Platon: Politeia II-VII: Der Entwurf eines Idealstaats mit einem
Transcrição
Platon: Politeia II-VII: Der Entwurf eines Idealstaats mit einem
Universität zu Köln Philosophische Fakultät Philosophisches Seminar Wintersemester 2005/2006 Proseminar: „Kerntexte der antiken Philosophie - von Parmenides bis Boethius“ Dr. Dirk Fonfara Platon: Politeia II-VII: Der Entwurf eines Idealstaats mit einem Philosophenkönigtum Name Vollständige Adresse Matrikel-Nummer Email-Adresse Inhaltsverzeichnis A. Zu Polis, Politeia und Platons Staat .......................................................................... 3 B. Platons Idealstaat........................................................................................................ 5 I. Die dreifache Polisgenese.......................................................................................... 5 II. Aufbau des Idealstaats.............................................................................................. 7 III.Gerechtigkeit in der Polis: Die vier Tugenden ....................................................... 9 C. Das Philosophenkönigtum ....................................................................................... 11 I. Die Realisierbarkeit des Idealstaats bzw. eines Philosophenkönigtum.............. 12 II. Die Problematik der Philosophenherrschaft ........................................................ 18 D. Schlussbetrachtung: Der Idealstaat-eine „konservative Utopie“? ...................... 22 Literaturverzeichnis...................................................................................................... 25 2 A. Zu Polis, Politeia und Platons Staat Ein systematisches Nachdenken über den Staat löste sich in der Antike mit der Reflexion der Krise der Polis-Demokratie im 4. Jh. aus. In der Mitte des 5. Jh. fand in einigen Sichtweisen ein Umbruch statt, propagierten die sogenannten Sophisten erstmals den Gedanken, dass der Mensch und seine Kultur und nicht mehr der Kosmos im Zentrum der Betrachtung stände. Auch eine Polis (Stadt/ Staat) sei eine unabhängig vom Kosmos existierende eigene Entität mit ihren Bewohnern als die sie konstituierenden Individuen. Daraus ergaben sich Fragen nach dem rechten Gesetz und nach dem Prinzip der Gerechtigkeit. Nicht mehr der Kosmos, sondern der Mensch entpuppte sich nun als das Maß aller Dinge für das Recht und die Gesetze. Unter einer Polis versteht man allgemein einen Zusammenschluss von Menschen zum Zwecke des physischen Überlebens, des materiell besseren Lebens und schließlich des sittlich guten Lebens. Die Polis als ein Menschenwerk diente dazu, die Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen. Nun waren die Sophisten aber uneinig darüber, wie die Menschen mit individuellen Bedürfnissen und Handlungskompetenzen ausgestattet sein würden, da sie davon ausgingen, dass keine absolute Wahrheit existiere. Sokrates, so wie Platon ihn darstellte, versuchte diese Meinungsvielfalt der Sophisten zu bekämpfen, denn er empfand die Kontroversen als politisch destruktiv und einen Skandal für die Philosophie. Seine Überwindung der Meinungsvielfalt sollte durch eine Konzeption einer ausschließlich auf Vernunft begründeten und allgemeinen verbindlichen Ethik stattfinden. Auch Platons Grundthema in seiner politischen Philosophie war die Erörterung der Frage nach dem gerechten Staat. Womöglich bildete die Hinrichtung des Sokrates um 399 den entscheidenden Punkt seiner Ambitionen in der politischen Philosophie. Er reifte in der Überzeugung, dass die Polis von den Sitten der Väter abgefallen sei und alle Staaten schlecht verwaltet wurden. Platon stellte eine klare Forderung an die Vernunft, dass die allgemeine Wahrheit von nun an über bloße Meinungen, wie sie die Sophisten vertraten, herrschen sollte, und führte den Gedanken des Sokrates weiter. Für die Polis bedeutete dies, dass nicht mehr die Gesetze, die in der Mehrheit der Demokratie beschlossen wurden, sondern die wenigen wahren Philosophen herrschen sollten. Die Politeia ( „Der Staat“) bildet Platons politisches Hauptwerk und beinhaltet diese Position und die Untersuchung des Problems einer gerechten Polis. Dieses staatstheoretisch wichtigste Werk Platons wurde nach 377 verfasst und schließt die mittleren Dialoge ab. Ihr Untertitel „Über das Gerechte“ (to dikaion) deutet schon 3 ihre Hauptthematik an. Es ist womöglich das Resultat aus Platons Verzweiflung an der athenischen Demokratie und des Todesurteils des Sokrates. Der Hauptredner hier ist Sokrates, durch den Platon seine philosophischen Theorien sprechen lässt. Die Politeia besteht aus insgesamt zehn Büchern. Im ersten Buch der Politeia, dem sogenannten Trasymachos, grenzt sich Platon ganz offensichtlich von der Position und Philosophie der Sophisten ab. Der Hauptvertreter der sophistischen Auffassungen, Trasymachos, legt seine Ansichten über das Gerechte dar. Gerechtigkeit sei einmal der Vorteil des Stärkeren, und ein ungerechter Mann führe ein besseres Leben als der Gerechte. Sokrates lässt diese Meinung von Gerechtigkeit zwar gelten, differenziert sich in seiner eigenen Position allerdings davon. Nun wird er von seinen Zuhörern dazu herausgefordert, das Wesen, Nutzen und die Heilsamkeit der Gerechtigkeit zu erörtern. Dieses Ziel möchte Sokrates anhand eines Staatsentwurfs (II- VII) veranschaulichen. Da sich Dinge im Großen besser und klarer erkennen lassen, entwirft Platon in einer dreiphasigen Polisgenese den Idealstaat, den er in einem Staat mit Philosophenkönigtum gipfeln lässt und als vergrößertes Abbild der Seele des gerechten Menschen versteht. Es soll zuerst die Gerechtigkeit innerhalb der Polis, am größeren Gemeinwesen studiert werden und von dort aus auf die menschliche Seele geschlossen werden. Eine Polis bestehe aus einer Vielzahl von Menschen, daher kann man sie als eine Art großen Menschen betrachten und analog zur menschlichen Seele. Wenn sich im idealen Staat die Gerechtigkeit veranschaulichen lässt und als heilsam und an sich nützlich erweist, dann sei das gedankliche Experiment geglückt.1 Platons Entwurf eines Idealstaats mit einem Philosophenkönigtum soll in der folgenden Ausarbeitung im Zentrum der Betrachtung stehen. Dazu ist es zunächst einmal wichtig vom Ansatzpunkt der Entwicklung der idealen Polis aus das Gedankenexperiment des Sokrates kurz nachzuvollziehen, um dann in eine genauere Analyse des Aufbaus und der Funktionswiese der idealen Polis einzusteigen. Danach ließe sich erörtern, inwiefern die Polis gerecht und die Gerechtigkeit heilsam sei. An dieser Stelle kann kurz Bezug auf die menschliche Seele genommen werden, da ihre Struktur, wenn sich Sokrates’ Versuch als gelungen erweist, analog zur Polis verhält. Nach diesem Gedankengang ist es sinnvoll, Platons Verlauf zu folgen und der möglichen Realisierbarkeit des Staates mit einer Herrschaft der Philosophen nachzugehen, um schlussendlich festzustellen, wie man Platons Entwurf einer idealen Polis mit Philosophenkönigtum bewerten kann. 1 Vgl. Suhr: Platon/ 2001, 25- 31, 123- 124; Goldschmidt: Staat/Staatsformen/ 1999, 1512- 1514; Silnizki: Staat/ 1998, 1-6. 