Paris / Ile de France 2001

Transcrição

Paris / Ile de France 2001
Paris / Ile de France – im Mai 2001
La France en direct
Garde Républicaine – Bibliothèque Nationale
Literatur – Presse – Theater
Konzert – Ausstel
Ausstellung
5. Bericht über eine Studienfahrt
14. – 17. Mai 2001
Gerhard-Mercator-Universität Duisburg
Fachbereich - 3 - Sprach- und Literaturwissenschaften
Romanistik
Geibelstr. 41 • D-47048 Duisburg
e-Mail: [email protected]
http://www.uni-duisburg.de/FB3/ROMANISTIK/PERSONAL/Fricke/home.html
2
Paris / Ile de France – im Mai 2001
Inhalt
Dietmar Fricke: Zum Geleit...........................................S. 3
Willi König: Eine Studienfahrt nach Paris......................S. 5
Eric Poeira: Zu Gast bei der Garde Républicaine ...... S. 8
Andrea Engeholm: Ein Besuch beim Nouvel
Observteur..........................................................S. 14
Eric Poeira: Ein Besuch bei Express...........................S. 17
Andrea Engeholm: BnF Site Richelieu: Besichtigung
und Ausstellung: Contes de fées......................... S. 21
Simone Schulte: BnF Site François Mitterrand:
Besichtigung und Ausstellung: Brouillons
d’écriture ...........................................................S. 26
Simone Schulte: Une soirée théâtrale :
Molières L’Avare im Théâtre de l’Odéon………….S. 30
Dietmar Fricke: Zu Besuch bei Patricia
Chauvin-Glonneau in Montmagny........................S. 33
Dietmar Fricke: Zu Besuch bei Didier Daninckx
in Aubervilliers....................................................S. 37
Nachwort.... ..............................................................S. 43
Paris / Ile de France – im Mai 2001
3
Zum Geleit
Sehr verehrte Leserin, sehr geehrter Leser,
S
ie halten den nunmehr fünften Bericht
Bericht zu einer Exkursion nach
Paris und in die Ile de France in Händen. Sie mögen ge
geneigt
sein, diese Unternehmungen als eine längst eingefahre
eingefahrene
Routine zu bewerten. Dem ist nicht so, ein Vergleich mit ver
vergangangenen Broschüren der vergangenen Jahre würde es bele
belegen. ZuZugegeben: bestimmte Rahmenbedingungen, die sich im Lauf der
Zeit ergeben und bewährt haben, verleihen einer sol
sol chen StuStudienfahrt, bei der, wie man sich leicht vorstellen kann, viele FaktoFaktoren und Unwägbarkeiten zusammenkommen, eine organisatoriorganisatorische Grund
Grund lage, die in Vorbereitung und Durchführung manches
erleich
erleich tert.
Das gilt beispielsweise für die Betreuung der jeweiligen Gruppe im Hôtel Merryl, im 18. Arrondissement gelegen, in der günstigen Nähe zum Gare du Nord.
Kompetent und liebenswürdig werden wir dort vor allem von Antje Sudowe
betreut. Als Rezeptionistin, polyvalent und polyglott – schließlich hat sie bei
uns vor einigen Jahren studiert – , versteht sie es jedes Mal, der Gruppe ein
Gefühl persönlicher Betreuung zu verleihen: so verwandelt sie die zwei Sterne in viele weitere. Dass sie uns im übrigen faire Preise macht, sei angesichts
der knappen Zuschüsse, die für eine solche Studienfahrt bereit stehen können, lobend in Erinnerung gerufen.
Aber jede Reise bildet, wie die vorangehenden Berichte darlegen, ein jeweils
neues Abenteuer. Es sind nicht immer die gleichen Theaterstücke, die wir uns
ansehen (s. entsprechende Berichte), es sind nicht immer die gleichen Autoren, die wir besuchen; obwohl das erneute Treffen mit Didier Daeninckx seiner Person und seinem Werk gänzlich neue Einblicke verlieh. Und jeder neue
Autor bzw. jede neue Autorin, die bereit ist, eine unbekannte Gruppe zu empfangen, bietet immer erneut unschätzbare Einblicke, vor allem in die gegenwärtige französische Literatur. So auch diesmal bei und mit Patricia ChauvinGlonneau, die uns in Montmagny zu einer faszinierenden Diskussion über ihr
Werk einlud.
Neu waren auch die Erfahrungen mit den beiden Wochenzeitungen, diesmal
mit Le Nouvel Observateur und L’Express. Unterhaltungen mit leitenden
Journalisten bzw. Journalistinnen, hier mit Mme Dominique Lagarde, vermögen Einblicke in das Land der Medien zu gewähren, die anders kaum möglich
sein dürften. Ein absolutes Novum endlich war der Informations- und Konzertbesuch bei der Garde Républicaine –welch liebenswürdiger Empfang in
einer uns fremden Institution!
4
Paris / Ile de France – im Mai 2001
Verläßlich und immer bereichernd sind die universitären Kontakte vor Ort,
hier mit der Université Nanterre Paris-X. Dieser ERASMUS-Partnerschaft sind
längst viele Freundschaften erwachsen; letztes Jahr hat uns Christiane Guillard in der Cellule Nouvelles Technologies empfangen; diesmal sind wir von
Catherine Dejeumont, Germanistin an der Universität Nanterre, direkt in Paris
kollegial und aufmerksam betreut worden.
Einer Pilgerfahrt gleich kommen auch die Besuche der Bibliothèque Nationale, die sich bekanntlich seit 1994 in zwei sites aufgeteilt hat, rue Richelieu
bzw. Tolbiac. An beiden Standorten konnten wir uns auch dieses Jahr einmalige und unwiederholbare Ausstellungen ansehen. Doch wären wir nur bessere Touristen, erführen wir vor Ort nicht eine Betreuung und Führung besonderer Art. Wie auch in der Vergangenheit stand uns Françoise Karro, conservateur-en-chef, einen Vormittag zur Verfügung, um uns unermüdlich mit ihrer
hohen Kompetenz in die Feinheiten der Ausstellung Brouillons d’écrivains einzuführen.
So gilt allen, die zum Gelingen dieser Reisen beigetragen haben, unser Dank.
Dieser gilt es auch der Gruppe abzustatten, war sie doch immer pünktlich,
aufgeschlossen und engagiert bei der Sache. Endlich gilt unser Dank dem
hiesigen Fachbereich 3, der durch sein finanzielles Engagement in all den
Jahren auch diese Studienfahrt wieder ermöglicht hat.
Dietmar Fricke
Frühstück im Hôtel Merryl, serviert von Antje Sudowe (links)
Paris / Ile de France – im Mai 2001
5
Meine erste Studienfahrt nach Paris
B
ei der Exkursion nach Paris, dem Herzen Frankreichs, hat
hatten
wir die Gelegenheit, von Montag, dem 14., bis Donnerstag,
dem 17. Mai, ein wenig von Paris und seinen Menschen kenkennenzu
nenzu lernen. Es ist erstaunlich,
erstaunlich, wie diese Stadt den Besucher in
ihren Bann zieht. Es sind aber nicht nur die berühmten Ge
Gebäude
oder Boulevards oder gar das hektische Treiben in der Metro. Die
Menschen sind es, die durch ihre unterschiedliche Herkunft der
Stadt ihre bunte Vielfalt verleihen
verleihen und Paris zu dieser brodeln
brodelnden,
aber liebenswerten Stadt machen. – Jetzt zur Arbeit, denn wir wawaren nicht nur zum Vergnügen dort.
Zunächst noch ein Wort in eigener Sache. Mir wurde der erste Stimmungsbericht übertragen, weil ich der Nestor der kleinen Studentengruppe war. Ich
habe bereits ein Arbeitsleben hinter mir, bin aus einem großen Stahlunternehmen meiner Heimatstadt ausgeschieden, in Rente gegangen, und mit 61
Jahren habe ich ein Studium begonnen. Meine Kinder sind groß, und das "Bafög " bekomme ich von der BfA. Jetzt studiere ich Romanistik, es ist nicht
leicht, aber die Freude daran fördert mein Bemühen. Die Begeisterung über
Land und Leute hat nach der Studienfahrt den Wunsch in mir wachsen lassen,
einmal eine längere Zeit in diesem Land zu verbringen. – Nun zu meinem Bericht.
Die Führung durch das Verlagshaus des Nouvel Observateur, direkt neben
der Börse gelegen, war schon beeindruckend (Andrea Engeholm berichtet
darüber). Noch mehr Einblick in die Arbeit der Journalisten wurde uns im Express gewährt. Madame Lagarde berichtete uns ausführlich von ihrer Arbeit
6
Paris / Ile de France – im Mai 2001
und ihren Recherchen (Genaueres im Bericht von Eric Poeira). Wir konnten
aber auch etwas von der Hektik des Zeitungsmachens mitbekommen, weil
immer wieder jemand mit einer Druckfahne erschien und ein O. K. oder eine
kurze Anmerkung zu einer Änderung durch Madame Lagarde bekommen
wollte.
Dann die Ausstellungen: Wir hatten das Glück, dass es in der Bibliothèque
National de France eine Präsentation der Konzepte berühmter Autoren in teils
dicken Kladden oder losen Blättern gab. Worte, Sätze, geschrieben und wieder gestrichen, mit Anmerkungen versehen, neu geschrieben und manchmal
mit kleinen Zeichnungen versehen. Man spürte die lebendige Auseinandersetzung der Autoren mit dem Stoff , der aufs Papier gebracht werden wollte.
