Teil 2 - Dominique Gisin

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Teil 2 - Dominique Gisin
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Die zweite
Karriere
Sylviane Berthod
fuhr zwölf Jahre lang
Speed-Rennen im
Weltcup. Dann wollte
sie einen Bruch. Nun
ist sie Rettungssanitäterin bei der Ambulanz Sitten.
Rabea Grand sah sich
nie nur als Skirennsportlerin. Neben den
Einsätzen im Weltcup
erwarb sie einen
Bachelor in Kulturwissenschaften. Seit
2015 ist sie Dramaturgin an einem Theaterfestival in Bern.
Im Moment ist das einfach Interesse. Ich
habe das Studium damals geliebt, und ich
wollte es unbedingt fertig machen. Ausserdem glaube ich, dass Physik eine sehr gute
Grundlage für vieles ist. Es ergeben sich zum
Beispiel Schnittstellen zwischen Sport und
Wissenschaft oder zwischen Aviatik und
Wissenschaft – das sind Felder, die mich
interessieren würden.
Sie studieren Physik, Ihre frühere Teamkolle­
gin Rabea Grand macht im Theater Karriere.
Das sind nicht die Dinge, die man unbedingt
von Skifahrern erwartet.
Da müssen Sie vielleicht Ihr Bild von den
Skifahrern überdenken. Ich glaube, Spitzensportler sind sehr unterschiedlich. Homogen
sind sie nur in ihrem Interesse und ihrer Hingabe für den Sport. Aber jeder hat daneben
noch andere Interessen.
Kann man jahrelang auf den Sport fixiert sein
und am Abend im Zimmer noch Goethe lesen
oder sich mit Quantenphysik beschäftigen?
Ja, das kann man. Ich habe auf meinen
Reisen viele Physikbücher gelesen, einfach
aus Interesse. Es stimmt schon, dass man
nicht die Energie hat, um sich noch intensiv
um so etwas zu kümmern. Aber es ist wichtig, einen Ausgleich zu haben. Es ist nicht
nur positiv, wenn sich immer alles einzig und
allein um den Skisport dreht.
Ist es schwer, da ein Gleichgewicht zu finden?
Gerade weil mir der Sport so wichtig ist,
muss ich zwischendurch etwas Abstand
nehmen. Alle sagten immer: «Bode Miller ist
so crazy.» Ich glaube, er hat sich sehr gut
überlegt, warum er was machte. Er ging
seinen Weg und schuf sich seine Freiräume.
Klar, ist Skifahren auch ein Mannschaftssport, und es braucht einen riesigen Einsatz
der Trainer, um solche Fenster zu öffnen.
Aber es würde sich lohnen, der Individualität
der Athleten etwas mehr Platz einzuräumen.
Manches käme wohl etwas besser heraus,
wenn man innerhalb des Zirkus nicht immer
alles so wahnsinnig ernst nähme.
Haben Sie das Gefühl, dass Sie eine Ausnahme
waren?
Jeder Spitzensportler ist eine Ausnahme.
Was ist denn der Standard?
Sie arbeiteten mit einem Sportpsychologen
zusammen. Wären Sie ohne ihn auf der Stre­
cke geblieben?
Mit meiner Geschichte wahrscheinlich
schon. Es war auch für ihn eine grosse Herausforderung, dass immer noch etwas kam,
das man sich nicht vorstellen konnte. In den
unmöglichsten Momenten mussten wir uns
fragen: Wie gehen wir nun damit wieder um?
Er war auch gefordert, und er hat mir sehr
geholfen. Ich sage aber nicht, dass jeder
Athlet einen Mentaltrainer braucht. Es gibt
sehr viele, die auf natürliche Weise sehr
lange sehr vieles richtig machen. Als mich
mein Arzt erstmals zu meinem späteren
Sportpsychologen schickte, sagte der: ‹Du
brauchst mich nicht.› Das war der Grund,
weshalb ich später mit ihm arbeiten wollte.
Wie steht es generell um die Mentalbetreuung
im Skirennsport?
Das ist etwas sehr Intimes und Individuelles. Deshalb wäre es verfehlt, wenn man
versuchen würde, vom Verband den Athleten jemanden vorzusetzen. Ich würde auch
«Ich möchte in der
Business-Fliegerei
als Pilotin einsteigen.
