Kap. 2 "No risk no win" oder "Jetzt bin ich eine freie Frau"

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Kap. 2 "No risk no win" oder "Jetzt bin ich eine freie Frau"
Kap. 2
"No risk no win" oder "Jetzt bin ich eine freie Frau"
Dirk Planert
Bihac´ im Januar 94
Noch fünf Kilometer, noch einen Kilometer, noch 500 Meter, dann die letzte
Linkskurve. Vor dem Stahltor der „Sixt von Arnim Kaserne“ im hessischen
Wetzlar stehen mehrere Gestalten im seichten Regen. Die Kleine wiederholt
mehrmals in gebrochenem Deutsch: "Da ist meine Mutter, ja, da ist meine
Mutter...".
Ich halte vor dem Tor, steige aus und bekomme das, was ich als meinen Lohn
bezeichne. Elvira klettert über den Fahrersitz und nimmt ihre Mutter nach über
zwei Jahren endlich wieder in die Arme. Kurz darauf stehe ich im Zimmer der
Familie E.. Als ich Elvira`s Foto auf dem Fernseher stehen sehe, muss ich
mehrmals tief Luft holen, damit Tränen der Freude und der Erleichterung nicht
auf die vergangenen drei Wochen zurück schließen lassen. In großen Zügen
spüle ich den Whisky herunter, der auf dem Tisch steht. Am 20. Dezember hatte
ich schon einmal in diesem Zimmer gestanden.
Die Geschichte mit Elvira hatte ihren Anfang, als die Direktorin des Rot-KreuzLagers für bosnische Flüchtlinge in Wetzlar die Papiere für die Kleine bei
meiner Mutter abgegeben hatte. In der hessischen Kleinstadt hatte es sich
herumgesprochen, dass ich regelmäßig das Land in Richtung BiH verlasse.
Ausschließlich die Aufnahmebestätigung im Lager in Wetzlar, so dachte die
engagierte Frau, würde ausreichen, damit Elvira Bihac´ verlassen kann. Diese
sinnlosen Papiere sollte ich nun mitnehmen. Ich rief im Lager an und klärte die
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Direktorin über die Situation auf: "Der Kessel von Bihac´, die Bezeichnung
stammt vom Internationalen Roten Kreuz, ist umstellt von Militärs der Krajinaund der bosnischen Serben, die sämtliche Zufahrtswege kontrollieren. Rein oder
raus kommen ist eigentlich ausgeschlossen. Papiere jeder Art dienen als
Toilettenpapier". Außerdem sagte ich ihr, dass die Siebzehnjährige, sollte sich
keine andere Möglichkeit ergeben, für die Fahrt von Velika Kladusa bis
Karlovac´ (also durch die Krajina hindurch) 2000,- Mark an Abdic´ bezahlen
müsse. Wie, das weiß ich nicht, aber Flüchtlingsfamilie E. organisierte das Geld
innerhalb von 24 Stunden. Offensichtlich war es den Versuch wert. Sonst hätte
ich eine Kirchengemeinde, irgendeinen Unternehmer oder sonst wen um ein
bisschen von dem lustigen, bedruckten Papier gebeten. Den Hanomag voll bis
unter das Dach mit Medikamenten (Gesamtvolumen unseres Weihnachtskonvois
mit 7 Lkw runde 2,5 Millionen Mark) startete ich völlig übermüdet von den
Vorbereitungen in Siegen und machte den ersten Halt in Wetzlar. Die Direktorin
des Lagers, eine bemerkenswerte Frau Mitte dreißig, führte mich über das
Gelände der alten Bundeswehrkaserne in das spartanisch eingerichtete Zimmer
der Familie E.. Elvira`s Foto auf dem Fernseher war das Einzige, was sie von ihr
hatten. Ich prägte mir ihr Gesicht ein und versprach Mama E., alles zu
versuchen, damit Elvira bald bei ihr sein könne. Um sie nicht zu sehr
enttäuschen zu müssen, machte ich ihr klar, dass es völlig unmöglich sei, ihre
Tochter aus dem Kessel herauszubekommen. Die Chancen stehen 99 zu 1 gegen
uns. Dido (Opa) und Baka (Oma), die Großeltern, wünschten mir viel Glück. In
den Augen der alten Dame sammelte sich das Wasser, sie küsste mich, nahm
meinen Kopf zwischen die Hände. Der Rest der Familie schloss sich der
Verabschiedung an. Acht Menschen, davon ein Kind, der übriggebliebene Teil
der Familie E., die mir die Hoffnung in die Hände legten, eine der Ihren bald bei
sich zu haben. Und doch wussten wir alle, dass die Chancen verdammt schlecht
standen. Abgesehen davon, dass niemand sicher sein kann. Vielleicht wird es
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meine letzte Tour - ohne Rückfahrschein. Mehr als eine Mark, die Kosten für
eine Kugel, ist in Bosnien kein Menschenleben wert.
Heiligabend verbrachte ich mit Dieter und Simone, also 3/7 unseres Konvois, im
Motel Plitvice, nahe Zagreb. „Mozart`s kleine Nachtmusik“ klang von
Karlovac´ herüber; leichte Granateinschläge, MG und Kalschnikov Feuer. Es ist
seltsam,
Weihnachten ohne die Familie. Zugegeben, meine Weihnachtsgeschichte war
mir bereits zu diesem Zeitpunkt lieber, als zu Hause mit gefalteten Händen in
der Kirche zu sitzen und das dann auch noch Gottesdienst zu nennen.
Der Konvoi brauchte zwei Tage von Karlovac´ bis Bihac´. Gerade von der
Hauptstraße kurz vor dem Nationalpark Plitvice abgebogen, rutschte einer der
7,5 Tonner Lkw`s in den Straßengraben. Wir hatten einen halben Meter Schnee,
und ebenso tief hing das rechte Vorderrad samt Achse fest. Der Konvoi stand die Dämmerung brach ein. Kaum dreißig Kilometer von unserem Ziel entfernt
hörten wir das mörderische Geschäft an der Front. Von irgendwo kamen ein
paar Soldaten mit einem Traktor. Für 100,- Mark und 50 Liter Diesel zogen sie
den Lkw wieder auf die völlig zu geschneite Straße. Mit dem Hanomag fuhr ich
vor, um die Spur für die anderen Lkw in den Schnee zu schlagen.