Dann eine bekannte Passage – bekannt, weil man das Buch schon gelesen
hatte; Simone Schulte hat genauer hingeschaut.
Eine ganz andere Ausstellung war die Präsentation alter Märchenbücher in
der Galerie Mansart in der alten Nationalbibliothek. “ Es war einmal “– « Il
était une fois » heißt es auch in Frankreich. Es war schön, sich an die “Märchenzeit“ zu erinnern, als man noch an Feen glauben durfte. Andrea Engeholm ist dem nachgegangen.
Zurück in die Neuzeit führte uns der Weg zu Madame Chauvin-Glonneau, die
uns in ihrem Haus in Montmagny empfing. Sie schreibt Novellen und Gedichte. Dietmar Fricke erläutert die näheren Umstände.
Dann war Krimizeit angesagt. Den Autor Didier Daeninckx trafen wir in seinem Arbeitszimmer in Aubervilliers. Er erläuterte uns seine Arbeitsweise, wo
er seine Schwerpunkte setzt und wie er die Geschichten findet. Bei der anschließenden Autogrammstunde – wir hatten natürlich einige Exemplare seiner Bücher zum Signieren mitgebracht – stellte er in lockerem Gespräch fest,
dass er nichts dagegen hätte, wenn sogar Gedichte von Jacques Prévert in
der Rap-Musik eingesetzt würden. Zum Interview s. die Zusammenfassung
von Dietmar Fricke.
Im altehrwürdigen Odéon-Theater, erbaut 1782, sahen wir L’Avare von Molière. Schauspielkunst gehört nicht umsonst zu den schönen Künsten. Das Publikum dankte mit stürmischem Beifall; s. dazu die ausführliche Würdigung von
Simone Schulte.
Zum traditionellen Teil von Paris gehört auch die Garde Républicaine, die wir
ausgiebig kennenlernen konnten. Die Führung begann im eigenen Museum
und endete in den Pferdeställen. Der absolute Höhepunkt war jedoch das
große Konzert, das nur einmal im Jahr in der großen Manege stattfindet. Sie
glänzte wie ein großer Konzertsaal und wir durften teilnehmen. Es war grandios! Zum Programm finden Sie Genaueres bei Eric Poeira.
An einem Abend konnten wir es sogar einrichten, bei Dunkelheit die Stadt zu
bewundern. Die historischen Gebäude waren angestrahlt, und in der Ferne
konnten wir jeweils zur vollen Stunde den Eiffelturm als eine riesige Wunderkerze bestaunen. Es sah aus, als wäre er minutenlang mit einem ZauberGlitzermantel eingehüllt.
Paris / Ile de France – im Mai 2001
7
Dass es uns möglich war, solche lehr- und erlebnisreichen Tage zu verbringen, war nur möglich durch die enorme Vorbereitung durch Herrn Fricke.
Einmal dafür, für die ausgezeichnete Führung und für das Gefühl, gut aufgehoben gewesen zu sein, möchten wir ihm ganz herzlich danken.
Willi König
Andrea – wehmütig vor der Abreise...
8
Paris / Ile de France – im Mai 2001
Zu Gast bei der Garde Républicaine
D
ie diesjährige, von Herrn Fricke veranstaltete Exkursion nach
P aris, sollte uns eine Facette der Stadt Paris erschließen, die
sehr beeindruckend wirkte und den wenigsten zu
zugänglich ist.
Es han
han delt sich um das Quartier der Garde
Garde Républicaine auf dem
Boulevard Henri IV, welches auch ’Quartier des Célestins’ gegenannt wird. Die sehr imposante Fassade ließ nicht auf den ersten
Blick auf das schließen, was sich dahin
dahin ter verbarg. Ur
Ursprünglich
zwischen 18901890-1901 als Kloster konzipiert, ist das Quartier inzwiinzwischen mit all dem ausgestat
ausgestat tet, was ein Liebhaber des Reit
Reitsports
sich nur wünschen kann. Eine kleine Pferdebahn, eine Reit
Reit halle,
eine eigens für die Pferde der Garde Républicaine zur Ver
Verfügung
stehende medizinische Station mit PferdePferde-OP und einer HufHufschmiede.
Nach unserem Eintreffen wurde uns zunächst die Besichtigung eines kleinen
Museums dargeboten. Diese eindrucksvolle Führung besorgte der Maréchal
des logis-chef M. Govin. So erfuhren wir, dass in dieser Ausstellung die Genese der Garde Républicaine vom Mittelalter bis zum heutigen Tag dargestellt
ist, eine Entwicklung, die deutlich an den Merkmalen der jeweiligen Uniformen festzumachen ist. Während des Gangs durch das kleine Museum lernen
wir auch, dass die Garde Républicaine zunächst in Paris zum Einsatz kommt.
Paris / Ile de France – im Mai 2001
9
Wenn das Corps dieser Truppe, früher Garde Nationale, im zweiten Weltkrieg
noch kämpfte und an Missionen in Indochina teilnahm, so sind heute die Aufgaben, die von der Garde Républicaine wahrgenommen werden, eher auf Paris beschränkt und von repräsentativem Charakter. Zu deren Aufgaben zählen heute etwa Missionen zum Schutz und zur Ehre der Institutionen der Republik und der Politiker, in Form von Paraden und Eskorten . Auf Anordnung
des Verteidigungsministers kann die Garde Républicaine jedoch im Kampf
gegen Ausschreitungen und bei sonstigen Verstöße gegen die öffentliche
Ordnung in der Stadt Paris eingesetzt werden.
Nach der Besichtigung des Museums der Garde Républicaine machten wir
uns auf den Weg die Installationen des Quartiers zu besichtigen.
10
Paris / Ile de France – im Mai 2001
Auffallend ist die Anordnung des Gebäudes selbst. Obwohl es einem nicht sofort bewusst wird, ist das Gebäude in seiner Form wie ein Pfeil angelegt; die
Luftaufnahme zeigt dies eindeutig. Jedoch sind die Gründe für diese Ausrichtung des früheren Klosters nicht bekannt. Das Quartier beherbergt Offiziere
der Garde Républicaine und, was im Herzen Paris einem unglaublich vorkommt, etwa 200 Pferde.
Nach eine Besichtigung der Ställe bewegten wir uns auf die Reithalle zu, deren Boden mit Holztafeln bedeckt wurden, im Hinblick auf das Konzert, das
dort stattfinden sollte und welches wir miterleben durften.
Die medizinische Station war unser nächstes Ziel. Dort trafen wir ein Team
von drei Ärzten, die uns am OP-Tisch einige Probleme bei der Behandlung der
Pferde, die sich aus deren Gewicht ergeben, erläuterten. Die nächste Station
unseren Rundgangs im Quartier des Célestins war die Hufschmiede. Diese
stellt neben der Sattlerarbeit und der Waffenschmiede, in welcher jedoch vor
allem Helme hergestellt werden, während Waffen dort lediglich instandgebracht werden, den Stolz der Garde Républicaine. Dies nicht zuletzt deswegen, weil es sich um Handwerksarbeit handelt, für deren Erhalt und Weiterleben diese militärische Einrichtung sorgt.
Paris / Ile de France – im Mai 2001
11
Die Werkstatt, in welcher die Sättel hergesellt werden, und die Waffenschmiede bekamen wir nicht zu besichtigen. Die Hufschmiede ist mit zwei
Gesellen und drei Lehrlingen ein Ort, an dem ständig Bewegung herrscht.
Nicht zuletzt deshalb, weil die Hufe eines Pferdes etwa alle 40 Tage neu beschlagen werden müssen – was dann allein für 200 Pferde das Herstellen von
etwa 8000 Hufen im Jahr erfordert.
Gekrönt wurde unser Besuch bei der Hufschmiede mit der Vorführung des
Schmiedens eines Hufes. Ausgehend vom «lopin», d.h. von dem Eisenstück,
aus dem der Huf geformt wird, zeigte uns ein Lehrling, wie ein Hufeisen geformt wird. Unser Besuch war für diesen Tag beendet. An dieser Stelle geht
unser großer Dank an M. Govin und an den Brigadier-chef Bailly, die uns
durch die weitläufigen Anlagen geführt und uns mit vielen instruktiven Details
bereichert hatten.
Zwei Tage später sollten wir aber dorthin zurückkehren, nicht um vernommen
zu werden, sondern um ein Konzert der besonderen Klasse erleben zu dürfen, „Le Concert de la Gendarmerie Nationale“. Inzwischen war die Reithalle
komplett mit Holztafeln abbedeckt, Stühle füllten die Halle, eine Bühne war
aufgebaut, und als fast alle Plätze belegt waren, begannen zwei Gruppen von
Horn- und Blechbläsern das Publikum „aufzuwärmen“ !
12
Paris / Ile de France – im Mai 2001
Es hat gewirkt, denn ein Piepsen ist in meinen Ohren als Überbleibsel geblieben. Das Zusammentreffen in der Reithalle sollte noch zwei Mal stattfinden.
Der Abend, an welchem unsere Gruppe dabei war, wurde, „la journée des familles“ benannt. D. h. Offiziere und ihre Familien durften das festliche Konzert
ohne Gala genießen. Die beiden weiteren Vorstellungen waren einem anderen
Publikum vorbehalten, welches aus Prominenz und amtierenden Politikern
bestehen würde.