4 B. Platons Idealstaat I. Die dreifache Polisgenese Im Hinblick auf die Entwicklung von Platons Gerechtigkeitskonzeption in seinem Idealstaat ist es notwendig die dreiphasige Polisgenese kurz nachzuvollziehen. Sie beginnt bei der Urform einer Stadt, der primitiven Urpolis (alîthine/hôsper hygies), einer Minimalstadt bestehend aus vielen Gewerbstätigen ( Politeia, 368- 372d), die alle in glücklicher Eintracht leben und endet im idealen Wächterstaat. Bei Platon entsteht eine Stadt aus der Notwendigkeit zur Gemeinschaft unter den Menschen. Er geht von mangelnder Autarkie des Menschen aus (369 b-c) und entwickelt nach dem Prinzip der Spezialisierung wegen der natürlichen Andersartigkeit des Menschen den Grundgedanken, dass jeder Bürger seine Arbeit besser verrichte, wenn er sich mit vollem Ernst nur auf eine Gewerbetätigkeit konzentriert und sich nicht in die Geschäfte anderer einmischt. Somit wird aus der Urpolis ein ausgereiftes ökonomisches Tauschsystem, das die Grenzen der Notwendigkeit dabei nicht überschreitet. Die Urpolis konstituiert sich nur aus den Grundbedürfnissen, beschränkt sich auf gegenseitige Bedarfsdeckung durch ausdifferenzierte, spezialisierte Tätigkeiten und gegenseitige Mitteilung, weswegen keine Konflikte zu Stande kommen. Deswegen benötigt man keine öffentlichen Gewalten, wie Herrschaft durch Gesetze und politische Ämter zur Ordnungsbeibehaltung. Es handelt sich um einen „sozial homogenen Selbstversorgungsautomatismus“ (Vgl. Kersting/ 1999: 86) oder einen „vorpolitischen“ Zustand (Vgl. Höffe/ 1997: 72-74), der jenseits von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit existiert. Würde man Gerechtigkeit suchen, dann erschiene sie nur im Sinne von spontaner, naturhafter und unreflektierter „Tauschgerechtigkeit“. 2 Die Polisgenese muss also weiter fortgeführt werden, denn die Konstruktion der Urpolis kann die Frage nach der Gerechtigkeit noch nicht hinreichend beantworten; außerdem ist dieser paradiesische Zustand äußerst realitätsfremd und unmenschlich, da noch keinerlei Kultur existiert. Nun soll auch noch die zivilisierte und höher kultivierte Polis bedacht werden. Dieses Gemeinwesen wird sich bald als üppig und aufgedunsen erweisen und bildet die zweite Polisstufe (372d- 374d). Deswegen auch die pejorative und zivilisationskritische Bezeichnung „üppige“ Polis (tryphôsa/phlegmainousa). Die 2 Vgl. Bormann: Platon/ 2003, 150- 152; Höffe: Zur Analogie von Individuum und Polis/ 1997, 71-79. Kersting: Platons „Staat“/ 1997, 83- 85. 5 Aufschwemmung zur üppigen Polis beruht auf einem psychologischen Phänomen. Aus innerer Unzufriedenheit entsteht Unersättlichkeit und Mehrwollen (pleonexia Pleonexie). Diese zunehmende Begierde führt zu mehr Ansprüchen und es werden Güter eingeführt, welche die Grenzen der Notwendigkeit überschreiten. Durch das Prinzip der Spezialisierung werden neue Berufe gefordert, die sich auf Luxusbedürfnisse spezialisieren. Die Stadt bekommt zwangsläufig mehr Bewohner. Daraus resultiert ein enormer Bevölkerungsanstieg und eine Expansion nicht nur in der Berufswelt, sondern auch im Territorium. Aus dem Bevölkerungszuwachs entstehen auf der einen Seite soziale Konflikte und Ungerechtigkeit, außenpolitisch kann durch die territoriale Ausweitung durch offensive Angriffe oder defensive Verteidigung Krieg mit den Nachbarstädten entstehen. Hier liegt im Gegensatz zur Urpolis ein offensichtlicher „Abfall“ ( Vgl. Höffe/ 1997: 72) von der natürlichen Harmonie vor. Wenn auch realitätsnaher als die Urpolis, ist die neue Gesellschaft voll von dekadenzverursachenden Faktoren und konfliktträchtig, was zum Verlust der sozialen Tugenden der gesunden Polis führt. Allerdings ist diese Entwicklung vonnöten, denn von nun an ist das gerechtigkeitsfähigfähig. Gemeinwesen gerechtigkeitsbedürftig und überhaupt 3 Die Polis verlangt nach polizeilich-militärischen und leitenden Funktionen. Durch das Spezialisierungsprinzip wird die Ausbildung der Wächter (phylakes) erforderlich und muss abgesondert zum Stand der Erwerbstätigen eingeführt werden (374e- 376e). Ein Berufsstand, der sich wegen der Entstehung der Konflikte und des Krieges ausschließlich mit innenpolitischen (Polizei/Verwaltung der Stadt) und außenpolitischen (militärischen) Aufgaben befasst. Es wird eine neue soziale Struktur, die Herrschaft, eingeführt, wo vorher eine politische Einheit herrschte. Durch die Aufschwemmung zur Luxusgesellschaft und der damit verbundenen Pleonexie sind in der Polis erhebliche Übelstände und Ordnungsprobleme entstanden. Um sich diesen zu stellen, schließt sich an die Entstehung der üppigen Polis eine Reinigung (katharsis) an, die sich in der Erziehung der Wächter äußert. Die Sorge um die Allgemeinheit, die die Wächter in der Polis betrifft, verlangt einerseits nach polizeilicher und militärischer Kompetenz und andererseits nach der Steuerung, Koordination und Regierung dieser. Nach dem Spezialisierungsprinzip muss sich der bisher zweite Stand, der sich um das Allgemeine bemüht, also wieder in zwei Stände aufgliedern. Die Wächter sind zuständige Experten für die Sicherung und Bewahrung des Allgemeinwohls. Sie haben eine 3 Vgl. Bormann: Platon/ 2003, 152; Höffe: Zur Analogie von Individuum und Polis/ 1997, 71- 72, 78- 82; Kersting: Platons „Staat“/ 1999, 84- 86. 6 monoprofessionelle Aufgabe, die sich strikt auf die Allgemeinheit bezieht. Sie sind in hohem Maße tugendbedürftig, müssen „philosophisch, mutig, behend und stark“ sein (376), über gute körperliche Beschaffenheit und „scharfes Wahrnehmungsvermögen“ verfügen. Wie ein „Wachhund“ beschützen sie die Menge gegen äußere Feinde. Sie müssen Tapferkeit und Sanftmütigkeit in sich vereinigen. Ihr Charakter und ihre Einstellung wird durch eine Kombination aus musischer und gymnastischer Erziehung zur Allgemeinheit geformt. Bei dieser Erziehung stellt sich unter ständiger Prüfung dann heraus, „wer von ihnen zu gebieten haben soll und wer zu gehorchen“ (412b). Die Besten und Ältesten aus dem Wächterstand werden fortan als Regenten (archontes) bezeichnet und die anderen als deren Gehilfen (epicouroi) oder Wehrmänner (Krieger: stratiôtai 412c- 414b ). Aus der ursprünglichen Einstandesgesellschaft entstehen drei Stände. Den dritten und kleinsten Stand bilden die Archonten, die sich mit der allgemeinen Steuerung und Regierung der Polis befassen. Den zweiten Stand bilden die Wehrmänner der Stadt, die polizeiliche und militärische Funktionen einnehmen. Den ersten und größten Stand bilden die Erwerbstätigen, die Handwerker, Bauern und Händler der Stadt, die sich mit der Ökonomie der Polis befassen. Mit der Konstitution der drei Stände ist der „Wächterstaat“ in der Polisgenese erreicht.4 II. Aufbau des Idealstaats Die beiden politischen Klassen müssen alle Eigenschaften eines Wächter mitbringen. Das auszeichnende Charakterelement für die Regenten ist ihre philosophische Naturbegabung. Sie ordnen das Allgemeine im Innern und regieren die Polis. Sie übernehmen die Führung, Leitung und Erziehung des Gemeinwesens. Sie müssen klug, kompetent, einsichtsfähig, loyal und charakterstark sein, dürfen sich nicht beeinflussen lassen und müssen sich der Allgemeinheit verpflichtet fühlen, wobei sie niemals aus eigenem Interesse handeln dürfen (412 d-e). Die Wehrmänner müssen sich besonders besonnen, kampftüchtig und tapfer zeigen, da sie das Gemeinwesen nach außen verteidigen und für Frieden und Sicherheit nach innen sorgen. Alle anderen nötigen Auszeichnungen wurden oben hinreichend beschrieben. Die beiden politischen Stände führen ein selbstloses Leben, sind der Öffentlichkeit verpflichtet und in hohem Maße tugendbedürftig. Der Bürgerstand ist der Ernährerstand und bildet die materiale Basis der Polis. Er beinhaltet ein ökonomisches System aus vielen gewerblichen Aufgaben. Er 4 Vgl. Bormann: Platon/ 2003, 152- 155; Höffe: Zur Analogie von Individuum und Polis/ 1997, 82- 84; Kersting: Platons „Staat“/ 1999, 86- 88, 94- 100. 