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Eine Nacht verbrachten wir an dieser stillgelegten Tankstelle, kurz vor der Einfahrt in den Nationalpark
Plitvice. Auf der anderen Seite hatte die UNPROFOR ihr Quartier eingerichtet. Reingelassen haben sie uns
nicht, trotzdem erschien es uns vernünftiger in ihrer Nähe zu übernachten. Rechts die Berge, dahinter die WestFront um Bihac´.
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Ein paar Stunden zuvor hatten mir schon einmal zwei serbische Soldaten und ein
paar ECM`s (Beobachter der europäischen Gemeinschaft) geholfen, die
Schneeketten auf den Hanomag zu ziehen. Es ist paradox, dass sie ausgerechnet
uns zur Hand gegangen sind, denn immerhin belieferten wir die Menschen, die
das serbische Militär vertreiben oder töten wollte.
Der bosnische Winter hatte uns viel Zeit gekostet. Jedoch keine nennenswerten
Probleme, außer der mörderischen Kälte. Die Lkw wurden am Krankenhaus in
Bihac´ und bei unserem Freund Husnija entladen. Bei ihm wurden wir jedes mal
aufgenommen, als gehörten wir zu seiner Familie.
Tom hatte Husnija, seine Frau Visa und die Töchter Mira und Alisa acht Jahre
vor dem Krieg im Urlaub an der Adria kennengelernt. Wie tief diese
Freundschaft ging, sollte sich erst in den Jahren des Krieges zeigen. Als der
Krieg losging, studierte Mira Lehramt an der Universität in Banja Luka. Von
einem Tag auf den anderen konnte sie nicht nach Bihac´ zurückkehren. Die
Straßen wurden gesperrt. Als Muslima saß sie fest, bis das Internationale Rote
Kreuz sie nach Zagreb evakuierte. Zum Glück hatte sie 40,- Mark. Denn soviel
verlangte das ICRC für die Busfahrt Banja Luka - Zagreb. Von dort holte Tom
sie ab und schmuggelte sie nach Deutschland. Für ihn war es nicht hinnehmbar,
dass seine Freunde ohne Hilfe und Lebensmittel im Kessel festsaßen. Viermal
versuchte Tom allein mit seinem vollgeladenem VW-Bus durchzukommen,
doch spätestens in Turanj, einem Vorort von Karlovac´, war immer Stop. Durch
irgendeinen Zufall hörte Tom von Dieter. Der alte Haudegen hatte bereits einige
Kriege als Fahrer humanitärer Hilfe hinter sich. Für Dieter war, wie er mir
später erzählte, klar, dass er mit Tom nach Bihac´ fahren würde, als Tom gesagt
hatte: "Es ist unmöglich". Die beiden taten sich zusammen und kamen
tatsächlich durch. Die Bihac´-pomoc´ (Hilfe) hatte ihren Anfang gefunden. Seit
der dritten Hilfslieferung der Beiden war auch ich dabei und hatte Husnija
kennen und schätzen gelernt. Man hatte sogar einmal für das ganze Stadtgebiet
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den Strom angestellt, damit Tom, Dieter und ich im Hause der Familie K. warm
duschen konnten. Husnija organisierte alles, was vor Ort notwendig war. Ohne
ihn wäre eine solch effektive Verteilung, wie wir sie immer praktizierten,
nahezu unmöglich gewesen.
Aber zurück zu der Geschichte mit Elvira. Am zweiten Tag telefonierte Husnija
mit Elvira, die mich bereits erwartete. Sie wusste nur, dass ein Deutscher
kommt, mehr sollte ihre Mutter ihr über Satellitentelefon nicht sagen.
Vor mir stand ein kleines Mädchen mit rötlich gefärbten Haaren, eine HB
zwischen ihren schmalen Lippen, langem schwarzen Mantel und seltsam
glänzenden Schuhen, wie sie die Mädels in ihrem Alter eben tragen.
Wir checkten die Formalitäten. Erst einmal brauchte ich ihre Bestätigung, dass
sie Bihac´ tatsächlich verlassen wollte. Abklären welche Papiere uns zur
Verfügung stehen, welche nicht, was sie mitnehmen darf und was nicht. Sie
sagte kaum einen Ton, alles lief über Abdulah, unseren bosnischen Übersetzer in
Bihac´. Für den nächsten Tag verabredeten wir uns, um die Papiere vom ICRC
zu besorgen. Dort wurde mir bereits nach fünf Minuten klar, dass wir von Seiten
des Internationalen Roten Kreuzes keinerlei Hilfe zu erwarten hatten. Kinder bis
14 Jahre und alte Menschen ab 60 Jahre kommen, wenn sie dies beantragen, auf
eine Evakuierungsliste. Dann müssen sie warten. Wie lange weiß vorher
niemand. Alle anderen haben keine Chance. Um wenigstens ihre bosnischen
Papiere in deutscher Sprache vorliegen zu haben, schickte ich sie zum
Übersetzer.
Noch am selben Abend fuhr ich mit dem Hanomag, wegen der Dunkelheit mit
schusssicherer Weste, zu ihren Großeltern, um mit ihnen zu sprechen. Dido, der
Großvater, hatte überragend guten Slibovic. Wir kippten innerhalb einer Stunde
eine ganze Flasche weg, zu dritt, denn mein Freund und Übersetzer Abdulah war
auch dabei. Wichtig war, für den Fall, dass ich Elvira tatsächlich irgendwie raus
kriegen sollte, dass niemand etwas davon erfuhr. Fast alle wollten raus. Husnija
wäre in Teufels Küche gekommen, wenn es sich wie ein Lauffeuer
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herumgesprochen hätte, wer die Tore in die Freiheit für einen Menschen
geöffnet hat. Mehrfach versuchte ich, den Großeltern klarzumachen, dass ich
fürchterlich ausflippen würde, wenn ich mitkriegen sollte, dass ich irgendetwas
mit Elviras verschwinden zu tun habe. Außerdem, sagte ich ihnen, wären sie
dann daran Schuld, wenn Elvira die erste und letzte sein würde, die wir
rausbekommen. Wir einigten uns darauf, dass sie offiziell über das ICRC in
Cazin die Bihac´-pocket verlassen haben wird.