Endlich ergriff Monsieur le Général Prigent das Wort, um die Programmpunkte des Konzertes kurz zu erläutern. Das Orchester unter der Leitung des Lieutenant-colonel François Boulanger sollte folgende Werke zu Gehör bringen:
Die Carmina burana von Carl Orff; das Concerto pour orgue, orchestre à cordes et timbales von Francis Poulenc, die Ouverture solennelle 1812 von
Tschaikowsky. Bei der Vorstellung wies der Redner vor allem auf eine Komposition hin, bei der man sicherlich Schwierigkeiten haben würde, ruhig auf
dem Stuhl sitzen zu können. Ich wollte laut lachen, da der Anfang mir eher das
Gefühl gab, ich würde mich nicht mehr von dem Stuhl trennen können, auf
dem ich saß. Jedoch es kam alles anders, als ich es mir vorstellte. Das „Concerto pour Marimba“ von Paul Creston erklang, und man hatte nicht das Gefühl, ein Konzert der „Orchestre symphonique et Chœur de L’armée Française“ zu erleben, sondern ein erstklassiges Orchesterkonzert. Mich beeindruckte tatsächlich, wie in der Rede angekündigt, vor allem das schon genannte Solo für Marimbaphon, bei der Jean-Francois Durez dieses Instrument
derart inspiriert spielte, dass ich fast hätte sagen können, dass es eine Art
Groove sich in die Halle geschlichen hätte.
Paris / Ile de France – im Mai 2001
13
Ja, und das war’s bei der Garde Républicaine. Hier sei den Herren, die uns so
geduldig und aufmerksam, kompetent und liebenswürdig in ihre Welt eingeführt haben, herzlich gedankt. Dieser Dank gilt vor allem dem Major Bernard
Beriot, der die beiden Besuche so sorgfältig vorbereitet, betreut und zum guten Abschluß geführt hatte.
Eric Poeira
PS: à l’attention de M. Bernard Beriot, Major
J’en profite, cher Bernard, pour vour remercier, de cette façon, de l’accueil
amical et chaleureux que vous, vos collègues et vos amis ont su nous réserver.
Veuillez leur transmettre tous nos remerciements.
Dietmar
Hierbei handelt es sich nur um ein privates Vorkonzert, um die Allan-Orgel in
der Reithalle zu testen.
14
Paris / Ile de France – im Mai 2001
Besuch beim Nouvel Observateur
D
er zweite Tag unserer Parisexkursion stand ganz unter dem
Motto „Zeitungsbesuche“. Zunächst besuchten wir den NouNouvel Observateur – danach stand L’Express auf dem ProProgramm.
Es war, wie schon gesagt, der zweite Tag unserer Fahrt. Die
„Strapazen der Anfahrt“ waren überstanden – wir waren vertraut
mit dem Hotel
Hotel und Umgebung. Nachdem wir uns beim Frühstück
im angenehmen Frühstücksraum (verbunden mit einem PläuschPläuschchen mit Antje Sudowe, einer ehemaligen Studentin der hiesigen
Romanistik, die uns bestens betreute) mit genügend Croissants
gestärkt hat
hat ten, folgten wir
wir Herrn Fricke durch die Irr–
Irr– und
Schleichwege der Katakomben der Me
Metro.
Paris / Ile de France – im Mai 2001
15
Der Nouvel Observateur befindet sich im Bereich der unmittelbaren Stadtmitte, ist im Gegensatz zu L´Express aber nicht durch deutliche Beschriftung im
Eingangsbereich t zu erkennen. Das äußerst seriös wirkende Gebäude, in
dem diese Zeitung beherbergt wird, hätte auch eine Bank oder eine andere
Art soliden Institutes sein können.
Im Erdgeschoss befindet sich eine Art Rezeption, wo wir von Agathe Borni,
einer sehr netten jungen Dame empfangen und anschließend durch die verschiedenen Etagen geführt wurden.
Zunächst einige grundsätzliche Daten über die Zeitung. Das Magazin erscheint wöchentlich – daher hielt sich die Hektik auf den Treppen und Gängen
zwischen den einzelnen Redaktionen für den neutralen Besucher in Grenzen.
Zur Namensgebung: die Zeitung hat bereits mehrere Namensänderungen hinter sich. Von 1950 – 1953 hieß sie Observateur politique, économique et litteraire, von 1953 – 1954 Observateur d´aujourdhui und von 1954 – 1964 France
Observateur. Am 13 April 1950 erschien die erste Ausgabe des Observateur.
Es handelte sich um eine eher bescheidene Ausgabe. Die Seitenzahl betrug
24 Seiten mit eher kleinem Format.
In der heute bekannten Form existiert das Magazin seit 1964. Der damalige
Herausgeber war und ist Jean Daniel. Er arbeitete vorher beim Express (war
aber auch als Korrespondent tätig für New Republic und Le Monde ). Zusammen mit einigen anderen Kollegen wechselte er vom Express zum France Observateur. Vorher hatte er sich aber nicht nur als Journalist, sondern auch als
16
Paris / Ile de France – im Mai 2001
Buchautor einen Namen gemacht. Aus dem krisengeschüttelten France Observateur wurde Le Nouvel Observateur. Finanziert wurde dies von dem
pressebegeisterten Fabrikanten namens Claude Perdriel.
Schon bald wurde der Nouvel Observateur bekannt und beliebt, weil viele Pariser glaubten, „sie gehörten durch den Kauf dieses Magazins dazu – wozu ? –
zu den kultivierten und intelligenten Menschen, die den „Nouvel Obs“ lasen.
Allerdings gab es Anfang der achtziger Jahre eine Krise, die zur Umstrukturierung dieser Zeitung führte. Fast zehn Prozent der Leserschaft gingen verloren und außerdem viele Anzeigenkunden. Diese Alarmzeichen führten zu
Änderungen in Bezug auf Inhalt, personeller Neubesetzung und auch auf die
Form der Zeitung. Josette Jacqueline Benhbrahem, eine in Frankreich sehr
bekannte Journalistin, und andere namhafte Persönlichkeiten wurden Neumitglieder der Redaktion. Ihr Spezialgebiet ist der Vordere Orient.
Auch das Aussehen der Zeitung wurde verändert, indem es mehr dem Stil
amerikanischer Magazine angepasst wurde, was bis heute erhalten blieb. Die
Seiten wurden nun auch in Farbe gedruckt. Die Seitenzahl beträgt in der nationalen Ausgabe seitdem etwa 130 Seiten; die internationale Version fällt wesentlich schmäler aus; dort fehlt u. a. aus Gewichtsgründen weitestgehend
die Werbung, das TV-Programm und sonstige nur vor Ort interessante Dokumentationen.
Nach wie vor vertritt die Zeitung einen klaren Meinungsjournalismus; man
sagt wohl zu Recht, dass sie von der politischen Richtung her der Parti Socialiste sehr nahesteht.
So, nun habt Ihr Informationen bekommen, um was für eine Zeitung es sich
beim Novel Observateur handelt. Wenn Ihr wissen wollt, wie es beim Express
zugeht - tja dann solltet Ihr den Bericht von Eric Poeira lesen. Viel Spass dabei.
Andrea Engeholm
Paris / Ile de France – im Mai 2001
17
Ein Besuch beim L’Express
A
m zweiten Tag unserer diesjährigen Exkursion ging es zur 17,
rue de l’Arrivée, im Pariser Stadtteil Montparnasse. Dort bebefinden sich auf der vierten Etage
Etage eines Hochhauses die redakredaktionellen Räumlichkeiten des Express.
Express. Mme Dominique La
Lagarde,
die uns einen Intewiew gewähren würde, emp
emp fing uns und nahm
uns zunächst auf einen kleinen Rundgang durch die Redakti
Redakti on.
Mit der brummenden Klimaanlage im Hintergrund wurden uns die verschiedenen Teilredaktionen gezeigt, die aufgrund großer Scheiben gut ausgeleuchtet waren, ohne jedoch auf die erwartungsgemäße Neon-Beleuchtung zu
verzichten und die für Menschen, die an Klaustrophobie leiden, nicht gerade
geeignet sind. Wir bekamen auch das Archiv zu sehen, einen Raum mit vielen
Mappen, die in Regalen in einer bestimmten Weise angeordnet waren, die
wegen der relativen Größe der Schilder an den Regalen, welche wir von außen durch das Fenster nicht lesen konnten, für uns nicht nachvollziehbar waren.
18
Paris / Ile de France – im Mai 2001
Schließlich begaben wir uns an einem der wichtigsten Orte der Redaktion, in
die Kaffee-Nische. Man spürte regelrecht, wie man plötzlich an dieser kleinen
Ecke entspannter und vertrauter wurde, der Espresso schaffte menschliche
Nähe.
Nach dieser Besichtigung gingen wir dann in das Büro des Chefredakteurs
und hier setzte das länger als eine Stunde dauernde Gespräch ein.