7 ist nicht tugendbedürftig, da er von aller allgemeinen und politischen Verantwortung befreit ist. Daher ist er aber auch machtlos und rechtlos. Die Stände grenzen sich nicht gegenseitig ab, sondern bilden innerhalb der Polis eine harmonische Einheit. Die Zugehörigkeit zu den Ständen ergibt sich nicht durch Geburtsrecht, sondern durch Begabung (412c- 415d „Mythos über die Erdgeborenen/ Metalle“ - gennaionpseudos). Wird ein Individuum zu einem Stand als zugehörig deklariert, so bleibt es aufgrund des Spezialisierungsprinzips für immer diesem Stand zugehörig. 5 Platon kommt es in der Idealpolis auf den Einheitsgedanken an. (419a- 424c) Die Polis muss als ein Ganzes betrachtet werden, das als Einheit glücklich wird. Nach dem einzelnen Teil oder Stand wird bei Platon nicht gefragt. Platon zeigt in der Politeia ein unionistisches Politikverständnis und verfolgt die Idee von politischer Integration. Den Einheitsgedanken und somit das allgemeine Glück zu wahren, wird zur Hauptaufgabe der Regenten. Die Prävention von Ungleichheit oder jeglichen Entwicklungen, welche die politische und gesellschaftliche Einheit der Polis zerstören könnten ist unerlässlich für die Bewahrung einer gesunden, glücklichen und einheitlichen Gesellschaft und wird zur dauerhaften Aufgabe. Es ist wichtig der Ungerechtigkeit, die nach Platon größtenteils aus sozialer und ökonomischer Ungleichheit entsteht, anfangs vorzubeugen und nicht nur ihre Effekte etwa durch Regeln und Gesetze zu bekämpfen. Die Ideale Polis braucht ein hinreichendes Territorium. Das bedeutet, dass die Polis so weit expandiert werden darf, solange sie dabei ihre politische und gesellschaftliche Einheit beibehält. Die wichtigste Aufgabe durch die Regenten, damit das Prinzip der Selbsterhaltungsbedingungen der Gerechtigkeit verwirklicht werden können, ist die Beaufsichtigung eines zentralen Erziehungswesens, das für die Ständeverteilung und die Beibehaltung der Reinheit der Stände verantwortlich ist. Damit die Polis zur Einheit werden kann, muss sie durch eine sittlich-politische Erziehung ihrer Bürger auf den richtigen Weg gebracht werden. Wenn sie sich einmal dort befindet, dann verläuft es in einer Kreisbewegung so weiter, denn tüchtige Menschen würden wieder tüchtige Menschen fördern usw. Die Erziehungspläne dürfen nicht angetastet und verändert werden und die Regenten dürfen in der Nachfolge und in der Erziehung niemals belanglos und ungewissenhaft ihrer Arbeit nachgehen (424 d-e).6 Bei Platons Idealstaat handelt es sich um eine ethische Staatskonzeption bzw. um eine Erziehungsstaatskonzeption. Es gibt keine Gesetze in dem Sinne, sondern diese werden 5 Vgl. Bormann: Platon/ 2003, 154- 155; Kersting: Platons „Staat“/ 1999, 88, 92- 97, 133- 137. 6 Vgl. Bormann: Platon/ 2003, 155; Kersting: Platons „Staat“/ 1999, 142- 147. 8 durch eine charakterbildende Erziehung ersetzt, die zur politischen Einheit führt. Wenn man unter ständiger Selbstdisziplin der ethischen Erziehung folgt, ist die politische Einheit gesichert und der Bedarf von Gesetzen und Regeln wird zumindest stark gesenkt. Durch die in Platons Sinne geführte Gerechtigkeitsordnung wird die Polis zu einem Gemeinwesen von innerer Stabilität und Harmonie, in dem dessen Regenten nicht als Gesetzesgeber auftreten, sondern die Rolle von Erziehern oder „Ärzten“ annehmen, welche die Bewohner der Polis durch ein sorgfältig abgestimmtes Erziehungsprogramm, Lebensweisen und Lebensbedingungen heilen. Durch die Erziehung eignet sich der Mensch ein Wissen über richtiges Verhalten und feste Haltungen im Handeln an. Gesetze sind ein Zeichen des bloßen Mangels und können nur die Wirkungen von schlechter Erziehung bekämpfen, die nach Platon einer der Urgründe für eine schlecht geführte Polis und die Entstehung der Ungerechtigkeit ist, aber niemals die Ursache selbst bekämpfen.7 III. Gerechtigkeit in der Polis: Die vier Tugenden Die Idealpolis wurde kreiert, um Aufschluss über Natur und innere Struktur der Gerechtigkeit zu geben. Wenn sich die Gerechtigkeit in der Polis nachweisen lässt (427d- 434d), sollte sich also Sokrates Vorgehensweise bestätigen und gleichermaßen in der menschlichen Seele befinden (434d- 444e). Ist das nicht der Fall, so wurde die Polis falsch gegründet. Der Ausgangspunkt für die Untersuchung der Gerechtigkeit in der Idealpolis bildet die Annahme, dass die Idealpolis auch vollkommen gut sei, insofern sie richtig gegründet wurde. Die Voraussetzung für vollkommenes Gutsein, bildet die Vereinigung der vier Kardinaltugenden (Bestheit-aretai), Weisheit, Tapferkeit, Besonnenheit und Gerechtigkeit, in sich. Die Polis wird also nur vollkommen gut sein, wenn sie in den vier Kardinaltugenden exzelliert. Es gilt nun zu prüfen, ob und wo sich die vier Kardinaltugenden in der Polis befinden. Sokrates schlägt zur Vorgehensweise ein Ausschlussverfahren vor, das einer mathematischen Gleichung mit einer Unbekannten gleicht. Das bedeutet, dass in der Polis zuerst Weisheit, Tapferkeit und Besonnenheit bestimmt werden, da diese leichter zu erkennen, gleichsam mit der Gerechtigkeit durcheinander bedingt sind und hindurchwirken, und das Letzte, das am Schluss übrig bleibt, die Gerechtigkeit, einfacher festzustellen ist. Dieses eliminative Verfahren ist 7 Vgl.: Ebd., 146- 147. 9 allerdings nur eine vorläufige, inadäquate Methode um die Gerechtigkeit zu erfassen. Die genaue Bestimmung der Gerechtigkeit wird erst im Philosophenstaat durch die Erkenntnis des Seienden möglich. Beim Wächterstaat handelt es sich nur um eine Vorstufe und somit auch nur um eine vorläufige Bestimmung der Gerechtigkeit. Da sich die vier Kardinaltugenden in der Polis analog zur menschlichen Seele verhalten, werden die Seelenteile in diesem Zusammenhang gleichwohl erörtert. Sokrates beginnt mit der Bestimmung der Weisheit/ Vernunft (sophia/ logistikon) in der Polis. Sie äußert sich in der Polis darin, dass sie von einem wissenden Stand vernünftig regiert wird, somit „wohlberaten“ ist und kennzeichnet das allgemeine Wissen des Regenten, was der Polis zuträglich ist und sie fördert. Die Tugend der Weisheit ist also im ersten Stand, dem der Regenten, in der Polis zu finden und wird durch einen einzigen Teil ihrer selbst weise (428a- 429a). Die Tapferkeit/ Tatkraft (andreia/ thymoeides) in der Polis ist dem Stand der Wehrmänner zuzuschreiben, denn sie sind als Sicherheits- und Schutzbeauftragte der Polis auf die Tapferkeit spezialisiert. Hier bedeutet Tapferkeit nicht nur Einsatzbereitschaft oder Mannhaftigkeit, sondern eine durchgängige Aufrechterhaltung der richtigen und gesetzlichen Meinung über das Furchtbare, nämlich das, was die Polis von innen und von außen gefährden und das politische Ethos zerstören könnte (430). Die gesetzliche Meinung über das Furchtbare wird durch die Regenten bestimmt und den Wehrmännern bei der Erziehung (paideia) eingepflanzt. Dies müssen die Wehrmänner verinnerlichen und sich von dieser Einstellung durch nichts in dieser Welt beeinträchtigen lassen. Somit bedeutet Tapferkeit ebenfalls konstante Loyalität dem Ganzen und dem Gesetze und Ergebenheit der Weisheit und Vernunft der Regenten gegenüber (429a- 430c). Die Besonnenheit (sophrosyne) äußert sich durch das Zusammenwirken des ganzen Staates. Die Polis wird sich besonnen zeigen, wenn die Regenten durch ihre Vernunft und Weisheit regieren und die Bürger (in der Seele das Begehren- epythemêtikon) sich dem fügen. Die unvernünftige Klasse der Bürger wird von der Klasse maßvoller und vernunftbegabter Regenten beherrscht und von der vernunftfreundlichen Klasse der