Ein großes Problem lag noch immer vor uns. Mangels Zusammenarbeit mit dem
ICRC hatten wir keine Papiere für die von Serben okkupierte, kroatische
Krajina. Ohne die Papiere durchzufahren, ohne das notwendige Transitvisum für
Kroatien, das war uns zu heiß. Immerhin war ich nicht allein. Dieter und Simone
hätten das Risiko mittragen müssen.
Kurz vor unserer Abfahrt sprach ich mit Elvira: "No way, we need more
papers". Es ärgerte mich wahnsinnig, doch die Vernunft hatte Vorrecht. Was
passiert, wenn sie die Kleine im Hanomag finden?
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Der Hanomag im Oktober 98 auf dem Weg nach Bihac´. Weil Turanj unter Beschuß lag, mußten wir
über Sisak und Petrinja fahren. Am UN-Checkpoint zwischen Kroaten und Serben in der Nähe von Zagreb Fotografieren verboten. Theo hat aus der Hüfte abgedrückt.
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Ich hatte ihrer Mutter versprochen, sie auf jeden Fall lebend aus dem Kessel
herauszuholen und das ohne einen ungeplanten Aufenthalt im „Erholungsheim“
(Konzentrationslager) Prijedor oder Banja Luka. So mußte ich Elvira vorerst
zurücklassen. Die Seifenblase der Freiheit war geplatzt.
4/7 des Konvois waren schon vor Sylvester wieder aufgebrochen. So fuhren
Dieter den M.A.N., die 19jährige Simone den 7,5 Tonner und ich den Hanomag
wieder nach Zagreb zurück.
So leicht wollte ich nicht aufgeben. Dank Theos wahnsinnig lieber Familie
konnte ich mich noch ein paar Tage in Zagreb einnisten. Auch Theo hat wie
Dieter mehrere Kriege hinter sich. Theo jedoch als Journalist. Er wohnt bereits
ein paar Jahre in Zagreb und kennt durch seine Arbeit alle für uns notwendigen
Ministerien.
Seine Kenntnis des Landes, sein Talent zur Improvisation und sein Mut mit dem
notwendigen Funken Überlebenstrieb, machten ihn zum unersetzlichen Helfer
unserer Arbeit. Besonders was den Papierkrieg betrifft. Das Problem mit den
Papieren ist oft eine an den Haaren herbeigezogene Begründung, um
Hilfstransporte an irgendeinem Checkpoint nicht passieren lassen zu müssen. In
Windeseile, nach kroatischer Zeitmessung, besorgten wir in Zagreb Elviras
Transitvisa für Kroatien und für mich die UN-Presscard, damit ich ungehindert
die Checkpoints zwischen den Fronten passieren konnte. Unzählbare Versuche,
durch die Linie in Turanj, zwischen Kroaten und Krajina-Serben, hindurch
zukommen, schlugen fehl, weil eine Sondergenehmigung des kroatischen
Verteidigungsministeriums fehlte. Wie festgebissen an der Idee, das Mädchen
zu seiner Mutter bringen zu können, düsten Theo und ich von einem
Ministerium zum anderen. An einem dieser Tage Anfang 94 passierte ich zum
zweiten Mal die Front zwischen den Krajina -Serben und den Kroaten. Noch
versuchten wir es offiziell und legal. Zu unserem Glück hören Theo und ich
beide auf das Gefühl im Magen, sonst hätte irgendein Scharfschütze uns
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zwischen Kladusa und Cazin in den Kopf geschossen. Der serbische Obersheriff
der Region, so einer mit Rambo-Messer, Goldkette und Schnurbart, wollte uns
in einen Hinterhalt locken. Wir hatten mit ihm über Elvira verhandelt.
Wir machten kehrt am Checkpoint kurz vor Kladusa, also dem oberen Teil des
Kessels. Doch bevor wir fünf Stunden nach unserer Einfahrt in die Krajina diese
wieder verlassen wollten, zog es Theo zu unserem serbischen Vertrautem, der
kurz vor der Frontlinie in Turanj bei seinen Eltern wohnte. Der junge Milizionär
saß gerade am Spieß und drehte ein Spanferkel. Seine Mutter legte mir ihre
Weste über die Schultern. Mein Frösteln war ihr nicht entgangen. Ich erfuhr,
dass Srbska Vojska, das serbische Militär, 170 Funkgeräte an Abdic´ geliefert
hatte. Sinn und Zweck konnte nur sein, daß Abdic´ Soldaten, sollte es zu einer
Offensive kommen, die Stellungen des 5. Korps an die Serben durchgeben
könnten und die bosnischen Borazi (Krieger) der Stadt Bihac´ dann ganz
fürchterlich eins über die Rübe bekommen. Sava vermutete den Frühling als
Zeitpunkt für eine Großoffensive gegen Bihac´. Der Kessel von Bihac´ bildet die
Form eines Eies. Am obersten Punkt liegt die Stadt Velika Kladusa. Ein Stück
darunter, östlich der Mitte - Cazin. Runde 80 Kilometer von Kladusa, ganz
unten in dem Ei - die Stadt Bihac´. Einige Wochen, bevor wir aus Deutschland
gestartet waren, hatte der moslemische Bruderkrieg zwischen Cazin und
Kladusa begonnen. Fikret Abdic´, von seinen Anhängern Babo (der Vater)
genannt, war vor dem Krieg, wie man sagt, der Dr. Oetker Jugoslawiens. Seit
der Eroberung der Krajina durch die Serben konnte nur er seine Lkw durch die
Krajina in das Gebiet des Bihac´ Kessels transportieren. Babo machte also die
Preise - zu der Zeit acht Mark für ein Kilo Zucker. Die Lkw fuhren die Route
Karlovac´ - Vojnic´ - Kladusa und waren damit im Kessel. Das einige Lkw
weiterfuhren bis Banja Luka und Prijedor und damit das Embargo gegen die
Serben
umgingen,
das
war
der
internationalen
Staatengemeinschaft
offensichtlich egal. Der Wegzoll wurde erbracht. Abdic´ stand gut mit den
Serben. Dann wurde er größenwahnsinnig und rief die "Autonome Republik
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Westbosnien" aus. Damit verstieß er gegen die Verfassung Bosniens und löste
den Bruderkrieg aus. Wörtlich zu nehmen, denn nicht selten kam es vor, dass
Brüder aufeinander schossen, bloß weil der eine in Kladusa und der andere in
Bihac´ wohnte.
