geschichte - Bergmoser + Höller Verlag AG

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geschichte - Bergmoser + Höller Verlag AG
G
AKTUELLE
GESCHICHTE
UNTERRICHTSM AT E R I A L I E N
BETR I FFT UNS
Die Bundesrepublik Deutschland
in den 50er-/60er-Jahren
Zeitgeist, Alltagsleben, Gesellschaft
1·2010
Mit zwei farbigen OH-Folien, Video-DVD und CD-ROM
Mit
VD
Video-D ROM
und CD
INHALTSVERZEICHNIS
Die Bundesrepublik Deutschland
in den 50er-/60er-Jahren
Zeitgeist, Alltagsleben und Gesellschaft
NEU
Zu dieser Ausgabe von „Geschichte
betrifft uns“ gehören eine VideoDVD und eine CD-ROM. Nähere Informationen siehe 3. Umschlagseite.
ZUM INHALT
1
MATERIALIEN
5
Impressum
Einstiegsmodul: Fragen zum „Zeitgeist“ einer Epoche
M 1.1
Interview mit dem Hamburger Historiker Axel Schildt (2009)
M 1.2
„Nivellierte Mittelstandsgesellschaft“
M 1.3
Glossar: Narrative Logik des Comics
M 1.6
Erich Kästner: Heinrich Heine und wir (1956)
M 1.7
Karikatur zur „Ära Adenauer“ (1965)
5
5
7
7
8
8
Herausgeberin:
Myrle Dziak-Mahler
Grundkurs: Kultur und Gesellschaft der 50er-/60er-Jahre
1. Teil: Ehe, Familie und Geschlechterrollen
M 2.1
„Die gute Ehe“ (1954)
M 2.2
Ute Frevert: „Umbruch der Geschlechterverhältnisse?“
M 2.3
Männliche Vorbildrollen
M 2.4
Methodenkarte zur Analyse historischer Kino-Werbespots
9
9
9
9
10
11
2. Teil:
M 3.1
M 3.2
M 3.3
M 3.4
Jugend und Erziehung
Jugendkultur und Rock ’n’ Roll
Kommentar (1956)
Interview: Heimerziehung in den 50er- und 60er-Jahren
Karteikarte eines Heimzöglings (1969)
12
12
12
13
14
3. Teil:
M 4.1
M 4.2
M 4.3
M 4.4
Konsum, Freizeit und Massenmedien
Ausstattung der Haushalte mit ausgewählten Gebrauchsgütern
Traum vom guten Leben
Edgar Wolfrum: Wertewandel — Werbung als kulturgeschichtliche Quelle
Leitmedium Fernsehen
15
15
15
18
19
4. Teil:
M 5.1
M 5.2
Politisierung: kritische Öffentlichkeit und öffentlicher Protest
Zeitungskommentar zur „Spiegel“-Affäre (1962)
Hans-Ulrich Wehler: „Die Entstehung einer kritischen Öffentlichkeit …“
20
20
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Erweiterungsmodul: Umgang mit der NS-Vergangenheit
M 6.1
Norbert Frei: „Vergangenheitspolitik“
M 6.2
„Schlussstrich“?
M 6.3
Claudia Fröhlich: „Skandalisierung der versäumten Aufarbeitung …“
22
22
22
23
Urteilsmodul: „Ära Adenauer“ — eine Periode „aufregender Modernisierung“? 24
M 7.1
Hans-Peter Schwarz zur Ära Adenauer (1981)
24
M 7.2
Christoph Kleßmann (1985)
25
Folien
M 1.4
M 1.5
Geschichtscomic: „Aus alter Gewohnheit“ (Isabel Kreitz)
Geschichtscomic: „Heimkehr der Zehntausend“ (Isabel Kreitz)
Folie 1
Folie 2
Klausurvorschlag
Ralf Dahrendorf: „Exkurs über Humanität und Unmenschlichkeit“ (1965)
26
UNTERRICHTSVERLAUF
27
LITERATUR
3. Umschlagseite
Erscheinungsweise:
sechs Ausgaben pro Jahr
Abonnement pro Jahr:
82,80 € unverb. Preisempf.
inkl. MwSt. zzgl. 4,50 € Versandpauschale (innerhalb Deutschlands)
Anzeigen:
Petra Wahlen
T 0241-93888-117
Druck:
Verlag:
Bergmoser + Höller Verlag AG
Karl-Friedrich-Straße 76
52072 Aachen
DEUTSCHLAND
T 0241-93888-123
F 0241-93888-188
E [email protected]
www.buhv.de
Titelbild:
Foto: Kurt Röhrig. © Helga Lade Fotoagentur, Frankfurt
Produktion Video-DVD
und CD-ROM:
www.dreamlandmusic.de
Werbe-Videos
(Video 02—09 und Video 11—14):
© Deutsches Filminstitut — DIF,
Wiesbaden/Insel Film
ISSN 0176-943X
NEU: DVD-BEILAGE
Filmmaterialien (Video-DVD und CD-ROM)
Arbeitsmaterialien zu den Filmen (CD-ROM)
Autor:
Jochen Pahl
Video 01—Video14
DVD-Material
ZUM
INHALT
1
Jochen Pahl
Die Bundesrepublik Deutschland in den
50er-/60er-Jahren
Zeitgeist, Alltagsleben und Gesellschaft
Wenig pompös ist im Jahr 2009 der
sechzigste Geburtstag der Bundesrepublik Deutschland gefeiert worden. Einer
der Höhepunkte des Staatsakts am 23.