Wehrmänner unterstützt, die durch natürliche Anlage und gute Erziehung dazu bestimmt wurden (431d). Laut Sokrates bedeutet Besonnenheit nun aber nicht die Herrschaft des Einen und Knechtschaft des Anderen, sondern die „Eintracht zwischen Regierten und Regierenden über die Frage, wer regieren soll“ (432a). Man stimmt überein, dass die gesellschaftliche und politische Ordnung richtig ist und erkennt sie an. 10 Durch sie ergibt sich die politische Einheit und ist „über das Ganze verbreitet“, allgemeine Loyalität, die Harmonie, das „Zusammenklingen“ (symphonia kai harmonia) zwischen den drei Ständen: Die Führung durch die Weisheit, die Verteidigung der wahren Meinung durch die Tapferkeit und die Anerkennung der ganzen Ordnung durch die Besonnenheit (430d- 432b). Nun wurde der Idealstaat gedanklich errichtet, um die vorläufige Gerechtigkeit (dikaiosyne) zu bestimmen und darüber hinaus zu beweisen, dass sie an sich gut und erstrebenswert sei. Die drei ersten Kardinaltugenden wurden bestimmt und nun müsste sich laut Ausschlussverfahren die Gerechtigkeit offenbaren. Die Gerechtigkeit war von Anfang an da und bestimmte die Konstruktion der Polis. Sie äußert sich im IdiopragiePrinzip, das die dreifache Gerechtigkeitsstruktur der Polis aufbaut. Das IdiopragiePrinzip setzt voraus, dass unterschiedliche und determinierende Begabungen unter den Menschen existieren und setzt auf Arbeitsteilung, Konzentration, Kompetenz und Exzellenz, die sich einmal aus den natürlichen Begabungsrichtungen ergeben und darüber hinaus aus dem Prinzip, dass jeder das Seinige tun soll. Damit tut jeder das Richtige und Zuträgliche für sich und für das Gemeinwesen. Die Gerechtigkeit ist außerdem das Organisationsprinzip in der Polis, das unter anderem den Ort der anderen Tugenden und deren internen Zusammenhang bestimmt. Sie ist eine besondere Tugend, da sie quer zu den anderen steht, aber nur zustande kommt, wenn die Polis weise, tapfer und besonnen ist. Wenn Gerechtigkeit bedeutet, dass jeder das Seinige tut, dann bedeutet Ungerechtigkeit, wenn das Prinzip der Idiopragie-Formel verlassen wird und Vielgeschäftigkeit entsteht. Vielgeschäftigkeit bedeutet, dass man sich über seine Natur hinwegsetzt, die Standesgrenzen verwischt. Man zerstört die politische Einheit, die Harmonie der Polis und somit ihre Gesundheit. An dieser Stelle sei allerdings zu bemerken, dass es sich hier nur um eine vorläufige Gerechtigkeit handelt, ihre Auswirkungen im Prinzip der Idiopragie-Formel ( 432b- 434c). Analog dazu bedeutet Gerechtigkeit in der menschlichen Seele ebenfalls das organisierende Prinzip zur Übereinstimmung der drei Seelenteile. Durch paideia werden das logistikon und der thymoeides zur Herrschaft über das epythemêtikon ausgebildet.8 C. Das Philosophenkönigtum 8 Vgl. Bormann: Platon/ 2003, 156- 165; Kersting: Platons „Staat“/ 1999, 147- 169. 11 I. Die Realisierbarkeit des Idealstaats bzw. eines Philosophenkönigtum Bevor Sokrates dazu kommt, den Nutzen der Gerechtigkeit zu erörtern, der Grund, weswegen er anfangs den Idealstaat entwarf, ist es für seine Zuhörer erst einmal von Interesse, die Möglichkeit der Verwirklichung des Idealstaats zu untersuchen. Um die Realisierbarkeit des Staates zu prüfen, muss man die bestehende Verfassung auf ihre Fehler und Mängel in den politischen Angelegenheiten hin untersuchen (473b). Sokrates wählt, um diese Mängel zu beseitigen, den Weg, der die geringsten Veränderungskosten bereitet. Das bestehende Gemeinwesen soll also durch eine einzige Veränderung zur Gerechtigkeit gewendet und verbessert werden, nämlich: „Wenn nicht...entweder die Philosophen Könige werden oder die so genannten Könige und Gewalthaber wahrhaft und gründlich philosophieren und also dieses beides zusammenfällt, die Staatsgewalt und die Philosophie,...eher gibt es keine Erholung von dem Übel für die Staaten...und ich denke auch nicht für das menschliche Geschlecht,...“. Die Philosophen sollen also die Herrschaft übernehmen, und die politische Rettung aus der bestehenden Misere ist nur durch eine Verbindung von politischer Macht und Philosophie möglich. Diese Behauptung muss natürlich auf ihre Richtigkeit hin überprüft werden, darüber hinaus auf ihre Möglichkeit zur Verwirklichung und ob daraus und warum aus einem Staat mit Idealverfassung und Philosophenkönigtum ein gerechter Staat werden muss. Die vier Kardinaltugenden können nur durch den Menschen in die Polis gelangen, da die innermenschlichen Strukturen die Strukturen der Polis evozieren. Aus der Dominanz der Begierden in der Urpolis, soll es im Idealstaat zu einer Dominanz der Vernunft kommen9. Da die Harmonie der Seelenteile durch paideia anerzogen wird, benötigt man den Philosophen als vernünftigen Lehrmeister. Zuerst ist es natürlich sinnvoll zu bestimmen, welche Eigenschaften einen Philosophen überhaupt ausmachen und wie diese im Gegensatz zum gemeinen Bürger und zu den vorher angeführten Herrschern stehen ( 473b- 474b).10 Der Philosoph ist weitesgehend natürlich ein vernunftgeleiteter, vollkommener und tugendhafter Mensch. Alle aretai, welche die Wächter im Idealstaat besitzen mussten, vereinigt der Philosoph in hervorragender Weise. Zudem muss er gedächtnisstark (486d), ehrlich und in höchstem Maße besonnen und von gemäßigtem Temperament sein. Er darf sich weder von jeglicher „Gewinnsucht“, „niedriger Sinnesart“ oder „Kleinlichkeit“ einnehmen lassen, noch darf er sich jemals durch den Lauf der Zeit 9 Vgl. Höffe: Zur Analogie von Individuum und Polis/ 1997, 84- 92. Vgl. Bormann: Platon/ 2003, 165- 167; Kersting: Platons „Staat“/ 1999, 187- 191, 202. 10 12 beirren lassen (485b). Wie der Begriff Philosoph schon andeutet, handelt es sich hierbei um einen Weisheitsliebenden. Er ist durchdrungen von dem Verlangen nach Weisheit und „die Wahrheit zu schauen begierig“. Seine Wissbegierde muss sich auf das Ganze und auf Vollständigkeit ausrichten und darf keinen Focus auf nur bestimmte Wissenschaften setzen. Das heißt aber auch, dass ein wahrer Philosoph stets das ganze Gemeinwesen und die politischen sowie gesellschaftlichen Zusammenhänge beachten muss. Von „Schaulustigen“ oder „Hörbegierigen“ sei ein wahrer Philosoph allerdings zu unterscheiden, denn solche seien keine Weisheitsliebenden. Hier führt Sokrates einen Basisdualismus ein, der eine ontologische, epistemologische und ethische Hierarchie umfasst. Die Schaulustigen, diejenigen, die „im Vielen und Mannigfaltigen herumschweifen“ (485b) beziehen ihr Wissen aus Erfahrung und sinnlicher Wahrnehmung und verfügen in gewisser Weise nur über „common sense“. Sokrates bezeichnet sie als „Träumende“, die ihren lebenslangen Traum als Wirklichkeit anerkennen und niemals daraus erwachen. Dieses Weltbild sei aber von dem Weltbild, das auf philosophischem Wissen beruht, grundsätzlich zu unterscheiden. Philosophen erkennen die Welt geistig, d.h. unabhängig der sinnlichen Erfahrbarkeit. Wahrheit kann man nicht mit sinnlichen Organen erfassen. Die Philosophen werden von Sokrates als „Wachende“ bezeichnet und sind daher den Träumenden, deren Erkenntnis mangelhaft ist, überlegen. Während der weisheitsliebende Philosoph als Wachender die wahre Wirklichkeit erkennt, sieht der Träumende in seinem Traum nur Abbilder der Wahrheit. Die philosophische Weisheitsliebe geht über die Sinnenwelt hinaus. Die Gegenstände, die der „Schaulustige“ wahrnimmt, beruhen auf sinnlicher Erfassbarkeit, Konkretheit und Handgreiflichkeit, haben allerdings jenseits der Sinnenwelt (des Traumes) keine Realität. Ein Philosoph kann aus seinem „Dornröschenschlaf“ erwachen und am „Seienden selbst Wohlgefallen haben“ (480 a).11 Dieser Basisdualismus beruht auf Platons Ideenlehre, der Überzeugung, dass das Allgemeine wirklich und gänzlich unabhängig von der Wirklichkeit existiert. Als Ideen bezeichnet man allgemeine Gegenstände oder Wesen, so z.B. Gerechtigkeit oder das Schöne an sich, ausschließlich und in vollkommener Weise. Ideen existieren nicht in Raum und Zeit und sind daher, da sie unbegrenzt sind, nicht mit den Sinnesorganen wahrnehmbar. Beispielsweise hätte ein schönes Ding in der Welt des Mannigfaltigen nur Anteil an der Schönheit. Die mannigfaltigen Dinge sind als nur unvollkommene und gebrochene Abbilder der Ideen, sind axiologisch betrachtet den Dingen gegenüber 11 Vgl. Ebd., 192- 198, 212- 213, 234. 