Diese eigentlich geheimen Informationen über die 170 Funkgeräte und die
daraus resultierenden Schlüsse erzeugten in mir ein Bild der zukünftigen
Situation in der Stadt, das meinen Entschluss, Elvira da herauszuholen, nur
bestärken konnte. Unser serbischer Kontaktmann selbst hatte kurz zuvor im
Hause "Babo" gesessen und mit eigenen Augen gesehen, wie Fikret Abdic´
seine Position festigte. Mit Whisky und Zigaretten. "Wieviel willst du
haben...?", scheint seine Strategie zu sein, seine Macht zu potenzieren. Er kauft
sich seine Leute. Dreckiger Verräter !
Savas Eltern hatten uns ein Gastzimmer eingerichtet. An diesem Tag wurde das
orthodoxe Weihnachtsfest gefeiert. Ich weiß nicht mehr, wie spät es war. Ich lag
im Bett, rauchte die x-te Zigarette, während Theo schnarchend das Nirvana
abgraste. Mit stetiger Steigerung ging es los. Zuerst Kalschnikov-Feuer, dann
ein Maschinengewehr. Es war derartig laut, die Stellung kann nicht mehr als 500
Meter von uns entfernt gewesen sein. Von Zeit zu Zeit dröhnte eine Detonation,
Minen oder Granaten, ich wußte es noch nicht genau zu unterscheiden. Es war
nichts weiter als das Weihnachtsfest im Krieg. Ich wusste jedoch nicht, ob die
Idioten von Kroaten soweit denken konnten und das ganze eventuell für einen
serbischen Angriff hielten. Ich lag genau im Einschussbereich der kroatischen
Granatwerfer. Damit mir im Falle eines Treffers nicht die Glasscherben ins
Gesicht flogen, drehte ich mich vom Fenster weg und schlief ein.
Nach ausführlichem Gespräch mit dem Offizier Sava war klar, dass wir nicht die
Möglichkeit hatten, Elvira legal aus der belagerten Stadt herauszuholen. Am
nächsten Morgen fuhren wir zurück nach Zagreb. Nach einer gedankenschweren
Nacht stand unser Entschluss fest: Wir fahren die Pomoc´- Route über LickoPetrovo Sello und holen sie - durch die Krajina hindurch - illegal raus. Dazu
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kam von Dieter aus Deutschland die Meldung, daß Tom verschwunden war. Das
war an einem Samstag. Der Wahnsinnige war am Freitagmorgen um 8.00 Uhr in
Bihac´ losgefahren und am Samstag noch nicht in Kroatien angekommen. Tom
hatte die Route durch den moslemischen Bruderkrieg gewählt: Bihac´ - Kladusa
– Karlovac´. Theo und ich rasten, nun wegen Elvira und Tom, wieder zum
Checkpoint Turanj. Kein Durchkommen, weil mir zu diesem Zeitpunkt noch die
kroatische Presseakkreditierung fehlte. Samstag: wieder zu allen möglichen
Ministerien. No way – übers Wochenende geschlossen. Wir gingen in eine Bar
in der Nähe des kroatischen Parlamentsgebäudes und begannen ein wenig zu
trinken. Zu Hause bei Theo angekommen, fuhr ich mit seiner Frau Maja in den
nächsten Laden und kaufte eine Flasche Vodka. Es wurde eine sehr schöne
Nacht. Mittendrin konnte ich endlich weinen - ein paar Tränen, wie eine
Erlösung. Selbst Theo, dem besten Kriegsreporter, den ich kennengelernt habe,
kullerten sie an den Wangen herunter. Wenn einem der alltägliche Krieg
bewusst wird, dann ist es so befreiend, endlich weinen zu dürfen. Lachen und
Weinen lagen in dieser Nacht Arm in Arm wie ein sich ewig liebendes Paar.
Den Tag darauf brauchten wir zum Auskurieren.
Erst am Montagmorgen, Tom war bereits in Deutschland angekommen (also
falscher Alarm), ging es wieder los. In berauschendem Tempo besorgte ich mir
die kroatische Presscard und eine Sondergenehmigung, um sämtliche kroatische
Frontlinien durchfahren zu dürfen. An einem Hotel kurz nach der Ausfahrt
Zagreb, noch in dem Gebiet, in dem der Krieg nicht in der Luft liegt, rief ich
meinen einzigen Vertrauten an. Vater wusste Bescheid: "Es geht los, wir
versuchen ES jetzt“. Mehr war über Telefon nicht notwendig. Ich meine, mich
an 24 Stunden erinnern zu können, die ich uns gegeben hatte, bis er Dieter, Uwe
und das Auswärtige Amt in Bonn anrufen sollte, für den Fall, dass was
schiefginge. An keinem Checkpoint gab es Probleme, nichts als die übliche
Scheiße. Bereits anderthalb Stunden nach Passieren des ersten serbischen
Checkpoints standen wir vor Bihac´. Aus irgendeinem Grund hatte unser
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„Freund“ Sava die Papiere für die Durchfahrt nur bis zum letzten serbischen
Kontrollpunkt vor Bihac´ ausgestellt. "Kurz vorm Lokus in die Hose"? Der
einzige Mann, der wusste, warum wir eigentlich nach Bihac´ wollten, füllte
unsere Papiere nicht korrekt aus. Das roch sehr verdächtig, war seltsam! Mal
wieder hatten wir Glück. Der Befehlshabende kannte mich. Als er aus dem Dorf
Licko Petrovosello gemächlich auf den Kontrollpunkt zu getappert kam, begann
er schon von weitem zu lächeln. "Hello my friend", und weiter ging es. Mit
Vollgas fuhren wir durch die langgezogene Ebene des Niemandslandes. Die
einzige Stelle der ganzen Strecke, auf die Karadzics Snajper Einblick hatten. In
solchen Momenten werden Fahrer und Auto bis zum letzten gefordert. Die
Geschwindigkeit, mit der wir über die Granatlöcher in den Straßen flogen und in
die Kurven gingen, hätte vermuten lassen können, der Teufel sei hinter uns her.