Mme Lagarde gab uns zunächst eine Übersicht zu den verschiedenen Auflagen des Express. Auffallend waren die vielen unterschiedlichen Titelseiten
einer einzigen wöchentlichen Auflage. Dominique Lagarde erläuterte uns die
Strategie, die hinter diesem Sachverhalt steckt. Es sei nämlich oberstes Ziel
eines Unternehmens, damit dieser Zeitung, soviel wie nur möglich zu verkaufen. Die Titelseite ließe sich dann als geeignetes Instrument nutzen, um die
Auflage zu erhöhen. Statistisch sei, ihr zufolge, es möglich, herauszufinden,
welche Themen in welchen Gebieten zu einer Höchstzahl verkaufter Exemplare führen. Die Instrumentalisation der Titelseiten zu Verkaufszwecken wird
«politique de diversification des unes» genannt. Somit haben wir für die Leser
in Paris eine Titelseite, die das Interesse der Pariser erwecken soll, L’Express
zu kaufen; im Norden aber eine andere, die auf die Interessen der Bevölkerung des Nordens zugeschnitten ist; für das Ausland werden entsprechende
Strategien eingesetzt, beispielsweise in den arabischen Ländern, für die im
übrigen unsere Gesprächspartnerin Spezialistin ist.
Dies Erwecken des Interesses kann auf drei Wegen erfolgen:
1. Die Titelseite wird so geändert, dass Themen in verschiedenen Regionen einen unterschiedlichen Stellenwert erhalten, ohne an den Artikeln
selbst Änderungen vorzunehmen;
Paris / Ile de France – im Mai 2001
19
2. Die auf der Titelseite vorkommenden Themen, die keine Relevanz für
eine bestimmte Region zeigen, werden in gekürzter Form veröffentlicht;
3. Erstellen einer Titelseite mit Themen, die nach statistischen Erkenntnissen in einer bestimmten Region zu mehr verkauften Exemplare führen, z.B. das Thema des Abnehmens in einer bestimmten Woche des
Sommers in den Départements des Südens Frankreichs!
Der lezte dieser drei Wege wird auch «politique de coup» genannt, welche als
Instrument dafür eingesetzt werden kann, den Verkaufsdurchschnitt zu halten. Wobei man sich die Frage stellen könnte, ob der Informationsgehalt einer
solchen Auflage noch auf einem angemessenem Niveau liegt, da nicht wegen
der politischen Analyse, sondern wegen des neuesten Berichtes zum Trendsetting gekauft wird... Na ja!
Nach dieser erläuternden Einführung in das Konzept des Express wollten wir
über die politische Ausrichtung des Express kundig werden. Man hätte denken können, der Express sei schon immer liberal eingestellt und «de droite»
gewesen. Tatsächlich ist L’Express von der Bewegung für die Unabhängigkeit
Algeriens hervorgegangen. Zuerst als Beilage zu einer Wirtschaftszeitung,
wurde er dann das erste französische „News-Magazine“. Nach der Zeit des
Wirbels um die Unabhängigkeit der französischen Kolonien in Nord-Afrika,
begleitet durch Veränderungen der französischen politischen Landschaft,
nahm L’Express eine eher christlich-demokratische Haltung ein, welche in
«centre-droite» oder «centre-gauche» endete, d.h. in einem «centrisme européen», wie Mme Lagarde es bezeichnet und sich somit der heutigen politischen Ausrichtung des versteckten ultra-liberalen Gedankenguts bekennt.
Und dies nicht zuletzt deshalb, weil L’Express zu Vivendi gehört, das Unternehmen par excellende, das die heutigen Vorstellungen eines globalen Medienunternehmens vollkommen erfülle...
Nichtdestoweniger ist L’Express bemüht, Kritik auszuüben. Man möchte bei
dieser Wochenzeitung, dass, wenn in der Politik z.B. gesagt wird „es ist alles
gut“, das zeigen, was nicht gut sei, «Mitterrrand, Chirac peu importe». Man
verfolgt beim Express die wichtigsten Grundwerte, diese sind aber von den
Werten des Unternehmens Express zu unterscheiden. Denn es liegt nahe,
dass bei der Auswertung der potentiellen Themen, die in einer jeweiligen Auflage aufgenommen werden sollen, diejenigen ausgewählt werden, die gegenüber der Konkurrenz höhere Verkaufserlöse versprechen und die einen Ausbau der Marktanteile versprechen.
Alles in allem hat uns Mme Dominique Lagarde einen Einblick in die Funktionsweisen eines der führenden Zeitschriften in Frankreich verschafft. Beeindruckend war die Tatsache, dass von einem Träger der Informationsvermittlung, der die kritische Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Gegebenheiten gewährleistet soll, ökonomische Gesichtspunkte in hohem Maße über
rein journalistische gelegt werden. Eins ist sicher, nämlich, wenn gerade die
Wahl eines Präsidenten ansteht, dann kaufe ich bestimmt keine Zeitschrift
oder Zeitung, auf welcher Titelseite steht, „was machen, um nicht alt zu werden“...
20
Paris / Ile de France – im Mai 2001
Dennoch sind wir voller Bewunderung für die Fülle der Informationen, die ungewohnten Einblicke in die Pariser, damit in französische Presseszene, für
die Sprachgewalt einer Intellektuellen. Damit noch einmal: Herzlichen Dank,
Dominique Lagarde, für die Zeit, die Sie uns geschenkt, die Einblicke, die Sie
uns gewährt haben.
Eric Poeira
Ein kleiner Trost für unsere Schreibtische...
Paris / Ile de France – im Mai 2001
21
BnF site Richelieu: Besichtigung und Ausstellung:
C ontes de fées
A
n einem unserer „Ausflugstage“, nämlich an dem Tag, als wir
die
die Zeitungsredaktionen besuchten, hatten wir noch etwas
Zeit übrig und besichtigten eine Ausstellung. Diese trug den
Namen „ Il etait une fois – les contes de fées“. Diese Ausstel
Ausstel lung
gab dem Besucher die Möglichkeit, ei
ei nen Streifzug durch die
FeenFeen- und Märchenwelt
Märchenwelt der verschiedenen Jahrhunderte zu mamachen, von ca. 1550 bis ca. 1994.
Untergebracht war diese Ausstellung in der Alten Nationalbibliothek, rue Richelieu, im 4. Arrondissement, organisiert wurde die sie ebenfalls von der Nationalbibliothek zusammen mit dem «Centre national du livre pour enfants»
und war in den ehrwürdigen Räumen der alten Gebäude vom 20. März bis zum
17. Juni 2001 zu besuchen.
Märchen kann man definieren als phantasiereiche, mit Zaubermotiven ausgestattete Erzählungen, die im Gegensatz zur Sage von konkreten Gegebenheiten der Wirklichkeit unabhängig in einer zeitlosen Welt spielen und keine
Glaubwürdigkeit beanspruchen; das gilt zumindest für die deutschen Märchen aus der Romantik. Eine Fee wird definiert als ein weibliches Zauberwesen der keltischen –romanischen Mythologie; sie lebt in Wäldern auf Bergen
und Wiesen und benutzt ihre übermenschlichen Fähigkeiten zum Vorteil,
manchmal zum Nachteil des Menschen.
22
Paris / Ile de France – im Mai 2001
Was darf man nun unter dem Ausdruck conte de fées verstehen? Dieser Ausdruck bezeichnet eine französische literarische Gattung, die übereinstimmt
mit dem, was die Volkskundler „wunderbare Geschichten“ oder „wunderbare
Märchen“ nennen. Geprägt wird diese Textgattung durch bestimmte charakteristische Strukturen in Bezug auf die Erzählweise. Ein Held oder eine Heldin
als Hauptfigur, die etwas „erlitten“ hat, mehrere Prüfungen bestehen muss,
die oft das bisheriges Leben radikal verändern und zu einem „neuen Leben“ in
anderer sozialer Art führt.
Dornröschen in der Handschrift Perraults
Das deutsche Märchen gewann Anfang des 19. Jahrhunderts seine heute
herrschende Form aus den Kinder und Hausmärchen der Brüder Grimm, die
zugleich Auftakt und Grundlage für die internationale Märchensammlung und
die meist motivgeschichlich später auch tiefenpsychologische Märchenforschung bildeten. Heute allerdings wird die Eignung des Märchens als Kinderliteratur wegen seiner oft hierarchisch autoritären Strukturen und Grausamkeiten in Frage gestellt.
Paris / Ile de France – im Mai 2001
23
Auch in dieser Ausstellung waren Werke der Gebrüder Grimm vertreten.
Jacob Grimm wurde am 1785 in Hanau geboren und verstarb 1863 in Berlin.
Nach seinem Jurastudium wurde er Bibliothekar in Kassel. Ab 1830 war er
Professor in Göttingen, später in Berlin. Er wurde 1847 in die Frankfurter Nationalversammlung gewählt, gilt als Begründer der Germanistik. Er schuf die
erste wissenschaftliche deutsche Grammatik. Er und sein Bruder Wilhelm waren Herausgeber und Bearbeiter alter Volkspoesie . Er galt als Prosaist von
außerordentlicher Sprachgewalt.
Wilhelm Grimm wurde am 1786 in Hanau geboren und verstarb am 1859 in
Berlin. Auch er studierte Jura. Er war der engste Vertraute seines Bruders
Jacob (es gab noch die Grimmbrüder Friedrich, Hans und Ludwig) und war
mit ihm zusammen der Herausgeber der bekannten Kinder– und Hausmärchen, deren sprachliche Gestaltung besonders sein Werk war. Er wirkte außerdem als Herausgeber altdeutscher und germanischer Dichtungen, als Runenforscher und war wegweisend für die ganze Germanistik.
