Berufswahl

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Berufswahl
Beratung für eine subjekt- und
kompetenzorientierte Berufswahl
Dr. Rüdiger Preißer
Gliederung
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Traditionelles Paradigma der Berufswahl
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Traditionelle Konzeption von Berufsberatung
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Einwände
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Neues Paradigma der Berufswahl
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Neues Paradigma der Bildungs- / Berufsberatung
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Kompetenz- und subjektorientierte Berufsberatung
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Beispiel: formative und reflexive Kompetenzerfassung
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Preißer - Subjekt- und kompetenzorientierte Berufsberatung: bifeb, 24. April 2014
Lost in transition
„Können sie mir bitte sagen, wo ich hin will?“
(Karl Valentin)
Das könnten auch viele Ratsuchende in der Bildungs- und
Berufsberatung gefragt haben,
die nicht wissen, was sie tun sollen, um ihrer Berufssuche eine
Richtung zu geben.
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Preißer - Subjekt- und kompetenzorientierte Berufsberatung: bifeb, 24. April 2014
Traditioneller Ansatz:
Phasen der Berufsorientierung und Berufswahl
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Preißer - Subjekt- und kompetenzorientierte Berufsberatung: bifeb, 24. April 2014
Traditionelle Konzeption von Berufswahl
• Berufswahl: „rationale Entscheidung“ - informierte Individuen maximieren ihre
persönlichen Vorteile (homo oeconomicus)
• Ausbildung von Berufswünschen:
Folge der Informiertheit über eigene Fähigkeiten und über Berufsprofile
(Handlungsalternativen, -ziele, -konsequenzen).
• Im Zentrum: Gewinnung und Verarbeitung von Informationen / Wissen
(erkunden, identifizieren, sammeln, suchen)
„Wissen über Arbeits-, Berufswelt und Berufswahlspektrum erwerben, anwenden
Betriebs- und berufspraktische Erfahrungen erwerben und anwenden
Bewerbungswissen und -können erwerben und zielgerichtet anwenden“.
• Matching-Ansatz (neoklassische Gleichgewichtstheorie): durch Aggregation
individueller Entscheidungen kommen Angebots- und Nachfrage-Aggregate von
Arbeitskraft auf dem (Arbeits-)Markt zum Ausgleich (Passung)
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Preißer - Subjekt- und kompetenzorientierte Berufsberatung: bifeb, 24. April 2014
Traditionelle Konzeption von Berufsberatung
• 1. Funktion: Bereitstellung / Vermittlung von (berufskundlichen,
arbeitsmarktbezogenen) Informationen über berufliche
Handlungsalternativen, -ziele, -konsequenzen
• 2. Funktion: Ratsuchende dabei unterstützen (guidance) herausfinden,
zu welchen vorhandenen Anforderungsprofilen von Berufen die eigenen
Interessens- und Fähigkeitsausprägungen passen.
• 3. Funktion: Anforderungen an Individuen, sich so zu verhalten, wie
die ökonomischen Modellannahmen dies vorsehen
„Prozess der Annäherung und Abstimmung zwischen Interessen,
Wünschen, Wissen und Können des Individuums und den Möglichkeiten,
Bedarfen und Anforderungen der Arbeits- und Berufswelt“ =
„Vocational Maturity“ (Super 1955)
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Preißer - Subjekt- und kompetenzorientierte Berufsberatung: bifeb, 24. April 2014
Traditioneller Ansatz: Einwände
• „Beruf“ - Erosion der Struktur und des Konzepts: Entwicklungsdynamik der
Arbeitswelt, Veränderung der normativen Leitbilder
Diskontinuität in den Erwerbsbiographien aufgrund Notwendigkeit des
Berufswechsels
Nur 30% der Beschäftigten arbeiten noch in ihrem Ausbildungsberuf.
