New Amsterdam. SonntagsZeitung, 21.09.2008

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New Amsterdam. SonntagsZeitung, 21.09.2008
CITY-ZOOM 105
21.September 2008
Leinen los für das neue Amsterdam
«The Place to be»: Die Eastern Docklands sind noch auf kaum einer Touristenkarte verzeichnet
Eastern Docklands: Einst löschten Handelsschiffe aus aller Welt hier ihre Ladung, heute löschen Amsterdamer ihren Durst nach Szenebeizen, Musik und grosser Architektur
VON JEAN FRANÇOIS TANDA
Jamie Oliver muss es ja wissen.
Der englische TV-Koch hat sein
Amsterdamer Restaurant Fifteen
im Oostelijk Havengebied eröffnet hat, in den Eastern Docklands
der holländischen Stadt. Dort, wo
während Jahrhunderten Handelsschiffe aus Indien ihre Ladungen
löschten, liegt der neue Hotspot
der Metropole, der auf den meisten Stadtkarten für Touristen gar
nicht erst abgedruckt ist – zu Unrecht, denn das östliche Hafengebiet ist «the new place to be».
Samstagnachmittag im September. In Jamie Olivers Fifteen ist
kaum ein Platz mehr frei. Die Restaurantbesucher essen aus Schüsselchen, die aussehen wie aus
Holz und sich anfühlen wie Plastik. Bezahlt haben die Gäste mit
der hausinternen Währung, pinkfarbenen Jetons, je zwei Euro
wert. Das reicht für ein Bier. Auf
einer Bühne singt eine Frau
Lieder auf Holländisch, fasst sich
ans Herz, faltet die Hände und
erntet dafür Applaus. Ein Mann
begleitet sie am Klavier. Das Duo
ist nur einer von vielen Acts, die
heute auftreten werden im Lokal,
das immer wieder genannt wird,
wenn vom neuen Amsterdam
die Rede ist.
Hier ist vieles nicht wie im
restlichen Amsterdam
Hier, im östlichen Hafengebiet,
das zu Fuss keine Viertelstunde
von der Centraal Station entfernt
ist, dem Hauptbahnhof im Zentrum, fühlt man sich wie in einer
anderen Stadt. Hier ist vieles nicht
wie im restlichen Amsterdam: Die
Häuser stehen nicht schief, es
sind keine Kamikaze-Tramfahrer
unterwegs, Rotlichtmilieu und
Coffee Shops sind weit entfernt.
Ebenso deren Publikum, das dem
Klischee gerecht wird. Dafür
öffnen hier Szenelokale ihre Pforten in Gebäuden, die vor wenigen
Jahren noch als Lagerhallen oder
als Werkstätten für Ozeandampfer
dienten.
Jamie Oliver ist nur einer der
neu Zugezogenen im Trendquartier. Auch das Bimhuis, ein
legendärer Klub für Jazz und im-
provisierte Musik, ist von der Innenstadt an die Eastern Docklands umgezogen. Unmittelbar
daneben steht das Muziekgebouw,
die Konzerthalle, die unter
Klassikfreunden Europas für
ihre Akustik berühmt ist. Auch
für Kinder ist das Haus eine
Attraktion.
Drinnen, im 2. Stock, springen
sie auf Metallplatten herum, die
bei jeder Berührung einen Ton erzeugen. «Klankspeeltuin» nennt
sich die Installation, was so viel
heisst wie Tonspielplatz. Scheinwerfer strahlen durch den Raum,
die Kinder ändern die Richtung
der Strahlen, indem sie ihre Ärm-
FOTO: TRUUS VON GOG FOTOGRAFIE/HOLLANDSE HOOGTE
chen in das Licht halten. In einem
Nebenraum drücken die Kleinen
auf einem Giftpilz herum, der in
rote, grüne, gelbe, blaue, lilafarbene Metallplatten gekleidet ist.
Auch hier: jede Berührung ein
Ton. In erster Linie ist das Muziekgebouw aber eine Konzerthalle; vor allem der «Grote Zaal»
DIE BESTEN TIPPS
Schnell rein: Alle wichtigen
Infos findet man auf
www.amsterdamtourist.nl
und www.iamsterdam.com
Anreise: KLM und Swiss
fliegen mehrmals täglich von
Zürich nach Amsterdam und
zurück. Ab 239 Franken,
www.swiss.com, www.klm.com
Übernachtung I: Der Schweizer
Beitrag zur Skyline der Eastern
Docks ist unübersehbar: Das
Mövenpick-Hotel überragt die
Nebengebäude bei weitem.
404 Zimmer auf 20 Stockwerken mit Sicht über das neue
Viertel und die Kunstinsel
Java-Eiland. DZ ab 172 Euro.