13 höher angeordnet. Nach Platon sind allein die Philosophen zur Schau der Ideen fähig; daher können auch nur sie das Schöne und Gerechte an sich erfassen und die Wirklichkeit danach beurteilen. Das philosophische Wissen beschäftigt sich also nicht mit sinnlichen Gegenständen, sondern mit Ideen und Wesensbestimmung (Schönheit, Gerechtigkeit). Sie erkennen nach dem Erwachen aus dem Traum rückblickend den Unterschied zwischen einer Idee und dem Mannigfaltigen. Die Idee existiert jenseits der vielen Dinge und ist Gegenstand einer eigenen Erkenntnis, und der wahre Philosoph trachtet danach, „das Wesen des Schönen selbst zu schauen und sich daran zu erfreuen“ (476b) und ist somit von allen „Schaulustigen“ und dergleichen zu unterscheiden. 12 Es kursieren also zwei kontroverse Wirklichkeitsauffassungen, ein Basisdualismus zwischen sinnlichem Wahrnehmen und geistigem Erkennen, wobei das Allgemeine gegenüber dem Konkreten einen höheren Seinsstatus besitzt. Sokrates bezeichnet die sinnliche Wahrnehmung der mannigfaltigen Gegenstände, des „zerstreut Vielen“, als bloße Meinung (doxa), ein Führwahrhalten, während er die geistige Erkenntnis der Ideen, des Vollkommenen und Einheitlichen, als Wissen (episteme), als Wahrheit, bezeichnet. Um die doxa genauer zu charakterisieren, nimmt Sokrates eine Gegenüberstellung von Seiendem (Erkenntnis/Wahrheit) und Nicht-Seiendem (NichtErkenntnis/Unwahrheit) vor. Die doxa würde nun epistemologisch und ontologisch genau dazwischen stehen, da sie als Meinung Anspruch auf beides, Wahrheit und Unwahrheit, erhebt. Somit ist ihr Gegenstand auch etwas Mittleres oder Verknüpfendes, d.h. er existiert und existiert wiederum nicht. Sie ist wahrheitsbezogen, da sie wahrheitsorientiert argumentiert; und auch wahrheitsunbezogen, weil sie von etwas anderem bedingt ist, nämlich Perspektiven, Relativität, Zeit und Raum. Doxa ist kein Wissen von vollkommener Wahrheit und kann sich nur auf sinnliche Referenzgegenstände beziehen. Nach Platons Ideenlehre haben Dinge, die in der Meinungwelt existieren keinerlei Bestand, sind nie wesenhaft, subjektiv, unrein, mannigfaltig und bedingt durch anderes. Da die Ideen hingegen die objektive Wahrheit darstellen, verkörpert die episteme das reine, objektive Wissen und verweist auf die Wirklichkeit und Unveränderlichkeit. Es ist sinnvoll, diesen Vergleich zwischen doxa und episteme anzustellen, wenn es um das gleiche Erkenntnisproblem geht. Würde man nun die Gerechtigkeit in Betracht ziehen, dann reflektierte die doxa nur viele Meinungen über die Gerechtigkeit. In der Welt der Mannigfaltigkeit, auf die sich die doxa bezieht, hätten die vielen Meinungen über Gerechtigkeit nur Anteil an der 12 Vgl. Ebd., 193- 196. 14 Gerechtigkeit an sich. Die Dinge, auf die sich die doxa bezieht sind allerdings immer doppeldeutig. Folglich ist alles, was man in der Meinungswelt als gerecht bezeichnet, durch verschiedene Kontexte und Perspektiven genauso gut ungerecht. Objektive Gerechtigkeit an sich gibt es nur in der Ideenwelt. Hier ist das Wissen von der Gerechtigkeit ein unfehlbares, geistiges Erfassen eines Wesens.13 Die subjektiven Meinungen und Interpretationsstreitigkeiten gilt es nun zu überwinden, damit eine objektive, zeitlose Erkenntnis von Gerechtigkeit in den Staat eintreten kann. Dies ist nur durch den Philosophen möglich, da er allein zur Ideenschau fähig ist und sich ein solches objektives Wissen aneignen kann. Nur die Philosophen können die Gerechtigkeit an sich und ihr Idealbild erfassen. Im Gegensatz zu den Meinungsbildnern verfügen sie über das nötige Orientierungs- und Maßstabswissen und können anhand der Gerechtigkeit die öffentlichen und politischen Angelegenheiten regeln. Diese Fähigkeit, die zur Exklusivauszeichnung für den Philosophen wird, bezeichnet man als praktisches Wissen oder Kompetenz. Problematisch wird hierbei, dass man sich nicht ausmalen kann, wo sich der Philosoph die Erfahrung zu diesem praktischen Wissen aneignen kann. Ohne jegliche Erfahrung wäre er mit Sicherheit kein guter Herrscher. Genauso wenig ist geklärt, inwiefern die Gerechtigkeit heilsam und nützlich im Staat verwendet werden kann. Woher stammt das Verhältnis von der Gerechtigkeit zum Guten?14 Die Gerechtigkeit ist nicht der höchste Gegenstand des praktischen Wissens. Die Erkenntnis über die Gerechtigkeit an sich muss über sie selbst hinausweisen und das Verhältnis zum Guten umfassen. Die wahrhafte Erkenntnis der Gerechtigkeit kann erst durch ein Verhältnis von ihr zur Idee des Guten ( 504a- 511), welche den unbedingten Grund für alle Ideen darstellt, erfolgen. Zwischen der Idee des Guten und allen anderen Ideen, auch der Gerechtigkeit, besteht ein Abhängigkeitsverhältnis. Die Idee des Guten ist der höchste und vornehmste Gegenstand des Wissens und ihr ist alles andere und alle sonstigen Ideen untergeordnet. Nur durch die Idee des Guten wird das „Gerechte und alles Sonstige dieser Art überhaupt erst heilsam und nützlich“ (505a). Um ein gerechtes Gemeinwesen aufzubauen, reicht die Gerechtigkeit an sich nicht aus, da sie nicht eindeutig ist. Man braucht die Idee des Guten als finalisierende Mitwirkung und externe Führung zu den Ideen. Um die Idee des Guten und ihre Funktionsweise im Zusammenhang mit den Ideen näher zu charakterisieren, führt Platon mehrere Gleichnisse an. Die Konzeption 13 14 Vgl. Ebd., 197- 200. Vgl. Ebd., 200- 202, 213. 15 des Guten vermittelt dem Philosophen die praktische Kompetenz, so, dass er über Prinzipien und Regeln entscheiden kann. Diese durch die Idee des Guten vermittelte Kompetenz soll nun die Gerechtigkeitsordnung, das Idiopragie-Prinzip, verwirklichen können. Kersting verwendet für die vermittelnde Funktion der Idee des Guten den Begriff „implizite Praxeologie“, sie sei eine Art „chiffre einer praktischen Kompetenz“, die exklusiv den Philosophen auszeichnet und zum (gerechten) Herrscher befähigt. Über die Beschaffenheit des Guten an sich kann man als normal Sterblicher allerdings nur Andeutungen oder Vergleiche vornehmen, denn es kann an sich nicht selbst gezeigt werden. So kann man aber den „Sprössling“ oder das „Ebenbild“ der Sonne betrachten, denn diese haben hinreichende Ähnlichkeit (506e). Im Sonnengleichnis (507- 509b) wird sie als eine Art Seinsspindel dargestellt, um die sich alle Ideen drehen und alles menschliche Erkennen und Handeln erhellt. Auch das Philosophische Wissen tritt in ein Abhängigkeitsverhältnis mit der Idee des Guten und wird ein Teil von ihr. 15 Den Erkenntnisgang zum Guten und in gewisser Weise Ausbildungsweg zum Philosophen illustriert Platon im Höhlengleichnis (514a-b). Es gibt Hinweise darüber, wie die Idee des Guten im Reich des individuellen und auch des öffentlichen Handeln fungiert: Vergleichbar mit der Sonne ist sie der