• Entscheidungsmodell:
betrifft allenfalls eine Minderheit von Berufswahlen
Berufswahl ist keine einmalige Situation, sondern lebenslanger Prozess
Umfassende Informationen über die Berufswelt überfordern die meisten Menschen
• Menschenbild:
„Passung“ von Persönlichkeits- und beruflichen Anforderungsprofilen reduziert
Menschen Teile eines Puzzles: Berufswahl als Puzzle-Spiel, Entsubjektivierung
Vernachlässigt Entstehung von Berufswünschen (Präferenzen) sowie motivationale,
wertbezogene Teile der Persönlichkeit
Unterschätzt Aushandlungsprozesse bei Berufswahl und Besetzung einer Stelle
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Preißer - Subjekt- und kompetenzorientierte Berufsberatung: bifeb, 24. April 2014
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Neues Paradigma der Berufswahl:
Wichtigkeit von Einflussfaktoren
• Constraints:
• Angebotslage des Arbeitsmarktsmarktes
• ökonomisches Kapital, soziales Kapital (Beziehungen), kulturelles
Kapital (Qualifikation) (Bourdieu 1983)
• Framing:
• kulturelle Bindungen, soziales Umfeld (Kollegen, Freunde)
• Lebensgewohnheiten (habits)
• Lebensplanung: „Weil“-Orientierung oder „Um zu“-Orientierung
• Individuelle Dispositionen (Leistungsmotivation, Anspruchsniveau,
Risikobereitschaft, Informationsverarbeitungskapazität, Angst)
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Preißer - Subjekt- und kompetenzorientierte Berufsberatung: bifeb, 24. April 2014
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Neues Paradigma der Berufswahl:
Konzeption des Entscheidungsprozesses
• „Nicht-Entscheidungen“:
• „happenstance“
• „muddling through“
• Anpassung - „cooling the mark out“ (Fabel: Saure Trauben)
(Goffman 1952; Elster 1987)
• Beispiel: Stereotype Berufswahlentscheidungen
• Planned-Happenstance-Modell (Krumboltz & Levin 2010)
• Berufswahl, Laufbahnentwicklung als Ergebnis unvorhergesehener und
unvorhersehbarer Geschehnisse
• Konzept einer „positiven Nichtsicherheit“ (Gellatt 1989)
• „Uncertainty inspires our curiosity“
• Berufswahl „emergiert“ als ungeplantes, aber systematisches Resultat ungeplanter
Aktivitäten und Erfahrungen, die sich zu einer Entscheidung verdichten
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Preißer - Subjekt- und kompetenzorientierte Berufsberatung: bifeb, 24. April 2014
Neues Paradigma der
Bildungs- / Berufsberatung
• COUNSELLING anstatt GUIDANCE!
Unterstützung von Flexibilität und Zuversicht angesichts der Vielfalt ungeplanter
Ereignisse des Lebens
Förderung von Offenheit und Neugier auf Unbekanntes und auf neue Ereignisse und
Erfahrungen
Ermutigung einer aktiven Lebensführung und aufgeschlossenen, bejahenden und
entdeckenden Haltung (exploratory learning) als bester Voraussetzung für Eintreten
„chancenreicher“ Situationen und Ereignisse
Stärkung des Beharrungsvermögens (Resilienz!) gegenüber Hindernissen
• Menschenbild: die „besten“ Seiten der Menschen (Neugier, Flexibilität,
Aufgeschlossenheit, Optimismus, Ausdauer, Risikobereitschaft und
Gestaltungsbereitschaft) unterstützen!
• Menschenbild: aktiv handelnde Subjekte im Rahmen des eigenen Lebensentwurfs
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Preißer - Subjekt- und kompetenzorientierte Berufsberatung: bifeb, 24. April 2014
Kompetenz- und subjektorientierte Berufsberatung
• Stärkung des Subjektbezugs
Bildungs-, Berufsentscheidungen als Bestandteil der Identitätsentwicklung:
„Wie will ich leben?“
eigenen Lebensweg als gestaltungsbedürftigen und zugleich gestaltbaren
Prozess auffassen
Gegenstand des Lernens: Ich selber!
• Stärkung der „berufsbiographischen
Selbststeuerungskompetenz“ (Preißer 2002; 2003)
lernen, mit Brüchen im Lebenslauf umzugehen, Zeiten von
Arbeitslosigkeit überstehen, die gesamte Erwerbsbiographie entwickeln,
gestalten und steuern
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Preißer
Preißer - Subjekt- und kompetenzorientierte Berufsberatung: bifeb, 24. April 2014
Beispiel: „Career Management Skills“
• Österreichisches Bildungsministerium
• Ziel: Vermittlung und Erwerb wichtiger Grundkompetenzen als
Voraussetzung für selbstverantwortliche Bildungs- und
Berufsentscheidungen
Fähigkeit zur Selbstreflexion (insb. hinsichtlich Fähigkeiten, Interessen,
Leistungsfähigkeit, Wünschen)
Entscheidungsfähigkeit (inklusive Fähigkeit zur Gestaltung von
Entscheidungsprozessen und Umgang mit mehrdimensionalen,
teils auch widersprüchlichen Entscheidungsgrundlagen)
Informationsrecherche und –bewertung
Fähigkeit, eigene Ziele definieren und verfolgen zu können
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Preißer - Subjekt- und kompetenzorientierte Berufsberatung: bifeb, 24. April 2014
Beispiel:
„Blueprint framework for career management skills“
• USA, Kanada, Australien; England und Schottland („Career
management skills framework“)
• Ziel: Erwerb von Grundkompetenzen für die Laufbahnentwicklung
lerntheoretische Überlegungen: Lernbereiche (berufsbezogene
Kompetenzen), ein Lernkonzept und Lernstufen