Mein Körper schien zu explodieren. Das Einzige, das ich in dem Moment, als
wir in die Stadt fuhren, noch fühlte: "Ich bin ein freier Mann".
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Die City in Bihac´. Die Straße aus der das Pärchen kommt, führt zum Krankenhaus (regionalna bolnica
Bihac´). Im Radius von zwei Fußminuten liegt der Marktplatz, Radio Bihac´, das Rathaus und robna Kuca, das
größte Kaufhaus.
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Ich hatte keine pomoc´- Papiere, fuhr als Journalist in die eingekesselte Region,
in die normalerweise nicht einmal eine Maus rein oder raus kommt.
Ich saß am Steuer von Theo`s Volvo. Wir rollten über die Una-Brücke im
Stadtzentrum, dann immer weiter geradeaus. Der kleine Alan stand an einem der
Straßenbunker. Ihm viel regelrecht der Unterkiefer runter, als er uns sah. Ich
hupte, bog links ab, wieder links und stand bei Husnija und Visa vor dem Haus.
Um meinen Hals baumelte die UN-Presscard, in meiner rechten Hand hielt ich
eine Kamera. Fünf Tage zuvor hatte Husnija mir gesagt, daß es mit der pomoc´
vorerst reichte, weil sie ihm sonst nur noch die Tür einrennen würden, doch
wenn ich als Journalist käme, sei ich genauso willkommen in seinem Haus wie
Mira und Alisa, seine Töchter. Und nur fünf Tage später war alles klar !
Ich verschwand für zwei Stunden. Alan begleitete mich zum Übersetzen. Als ich
wiederkam, saß Elvira wie besprochen bei Familie K. im Wohnzimmer. Ich
sprach mit ihr im Klartext. Weder Theo noch ich waren uns dieser Sache ganz
sicher. Ich beschrieb ihr die Möglichkeiten. Entweder wir kommen in Karlovac´
an, und alles ist gut. Oder wir kommen nicht in Karlovac´ an. Ich weiß nicht,
was passiert, wenn Tschetnik die Kleine in unserem Auto findet. Das Einzige
was ich ihr garantieren konnte, war, dass ich mit meinem Leben vor ihr stehe.
Das war alles.
"No risk no win" war ihre einzige Antwort. Damit war mein "go" definitiv klar.
Uneingeplant hatte sich ein weiteres Sicherheitsrisiko ergeben. Die "blöde Kuh"
hatte einen Freund mitgebracht. Niemand kannte ihn. Er saß nur stillschweigend
da. Das hatten wir schon einmal, und da ging es gnadenlos in die Hose. Zwei
Monate zuvor hatte uns jemand aus Bihac´ bei den Serbs verpfiffen.
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Damals hatten sie 800 Kinderbriefe in meinem Hanomag gefunden und mein
Werkzeug, die Fotoausrüstung, beschlagnahmt. Ich war gerade noch
ungeschoren davon gekommen. Wie ich dann von meinem Informanten Alan
erfuhr, arbeitet dieser Typ in der Disco „Hollywood“ in Bihac´. Der Chef dieses
Ladens ist einer der Geldtransporteure Zagreb-Bihac´, gegen prozentuale
Beteiligung versteht sich. Wieder so ein Drecksschwein. Kriegsprofiteur und
einer seiner Leute wusste nun, was abgeht. Wieder sagte ich der Kleinen: "Nein.
Das Risiko ist zu hoch. Ich kenne diesen Mann nicht - ich vertraue ihm nicht. In
Bihac´ ist alles Mafia." Mein Magen begann wieder zu rebellieren. Am nächsten
Morgen versuchten wir es zum zweiten Mal beim ICRC - wieder nichts. Wir
sollten bis 15.00 Uhr auf einen Rückruf warten, der uns sicher nur ein "I`m
sorry, this is not possible" eingebracht hätte. Der Delegierte Mr. Canossa des
ICRC Bihac´ wollte die Sache mit der Leiterin des ICRC Kladusa besprechen.
Die Dame war in der ganzen Region als Hure bekannt. Es wäre dumm gewesen,
nun noch zu warten, bis sämtliche Kriegsparteien über unseren Deal
Informationen erhalten hätten. Ich sah zu Theo rüber: "Paß auf, wenn wir jetzt
auf das Scheiß - ICRC warten, dann ist der Zug abgefahren. Die Kleine ist sich
völlig im Klaren über das Risiko. So, let´s go, Mann, jetzt oder nie"!
Theo und ich fahren zum Marktplatz, bummeln unauffällig herum. Wir warten
auf die Kids. Die Kleine bei Husnija einzuladen, wäre dumm gewesen. Jemand
hätte uns sehen können, und Husnija hätte bis über die Ohren in der Scheiße
gesessen. Arijana, Ilvana und Alan begleiten die Kleine bis zur Kurve hinter
dem Marktplatz. Ich trinke noch schnell einen Sliva für´ne Mark. Könnte ja sein,
dass es der Letzte ist. Wir fahren langsam auf die Gruppe Jugendlicher zu, bis
wir an einer Stelle der Kurve ankommen, die niemand einsehen kann. Stop! Tür
auf! Die Kleine rein und ab dafür !