Ein weiterer Märchenschriftsteller, der zentral für die gesamte Märchenentwicklung war und der auch in dieser Ausstellung gewürdigt wurde, war der
dänische Schriftsteller Hans-Christian Andersen (geb. 1805 in Odensee– gestorben 1875 in Kopenhagen) – er setzte sich mit dem Roman Der Improvisator durch und fand gleichzeitig sein eigentliches Feld in den Märchen, dort
verbinden sich in seinen Texten Phantasie- und Lebensweisheit mit warmem
Empfinden und feiner Selbstironie.
Wenn wir das Wort Märchen nennen, denken wir immer an etwas zurückliegendere Zeiten. Aber auch heutzutage gibt es noch „Märchenautoren“ –
schätzungsweise soll es laut Katalog 400 „praktizierende Märchenerzähler“
geben. Man zählt etwa 380 Vereine und Verbände, von denen ungefähr 80
24
Paris / Ile de France – im Mai 2001
darauf spezialisiert sind, Treffs und Aktionen in diesem Sinne zu organisieren.
Es soll etwa 184 Forscher geben und circa 200 Einrichtungen, die mit Sammlungen zur Märchenforschung oder anderen allgemeinen Forschungsarbeiten
in Bezug auf Märchen beschäftigt sind.
Das Interessante an dieser Ausstellung war, dass die gängigsten Märchen in
unterschiedlicher Form „zu besichtigen“ waren. Es gab z. B. die Möglichkeit,
alte Schallplattenhüllen, die bei manch einem Betrachter, z. B. bei mir, wertvolle Jugenderinnerungen, wachriefen, vorzufinden. Man konnte aber auch
einfach nur alte Bücher, die unter Glasvitrinen hervorragend präpariert und
ausgebreitet waren, betrachten und so eine Reise durch die Märchenwelt antreten. Man hätte aber auch per Kopfhörer eine Exkursion in alte Geschichten
machen können. Es gab Märchen in Puzzleform, auch waren einige Märchen
in Bildausschnitten in Vitrinen mit Puppen in sehr interessanten Kostümen
nachgestellt worden.
Es hätte uns gereizt, deutsche mit französischen Märchen zu vergleichen.
Viele tragen gleiche Titel, dürften aber, wie Stichproben in der Ausstellung
nahelegten, vor allem die dazu gehörenden Illustrationen, sehr unterschiedlich sein. Vielleicht ließe sich dann auch die Frage beantworten, welche Märchen grausamer sind.
Abschließend kann man sagen, dass wir bei dieser Exkursion viele Dinge zu
Gesicht bekamen, die normale Parisbesucher leider nicht sehen können – dazu gehörte auch diese Märchenausstellung, die beeindruckend war in den unterschiedlichen Formen, in denen die bekanntesten Märchen verschiedener
Epochen, aufbereitet worden waren.
Andrea Engeholm
Paris / Ile de France – im Mai 2001
25
BnF Site François Mitterrand: Besichtigung und
Ausstel
Ausstellung: Brouillons d’écriture
B
ei der großen Auswahl an Ausstellungen, die jährlich in der
franzö
franzö sischen Hauptstadt angeboten wird, fällt es
es einem oft
nicht leicht, eine Entscheidung zu treffen, besonders wenn
man nur ein paar Tage in Paris verweilt. Vor diesem Problem stanstanden wir in diesem Jahr nicht, denn für uns angehende Phi
Philologen,
die wir uns in unserem Studium ausgiebig mit der französischen
französischen
Lite
Literatur beschäftigen, war es ganz klar, dass wir die Ausstellung
„Brouillons d’écrivains“ in der Bibli
Bibli othèque nationale de France
(François Mitterrand) besuchen würden –noch dazu in Begleitung
von Mme Françoise Karro, conserva
conservateurteur-enen-chef, die uns auf
Grund der persönlichen Bekanntschaft mit Herrn Fricke bereitwilbereitwillig zur Verfügung stand, uns auf viele Kleinigkeiten hinwies und
interessante Zusatzinformationen ge
geben konnte.
26
Paris / Ile de France – im Mai 2001
Zunächst aber haben wir uns das architektonische „Wunderwerk“ der TGB
(La très grande Bibliothèque) angeschaut und haben bei etwas regnerischem
Wetter auch gleich Bekanntschaft mit dem nicht gut durchdachten Bodenbelag vor der BNF gemacht, der zwar ansprechend aussieht, der aber doch sehr
glitschig ist. Aber dies ist nur eine der Mängelerscheinungen des großen
Komplexes. Auch für die Wege, die man von einem zum anderen Gebäude zurücklegen muß, sollte man sich lieber ein Fahrrad oder Inliner mitnehmen. Der
Park, der sich mitten in der Anlage befindet, darf nur von den Gärtnern betreten werden – schade für die Angestellten und Besucher!
Aber nun zur Ausstellung, die wirklich ein Höhepunkt der Reise werden sollte.
So konnten wir sehen, wie sich die verschiedensten Autoren von Racine über
Rousseau, Balzac, Chateaubriand, Hugo, Flaubert bis hin zu Proust und Sart-
Paris / Ile de France – im Mai 2001
27
re und viele mehr mit ihren Texten immer und immer wieder auseinandergesetzt haben, bevor letztendlich das Werk entstanden ist, das wir heute in den
Händen halten und in unseren Seminaren bearbeiten und auseinandernehmen.
Die Gestaltung des sogenannten «brouillons» ist bei jedem Autor unterschiedlich. Rimbauds Konzept ist z.B. mit Tintenflecken versehen, Wörter,
Satzteile, ja zum Teil ganze Sätze sind durchgestrichen und wurden durch
andere Ausdrücke, die zwischen die Zeilen gequetscht wurden, ersetzt. Flauberts Manuskript beschreibt den Kampf des Romanciers mit dem Stoff, der zu
Papier gebracht werden soll. Aber auch der Kampf mit der Sprache, und die
Suche nach dem Ausdruck, der am besten passt, wird hier verdeutlicht. Victor Hugo scheint ein Schriftsteller gewesen zu sein, der sich in allen Lebenslagen mit seinen Texten auseinandergesetzt hat. So existieren von ihm kleine
Kladden, in denen er seine Gedanken und Ideen festgehalten hat. Ebenso lassen lose Blätter, die in alle Richtungen beschrieben sind, die verschiedenen
Etappen der Entstehung eines Werkes erkennen. Auch wenn ein Großteil seiner Dokumente in den Händen der BNF ist, so verfügt man leider nicht über
seine ersten Konzepte. Aber auch seine Reinschriften, die mit ihrem breiten
Rand viel Platz für Korrekturen und die endgültige Überarbeitung lassen, zeigen, mit welch einer Freude Hugo sich seinen Texten gewidmet hat.
28
Paris / Ile de France – im Mai 2001
Auch haben die Autoren ein unterschiedliches Verhältnis zu ihren „brouillons“
gehabt. So verbrennt Chateaubriand einen Großteil seiner Konzepte um das
Jahr 1840. Nur wenige Exemplare sind noch erhalten. Im Gegensatz dazu hat
Victor Hugo bereits 1881 entschieden, seine kompletten Manuskripte der
Bibliothèque nationale de Paris zur Verfügung zu stellen, „die eines Tages die
Bibliothek der vereinigten Staaten Europas sein werde.“
Die Ausstellung hat sich auf jeden Fall gelohnt, darüber waren wir uns alle
einig, und bei der nächsten Lektüre eines Romans von Sartre, Hugo oder
29
Paris / Ile de France – im Mai 2001
Flaubert erinnert sich der ein oder andere vielleicht gerne an die „brouillons
d’écrivains“, an die Hefte, Schmierblätter, Tapeten, Klebekunstwerke zurück,
verfasst vielleicht sogar einen Beitrag zur sogenannten „genetischen Literaturwissenschaft“.
Simone Schulte
Der Abschlusstreff mit Françoise Karro in der Cafétéria der BnF
30
Paris / Ile de France – im Mai 2001
Une soirée théâtrale: Molières L’Avare im Théâ
Théâ tre
de l’Odéon
A
n einem Abend unserer Studienreise sollten wir das VergnüVergnügen haben, uns das Stück L’Avare von Molière in dem Théâ
Théâttre
de l’Europe – Odéon anzu
anzu schauen. Einige von uns hatten im
vergangenen Semester ein Seminar über die französischen KoKomödien von Molière, Marivaux und Beaumarchais besucht und
dassel
dassel be Stück bei dieser Gelegenheit gelesen und eine deutsche
Aufführung in
in Krefeld gesehen. Nun waren wir auf die InszenieInszenierung von keinem Geringeren als Roger Planchon gespannt, der
auch die Rolle des Harpagon übernehmen soll
soll te.
In dem Stück geht es um einen geizigen alten Mann, der ein junges Mädchen
namens Marianne ehelichen möchte, ohne zu wissen, dass sein eigener Sohn
Cléante derselben seine Liebe gestanden hat. Marianne kommt aus armen
Verhältnissen und wird keine Mitgift mit in die Ehe bringen können, deshalb
will Harpagon seine Tochter Elise mit dem nicht mehr ganz jungen, aber gut
situierten Anselme verheiraten. Diese hat sich aber in Valère, den Diener ih-
Paris / Ile de France – im Mai 2001
31
res Vaters, und wie sich später herausstellt, den Sohn Anselmes, verliebt.
