Die Apothekerin 1.

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Die Apothekerin 1.
Die Apothekerin
1.
Ostara hörte den Wind in den Zweigen singen und fiel fröhlich in
sein Lied ein. Es war ein wunderschöner Tag. Die Sonne strahlte
warm vom Himmel, und die Bäume und Sträucher sogen die lebensspendenden Strahlen auf, um zu wachsen und Kraft zu schöpfen für die Zeit, in der die Natur unter dem weißen Schleier des
Winters begraben sein würde. Doch noch war die kalte Jahreszeit
fern, die die Menschen zwang, sich in ihren Häusern zu verkriechen und am Herd zusammenzukuscheln. Die, die in ihrem Wald
zusammengekommen waren, genossen die blühende Natur, lachten und sangen. Während die Frauen so ausgelassen tanzten, dass
ihre Haare aufstoben, haschten die Männer nach ihnen und versuchten, sie einzufangen.
Es war sanftes Spiel, in dem die Paare einander mit Koseworten
lockten und liebevoll umarmten. Die meisten hatten sich schon
im Vorfeld abgesprochen, doch einige, die sich noch unsicher
fühlten, blickten zu ihrer Herrin auf, die sie lächelnd ermunterte,
ihrer Natur und ihren Gefühlen zu folgen.
Eine der jungen Frauen kam auf Ostara zu und neigte ehrerbietig ihr Haupt. »Gebieterin, ich kenne zwei Männer, beide wohlgestaltet und angesehen, aber ich kann es doch nicht mit beiden
tun.«
»Warum denn nicht?«, wollte Ostara fragen, dann aber erinnerte
sie sich, dass die Menschen anders dachten als sie, und sie zog die
Frau an sich. Während sie sie auf den Mund küsste und auf die roten
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Male der Brust, drangen ihre Sinne in das Mädchen ein, um dort
nach den Bildern der jungen Männer zu suchen. Ostara mochte
beide und hätte jedem von ihnen den Erfolg bei der Schönen gegönnt. Auch wäre es ihr ein Leichtes gewesen, ihre Nachfahrin
dazu zu bringen, sich mit beiden zu verbinden. Doch da das Mädchen im Grunde seines Herzens nur einen erwählen wollte, wäre
eine Beeinflussung das Gleiche gewesen, als würde sie den Männern befehlen, die Frau mit Gewalt zu nehmen.
»Öffne mir deinen Geist, meine Tochter, damit ich erkenne,
wem von beiden dein Herz mehr zugeneigt ist, und dir raten kann.«
Ihre Stimme wirkte beruhigend, und die Frau in ihren Armen
wurde nachgiebig. Nun konnte Ostara auch die geheimsten Wünsche ihrer Dienerin erkennen, und während sie ihr über das Haar
strich, verstärkte sie deren Gefühle.
»Du bewunderst die Kraft des jungen Schmieds, doch im Grunde deines Herzens wünschst du dir, die Gefährtin des kräuterkundigen Jägers zu sein, da du selbst um die Geheimnisse vieler Pflanzen weißt und den Menschen dadurch zu helfen vermagst. Gehe zu
ihm! Der Schmied wird ein anderes Mädchen finden, und wenn
nicht, werde ich ihn heute trösten.«
Ostara schickte die Kräuterfrau mit einem aufmunternden
Klaps zu ihrem Erwählten. Dann winkte sie den verschmähten
Anbeter zu sich und öffnete ihre Arme, um ihn zu umfangen.
Als der Mann auf sie zukam, verwandelte er sich jedoch: Aus
dem wohlgestalteten Schmied wurde ein Wesen mit einem behaarten Leib und einem mächtigen Widdergehörn, dessen Rute
steil aufgerichtet und dessen Gesicht von wilden Leidenschaften
zerfurcht war.
Gerade als er sie packen und in sie eindringen wollte, schrak
Ostara hoch. Um sie herum war nicht mehr der flüsternde Hain,
den sie so sehr geliebt hatte, sondern das winzige Höhlenreich, das
ihr von ihren blühenden Gefilden verblieben war. Verwirrt starrte
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sie auf die grün schimmernde Grotte und begriff erst nach ein paar
hastigen Atemzügen, dass ihr Geist in fernen Zeiten geweilt hatte,
in denen sie sich noch nicht hatte verkriechen müssen. Ihr Traum
hatte ihr gezeigt, wie sehr sie die Menschen vermisste, vor allem
jene, die ihres Blutes waren. Gleichzeitig erschreckte es sie, jenen
Diener so deutlich vor sich gesehen zu haben, der sich von ihr abgewendet und ihre Ideale mit Füßen getreten hatte, und sie
begriff, dass der Traum eine Warnung ihrer weit reichenden Sinne
gewesen war.