Ursprung des Seienden und seiner Erkennbarkeit und Ur-Bedingung für das private wie auch politische Handeln. Innerhalb des Höhlengleichnisses ( 514a- 519b) stellt Sokrates das falsche Bewusstsein, den Irrtum Schein für Sein zu halten, der Meinungsgesellschaft dar. Innerhalb der Meinungsgemeinde in der Höhle halten sich „sonderbare Gefangene“ auf, die von sich selbst wie von allen Dingen um sie herum nur Schatten sehen können. Hier geschieht auf der einen Seite eine Trennung zwischen Schein und Sein und auf der anderen Seite zwischen Künstlichem und Lebendigem. Die Pointe ist, dass die Meinungsgemeinde sich nicht im klaren darüber ist, was sie eigentlich sieht, sondern hält die künstlich erzeugten Schatten für Wirklichkeit. Innerhalb der Meinungsgemeinde vermag man diese Unterschiede nicht anzustellen, noch fühlen sich die Bewohner der Höhle unfrei oder gefesselt und glauben mit sich und den Dingen eins zu sein, obwohl sie ihnen und sich selbst total fremd sind. In der Meinungsgemeinde liegt uns ein einseitiger Wirklichkeitsbegriff vor, da die Schattenwelt als Wirklichkeit angenommen wird. Die Philosophen können als einzige die Höhlengemeinschaft überwinden und sich zur Erkenntnis der Idee des Guten aufmachen. Nach der Schau des Guten wird der Philosoph im Gegensatz zu den Bewohnern der Höhle über einen komplexen 15 Vgl. Ebd., 214- 224. 16 Wirklichkeitsbegriff verfügen. Allerdings sind es nicht seine eigenen Ambitionen, die ihn zum Aufstieg aus der Höhle bringen und nach der wahren Erkenntnis streben lassen. Dabei bedarf es der paideia, eines erzieherischen Zwangs, die den Philosophen auf einen schmerzvollen und langwierigen Weg von methodischer Strenge und sorgfältiger Anpassungsprozesse schickt. Der philosophische Erkenntnisgang gleicht eher einer Tortur, da sich der Aspirant von dem Gewohnten lösen muss. Den Erkenntnisgang kennzeichnet nicht Wissensmehrung, sondern ein schmerzvoller Lernprozess, bei dem die Wirklichkeit auf jeder Stufe als Ganzes immer neu erfahren und begriffen wird. Es offenbart sich dem Philosophen auf jeder Entwicklungsstufe eine neue Wirklichkeitskonzeption, die dann im weiteren Procedere durch noch differenziertere ersetzt werden, die sowohl ontologisch als auch axiologisch höher angelegt sind. Der Philosoph bereitet sich also allmählich durch mühsame Anpassung an die neuen Gegebenheiten seinen Weg und klettert immer höher, bis er endlich die Idee des Guten, den absoluten Ursprung erblickt. Er gelangt zu voller Sehkraft und erblickt die Sonne, die „selbst in voller Wirklichkeit an ihrer eigenen Stelle strahlt“ (516 b). Man kann hier eine ontologische Hierarchie von Seinsschichten erkennen, die stetig und sukzessiv an Wahrheit, Seiendheit und Vollkommenheit zunehmen. Aus epistemologischer Perspektive gewinnt der Philosoph bei seinem Aufstieg zunehmend an Erkenntnis. Erkenntnisgewinnung und ontologische Hierarchie stehen hier parallel zueinander. Hand in Hand damit gehen seine Handlungen und Einstellungen, die sich durch die Idee des Guten leiten lassen. Diese wachsen und erlauben eine ethische Betrachtungsweise. Durch die den Philosophen begleitende dialektische paideia verschwinden die falschen Meinungen und die Polis wird Resultat seiner Erkenntnis. Der Philosoph erreicht durch den langwierigen Aufstieg zur Erkenntnis des Guten die Exzellenz und wird Teil der nur aus Wenigen bestehenden Elite. Die alten und geläufigen Meinungen wurden komplett aufgehoben, der Charakter und die Lebensweise verändert. Dies geschah durchaus durch einen qualitativen Sprung: vom Sinnlichen oder Empirischen zum Übersinnlichen und Geistigen. Die Methode, die zur philosophischen Erkenntnis führt, bezeichnet Platon als Dialektik und kennzeichnet den Aufstieg zur Idee des Guten ( vom Bereich der doxa zur episteme) und den darauf folgenden Abstieg zur Meinungswelt, um die Erkenntnis mitzuteilen. Die Dialektik geht aus von einer sokratischen Frage (z.B. Was ist Gerechtigkeit?) und gelangt über wiederholte Prüfung und Widerlegung der Meinung vom bloßen Vermuten und Glauben (eikasia/ pistis). zur Erkenntnis des Nichtwissens (Aporie). Von dort aus kommt man durch Suche nach 17 adäquatem Wissen, durch Nachdenken (dianoia), zur Einsicht (noesis) in die Ideenwelt (cosmos noesis).16 Der Staat wird sich aber nicht verbessern, wenn der Philosoph in der Ideenwelt bei der Idee des Guten verweilt. Genauso widerwillig sein Aufstieg zur Idee des Guten war, genauso widerwillig ist der Abstieg (katabasis), den er aber notwendigerweise zur Verkündung des Guten vornehmen muss. Es gilt nun das Gute im Staat anzuwenden, die Gerechtigkeit unter Leitung der Idee des Guten nützlich und heilsam einzusetzen das Gute, das der Philosoph geschaut hat „in das persönliche und staatliche Leben der Menschen einzupflanzen“ (500d). Der Philosoph wird nun zum Lehrmeister der Tugend und zum Erzieher der Bewohner des Staates. Er kennt das Gute, das Göttliche und Makellose und muss nun so gut wie es geht die Menschen zum Göttlichen wenden. Bevor sie jedoch ihre Herrschaft antreten und das Volk ihre neuen Herrscher akzeptieren können, müssen die Philosophen eine völlige Reinigung (katharsis) im Staat vollziehen. Nur mit einem völligen Neuanfang, ohne jegliche Spur von den Alten Meinungen, kann sich das ideale Gemeinwesen allmählich entwickeln. Das Alte kann nur durch einen vollständigen Bruch, einer vollständigen Reinigung der Seelen, Sitten und der Polis von seinen Vorstellungen ins Neue übergehen. Zunächst muss man sich also um einen neutralen Ausgangspunkt sorgen, die Polis reinigen. Als Nächstes wird dann das Grundgerüst des Idealstaats entworfen, um dann die Idealkonzeption auszuführen mit stetem Blick auf die Ideen, das Gerechte, Schöne und die Besonnenheit, und auf deren Wirkung auf den Menschen. Die paideia des Volkes durch die neuen philosophischen Staatsmänner ist eine langwierige Prozedur und unterliegt ständiger Überprüfung. Es werden nicht einfach Regeln angewandt, sondern das Ideal wird ständig mit der Wirklichkeit verglichen und das Menschenideal neu gefasst. Dabei ist es das Ziel, den menschlichen Charakter so weit wie möglich göttlich zu machen (501c).17 II. Die Problematik der Philosophenherrschaft Das Vorteilhafte an Platon ist wohl, dass er die Problematik seiner Theorie selbst erkannte und kritisch in Frage stellte (490a- 495b): Natürlich ist die Übernahme der Herrschaft durch die Philosophen, der damit verbundene Aufstieg zur Idee des Guten 16 17 Vgl. Ebd., 191, 224- 229. Vgl. Ebd., 229- 234. 