Beide Kinder kämpfen gegen ihren geizigen Vater, der nichts anderes als seine Geldschatulle im Kopf hat und entsetzt ist, als er feststellt, dass sein Sohn
sich bei ihm einen Kredit leihen möchte, um seine Angebetete heiraten zu
können. Die traditionellen Elemente der Komödie werden auch in diesem
Stück vereint. So werden unter anderem Intrigen durch den Diener La Flèche
eingefädelt, der seinem Herrn Cléante so zu dessen Liebesglück verhelfen
möchte. Zwischen den jungen Liebenden steht ein alter Mann, der zudem
noch geizig ist und ihnen das Glück verwehrt. Der Generationskonflikt zwischen den jungen Leuten, die leben und gefallen wollen und den alten, die auf
ihrem Geld sitzen, wird angesprochen. Im Laufe des Stückes kommt es zu vielen Verwicklungen und Verstrickungen, und in der Schlussszene wird die gesamte Problematik durch eine große Wiedererkennungsszene überwunden.
32
Paris / Ile de France – im Mai 2001
Für die Leute, die beide Inszenierungen gesehen haben, war es interessant,
diese miteinander zu vergleichen, denn wir mussten feststellen, dass ein
Stück doch viele Deutungsmöglichkeiten offen lässt. So ist unserer Meinung
nach die Persönlichkeit des geizigen Harpagon nicht hinreichend herübergekommen. Auch die komischen Elemente kamen nicht zum Ausdruck. Das
Bühnenbild war gigantisch, aber vielleicht hätten einfachere Mittel auch ihren
Zweck erfüllt und den Zuschauer nicht so vom Bühnengeschehen abgelenkt.
Vielleicht war unsere Erwartungshaltung aber auch einfach eine andere,
nachdem wir erst wenige Wochen zuvor eine Inszenierung ganz im Sinne der
italienischen Commedia dell’arte gesehen haben. Diese Pariser Aufführung
war für unsere Vorstellung zu stark von den eher klassische Spielformen der
Comédie Française inspiriert.
Simone Schulte
Paris / Ile de France – im Mai 2001
33
Zu Besuch bei Patricia ChauvinChauvin-Glonneau in MontMontmagny (Ile de France)
L
iteraturunterricht an der Universität hat nicht nur
nur mit – kanonikanonisierten - Werken der Vergangenheit zu tun, er gilt auch AutoAutorinnen und Autoren der Gegenwart. Diese besitzen gegenüber
den Klassikern den unschätzbaren Vorteil, noch zu leben, da
damit
besteht die Möglichkeit, sie zu ihren Texten zu befra
befragen; dass
dass dies
nicht der Normalfall ist, braucht hier nicht ausge
ausgeführt zu werden.
In der Vergangenheit habe ich häufiger die Mög
Möglichkeit gehabt, mit
unterschiedlichen Gruppen bekannte und weniger bekannte AutoAutorinnen und Autoren direkt zu ihrem Oeuvre zu befragen; ich denke
vor allem an Annie Ernaux, Da
Danielle Sallena
Sallenave, Eugène Ionesco,
Michel Tournier, Claude Ol
Ol lier, Didier Daeninckx (s. eigenen BeiBeitrag). Allen bin ich zu Dank verpflichtet, konnte ich doch in meinen
Seminaren die in den Gesprächen und Interviews gesammelten
gesammelten
Erfahrungen unmittelbar in die Diskussion und Interpretation eineinfließen las
lassen.
In diesem Zusammenhang darf auch die Bekanntschaft mit Patricia ChauvinGlonneau gesehen werden; ich hatte sie im Februar dieses Jahres besucht,
um das Treffen mit der Gruppe vorzubereiten. Das angesetzte Gespräch
stand in unmittelbarem Zusammenhang mit meiner Lehrveranstaltung zur
zeitgenössischen Novelle. Und in diesem Bereich hat die Autorin eine eindrucksvolle Bilanz vorzulegen.
Als wir am Bahnhof von Montmagny eintrafen, wurde wir von Patricia Chauvin-Glonneau liebenswürdig empfangen; ein kurzer Fußweg führte uns zu ihrem Haus. Sie ist, so erfuhr die Gruppe, hauptberuflich Orthophoniste (Logopädin), vor allem aber schreibt sie Gedichte und Novellen; für beide Gattungen hat sie inzwischen eine Fülle von Preisen erhalten.
In aller Bescheidenheit lässt sie uns wissen, dass sie eigentlich als Autorin
wenig zu den Texten, die sie verfasst habe, sagen könne; schließlich seien sie
für das Publikum freigegeben. Die bisherigen Erfahrungen lehren, dass dem
selten so ist; selbst ein so wenig beredter Autor wie Patrick Modiano vermittelt unerwartete Einsichten. So auch in unserem Fall. Ich hatte zur Vorbereitung auf diese Gespräch drei der von Mme Chauvin-Glonneau veröffentlichten
Novellen ausgegeben, übrigens auch in meinem Seminar. Bei einem dieser
Geschichten, L’attente, hatte ich den Schlussparagraphen abgetrennt, um die
Studentinnen und Studenten das Ende neu erfinden zu lassen. Bei diesem
Text, der im Mittelpunkt unserer Diskussion stand, geht es um eine originelle
Variante des mythologischen Archetyps von Odysseus und Penelope, wird sie
doch mit den politischen Ereignissen der Obristenära und dem gegenwärtigen Frankreich in Beziehung gesetzt. In unserer Diskussion, die hier nicht
wieder-gegeben werden kann, wurde deutlich, dass in L’attente die Re-
34
Paris / Ile de France – im Mai 2001
interpretation dieses klassischen Mythos eher Penelope in den Blick nimmt
als den König von Ithaka. Das geschieht so subtil und einfühlsam, dass der
gewiss feministische Zuschnitt in einer modernen Mythoskritik aufgehoben
wird. „Wäre sie nicht da, gäbe es diesen Mythos nicht.“ Diese Überlegungen
führen unsere Autorin zu einer vorläufigen Poetik der Novelle: Zumeist stehen
im Frauen im Mittelpunkt; sie sind häufig Opfer, aber sie reagieren, handeln
selbständig, erweisen sich als starke Persönlichkeiten; eine subtile Psychologie, ohnehin kein Kennzeichen der Gattung, finde nicht statt. „Die Geschichte
gehört nicht nur den Männern.“
Auch die anderen Texte, wie auch die Gedichte, wurden angesprochen; die
Gruppe nutzte die Gelegenheit, nach der voluntas auctoris und nach den interpretatorischen Konsequenzen zu fragen. Auch hier wurde deutlich, dass in
den Texten Schlüssel eingearbeitet sind, die sich auch nicht unbedingt in einer genaueren re-lecture erschließen. Aufschlussreich war deshalb, dass die
Autorin die Novellen, die sehr unterschiedliche Themen behandeln, auf einige
gemeinsame Nenner zurückführt, vor allem auf Zeugenschaft, auf Liebe und
Tod. «Chez moi, le „témoin“ est toujours (ou presque) confronté à éros et thanatos», so lautet ihr Credo in einem persönlichen Brief. An einem Detail erläuterte sie uns die Position weiblichen Zeugnisses. In christlicher Tradition trage die Frau Loths keinen Namen, wohl aber in der jüdischen: dort bedeute er
„Zeugin“.
Zum Abschluss schilderte uns Patrica ihren schriftstellerischen Werdegang.
Mit acht Jahren hat sie schon zu schreiben begonnen, sich in unterschiedlichen Gattungen versucht; im Studium seien ihre kreativen Impulse allerdings
eher behindert und unterdrückt worden. Später ging sie in sogenannte ateliers d’écriture, dort sei sie wieder zur écriture ermutigt worden. Vor 12 Jahren habe sie auch den Mut zum Publizieren gefunden. Von den mehr als 50
Novellen, die sie seitdem geschrieben habe, seien an die 30 veröffentlicht
worden, bei den Gedichten sei Zahl und Prozentsatz geringer. Aufschlussreich auch, dass viele ihrer Texte im Rahmen der therapeutischen Arbeit ent-
35
Paris / Ile de France – im Mai 2001
stünden; sie vermittle täglich die Nähe zu den thematischen Dominanten ihres
Werkes.
Nachdem zu späterer Stunde auch Bernard Glonneau zugegen war, gab es
eine Stärkung und Erfrischung. Ihre Tochter Hélène, die bei uns ein ERASMUS-Studienjahr zugebracht hat, war wegen Examina verhindert. Wir haben
das sehr bedauert, verdanken wir ihr doch den Kontakt zu dieser liebenswürdigen, hintergründigen, belesenen und anregenden Mutter und Autorin. So
wurde dieser Nachmittag zu einem Seminar der besonderen Art: zeitgenössische Literatur zum Anfassen...
Merci Hélène, merci Bernard, merci Patricia.
Dietmar Fricke
@@@@@@@@@@@@@@@@@@@@@@@@@@
36
Paris / Ile de France – im Mai 2001
Aus der Internetseite von Patricia ChauvinChauvin-Glonneau
Mariée. 2 enfants, orthophoniste, tourangelle vivant dans la région parisienne, Patricia CHAUVIN-GLONNEAU participe régulièrement à la revue
" Paperolles ". Elle a eu quelques publications dans des revues à l'occasion
de concours : " Les amis de Thalie ", " Mauvaise graine ", " Rétro-viseur ",
" Harfang ", " L'Encrier renversé "..., et dans des recueils : " Histoires de
trains " éditions La Dérive, Verviers (Belgique) 1999 ; " La nouvelle maritime ",
Concarneau, 1999 ; " Clin d'œil à la nouvelle " éditions Castor Astral, 1999.