Sie fühlte, wie Furcht in ihr aufstieg. Damals hatte sie Rovoc,
jenen Diener, der dem Bösen erlegen war, aus ihrem Reich gewiesen, und dafür hatte er sich auf teuflische Weise an ihr und ihren
Kindern gerächt. Nun war er zurückgekehrt, um sie zu vernichten.
2.
Die Gesichtsfarbe des Arztes erinnerte Hanna an den frisch gepressten Saft roter Johannisbeeren. Sie hasste die Beschimpfungen
und unsinnigen Beschuldigungen, die Doktor Ganshirt von sich
gab, wenn er in Wut geriet, und hätte sich auch jetzt am liebsten
die Ohren zugehalten. Da baute der Arzt sich so drohend vor ihrer
Mutter auf, als wolle er sie erwürgen. Sofort lief Hanna zu ihr, um
ihr beistehen zu können.
Elfgard Kräutlein ließ sich jedoch nicht einschüchtern, sondern
blickte sanft lächelnd zu dem hochgewachsenen Mann auf. »Ich
weiß nicht, was Euch anficht, Herr Doktor. Die Kranke ist doch
genesen.«
»Ja, das ist sie!«, bellte Ganshirt. »Aber das elende Weib behauptet, dies sei nicht durch meine Medizin geschehen oder durch die
Güte Gottes, sondern allein aufgrund deines Hexentrankes.«
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Bei dem Wort »Hexentrank« zuckte die Apothekerin leicht zusammen, aber sie verlor ihren sanftmütigen Ausdruck nicht. »Gewiss hatte Eure Medizin einen großen Anteil an der Heilung der
Schusterin, und einen noch größeren Gottes Gnade, doch es war
kein Hexentrank, den ich der Kranken angemischt habe, sondern
ein altbekanntes Hausmittel aus mehreren Kräutern, die gegen
diese Art von Krankheit helfen.«
Elfgard Kräutleins gleichbleibende Freundlichkeit ließ den Arzt
noch wütender werden. »Dummes Gefasel! Kräuter, ha! Nur meine Medizin besitzt die Kraft, Kranke zu heilen. Alles andere ist
Humbug! Wenn du noch ein Mal die Anweisungen missachtest,
die ich dir gebe, und statt meiner Rezepturen deine Säftchen anmischst, werde ich dem Hohen Rat Bericht erstatten. Dann werden dich die Stadtknechte in den Schandblock stecken und die
Gassenjungen mit faulem Obst und Gemüse bewerfen.«
Doktor Ganshirt leckte sich erwartungsfroh die Lippen. Für sein
Gefühl pfuschte die Apothekerin ihm schon zu lange ins Gewerbe.
Es konnte einfach nicht mit rechten Dingen zugehen, dass ihre
Kräutermittel selbst jenen halfen, bei denen seine Kunst versagte.
Er schüttelte drohend die Faust. »Der Rat der Stadt hätte dir
nicht erlauben dürfen, die Apotheke nach dem Tod deines Mannes
allein weiterzuführen. Er hätte einen Apotheker aus einer anderen
Stadt rufen oder deinen Schwager und deine Schwester damit beauftragen müssen. Dann wären solche Zustände gar nicht erst eingerissen!«
Das Lächeln der Apothekerin verlor sich, und ihr Blick wurde
hart. »Die Apotheke ist mein ungeteiltes Eigentum, das weiß auch
der Hohe Rat, und der oberste Ratsherr Haimer hat dieses noch
einmal ausdrücklich bestätigt. Was meine Schwester und meinen
Schwager angeht, so wurden die beiden bereits vor Jahren von meinem Mann und mir ausgezahlt und haben mehr erhalten, als ihnen
zusteht.«
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Die Apothekerin zeigte unwillkürlich ihre Zähne. Ihre Zuneigung zu Schwester und Schwager hielt sich in Grenzen, doch um
des lieben Friedens willen steckte sie ihnen immer wieder kleine
Summen zu. Diese Geschenke schmälerten auf die Dauer aber ihre
Einnahmen, sodass sie notwendige Reparaturen an ihrem Haus verschieben musste. Immer wieder nahm die Apothekerin sich vor,
weniger großzügig zu sein, doch sie brachte es nicht übers Herz,
ihren Geldbeutel zugeschnürt zu lassen, wenn ihre Schwester zu ihr
kam und über die Widrigkeiten des Schicksals jammerte.
