej Rusi, SPb. 1912 , 74 - 89;
7
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URL: http://www.uni-leipzig.de/gwzo/wissensdatenbank/artikel.php?ArtikelID=24.5000
VI. Balten
Ausführliche Nachrichten über den Adel bei den Balten stammen erst aus dem 13. Jahrhundert In
den schriftlichen Quellen wird der Adel durch verschiedene Termini charakterisiert: nobiles,
senior, princeps, dux, rex usw. Sie bezeugen, daß der Differenzierungsprozeß im 13. Jahrhundert
bei den Balten ziemlich weit fortgeschritten war. Dies gilt vor allem für den litauischen und z.T.
für den semgallischen Adel Anders als bei den anderen baltischen Stämmen hat sich hier aus dem
Adel die Schicht der Fürsten entwickelt, die über ein eigenes Heer verfügten und ihre
herrschaftliche Stellung an Verwandte vererben konnten. Wie das Beispiel des litauischen
Fürsten Daumantas (Mitte des 13. Jahrhundert) bezeugt, hatten solche Fürsten bis zu 300 Leute
hinter sich. Im 13. Jahrhundert begann ein Prozeß der Konzentration der Adelsmacht auf die
Mitglieder einer Familie, was die Dominanz des litauischen Adels im ganzen östlichen Baltikum
und z.T. in Kurland begründete. Anfang des 13. Jahrhundert zahlten die →Selen← Tribute an
den litauischen Adel, andere ostbaltische Stämme wurden durch litauische Kriegszüge
ausgeplündert.
Die nach den Fürsten bedeutendste Kategorie des Adels im Baltikum stellten die sog.
Kriegsführer. Der Unterschied zwischen beiden bestand in der Wählbarkeit der letzteren, deren
Erbrechte auf ein im Vergleich zu den Fürsten kleineres Territorium begrenzt waren. Zu dieser
Kategorie des Adels gehörten beispielsweise Thalibald in →Lettgallen← oder Herkus Monte in
Preußen. Die Führungsschicht des Adels, Fürsten und Kriegsführer, war im Verhältnis zum Rest
der Adligen gering. Die Unterschiede zwischen den einfachen Adligen und den Freien waren im
13. Jahrhundert nicht besonders groß, und zwischen freien Bauern und Adligen waren die
Grenzen fließend, was sich an der Größe des Besitzes von Adligen zeigen lässt. Im
13. Jahrhundert besaß ein Adliger in Preußen und Litauen (→Litauer, Litauen←)
durchschnittlich nur ca. 3 - 5 Haken (Angaben aus Livland fehlen). Der Adel im Baltikum hatte
auch keine Freien auf seinem Besitz. Quelle seiner ökonomischen Macht waren die Unfreien
(→Freiheit und Unfreiheit←), die meist aus Kriegsgefangenen rekrutierten. Einfache Adlige
konnten ihren Status einbüßen, wenn sie Befehle des Kriegsführers oder Beschlüsse der
Stammesversammlung ignorierten. Die Adligen wohnten in befestigten Höfen (noch nicht in
Burgen), die aber nur im Besitz der hervorgehobenen Adligen waren.
Nach der Entstehung des Ordensstaates in Preußen verlor ein Teil der prußischen Adligen, der
Widerstand geleistet hatte, seine gesellschaftliche Stellung, während der andere Teil seine
Position wahren und durch neue Verleihungen festigen konnte, wobei er sich assimilierte. In
Livland (→Liven, Livland←) war die Lage anders, da hier nur einzelne Adlige ihren Status
behielten (eine Ausnahme bildet hier Kurland).
ALVYDAS NIKŽENTAITIS
Qu.: Scriptores Prussicarum. Die Geschichtsquellen der preußischen Vorzeit bis zum Untergange
der Ordensherrschaft, I - II, hg. T. HIRSCH u.a., Leipzig 1861 - 1863; Livländ. Reimchronik, hg. L.
MEYER, Paderborn 1876; Preußisches UB, Politische Abt. I, H. 1 und 2, Königsberg 1882, 1909;
Liv-, Est-, Kurländisches UB I, hg. F. G. VON BUNGE, Reval 1853; Heinrich von Lettland. Lit.: A.
SCHWABE, Grundriß der Agrargeschichte Lettlands, Riga 1928; H. ŁOWMIAŃSKI, Studia nad
poczatkami spoleczeństwa i paÞstwa litewskiego I - II, Wilno 1931 - 1932; Ž. M UGURĒVIČS,
Oliņkalna un Lokstenes pilsnovadi. 3. - 15. gs arheologijas pieminekļi, Rīga 1977; M. HELLMANN,
Burgen und Adelsherrschaft bei den Völkern des Ostbaltikums, in: Europa Slavica - Europa
Orientalis, Berlin 1980; R. WENSKUS, Der dt. Orden und die nichtdt. Bevölkerung des
Preußenlandes mit besonderer Berücksichtigung der Siedlung, in: Ders., Ausgewählte Aufsätze
zum frühen und preußischen MA, Sigmaringen 1986, 353 – 375.
URL: http://www.uni-leipzig.de/gwzo/wissensdatenbank/artikel.php?ArtikelID=24.6000
VII. Finno-Ugrier
Bei den Finno-Ugriern war die soziale Differenzierung der Bevölkerung noch um die
Jahrtausendwende relativ wenig ausgeprägt. Das Ergebnis der sozialökonomischen Entwicklung
v.a. im westlich ostseefinnischen Gebiet, besonders bei den →Liven← und →Esten←, war das
Aufkommen einer begüterten Oberschicht, deren Repräsentanten in Heinrichs Livländischer
Chronik als divites, meliores und seniores begegnen. Die mächtigsten Angehörigen der
livländischen und estnischen Oberschicht werden als princeps ac senior ('Heerführer und
Älteste'; →Ako←, →Dabrelus←, →Lembitu←), als senior provinciae ('Provinzälteste') und
sogar als rex ('Fürst, Caupo') bezeichnet. Von der eingesessenen Bevölkerung wurde für die
örtlichen Machthaber das schon vor Christi Geburt in die ostseefinnischen Sprachen gelangte
Wort kuningas ('König') in der Bedeutung "Heerführer" angewandt. Die einzelnen Ältesten, die
sich zu allgemeinen Beratungen versammelten, wachten über die öffentlichen Angelegenheiten
der Dorfgemeinden, der Gaue und der Landschaften. Nach der deutsch-dänischen Eroberung zu
Beginn des 13. Jahrhundert wurden einige livländische und estnische nobiles als Vasallen in das
Lehnsystem der Deutschen und Dänen eingegliedert.
Jüri Selirand
Lit.: H. MOORA, H. LIGI, Wirtschaft und Gesellschaftsordnung der Völker des Baltikums zu
Anfang des 13. Jahrhundert, Tallinn 1970; J. SELIRAND, Viron rautakausi. Viron nuoremman
rautakauden aineiston pohjalta, in: Studia Archaeologica Septentrionalia 1, Rovaniemi 1989.
URL: http://www.uni-leipzig.de/gwzo/wissensdatenbank/artikel.php?ArtikelID=24.7000