Hinter dem Stadtschild Bihac´ drehe ich mich um und verpackte sie unter
Theo`s Trenchcoad, der Fototasche und der schusssicheren Weste. Sie lag mit
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dem Bauch in Fahrtrichtung. Den Leerraum zwischen linker Tür hinten und
ihrem Kopf nahm mein Aktenkoffer mit der dicken Aufschrift "Pomoc´" ein.
Genau in dem Moment, als ich fertig war, sagte Theo: "Checkpoint". Ich sauste
geradezu nach vorne.
Es war der erste bosnische Kontrollpunkt. Unsere UN-Presscards und der
routinierte militärische Gruß öffneten die Schranke. Am zweiten bosnischen
Checkpoint dasselbe - no problem. Ab hier gab es kein Zurück! Point of no
return.
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Die Minen lagen schon lange nicht mehr auf der Straße zwischen den Fronten.
Irgendwer von den UN war über eine drüber gefahren. Man hatte sie an den
Straßenrand geräumt - jederzeit einsatzbereit.
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Scharfschützen von links – aus dem Osten die Karadcic´ Serben, ab Herbst 94 auch die Krajina Serben
von Mile Martic´ aus dem Westen. Im Dezember 94 brechen die Soldaten der „Republica Srpska Krajina“ bis
300 Meter vor das Regionalkrankenhaus durch. Bihac´ist eine von 6 UN-Schutzzonen.
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Der dritte Checkpoint in der Pink Zone war die UN. Ebenfalls kein Problem.
Die Nummern unserer Presscards und die Autonummer wurden notiert und go.
Die Kleine gab keinen Laut von sich. Mir war wahnsinnig heiß. Sie muss sich,
unter dem ganzen Kram versteckt, gefühlt haben wie in der Sauna. Damit waren
wir auf serbischem Gebiet. Langsam kam der Checkpoint Licko Petrovo Sello
näher. Fünf Serben liefen aus ihrem Wohnwagen direkt auf uns zu. Genau in
diesem Moment zog ein UN-Jeep aus einer Seitenstraße von rechts vor uns. Drei
Serbs checkten den Jeep, zwei steuerten uns an. Theo und ich verließen
gleichzeitig den Wagen, damit sie nicht zu nahe kamen. Ruck zuck war alles
klar, wir konnten passieren. Wieder ging es die Berge hoch. Die Straße war
mittlerweile frei vom Schnee. Links im Tal konnte ich die Landebahn des Bihac
Airport sehen.
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Ein Dorf in der Nähe von Slunj in der Krajina. Bis auf die größte Stadt zwischen Karlovac´ und Bihac´
sind die meisten Häuser geplündert und zerstört.
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Der nächste Checkpoint erwartete uns kurz vor Slunj. Das Übliche - vorzeigen
der UN-Presscard und go. Noch ein serbischer Checkpoint direkt hinter Slunj.
Die Schranke war auf. Wir wurden einfach durchgewunken. Damit waren wir
im Gebiet des Sheriff´s von Vojnic´. Es verlief alles problemlos, bis auf das uns
ein Unfall oder eine normale Polizeikontrolle den Kopf gekostet hätte. Sava,
unser Mann in Tusilovic´ hatte um 15.00 Uhr Feierabend. Um auf keinen Fall
das Vertrauen dieses für uns so wichtigen Offiziers zu verlieren, fuhren wir zu
seinem Privathaus. Jedes mal beim Verlassen der Krajina verabschiedeten wir
uns von ihm. Hätten wir es ausgerechnet diesmal nicht gemacht, hätten wir
einen Verdacht erregt. Wir waren bereits runde drei Kilometer vor Karlovac´.
Elvira wartete versteckt, unsichtbar. Unser serbischer Freund war nicht zu
Hause. Seine Mutter gab Theo einen Brief. Um nicht eilig zu erscheinen,
tranken wir mit der Alten und ihrem Mann einen Kaffee und drei Sliva. In dem
Brief stand, dass Sava mit einem entscheidenden Mann im Bezirk Vojnic´ über
die Sache mit der Kleinen gesprochen hatte. Mit Geld ist in diesem Land alles
möglich. Für 10.000 - 20.000,- Mark hätten wir sie raus kaufen können. Wir
hinterließen Sava schöne Grüße, ein herzliches Dankeschön für seine Mühe und
die Zusage, ihn bald wieder zu besuchen. Zwischendurch war ich im Volvo, "um
Zigaretten zu holen". Ich wollte Elvira beruhigen. Von außen hätte unmöglich
jemand sehen können, dass ich nicht zum Zigaretten holen im Auto war. Ich
sagte Elvira, dass sie ganz ruhig bleiben solle, alles wäre okay und es gäbe
keinen Grund, nervös zu sein. Nach maximal 25 Minuten ging es weiter. Vor
dem letzten serbischen Checkpoint war das letzte, was Elvira von mir hörte:
"Samo josh pet Kilometer" (nur noch fünf Kilometer). Ihre Antwort war: "Dirk,
wo ist meine Panzier?". Sie meinte die Weste - Angst vor Beschuss. Als wir die
Steigung vor dem letzten Checkpoint genommen hatten, war das unser
geringstes Problem. UN-Truppenbewegung - die linke Fahrspur war voll mit
UN-Lkw. Soldaten, die über Weihnachten den Damen für 100,-Mark in Zagreb
einen Besuch abgestattet hatten.
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Sofort standen vier Mann und eine Frau in der typischen blauen Uniform vor
uns auf der Straße. Ich hörte nur immer wieder: "Controlla, Controlla,...". Theo
fuhr rechts um den dicken, uralten Baum herum und hielt den Wagen an, ohne
den Motor auszumachen. Die fünf mit Kalaschnikov Bewaffneten kamen sofort
auf uns zu und kreisten um den Wagen wie Fliegen um einen Haufen
Pferdemist. Theo musste sofort den Kofferraum öffnen. Einer der Soldaten
wühlte nervös darin herum, als suchte er etwas Bestimmtes. Theo gab ihm einen
Kanister mit 25 Liter Super. Rund ein Jahr Arbeit für einen serbischen
Polizisten. Die Jungs verdienen knappe 2,- Mark im Monat. Der Typ quatschte
irgendetwas davon, dass er jetzt erst seinen Chef holen müsse für "controlla".