Piet Heinkade 11, www.
moevenpick-amsterdam.com
Übernachtung II: Bis 1989 war
das Llyod-Hotel an der Oostelijke Handelskade ein Gefängnis,
zuvor hatte es als Warteraum
für osteuropäische Emigranten
auf ihrem Weg nach Südamerika gedient. Seit 2004 ist es ein
Hotel mit 116 Zimmern. DZ ab
95 Euro. Oostelijke Handelskade 34, www.llyodhotel.com
Boxenstopp I: Der Name Jamie
Oliver steht für ungewöhnliche
Kombinationen in der Küche. In
Amsterdam bietet der Starkoch
im Restaurant Fifteen italienisch geprägtes mediterranes
Essen an. Eine Weinkarte,
Gratis Internetzugang und ein
schickes Interieur sind weitere
Argumente für einen Besuch.
Jollemanhof 9, www.fifteen.nl
Karaoke. Noordval 1,
www.wilhelmina-dok.nl
Nightlife-Tipp: In der einstigen
Zentrale für die Stromlieferung
für Hafenkräne liegt der Club
Panama. Live-Gigs, Stand-upComedy – Panama bietet eine
breite Kulturpalette. Oostelijke
Handelskade 4, www.panama.nl
Boxenstopp II: Vom Café-Restaurant Wilhelmina Dok können
Besucher die Stadt Amsterdam
von der «anderen Seite» aus
sehen, denn der Kubus steht
auf der nördlichen Seite des
Sees IJ, der die Innenstadt von
Amsterdam-Nord trennt. Bis in
die frühen Achtziger wurden im
Wilhelmina Schiffe repariert.
Heute gibt es dort Hardrock-
Shopping: Das frühere Hauptgebäude der Schifffahrtsgesellschaft KNSM heisst Loods 6
und beherbergt Designläden
und Cafés. KNSM laan 143,
www.loods6.nl
Kultur-Tipp: In der ehemaligen
NDSM-Schiffswerft – grösser
als ein Fussballfeld – arbeiten
250 Künstler; das Publikum
darf zuschauen.
Neveritaweg 15, www.ndsm.nl
Das müssen Sie tun: Ein Boot
mieten (bedarf keines Führerausweises), Wein oder Bier
einkaufen, gemütlich auf den
Grachten herumkurven.
Ab 30 Euro/Stunde,
www.rentaboatamsterdam.com
Das dürfen Sie nicht tun: Im
Coffee Shop Ihren Joint mit
Tabak anreichern. Seit Juli gilt
in Holland ein Rauchverbot in
öffentlichen Gebäuden – pure
Joints («puritos») sind vorläufig
weiterhin erlaubt.
NDSM�WERF
AMSTERDAM
WILHELMINA DOK
MUSIKGEBOUW/BIMHUIS
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MÖVENPICK
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BELGIEN
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DEUTSCH�
LAND
LLOYD HOTEL
CLUB PANAMA
SoZ Binda
ist für seine Akustik bekannt – die
Halle des 21. Jahrhunderts, wie
die Eigenwerbung lautet. Damit
passt sie bestens ins Oostelijke
Havengebied.
Den Grundstein für das neue
Viertel, dessen Bild vor der Rekonstruktion Stadtnomaden mit
Wohnwagen und Hausbesetzer
prägten, haben die Erbauer von
Nemo gelegt. Entworfen von Renzo Piano, ist das kupfergrüne Gebäude in Schiffsform seit dem
Jahr 1997 offen. Nemo steht für
New Metropolis und gilt als grösstes Wissenschaftszentrum der
Niederlande. Spielerisch lassen
sich im fünfstöckigen Gebäude
Experimente machen mit Seifenblasen oder mit Früchten, um etwa zu testen, ob Apfelsaft mehr
Vitamin C enthält als Orangensaft. Von der Dachterrasse blickt
man auf die Innenstadt, aber auch
auf das neue Viertel, den IJ River
und den Hafen.
Mit Freunden und Alkohol
fahren sie auf den Grachten
Dort legen heute keine Handelsschiffe mehr an, dafür Kreuzfahrtdampfer. Pro Jahr besteigen am
Passangers Terminal Amsterdam
200 000 Menschen ihr Traumschiff. Schiffe, die dem höchsten
Gebäude am Hafen bis zum
16. Stock reichen.
Doch die Riesen sind nicht alleine auf der IJ. Es ist Samstagabend. Das Wasser ist bevölkert
mit kleinen Motor- und Elektrobooten. Tout-Amsterdam scheint
sich auf dem Wasser zu vergnügen: Mit Freunden und Alkohol
an Bord, fahren sie auf der IJ und
den Grachten. Einige Boote haben
Musikanlagen an Bord, andere einen Grill. Man trifft sich, stösst
an, unterhält sich kurz und fährt
weiter in die Nacht hinein. Vom
östlichen Hafengebiet in die
Innenstadt – und zurück.