Man kann das gut
neben einem Studium
machen.»
nie wollen, dass mein Mentalcoach mit dem
ganzen Team arbeitet. Darum ist es gut so,
wie es heute ist: Jeder kann selbst entscheiden. Hinzu kommt, dass man im Sport
immer wieder Extremsituationen ausgesetzt
ist. Man muss lernen, diese selbst zu meistern. Auch wenn man einen Mentaltrainer
hat, kann der einen nicht an der Hand
nehmen und über die Piste begleiten.
Beim Rücktritt haben Sie gesagt, Sie müssten
Ihre Mitte wieder finden. Was war da genau
verloren gegangen?
Im Sport führt man ein Leben, in dem man
alles gibt. Dann kann es schnell passieren,
dass man auch einen Teil von sich gibt, bei
dem man nachher spürt: Oha, der fehlt jetzt.
Das ist nicht tragisch, ich habe immer so
gelebt. Aber ich geniesse es jetzt sehr, auch
einmal auf dem Balkon zu liegen und ein
Buch zu lesen. Oder ins Kino zu gehen. Und
nicht immer das Gefühl zu haben: Das und
das muss ich noch fürs Training tun, und
spätestens um 18 Uhr 30 muss ich essen,
sonst ist das nicht gut... Einfach sein zu
können – das tut gut.
Dafür werden Sie bald weniger Zeit haben, im
September beginnen Sie ein Physikstudium.
Nehmen Sie Nachhilfe in Mathematik?
Nein, ich muss das selbst aufarbeiten.
Wenn ich damit nicht durchkomme bis im
Herbst, lasse ich das Studium gescheiter
gleich bleiben. Ich muss kämpfen: Es ist zehn
Jahre her seit der Matura. Aber ich habe alle
meine Mathe-Ordner aufbewahrt und nun
wieder aus dem Keller geholt.
Was bezwecken Sie mit dem Studium? Streben
Sie eine akademische Karriere an?
Sie bestanden die Selektion zur Kampfet­
piloten­Ausbildung und schafften den Nume­
rus clausus für Medizin. Das ist sicher nicht
der Standard.
Klar, bin ich einen anderen Weg gegangen.
Aber das hatte damit zu tun, dass ich mit 14
Jahren schwer verletzt war, drei Jahre keine
Rennen fahren konnte und aus dem System
fiel. Je länger ich jedoch im Spitzensport
unterwegs war, desto mehr sagte ich mir:
‹Wer ist keine Ausnahme? Tina Maze, Anne
Fenninger, Lara Gut – sind das keine Ausnahmen?› Man kann alle aufzählen, die viel
gewonnen haben: Jede ist auf ihre Art speziell. In einem Bereich, der extrem kompetitiv ist, muss jeder seinen eigenen Weg
finden. Ich finde, man sollte das mehr zulassen und die Athleten weniger in ein Schema
pressen.
Apropos grosse Namen – es gibt einen span­
nenden Zufall in Ihrer Karriere: Sie haben
Ihren ersten Sieg mit Anja Pärson geteilt und
den letzten mit Tina Maze, also mit der jeweils
besten Fahrerin der Epoche. Haben Sie sich
einmal Gedanken darüber gemacht?
Als kleines Mädchen habe ich mir das
gewünscht, ich wollte den Final im Ovo
Grand Prix gemeinsam mit Tamara Wolf
gewinnen. Einen ganzen Sommer lang habe
ich mir das vorgestellt. Dann ist es mit Anja
und Tina Wirklichkeit geworden, das war
wirklich speziell. Für mich heisst siegen
nicht, alle anderen zu schlagen. Der Sieg
besteht darin, dass man seine Leistung zu
hundert Prozent abrufen kann. Wenn dann
noch eine andere neben mir steht – na und?
Wäre es für mich nur darum gegangen, alle
anderen zu schlagen, hätte ich meinen Weg
gar nicht gehen können. Dann hätte ich aufgegeben, weil ich zu lange zu weit entfernt
davon war, irgendjemanden zu besiegen.

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