Doktor Ganshirt kannte die Verhältnisse um die Apotheke, die
bereits seit mehreren Generationen von Frau Elfgards Familie geführt wurde, sehr genau. Meist waren Frauen die Erben gewesen,
und wie Frau Elfgards verstorbener Gatte hatten auch die anderen Männer, die die Apotheke offiziell führten, nur in das Gewerbe
eingeheiratet. Elfgard Kräutlein, die in seinen Augen nur eine abergläubische Kräuterhexe war, hatte ihrer Schwester nach deren Eheschließung mit dem Bierbrauer Diemo jeden Heller ihres Erbes ausbezahlt, und dieser Umstand trug zum Ärger des Arztes bei. Diemo
und Ottilie Bierbrauer, wie die beiden allgemein genannt wurden,
waren devot und fügten sich seinem überlegenen Verstand. Doch
die Apothekerin ignorierte seine Anweisungen und verschrieb seinen Kranken ihre eigenen Medizinen, als wäre sie die Ärztin und er
nur ein unwissender Scholar.
Sein Ärger über dieses renitente Weib veranlasste ihn, noch
stärkere Geschütze aufzufahren. »Den Vorwurf der Hexerei wird
der Hohe Rat gewiss nicht auf die leichte Schulter nehmen, und
die hochgelehrten Mönche zu St. Uffo um den hocherhabenen
Herrn Prior Eberwin von Kraienburg werden das erst recht nicht
tun.«
Diesmal hatte die Apothekerin sich besser unter Kontrolle,
denn sie winkte lachend ab und stemmte die Hände in die Hüften. »Ich kann den ehrwürdigen Mönchen, die gewiss mehr von
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Botanik verstehen als Ihr, gerne die Zutaten zu meinen Tränken
nennen. Jener, den Ihr mir heute vorwerft, hat vor drei Jahren die
Mutter des obersten Ratsherrn Haimer gesunden lassen, und erst
im letzten Winter vermochte ich sogar den erhabenen Prior mit
meinen Kräutermedizinen von einer hartnäckigen Erkältung zu
heilen.«
Die Apothekerin schien den Ausbruch des Arztes auf die leichte
Schulter zu nehmen, Hanna aber war empört, denn auf sie wirkten
die Vorwürfe des Arztes wie Ohrfeigen. In der ganzen Stadt war ihre
Mutter als Apothekerin und Heilerin geschätzt, und selbst aus dem
Umland kamen die Leute zu ihr, denn ihre Mittel halfen weitaus
besser gegen Krankheiten als jene, die Doktor Ganshirt verschrieb.
Darauf war Hanna stolz, und sie fand es richtig, dass ihre Mutter
sich zu ihrer Kunst bekannte. Früher hatte sie sich oft geärgert, weil
ihr Vater deren Verdienst allzu eifrig dem früheren Arzt der Stadt
und später dessen Nachfolger und Schwiegersohn Ganshirt zugesprochen und die Kunst ihrer Mutter kleingeredet hatte. Aus diesem Grund hatte Hanna ihren Vater auch nie so lieben können, wie
es ihre Pflicht gewesen wäre, sondern sie hatte sich mehr der Mutter
angeschlossen. Aber diese bewahrte ihre Geheimnisse vor ihr, als sei
sie noch ein unverständiges Kind. Auch jetzt fragte Hanna sich,
wann die Mutter sich ihr öffnen und ihr Wissen mit ihr teilen
würde. Doch Elfgard Kräutlein schien auf irgendetwas zu warten,
denn sie musterte ihre Tochter gelegentlich mit einem seltsamen
Blick und wirkte dabei so in sich gekehrt und nachdenklich, dass sie
die Welt darüber vergaß. Schon mehrfach hatte Hanna die Apothekerin anstupsen und auf Kunden aufmerksam machen müssen, die
bedient werden wollten.
An diesem Tag aber war Elfgard Kräutlein hellwach und gab
dem Arzt auf jeden Vorwurf und jede Frechheit eine passende
Antwort. Ganshirt galt trotz seiner Heirat mit der Tochter seines
Vorgängers noch immer nicht als Einheimischer, und die Leute
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BASTEI LÜBBE TASCHENBUCH
Band 15 955
1. Auflage: Januar 2009
Bastei Lübbe Taschenbücher in der Verlagsgruppe Lübbe
Originalausgabe
� 2009 by Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, Bergisch Gladbach
Titelillustrationen: Bridgeman Gieraudon, Berlin
Lektorat: Dr. Stefanie Heinen
Umschlaggestaltung: HildenDesign, München
Satz: Urban SatzKonzept, Düsseldorf
Gesetzt aus der Garamond
Druck und Verarbeitung: Nørhaven Paperback
Printed in Denmark
ISBN 978-3-404-15955-0
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