Paris / Ile de France – im Mai 2001
37
Zu Besuch bei Didier Daeninckx in Au
Aubervilliers (Ile
de France)
D
idier Daeninckx ist auch hierzulande kein Unbe
Unbekannter mehr.
Inzwischen sind ein gutes halbes Dutzend seiner Werke ins
Deutsche übersetzt worden; weitere sollen folgen. Aber bis
zur Be
Berühmtheit, die dieser Autor in Frankreich genießt, wird noch
ein weiter Weg sein. Ein Grund mehr für uns, auch auf die
diese Weise
auf ihn aufmerksam zu machen. Das ist in der Vergangenheit
mehrfach geschehen, u. a. durch die Be
Berichte in den früheren
früheren
Broschüren. Es wä
wäre falsch, Didier Daeninckx nur als Autor von
Kriminalliteratur zu se
sehen. Es trifft zu, dass er einer der führenden
Vertreter dieses Genres («polar») ist, aber das ist nur eine Facette
seines Wer
Werkes. Was bei ihm vor allem fasziniert, ist der kritische
Blick auf die Gesell
Gesell schaft, vor allem auf ihre Schattenseiten, und
dies insbesondere hin
hin sichtlich des geschichtlichen GedächtnisGedächtnisses; man könnte seine Texte geradezu als negative lieux de
mémoire (‚Ge
(‚Gedächtnisorte’) lesen.
Daeninckx spürt in seinen zahlreichen Erzählungen immer wieder die Tabous
und Verdrängungen auf, die der Gegenwart wie die der Vergangenheit. Emblematisch dafür steht ein früher Titel: Meurtres pour mémoire (1984). Als weitere Stichworte seien genannt: Kollaboration zur Zeit der deutschen Besetzung; die Szene der Neonazis (z. B. in Nazis dans le métro [1996], im gleichen
Jahr übersetzt als Nazis in der Metro); Kolonialismus; Algerienkrieg; Affären,
wie die um Maurice Papon, und immer wieder die sinnlosen Greueltaten der
kleinen und großen Kriege. Wie kaum einem anderen gelingt es Daeninckx,
auf dem Wege der Fiktion an Ereignisse zu erinnern oder sie zu antizipieren,
die die offizielle Geschichtsschreibung ignoriert oder erst langsam zur
Kenntnis nimmt. Wenn dieser Tage über Aussaresses diskutiert wird, einem
General, der in seinen Erinnerungen zugibt, in Algerien gefoltert zu haben, so
ist es aufschlussreich, dass Daeninckx einen thematisch verwandten Roman
dazu schon 1986 vorgelegt hat: Le bourreau et son double.
Neue Frage zu neuen Werken waren die starke Motivation, Didier Daeninckx
in seinem bescheidenen Reihenhaus in Aubervilliers abermals einen Besuch
abzustatten. Wie schon mehrfach in der Vergangenheit, war er sofort bereit,
uns zu empfangen. Und mehr als eine Stunde lang hat er uns eloquent und
informativ Rede und Antwort gestanden.
Auf Grund einer geplanten Publikation für das neue Frankreichjahrbuch ging
es bei den anfänglichen Fragen um den Autor selbst, d. h. um seine gegenwärtige Rezeption in Frankreich und im Ausland. Die bisherige Bilanz kann
sich sehen lassen. Daeninckx ist allerdings kein Bestsellerautor, aber das hat
er nie angestrebt. Für ihn ist entscheidend, dass alle seine Werke jederzeit in
Frankreich verfügbar sind; das seien inzwischen in unterschiedlichen TBFormaten nicht weniger als sechzig! Jedes Jahr erreicht er eine Gesamtauf-
38
Paris / Ile de France – im Mai 2001
lage von 200.000 bis 250.000. Dabei betrügen die Startauflagen, z. B. bei Verdier, höchstens 10.000 Exemplare. Aber sie bleiben im Verkauf. Beispielsweise habe Meurtres pour mémoire, immerhin vor achtzehn Jahren erschienen,
sich letztes Jahr noch mit 25.000 Exemplaren verkauft. Bei der renommierten
Folio-Edition seien sogar zwanzig Titel stets verfügbar. Die ganz persönliche
Politik, die eher auf Longseller abstellt, zeigt, dass es ihm gelungen sei, sich
ein Publikum heranzuziehen, das ihm gewogen bleibt.
Es ist ein sehr durchwachsenes Publikum, in allen Schichten beheimat. Daeninckx weiß dies auf Grund zahlreicher persönlicher Begegnungen. So habe
er letztes Jahr an die einhundert Termine mit seinen recht unterschiedlichen
Lesern gehabt. Am Tage vor unserer Unterredung war an der Universität von
Lille, am gleichen Tag besuchte er nachmittags ein Lycée Professionnel. Aber
er geht auch in die Fabriken und Werkhallen; aus diesen Kreisen wird er vor
allem von den comités d’entreprise (etwa ‚Betriebsrat’) angefordert. So hat er
beispielsweise bei Michelin höchst passionierte Leserinnen und Leser angetroffen. Wenn er solche Einladungen annehme, so mit der Absicht, Kultur und
Arbeit zu versöhnen! Übrigens kann er sich über Fanpost nicht beklagen:
stolz zeigte uns Daeninckx einen Karton wohlgefüllt mit von unterschiedlichen
Briefen und Anschreiben. Ironisch klang seine Anmerkung zum Besuch einer
psychiatrischen Anstalt: Patienten und Pflegepersonal seien in ihren Reaktionen nicht so ohne weiteres zu unterscheiden gewesen...
Wie informiert sich ein Autor, wie dokumentiert sich ein Verfasser von Kriminalliteratur? Wir erfahren, dass Didier Daeninckx vor längerer Zeit zu unterschiedlichen Gerichten gegangen ist, wochenlang Prozesse verfolgt hat. Die
Polizeiarbeit hingegen interessiere ihn nicht! Die Bilder dieses Milieus, ein
vertrautes Imaginaire, brauchten auf Grund der Omnipräsenz in allen Medien
nicht mehr vermittelt zu werden; da genügten einige Andeutungen, und der
Leser denkt sich den Rest. Wohl sei er zur Gendarmerie gegangen, um herauszufinden, wie es bei der Gerichtsmedizin zugeht.
Zur Recherche historischer Themen hat Daeninckx die Bibliothèque Nationale
frequentiert, vor allem aber die Presse aus dieser Zeit studiert, beispielsweise den Parisien libéré.. Dort interessieren ihn vor allem die sogenannten «fait
divers», d. h. „Vermischte Nachrichten“. Als Beispiel nennt er den 17. Oktober 1961, ein für den Romancier traumatisches Datum: an diesem Abend lässt
der Polizeipräfekt Maurice Papon eine Demonstration blutig niederschlagen;
über das Verbleiben der Toten wisse man bis heute nichts Genaues. „Wohin
sind die Leichen des 17.10.1961 verschwunden?“ Danach frage kaum jemand, wohl aber ein Autor, der niemandem als sich verpflichtet weiß. So sei
seine Suche nie systematisch, sie sei darauf aus, die fehlenden Informationen
kreativitätsorientiert einzuholen und einzubringen (vgl. seinen wohl berühmtesten Roman Meurtres pour mémoire [1984]).
Diese Haltung bedingt, dass er nie persönliche Bekanntschaft mit der Welt
der Justiz sucht. Der Palais de Justice, mithin die Welt der Gerichte und der
Gerechtigkeit, sind für ihn eine Welt der Entfremdung; sie führten eine Sprache, die niemand verstünde. Die in Frankreich sehr einflussreichen
Ermittlungsrichter (juges d’instruction) dienten vor allem dazu, die
Gesellschaft zu „normalisieren“, d. h. sie trügen letztlich auch dazu bei, dass
alles einfach weiterläuft. Daeninckx berichtet auch von seinen Besuchen in
Paris / Ile de France – im Mai 2001
39
weiterläuft. Daeninckx berichtet auch von seinen Besuchen in den Gefängnissen – für ihn eine Gegenwelt, die mit Gerechtigkeit nichts zu tun habe. Zwar
sei das Interesse am Vollzug kürzlich gestiegen – immer mussten einige Berühmtheiten einsitzen (so der Sohn Mitterrands; Papon; Sirven u. a.); aber das
ändere nicht viel: auch sie erlebten nur eine Welt der Gewalt, der Zerstörung;
4-Sterne-Gefängnisse - das gebe es nicht. Er frage sich, wie ein solches System weiterbestehen könne. Es sei paradox: die Justiz stehe eher für die Ungerechtigkeit des Systems. Hier sei für ihn der eigentliche Ort des Kriminalromans. Deswegen wolle er sich auch nicht mit dieser Gesellschaftsform arrangieren, nicht bevor sie sich von diesem System befreie.