Theo brach sich wieder einen ab mit seinem selbst für mich fast
unverständlichem Serbokroatisch. Die Situation spitzte sich zu.
Ich bin äußerlich die Reinkarnation der Ruhe und Ausgeglichenheit. Irgendwas
liegt in der Luft, als hätten sie eine Information, über unser Vorhaben. Ich weise
sie daraufhin, dass ich nochmal nach Bihac´ gefahren sei, weil ich den Musels
nicht vertraue und doch mal gucken wollte, ob sie meine pomoc´ nicht
verkaufen. Die Beifahrertür wird geöffnet, dann die Fahrertür. Als sie die hintere
Tür öffnen wollen um zu sehen was unter dem Berg auf der Rücksitzbank liegt
folge ich einem Reflex. Die Frau in der blauen Uniform steht mir gegenüber und
schwingt ihre Hüften kurz von links nach rechts. Ich lache laut, sage das ich
schon lange nicht mehr gefickt habe, gehe energisch auf sie zu und mache ihre
Bewegungen übertrieben nach, reibe meine Hüfte an der ihren. So manche Frau
hätte darauf mit einer Ohrfeige geantwortet. Alles lachte! Einer der Männer geht
an das hintere Fenster, um auf dem Fensterglas unsere Durchfahrtsgenehmigung
auszufüllen. Vierzig Zentimeter ist er maximal von Elvira entfernt. Lachend
schwitze ich Blut und Wasser, frage nach der Situation an der Front, fluche über
die Kroaten, was die Herren sichtlich amüsiert. Sie haben durch das
Ablenkungsmanöver vor lauter Lachen vergessen die Rücksitzbank zu
kontrollieren? Ich gehe desinteressiert vom Auto weg in Richtung der UN-Lkw,
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mustere diese und gähne gelangweilt. Sie beobachteten den Wagen. Ich beruhige
mich mit dem Gedanken, dass ich ja nur nach Karlovac´ unterwegs bin, um dort
den wohlschmeckensten Stock Brandy mit Eis zu mir zu nehmen, den ich jemals
getrunken habe. Sonst nichts. Irgendwo vom Hinterteil des UN-Konvois kommt
der Chef des Checkpoint´s an. Er sieht mich und freut sich. Das okay für die
Durchfahrt lässt keine Minute mehr auf sich warten. Die verrückten Deutschen wir waren immer gern gesehen. Schließlich hatten wir keine militärischen
Befehle zu befolgen und konnten uns immer der Situation angemessen verhalten
und mit "die Serbs" auch mal ein bisschen schnacken, hier und da mal ein
wichtiges Medikament für irgend wen mitbringen oder mal ein deutsches Bier
mit den Jungs trinken.
Plötzlich war Theo weg. Ich fragte sie lachend: "Gdje je moja kollega?" (Wo ist
mein Kollege?). Wieder amüsierten sich die Soldaten über die Situation. Ich
lächelte, wie es einem schönen sonnigen Tag entspricht, und spielte mit meinem
UN-Cap. Während ich da stand und nur dachte: "Theo, Du gottverdammter
Idiot, wo verdammt bist Du?", stieß mir eines der umher stehenden Autos übel
auf. Die Herren waren ca. 10 Minuten nach uns am Checkpoint angekommen
und schienen in irgendeiner höheren Position zu sein. Es roch sehr nach
besagtem Chef und der angekündigten, nochmaligen Kontrolle. Einer der drei T
54 Panzer wurde angeworfen. Wahrscheinlich nur, um den UN-Soldaten zu
zeigen, dass die alten Scheißdinger doch noch laufen. Theo kam hinter einem
der UN-Lkw hervor. Er hatte das Sichtkontaktgesetz verletzt, der Idiot, ohne den
ich es niemals geschafft hätte. Mir viel ein Stein vom Herzen, so groß wie ein
Haus. Der Volvomotor lief ununterbrochen. Im Notfall hätten wir durchstarten
können. Spätestens nach hundert Metern hätten sie uns aus zwei versteckten
MG-Nestern
voll
unter
Feuer
genommen
und
mit
allergrößter
Wahrscheinlichkeit die Birne weggepustet. Wir fuhren los. Ich sagte laut:
"Elvira, josh jedan Kilometer". (..., noch einen Kilometer). Die UPROFOR in
der Pink Zone zwischen Kroaten und Serben notierte die Autonummer und
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meine 1167 UN-Presscard Nummer and go. "Elvira, josh pet sto metera" (Elvira,
noch 500 Meter). Zwischen den zerbombten Häusern in Turanj ließ ich lächelnd
den üblichen Papierscheiß der Kroaten über mich ergehen. Dann der letzte
kroatische Militärposten. Die Schranke ging schon hoch, als sie uns ankommen
sahen. Gerade über die Brücke in Turanj wollte ich den Mantel hochheben, als
Theo sagte: "Moment, noch ein Checkpoint". Die kroatische Polizei vor Turanj
war mir egal. Sie hätten nicht mehr geschossen. Außerdem hatte ich das
kroatische Transitvisum für Elvira. Doch die 500 Meter Warten machte nach
drei Stunden Fahrt auch nichts mehr. Zurück in der freien Welt, drehte ich mich
um, hob die Fototasche von ihr herunter, dann Theo´s Mantel. Elvira war völlig
durchnässt vom Schweiß durch die Hitze und die Angst um ihr Leben. Ich nahm
ihren Kopf in die Hände und küßte sie auf die glänzende, nasse Stirn.