„Kompetenzmodelle“ (Struktur: Kompetenz-Bereiche
und -Dimensionen; Kompetenz-Niveau, Entwicklungsschritte von
Kompetenz;)
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Preißer - Subjekt- und kompetenzorientierte Berufsberatung: bifeb, 24. April 2014
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Berufsorientierung als Lernprozess
• „the task of careers work: fostering learning and personal development“
(Krumboltz 2009)
• BO = Anwendungsfall einer umfassenden Kompetenzentwicklung:
„Selbstregulationsfähigkeit des Wissenserwerbs“
„in der Lage zu sein, Wissen, Fertigkeiten und Einstellungen zu entwickeln, die
zukünftiges Lernen fördern und erleichtern und die (…) auf andere Lernsituationen
übertragen werden können“ (Baumert u. a. 2000
Rahmenmodell des dynamischen Wissenserwerbs: Regulation …
- des Selbst (Wahl von Zielen und Ressourcen)
- der Lernprozesse (Anwendung metakognitiven Wissens und Fertigkeiten)
- der Informationsverarbeitung
• BO als komplexe Kompetenz konzipieren und didaktisieren
konstruktivistische Lerntheorie: „Shift from Teaching to Learning“)
Konzept des Konzept des „entdeckenden Lernens“ (John Dewey)
„Erfahrungslernen“: Herausforderung / Problem, Plan, Erfahrung / Erprobung,
Beobachtung / Reflexion
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Preißer - Subjekt- und kompetenzorientierte Berufsberatung: bifeb, 24. April 2014
Beispiel: formative und reflexive Kompetenzerfassung
Direktes Ziel: Kompetenzen (Wissen, Fähigkeiten, Fertigkeiten, Werte,
Eigenschaften, Interessen, Einstellungen, Motive, Präferenzen)
in eigener Sprache benennen zu können
Indirektes Ziel: Verbesserung der Selbstwahrnehmung und Selbststeuerung
Vorgehen:
• Biographische Selbstexploration: alltagssprachliches Erzählen (Narration);
Notwendigkeit eines Gegenüber als signifikanter Anderer
• Kommunikative Validierung: Kleingruppenarbeit, Trainer/in / Berater/in und
Ratsuchenden (Glaubhaftigkeit, Nachvollziehbarkeit, Genauigkeit, räumliche +
zeitliche Rahmung)
• Analytische Verdichtung und Reduktion: erst jetzt Listen von Fähigkeiten,
Interessen usw.
• Biographische Integration: Szenariotechnik, konfiguratives Arbeiten
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Preißer - Subjekt- und kompetenzorientierte Berufsberatung: bifeb, 24. April 2014
Beispiel: formatives Kompetenzen „belegen“
Ziel: eigene Kompetenzen gegenüber anderen klar benennen können
Vorgehen:
•
Erfahrungsmenge: Bis zu welchem Zeitpunkt lässt sich die Kompetenz
zurückverfolgen? Wie häufig wurde sie angewandt?
•
Erfahrungsvielfalt: In welchen unterschiedlichen Situationen /
Zusammenhängen wurde die Kompetenz eingesetzt?
•
Komplexität: Wie schwierig waren die Aufgaben, anhand derer sich
diese Kompetenz erweisen musste?
•
Selbstreflexivität: In welchen Situationen hat die Kompetenz dabei geholfen
zu einem Erfolg beizutragen? Welche anderen Kompetenzen werden noch
„aktiviert“, wenn sie zum Einsatz kam?
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Preißer - Subjekt- und kompetenzorientierte Berufsberatung: bifeb, 24. April 2014
Literatur
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Baumert, Jürgen u. a. (o.J.): Fähigkeit zum selbstregulierten Lernen als fächerübergreifende Kompetenz. https://www.mpibberlin.mpg.de/Pisa/CCCdt.pdf
Bourdieu, Pierre (1983): Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital. In: Kreckel, R. (Hrsg.), Soziale
Ungleichheiten (Soziale Welt, Sonderband 2), Göttingen. S. 183-198
Dewey, John & Dewey, Evelyn (1962, Orig. 1915): Schools of Tomorrow. New York
Elster, Jon (1987): Subversion der Rationalität. Frankfurt
Gelatt, H.B. (1989) Positive Uncertainty: A New Decision-Making Framework for Counselling. In: Journal of Counselling
Psychology, Vol. 36, No. 2, pp. 252-256.
Goffman, Erwin (1962): On Cooling the Mark Out: Some Aspects of Adaption to Failure [1952]. In: Rose, A. (Hrsg.):
Human Behavior and Social Processes. Boston, pp. 482-505
Krumboltz, John D. (2009) The Happenstance Learning Theory. In: Journal of Career Assessment May 2009 vol. 17 no. 2 pp.
135-154
Krumboltz, John D., & Levin, A. S., (2010): Luck is no accident: Making the most of happenstance in your life and career.
(2nd ed.). Atascadero, CA.
Preißer, R. (2002): Berufsbiographische Steuerungskompetenzen als Voraussetzung für berufliche Neuorientierung. In:
Preißer, R. & Wirkner, B. (Hrsg): Berufliche Neuorientierung. Innovative Konzepte für Weiterbildner. Bielefeld. S. 9 - 31
Preißer, Rüdiger (2003): Berufsbiographische Selbstorganisation, biographisches Lernen, Selbstsozialisation Herausforderung für die Erwachsenenbildung? In: REPORT Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung (26) Heft 3, S.
87-97
Super, Donald E. (1955): Dimensions and measurement of vocational maturity. In: Teachers College Record, 57, pp. 151-165
Preißer - Subjekt- und kompetenzorientierte Berufsberatung: bifeb, 24. April 2014
Danke für die Aufmerksamkeit
Dr. Rüdiger Preißer