Befragt, was er von dem neuen Gesetz zur Unschuldsvermutung halte (Loi de
la présomption d’innocence.), spricht er grundsätzlich von der Unverhältnismäßigkeit der Mittel in den Ermittlungen. Bewundernd spricht er allerdings
von einigen jener juges d’instruction; da gebe es einzelne, die sich aus romantischen Motiven gegen die Lügen stellen, damit einen Zipfel der Wahrheit
aufdecken. Hier treffen sich weithin bekannte Untersuchungsrichter wie
Halphen und kleine Inspektoren wie Cadin aus der Feder von Didier Daeninckx in ethischem Gleichklang. Übrigens, so erfahren wir, habe auch
Halphen einen Krimi geschrieben. Abschließend unterstreicht Didier Daeninckx unterstreicht erneut, dass er trotz persönlicher Bekanntschaft keinen
mondänen Kontakt suche. Es gelte, die je eigene Gesetze der Fiktion von jeder Einflussnahme freizuhalten.
40
Paris / Ile de France – im Mai 2001
Wir fragen nochmals nach dem Interesse für den Krimi, den polar. Es geht,
betont Daeninckx, immer um die unmittelbare Gegenwart, genauer: um die
verdeckte und verschwiegene Realität, «la réalité volontairement obscurcie».
Da braucht es manchmal fünfzig Jahre und mehr, bevor sie offenbar wird.
Neben dem Fall Papon erwähnt er den Mitterrands, seine Nähe zu Vichy und
dem Maréchal. Ein noch längerer zurückliegender Skandal seien die Meutereien von 1917; sie werden in seinem nächsten Werk thematisiert. Jeder wisse es, aber sie würden lange totgeschwiegen. Vor diesem Hintergrund definiere sich der polar: er arbeite vor dem historischen Fresko mit fiktionalen
Figuren, die das fehlende historische Kapitel anfügen. Seine Romane seien
somit Sand im Getriebe («à troubler le jeu.»)
Wie sind Daeninckx’ Reaktionen zu aktuellen Skandalen? Wir kommen auf die
Äußerungen von Aussaresses zu sprechen. Für Daeninckx ist dies ein komplizierter Fall. Der General war nämlich an de Gaulles Seite Widerstandskämpfer. Erst als er zum Kolonialkrieg kam, bei dem alles erlaubt gewesen sei,
werde er zum Mörder. Zu José Bové sagt er nur, «c’est une horreur». Da bekämpfe jemand Globalisierung, werde dabei von Messier (Vivendi), dem Herold der Globalisierung, publiziert... Bei den Skandalen werde manches aufgedeckt, damit weiteres verschleiert werden kann.
Mit Sympathie spricht Didier Daeninckx von der Welt der Arbeit. Vor kurzem
sei er in den Reparaturwerkstätten des TGV gewesen; während zweier Arbeitspausen habe er sich mit den dortigen Arbeitern unterhalten können, offensichtlich angefordert der Gewerkschaft. Der Autor hält diese Begegnung
für nichts Besonderes. Dort, wo er auftauche, gebe es keine besondere Auswahl, es gehe um die Literatur. Dabei seien die Unterschiede in der Rezeption
erheblich. Bei Studentinnen und Studenten der Universität sei die Last der
Literaturgeschichte ständig präsent. Sie fragen eher: „Darf man das? Ist das
noch Literatur?“ Bei den Arbeitern gehe es um Inhalte, um Spannung, um Beziehung zum Buch, das sei direkter, sinnlicher.
Auf unsere Frage, ob es dann zu anderen Autoren Beziehungen unterhielte,
im Sinne einer Solidarität innerhalb einer Autorengruppe, erfahren wir nur,
dass ihn dieser mondäne Aspekt von Literatur nicht interessiere. Viele von
ihnen schrieben, um ins Fernsehen zu kommen, um die schnelle Mark zu verdienen. Hinter der aktuellen Loft Story, der französischen Variante von Big
Brother, stünden eine Fülle von Autoren, die sich bereichern wollten. Didier
Daeninckx gibt uns ein Beispiel aus seinem Werk Le facteur humain (1990);
dort parodiere er den «discours de la TV», d. h. das Gesetz des «boul
d’hum ». Das bedeutet «une minute de bouleversement d’humanité ». Man
verlangt von den Autoren an entsprechenden Stellen Szenen, bei denen es
menschelt: der Zuschauer soll dranbleiben! So überlagere die kommerzielle
Masche den künstlerischen Ausdruck. Das auszudrücken, was notwendig sei,
das sei der Ort des Romans, hier gebe es keine Industrie wie beim Fernsehen.
Würde dieses Medium eines Tages die Verlage schlucken, wäre es des Autors
Tod. Im übrigen werden Kollegen wie Izzo, Le Pouy, Roger Martin u. a. mit
Sympathie beschrieben: sie seien alle sehr anspruchsvoll, damit authentisch;
aber es gebe keine «solidarité de caste».
41
Paris / Ile de France – im Mai 2001
Sieht Daeninckx sein Werk im Dienst der Aufklärung, etwa im Sinne des 18.
Jahrhunderts? Diese Position lehnt er rundheraus ab. Als er Meurtres pour
mémoire schrieb, habe er sich Maurice Papon gegenüber gesehen, sei zum
Zweikampf angetreten: «C’est une affaire entre nous deux!» Es gehe ihm um
den direkten Zusammenstoß mit einer Gesellschaft, die nur Scheinwelten
(faux semblants) errichte: diese gelte es zu entlarven.
Abschließend antwortet uns Didier Daeninckx auf die Frage nach seiner Biographie. Er wurde in der Nähe des Hauses, wo wir weilen, am 27. 4. 1949 geboren. Sein Vater hat bei Hotchkiss gearbeitet; da er an Sport interessiert
war, kennt sich Didier in einigen Disziplinen wie Boxen, Pferderennen, Fahrradrennen aus. Seine Mutter war Köchin in einer Schule, also entstammt er
einer Arbeiterfamilie. Die Schule besuchte er im wesentlichen in Aubervilliers.
Im Lycée technique ist er nur ein gutes Jahr geblieben. Er musste abgehen,
trat in die Lehre ein als Arbeiter im Druckwesen (ouvrier imprimeur); dort arbeitete er zwölf Jahre. lang. Die Arbeiterschaft sei stark korporatistisch,
selbstbewusst, fühle sich der Welt der Journalisten und Autoren zugehörig. In
der Krise des Druckerwesens verlor er seine Arbeit; aber dank Raymond Barres freundlichen Gesetzen, konnte er drei Jahre gut überleben. in dieser Zeit
erstand der erste Roman. Er wurde bald von Publicis angestellt, schrieb zahlreich Werbeslogans; dabei habe er gut verdient. Er habe auch manche Absagen erhalten; die erste Zusage habe fünf Jahre auf sich warten lassen (Hachette). Manche seiner Kollegen hätten es bis zu 200 Absagen geschafft,
dennoch inzwischen fünfzig Bücher veröffentlicht.
Zum Abschied hat uns Didier Daeninckx ein Exemplar seines jüngsten Werkes
geschenkt: La mort en dédicace (Verdier 2001)
Merci, Didier Daeninckx et bon courage pour tous les prochains livres.
Dietmar Fricke
42
Paris / Ile de France – im Mai 2001
Vor zum Schluß noch etwas Werbung für unsere Spon
Sponsoren:
Hotel Merryl **
7, rue Pajol
75018 PARIS
Telefon: 0033.1.46.07.76.65
Fax: 0033.1.40.36.50.87
In einer ruhigen Straße des 18. Arrondissement gelegen, ist das
Hotel Merryl
ein idealer Ausgangspunkt für Ihren Aufenthalt in Paris.
Die nur 100 m vom Hotel entfernte Metrostation "La Chapelle" bietet eine direkte Verbindung zu allen wichtigen Sehenswürdigkeiten
(Notre Dame, Sacré Cœur, Champs Elysées...), und der Gare du
Nord ist sehr gut zu Fuß zu erreichen.
Alle Zimmer sind mit Bad, WC, Telefon und Fernseher ausgestattet.
œœœœœœœœœœœœœœœœœœœœœœœ
Bücher direkt aus Frankreich
Ein günstiger Weg, Bücher in französischer Sprache zu erwerben!
Librairie BUCHLA
BUCHLA DEN
3, rue Burq
F -75018 Paris
Métro Abesses oder Blanches (Montmartre)
Tel. 00.33.1.42.55.42.13
Fax 00.33.1.42.55.14.99
•
•
•
•
alle lieferbaren französischen Bücher und Kassetten
Lieferung per Post
Pauschalportokosten DM 10,00 pro Sendung
Zahung in DM auf Postggirokonto Köln
Paris / Ile de France – im Mai 2001
43
Nachwort
Sehr verehrte Leserin, sehr geehrter Leser,
W
ir sagen Ihnen zunächst Dank für Ihre geneigtes Interesse.
Dar
Darüber hinaus wären wir für jede Anregung, Hinweis, oder
Kommentar zu unserer Broschü
Broschü re dankbar.
dankbar. Unter den u.g.
Adressen können Sie diese an uns weiterleiten.
e-Mail: [email protected]
Diese Broschüre finden Sie ,ebenso wie die Broschüren unse
unserer
Studienfahrten 1997, 1998, 1999 und 2000, auch
auch im Internet unter:
http://www.uni-duisburg.de/FB3/ROMANISTIK/PERSONAL/Fricke/home.html
Et au revoir Paris...

Documentos relacionados