Geschafft ! Ich war der glücklichste Mann der Welt. Traditionell fuhren wir in
den Pior Pub in Karlovac´, um den langersehnten Stock zu uns nehmen zu
dürfen - bitte mit Eis. Als wir bereits derer drei in unsere Hälse katapultiert
hatten, ging ich wieder raus, um das Auto zu kontrollieren. Ich mußte einen
kleinen Augenblick allein sein. Vor dem Transitcamp, auf dem Marktplatz von
Karlovac´, stampfte ich mit den Stiefeln auf die Straße und schrie wie ein
verrückter: "Scheiße, Scheiße ...". Ich schrie einfach los, weil ich das Glück das
Allah und die Pomoc´-Götter uns geschickt hatten noch gar nicht fassen konnte.
Zwei Nächte verbrachten wir noch in Zagreb bei Theo, Maja, Baka und Theo´s
Sohn Anton. Theo bekam erst mal ordentlich Dampf von Maja. Immerhin hatte
er, trotz der Tatsache, dass er Familienpapa ist, Kopf und Kragen riskiert. Als
allererstes rief ich Vater an: „Wir haben`s geschafft“! „Oh Gott, Junge“, viel
mehr brachte er nicht heraus. Seine Freude am Telefon war kaum geringer als
meine eigene. Wir hatten gesiegt. Viel zu reden gab es da nicht mehr, zumal
Theos Telefon abgehört wurde und ich ja noch ein paar harmlose Grenzen vor
mir hatte.
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Am Tag unserer Abfahrt ging die Sache mit meinem Magen richtig los. Mal
wieder aus einem tiefen Rausch erwacht, hatte ich mir zwei eiskalte Biojoghurts
regelrecht in den Bauch gehauen. Dann folgte ein drückender Schmerz zwischen
Bauch und Brust. Ich latschte zu Fuß durch Zagreb, um mit ICRC und UN für
den nächsten Transport Formalitäten zu regeln. Ich hatte die ganze Zeit
Magenkrämpfe. Um 17.00 Uhr verließ ich mit der Kleinen Zagreb. Ihre Mutter
war bereits informiert, dass wir in Zagreb gelandet waren. Wir hatten noch
immer Grenzen vor uns. Im Vergleich zur Fahrt von Bihac´ nach Karlovac´ war
dies nun eigentlich lächerlich. Im Schutz der Dunkelheit fuhren wir durch von
Kroatien bis Deutschland. Noch dreimal versteckte sich die Kleine, diesmal vor
dem Beifahrersitz des Hanomags, diesmal unter einer dicken Winterjacke. Die
UN-Flagge und mein UN-Cap schienen sehr souverän zu wirken. Außerdem
steht den Grenzern in der Nacht wesentlich weniger der Sinn nach
Durchsuchung irgendwelcher Pomoc´-Lkw. Erst während der Fahrt nach
Deutschland haben wir uns kennengelernt. Ich habe Elvira bewundert für ihren
Mut und ihre Kraft, unter diesem Mantel zu liegen, mit dem Wissen über die
unvorstellbaren Möglichkeiten, was alles hätte passieren können. Erst an der
zweiten Tankstelle in Deutschland hielt ich an. Ich musste sie mal so richtig in
den Arm nehmen. Als alles hinter uns war konnte sie ihren ersten deutschen Satz
sprechen: "Jetzt bin ich eine freie Frau". Es war gut, dass wir mit der alten
Schüssel so lange fahren mussten. "So schreiten wir in bedächtiger Schnelle
vom Himmel durch die Welt zu Hölle" - und zurück. Ich brauchte pro 100
Kilometer 3-4 Magenbitter, um mit den Krämpfen halbwegs über die Runden zu
kommen. Es war eine Magenschleimhautentzündung, das wusste ich zu dem
Zeitpunkt noch nicht.
Die Nacht durchgefahren, kamen wir gegen 10.00 Uhr bei Dieter in München
an. Elvira hatte Jugoland noch nie verlassen. München wirkte erdrückend auf
sie. Wir freuten uns über Dieters Freude und umgekehrt. Um meinen Magen zu
beruhigen, war chinesisch essen angesagt. Eigentlich wollten wir ein paar
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Stunden schlafen. Elvira amüsierte sich darüber, wie Dieter und ich quasselten.
Fast wie bosnische Weiber - Non-Stop. Als wir irgendwo zwischen Slowenien
und Deutschland gewesen waren, hatte sie plötzlich gesagt: "You know what,
we are the best partners". Es ist fantastisch, das die Kleine kapiert hat, worum es
eigentlich geht.
Am Freitag mussten wir einen Zwischenstop einlegen. In Nürnberg war eine
Konferenz wegen der nächsten Tour nach Bihac´ geplant. Partner und ich
machten vorher einen kleinen Stadtbummel. Wie unterwegs versprochen,
kleidete ich sie neu ein. Das Höchste für die Kleine aus dem riesengroßen
Gefängnis: "Now I`ve freedom and I`ve Levis Jeans".
Ich stank noch immer wie die Sau. Die weiße Jeans war mittlerweile schwarz,
an der Weste, die mir die alte Serbin geschenkt hatte, baumelte Tisbeh, die
muslimanische Gebetskette und der Button der UNPROFOR. Zur Krönung lief
ich die ganze Zeit mit der UN-Cap rum. Um uns eine Freude zu machen, reihte
ich in unser internationales Essen noch ein türkisches ein. Raki wirkte gut gegen
die Magenkrämpfe.
Irgendwann begann die Konferenz bei Uwe und Uschi. Die Kleine ging
schlafen. In dieser Nacht ging ich noch zweimal in ihr Zimmer, um zu sehen, ob
sie schlief.
Nichts war bisher so gut, wie Elvira schlafen zu sehen und mit dem eigenen
Leben vor der Tür zu stehen. Mein Freund und alter Klassenkamerad Helmut,
der mich an dem Abend meiner Ankunft in Wetzlar bei Familie E. abholte,
erzählte mir, dass ich sturztrunken noch immer wie ein Schießhund aufpasste.
Kaum war Elvira außerhalb meiner Sicht im Zimmer, oder kurz mal aus dem
Raum heraus, begann mein Instinkt sie zu suchen - my Partner. Am nächsten
Tag nahm Elvira endlich ihre Mutter in den Arm.
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Für das Leben und die Freiheit !
20.1.94, Wetzlar
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