18 und der Abstieg zur Meinungsgemeinde nicht so einfach wie es von Platon hier anfangs dargestellt wird. Schon bei einigen einfachen Überlegungen zeigt sich bald die Kehrseite des Abstieges des Philosophen von der Idee des Guten zur Meinungsgemeinde. Der Philosoph hat womöglich mit negativen Reaktionen auf Seiten der Meinungsgemeinde zu rechnen. Er darf nicht erwarten, dass die Meinungsgemeinde die neue Weltanschauung auf Anhieb nachvollziehen kann. Darüber hinaus wird die Verkündung der Idee des Guten wahrscheinlich nicht gerade mit viel Dankbarkeit empfangen, da sie die bisherige Welt der Meinungsgemeinde als Illusion deklariert und in Frage stellt. Die philosophische Existenz ist also in vielerlei Hinsicht nach der katabasis gefährdet. Zunächst hat der Philosoph aber mit größter Wahrscheinlichkeit mit Verspottung durch die Meinungsgemeinde zu rechnen. Nach dem Abstieg von der Idee des Guten erscheint der Philosoph der Meinungsgemeinde natürlich als ein linkischer Weltfremder, der völlig neue und scheinbar unsinnige Weltanschauungen verkündet. Obwohl die Lebensunvertrautheit des Philosophen nach der Sicht der Idee des Guten natürlich nur als verlässliches Anzeichen für seine ungewöhnliche Exzellenz zu verstehen ist (517d-e). Diese Weltfremdheit ist nämlich auf die „LichtDunkeldramatik“ zurückzuführen. Wer aus der Helle (der Ideenwelt) zurück in die Finsternis (der Meinungswelt) kommt, tappt zuerst natürlich im Dustern und hat enorme Schwierigkeiten sich zurecht zu finden, da seine Augen sich an die Dunkelheit noch nicht gewöhnen können. Die Unbeholfenheit des Philosophen ist aber nur ein sicheres Anzeichen dafür, dass er das Gute wirklich geschaut hat und somit eine Auszeichnung für seine Kompetenz.18 Im Gleichnis über das Staatsschiff führt Platon die Illustration über die Verhältnisse im bestehenden Gemeinwesen weiter aus: Die politische Macht liegt in den falschen Händen, die Philosophen, die sich zur Herrschaft eignen würden, werden verspottet und höhnisch als „Schwätzer“ und „Sterngucker“ bezeichnet, falsche Berater umgarnen und becircen die politischen Herrscher und die Menge schließt sich den geläufigen Meinungen an. Es besteht ein scharfer Gegensatz zwischen Realität und Ideal: Im Idealstaat stehen die Philosophen an der Spitze der gesellschaftlichen Ordnung, in der Realität allerdings genießen sie Verruf. Vor diesem Hintergrund der Situation im bestehenden und zu verbessernden Gemeinwesen, dem schlechten Ruf der Philosophen und den Reaktionen auf Seiten der Meinungsgemeinde, kann nun die Möglichkeit in 18 Vgl. Ebd., 206- 209. 19 Hinblick auf die Verwirklichung des Idealstaates mit einem Philosophenkönigtum erörtert werden. Die Menschen können den Wert und den Nutzen von den Philosophen nicht erkennen und somit auch nicht seinen Status anerkennen. So werden sie aber auch nicht zu der Auffassung gelangen, dass die Philosophen herrschen müssen. Darüber hinaus besteht die Meinung, dass außerhalb der Meinungsvielfalt keine Wahrheit existiert und es daher auch keine objektive und allgemeingültige Auffassung der Gerechtigkeit und des Guten geben kann. Die philosophische Erkenntnis ist nur eine Illusion und für die Menge, da sie nicht vernünftig ist, nicht nachvollziehbar. Und da das objektive Orientierungswissen vom Guten und der Gerechtigkeit nach Volksmeinung nicht existiert, sind die geläufigen Meinungen völlig ausreichend und die zur Macht Befähigten kommen nicht an die Herrschaft. Der Philosoph wird in seiner Funktion völlig unbrauchbar, da seine Kompetenz und sein Wert nicht erkannt wird und die Gesellschaft keinen Gebrauch von ihm zu machen weiß. Wenn dies geschieht, wird ihre Machtübernahme und die darauf folgende Umsetzung der Idealstaatskonzeption natürlich höchst unwahrscheinlich.19 Bei der Verleumdung der Philosophen sei aber nach Platon zwischen den gegenwärtigen Machthabern und der Menschenmenge zu unterscheiden (499d). Die wahre Gefahr für die philosophische Existenz geht nicht von der Menge aus, sondern rührt von Seiten der sogenannten Sophisten her. Die Sophisten, in Platons Augen unwahre Philosophen, hielten die Volksmeinung für unhintergehbar und betrieben in politischer Hinsicht eine Art Populismus, da ihre Philosophie nur eine begriffliche Illustration bzw. Adaption der Volksmeinungen war. Sie versuchten in der Assimilation ihrer Theorien an die Meinungen und Empfindungen des Volkes ihren Vorteil zu finden. Platon geht in seiner Sophistenkritik sogar noch einen Schritt weiter und unterstellt den Sophisten Heuchelei, Manipulation und Korruption der Menge. Es ist also nicht die Menge, welche die Philosophie verleumdet, sondern die Sophisten schädigen dem Berufstand der Philosophen und bringen das allgemeine Philosophieverständnis in Verruf. Der Menge wird hierbei eingeredet, dass jenseits der Meinungswelt keine objektive Ideenwelt existiert. Da die „große, buntgemischte, sprunghafte und im höchsten Maße beeinflussbare“ Menge „unmöglich Philosoph sein“ kann (494a), erkennt sie nicht die Wahrheit und stellt sich auf die Seite der Sophisten, welche die Volksmeinungen vertreten. Die wahre Philosophie hingegen soll über die 19 Vgl. Ebd., 203- 206, 219. 20 Volksmeinung hinaus gehen und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen und gerät damit in Konflikt mit der Volksmeinung. Die Sophisten werden alles daran tun, die Menge weiter zu beeinflussen, sie zu erforschen wie ein Tierforscher ein wildes Tier, um sie für die Wahrheit unempfänglich zu machen. Die Sophisten empfinden die philosophische Wahrheit als Bedrohung. Unter ihnen kursiert ein hinreichendes Bewusstsein über die normative Funktion der Ideen, was sich in ihrer Heuchelei bestätigt. Die Sophisten heucheln dem Volk vor, diese bloßen Meinungen seien die Gerechtigkeit an sich und bedrohen den Philosophen, der das Gerechtigkeitswissen proklamiert, das er durch die Erkenntnis des Guten errungen hat. Dies impliziert natürlich auch die Macht der Wahrheit, denn die Ideen sind den Schattenbildern überlegen. Damit die Herrschaft von den Philosophen übernommen werden kann, müssen die korrupten Meinungsbildner, die Sophisten, bekämpft werden. Nur so könnte sich die Menge den Philosophen gegenüber öffnen und all ihre schlechten Meinungen durch die paideia aus ihren Köpfen verbannt werden. Platon hält es für die Philosophen also durchaus für möglich mit der Menge eine ideale politische Gemeinschaft zu bilden.20 Platon sieht die Schwierigkeit allerdings nicht nur in der Selbstbehauptung der wahren Philosophen im bestehenden Gemeinwesen. Damit die Philosophenherrschaft realisierbar wird, müssen sich wahre und herrschaftsfähige Philosophen im Gemeinwesen befinden. Diese fallen aber, wie früher bereits ausgeführt, nicht einfach vom Himmel, sondern müssen sich durch langwierige paideia erst herausbilden. Jetzt ist es natürlich fragwürdig, wie unter den bestehenden Bedingungen überhaupt philosophische Naturen heranwachsen, geschweige denn sich weiter entwickeln können. Die unvernünftige und unphilosophische Menge und die korrupten Sophisten bilden natürlich keinen förderlichen Umgang für das philosophische Gemüt. Das bestehende Gemeinwesen ist im Gegenteil höchst philosophiefeindlich und die gegenwärtigen Verhältnisse erlauben der philosophischen Natur gar keine gedeihliche Entwicklung und Entfaltung. Die Philosophiebegabten würden verderben oder in der Menge untergehen und die Erlösung durch die Philosophenherrschaft rückt damit mehr ins Dunkle. Ein weiterer Aspekt, der gegen die Verwirklichung des Idealstaats spricht, ist die mögliche Korruption philosophischer Naturen durch die Sophisten. Die Entwicklung des philosophischen Gemüts ist ausschließlich von der paideia, der „Seelennahrung“, abhängig. Philosophen sind starke Naturen, aber es bleibt bei ihrer Erziehung offen, in welche Richtung sie ihre Stärke entwickeln (491e). Durch schlechte Erziehung wird aus 20 Vgl. Ebd., 208, 231. 