Mai, dem Jubiläum des Inkrafttretens
des Grundgesetzes: ein fünfzehnminütiger Film, der „Unsere 60 Jahre“ betitelt
war. Ein Titel, der auch den Geburtstagsfilm auf der heimeligen Familienfeier bei Tante Hilde zieren könnte.
Die bescheidenen Feierlichkeiten scheinen den Berliner Politikwissenschaftler
Herfried Münkler in seiner Diagnose zu
bestätigen, dass die deutsche Nachkriegsära nicht mehr den großen Atem
hatte, um kollektive Mythen zu produzieren. In seinem Buch „Die Deutschen
und ihre Mythen“ (Reinbek: Rowohlt
2009) konstatiert er eine eher „dünne“
Staatssymbolik der Bundesrepublik, in
der nicht einmal der 17. Juni 1953
(Volksaufstand in der DDR) oder der
Mauerfall von 1989 nachhaltige Spuren
hinterlassen haben. Dennoch gebe es
„Gründungserzählungen“, zu denen
Währungsreform, „Wirtschaftswunder“
und Leistungsstolz zu zählen seien.
So wird kaum ein Zeitabschnitt der Geschichte der „alten“ Bundesrepublik
derart mystifiziert und verklärt wie die
beiden Jahrzehnte des „Wirtschaftswunders“ — eine Phase der volkswirtschaftlichen Hochkonjunktur, die bis in
die frühen 1970er-Jahre andauerte.
Das Buch Ludwig Erhards „Wohlstand
für alle“ aus dem Jahr 1957 erscheint
in der Rückschau geradezu als das verheißungsvolle „konsumgeschichtliche
Grundgesetz der Bonner Republik“
(Hartmut Berghoff), das die massiven
gesellschaftlichen Konfliktlagen entschärfte.
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GESCHICHTE
betrifft uns
Die Probleme, die bewältigt werden
mussten, waren enorm: Mehr als neun
Millionen Kriegstote, zwölf Millionen
Flüchtlinge und Vertriebene, etliche
Millionen heimkehrender Kriegsteilnehmer und eine junge Demokratie,
die 6,5 Millionen Mitglieder der NSDAP
(Stand:
Kriegsende)
„integrieren“
musste. Der Weg zu einer liberalen,
demokratischen und pluralistischen
Gesellschaft war nicht selbstverständlich vorgezeichnet. Dass die Geschichte der Bundesrepublik als unzweifelhafte Erfolgsgeschichte erzählt werden
kann, liegt auch an der loyalitätsstiftenden Erfahrung des Massenkonsums,
die in diesen beiden Dekaden begründet wurde.
Der „Zeitgeist“ einer Epoche
Vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen und sozialen Umbrüche standen
ungeahnte Neuerungen und beharrende Kräfte in einem Spannungsverhältnis. In der vorliegenden Unterrichtseinheit sollten vor allem die Besonderheiten der Epoche den Schülerinnen
und Schülern deutlich werden. Den im
„wiedervereinigten“ Deutschland geborenen Teenagern müssen die Werte
und Vorstellungen der 1950er- und
1960er-Jahre fremd erscheinen. Mit
dem (zugegebenermaßen unscharfen)
Begriff „Zeitgeist“ werden die divergenten Denk-, Empfindungs- und Verhaltensweisen der Menschen jener Zeit
gleichsam „eingefangen“, die sich unter anderem in den Vorstellungen von
Ehe und Familie, dem kulturellen Muster der Geschlechterbeziehungen oder
in den Erziehungsgrundsätzen manifestieren. In den 1950er-Jahren kommen
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allerdings gesellschaftliche Entwicklungen in Gang, die sich in den 1960erJahren geradezu in Boom-Form ausprägen. Der Hamburger Historiker Axel
Schildt, der als Interviewpartner für
die vorliegende Ausgabe von „Geschichte betrifft uns“ gewonnen werden konnte (siehe M 1.1 und DVDBeilage), hat diese Entwicklung der
westdeutschen Gesellschaft auf die
Formeln „Modernisierung im Wiederaufbau“ für die 1950er-Jahre und „Dynamische Zeiten“ für die 1960er-Jahre
gebracht.
Dass
die
„Zusammenbruchsgesellschaft“ der ersten Nachkriegsjahre in
raschem Tempo zivilisatorische Standards erreichte, die jene der Vorkriegszeit übertrafen, nahm der von
Helmut Schelsky (1912—1984) geprägte
Begriff der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ auf. Dieser Begriff war
jedoch auch ideologisch gefärbt und
kaschierte zudem bestehende soziale
Ungleichheiten (siehe M 1.2).