21 einer philosophischen Natur später auch garantiert ein inkompetenter Philosoph. Die Sophisten sehen in den heranwachsenden philosophischen Naturen eine mögliche Gefahr. Sie werden sie also umgarnen, mit Reichtum und Ehre überschütten, so, dass sie an gesellschaftliche Karrieren und materialistisches Erfolgsstreben verloren gehen (495e). Die Philosophie verdirbt und verwaist und wird Unwürdigen ausgeliefert, denn jeder kann sich nun ihrer als höchste aller Künste annehmen (495d-e).21 Bei allem Pessimismus besteht unter ungewöhnlich günstigen Umständen allerdings immer noch Hoffnung auf die Existenz wahrer Philosophen, wenn es sich auch um eine „verschwindend kleine Zahl“ handelt, die sich gegen all diese Widerstände durchsetzen konnte. Doch welche Möglichkeiten bleiben dem wahren Philosophen erhalten? Er könnte sich „glücklich preisen“ und die anderen bemitleiden (518 a-b), indem er sich „über diese kleinen Verhältnisse erhaben fühlt und mit Verachtung darauf (auf das Treiben im bestehen Gemeinwesen) herabblickt“ (496b). Sokrates, selbst ein Beispiel für einen wahren Philosophen, wird von seinem „Daimon“, der inneren „Warnerstimme“ zurückgehalten, sich der Politik oder gar der Herrschaft zu bemächtigen. Es sind insgesamt zu wenig wahre Philosophen. Daher werden sie die Dinge nicht ändern können. Sie sind ohnmächtig in ihrer Situation und erkennen die Aussichtslosigkeit der Herrschaft der wahrhaften Gerechtigkeit. Sie leben im bestehenden Gemeinwesen wie in einem Haifischbecken und können nichts Sinnvolles erreichen (496b). Sie können nur versuchen, die Reinheit ihrer Seele zu bewahren, sich ins Private zurückziehen und sich ihrer Unsterblichkeit erfreuen. Dabei können sie weiter philosophieren und wie Sokrates auf ein Wunder hoffen. Doch sie laufen Gefahr, die Philosophie gänzlich aufzugeben und ins Schweigen zu verfallen. 22 D. Schlussbetrachtung: Der Idealstaat-eine „konservative Utopie“? Die Verbesserung der bestehenden Verhältnisse ist wahrscheinlich nur durch eine externe, göttliche Beihilfe, eine „schicksalhafte Notwendigkeit“ (499b), möglich. Womöglich könnte erst ein „glücklicher Zufall“ (495b) die Zustände verändern, denn das Volk, aber auch der Philosoph selbst müssen es für nötig halten, die Philosophenherrschaft zu errichten. Die Gerechtigkeit gelangt durch das Individuum in die Polis, aber wie kommt die Gerechtigkeit ohne die fachmännische Erziehung des 21 22 Vgl. Ebd., 207- 209. Vgl. Ebd., 210- 211. 22 Philosophen ins Individuum? Die Verwirklichung der Theorie des Idealstaates ist zwar prinzipiell möglich, aber die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse müssten sich schon ein stückweit verbessert haben, das Volk müsste schon Empfänglichkeit für die philosophische Weisung zeigen. Das hieße, dass die philosophische Natur eine philosophenfreundliche Verfassung, also ihr günstige Verhältnisse braucht. Man würde hier schon von einem im Prinzip gereinigten Staat sprechen, den es laut Sokrates aber unter keiner bestehenden Verfassung gibt (497b-c). Die Vorraussetzung für die Einleitung der katharsis oder einer politisch gerechten Verfassung ist die Herrschaft der Philosophen, da nur die Philosophen die Idee des Guten schauen können und danach die Ordnung herstellen können. Für die Übernahme der Herrschaft durch die Philosophen bräuchte man aber ja schon herrschaftswürdige Philosophen und ein Volk, das sich ihnen öffnet. Damit sich herrschaftswürdige Philosophen entwickeln können, müsste aber in der Gesellschaft eine größere Wertschätzung für Philosophen herrschen etc. Allgemeine Einsichtigkeit und wirksame Gerechtigkeit müssten schon vor Beginn der Philosophenherrschaft präsent sein. Die Theorie gerät hier also in enorme Schwierigkeiten und eine Verwirklichung scheint unmöglich zu sein. Platons Ausführungen sind vielleicht doch eher märchenhafte, realitätsferne Erfindungen und Gedankenkonstrukte, die man sich allenfalls zum Idol, entweder als politisches oder philosophisches Richtbild, nehmen kann, aber niemals so realistisch betrachten könnte wie Platon sie beschreibt. Die Politeia bietet zwar eine ideale Skizze für die späteren Werke, aber die Realisierbarkeit wird von Platon stark vernachlässigt. Man kann sich nur auf eine annähernde Verwirklichung einlassen. Der Idealstaat und die dazugehörigen Gerechtigkeitsparadigmen des Staates und der Seele bilden eine Norm für die Wirklichkeit und eine Skizze für weitere Staatsentwürfe. Das heißt zum einen natürlich, dass sich daraus ebenfalls die Qualität der Wirklichkeit bestimmt, aber auf der anderen Seite muss man sich freilich vor Augen halten, dass ein Ideal niemals völlig realisierbar sein kann und wie viel man von der Verwirklichung des Idealstaats überhaupt erwarten kann. Man nimmt jedoch an, dass Platon selbst seinen Idealstaat für politisch realisierbar hielt, was sich in seinen Sizilienreisen und genauer im VII. Platonischen Brief andeutet. Um 388 knüpfte Platon erste Verbindungen mit Dionysios I., dem damaligen Tyrannen von Syrakus auf Sizilien, überwarf sich jedoch ziemlich schnell mit ihm. Allerdings schloss er Freundschaft mit Dion, dem Schwager und Schwiegersohn des Dionysios I. Um ca. 387 kehrte er zurück nach Athen und eröffnete seine Akademie, die erste Athener 23 Philosophenschule und bedeutendste Eliteuniversität der antiken Welt. Er unternahm eine zweite Reise nach Sizilien, welche in Reaktion auf eine Einladung des Tyrannen Dionysios II. erfolgte. Es wird angenommen, dass Platon hoffte, den Machthaber für sich gewinnen zu können, aber sie kamen zu keinem Kompromiss und sein Versuch scheiterte. Daraufhin verfasste er die Nomoi, sein letztes Werk. Die Nomoi entstanden noch vor 347 und folgen Ansätzen des Politikos („Der Staatsmann“), in dem das Konzept des Philosophenherrschers noch einmal anklingt und in seinen leitenden Grundüberzeugungen vergleichbar mit der Politeia ist. Hier wird die Herrschaft genauso an Normwissen gebunden, aber anders als in der Polieia wird hier der Aspekt der politischen Wirklichkeit in Betracht gezogen und wirkt daher realitätsnäher. Die Nomoi (wahrscheinlich „Gesetze“) stellen einen fiktiven und ausführlichen Entwurf eines Gesetzbuches für eine neu zu gründende Stadt in Kreta dar. Hier tritt nun anstelle des Philosophenkönigtums ein Gesetzesstaat. Der Versuch ist weniger radikal und totalitär als in der Politeia, ist aber wohl auch nur als Ideal gedacht. Und auch hier zeigt sich wie im Politikos und entgegen der Politeia ein praxisbezogener Inhalt. Es ist ähnlich wie im Politikos kaum ein Bruch in Platons Denken zu erkennen, aber auch die Nomoi sind wesentlich realitätsnäher als die Politeia. Viele von den radikalen und überspannten Meinungen wurden hier zurückgenommen. Der zweite Staatsentwurf ist theorieferner und praxisnäher und fordert bei seinen Bewohnern nicht soviel Opferbereitschaft wie in der Politeia..23 23 Vgl. Erler: Platon/1999, 1182- 1183, 1189- 1190; Von Fritz: Platon in Sizilien/ 1968. 24 Literaturverzeichnis Quelle: Platon: Politeia. Über das Gerechte ( Buch II- VII). In: Sämtliche Werke Bd.2 (Rowohlts Enzyklopädie). Hrsg. U. Wolf . Übersetzt von F. Schleiermacher. Reinbek/ Hamburg 1994. Darstellungen: Bormann, Karl: Platon (Kolleg Philosophie). Freiburg/ Breisgau 2003, 140-179. Erler, Michael: Platon. In: Großes Werklexikon der Philosophie (Bd. 2.), Hrsg. F. Volpi. Stuttgart 1999, 1182- 1183, 1189- 1190. Goldschmidt, Werner: Staat/Staatsformen. In: Enzyklopädie Philosophie (Bd.2), Hrsg. H.J. Sandkühler. Hamburg 1999, 1508-1539. Höffe, Otfried: Zur Analogie von Individuum und Polis (Buch II 367e- 374d). In: Platon, Politeia.(Klassiker Auslegen), Hrsg. O. Höffe. Berlin 1997, 69- 93. Fritz, Kurt von: Platon in Sizilien und das Problem der Philosophenherrschaft. Berlin 1968, 5-63. Kersting, Wolfgang: Platons „Staat“ (Werkinterpretationen). Darmstadt 1999, 83- 101 u. 133- 169. Silnizki, Michael: Staat. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie (Bd.10), Hrsg. J. Ritter und K. Gründer. Basel 1998, 1-51. Suhr, Martin: Platon (Campus Einführungen). Hrsg. T. Bonacker und H.-M. Lohmann. Frankfurt/ Main 2001, 25- 31 u. 123-171. 25