Politische Kultur
Die politische Kultur der jungen Bundesrepublik war vor allem an Altvertrautem orientiert, das „unbelastete“
politische Personal war noch in der
Weimarer Republik und zum Teil in der
Kaiserzeit sozialisiert worden. Der autoritäre Grundton der frühen Jahre
konnte bei kritischen Zeitgenossen das
resignative Gefühl hervorrufen, in einer Zeit der Restauration zu leben
(M 1.6). Die Frage nach restaurativen
Elementen trotz unleugbarer Modernisierung wird im Urteilsmodul zur „Ära
Adenauer“ (M 7.1 und M 7.2) aus dem
Die Bundesrepublik Deutschland in den 50er-/60er-Jahren
2
ZUM
Blickwinkel der historischen Forschung
wieder aufgegriffen.
Eine lebhaftere Vorstellung von der
„Ära Adenauer“ kann den Schülerinnen
und Schülern mithilfe der beiden Geschichtscomics von Isabel Kreitz
(M 1.4/Folie 1 und M 1.5/Folie 2) vermittelt werden. Die mehrfach ausgezeichnete Künstlerin verarbeitet in vielen ihrer Werke historische Stoffe:
2008 erhielt sie den Comicpreis der
Frankfurter Buchmesse für die Graphic
Novel „Die Sache mit Sorge. Stalins
Spion in Tokio“ (Carlsen Verlag 2008).
Kreitz erzählte im Jubiläumsjahr 2009
in der Frankfurter Rundschau wöchentlich Geschichten zu jedem Jahr der
Bundesrepublik. Dabei arbeitete sie
pointiert Brüche und Ambivalenzen heraus. Das erste aus dieser Serie stammende Bild spielt im Jahr der Fußballweltmeisterschaft 1954 (M 1.4/Folie 1).
Dieses Ereignis, das oft als „Wunder von
Bern“ zum emotionalen Gründungsdatum der Bundesrepublik stilisiert wird,
kontrastiert Kreitz hier mit dem defizitären Umgang mit der Vergangenheit.
Sie zeigt den Moment des Jubels auf
den Straßen und in den Kneipen. Im
Berner Wankendorfstadion standen bei
der Pokalübergabe die 30.000 deutschen Schlachtenbummler auf und sangen wie selbstverständlich „Deutschland, Deutschland über alles …“ und
nicht „Einigkeit und Recht und Freiheit“, wie der offizielle Text der Nationalhymne lautete. Dieser stürmische
Gefühlsausbruch löste im Ausland Entsetzen aus, auch viele deutsche Politiker waren irritiert. Der Missgriff war
letztlich auch ein Symptom dafür, wie
schnell und unbedacht man aus dem
Schatten der Vergangenheit heraustrat
und wie wenig man sich mit der Vergangenheit auseinandersetzte.
Das zweite Bild, das die Heimkehr der
letzten deutschen Soldaten aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft thematisiert (M 1.5/Folie 2), spielt 1955. Dieses Jahr markiert den Höhepunkt der
Beliebtheit Konrad Adenauers. Mit den
„Pariser Verträgen“ wird das Besatzungsstatut von Westdeutschland beendet und durch den Beitritt in die
NATO die Westintegration festgezurrt.
Adenauer regiert unangefochten: Gegen alle Proteste setzt er die Wieder-
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GESCHICHTE
betrifft uns
INHALT
bewaffnung und die Gründung der Bundeswehr durch (5.5.1955).
Die von Adenauer in Moskau ausgehandelte „Heimkehr der Zehntausend“ (ab
Oktober 1955), die Kreitz durch die Figur eines anonymen Kriegsheimkehrers
personalisiert, wurde damals als herausragende politische Leistung angesehen. Die Situation der Spätheimkehrer
im prosperierenden „Wirtschaftswunderland“ war freilich hart. Sie hatten
aufgrund der langjährigen Abwesenheit
und der Erfahrung der Gefangenschaft
mit massiven sozialen Problemen zu
kämpfen: Wiedereingliederung in Beruf, Partnerschaft und Familie, von
seelischen Nöten ganz zu Schweigen.
Konrad Adenauer stand nach den Bundestagswahlen 1957 im politischen Zenit. Die CDU/CSU konnte sogar eine
absolute Mehrheit erringen. Mit dem
Wahlslogan „Keine Experimente!“ war
der Nerv der Wahlbevölkerung getroffen worden. Ob sich die herausragende
Persönlichkeit Adenauers besonders
eignet, um die Epoche der 1950erJahre zu personifizieren, ist sicher diskutierbar (vgl. „Spiegel“-Karikatur
M 1.7) — auf jeden Fall aber steht er in
besonderem Maße für das historische
Phänomen, das der Historiker Christoph Kleßmann mit „Modernisierung
unter konservativen Auspizien“ umschrieben hat.
Zur DVD-Beilage
Zu der hier vorliegenden Unterrichtseinheit gehört eine Video-DVD, die neben Interviews mit dem Historiker
Axel Schildt insbesondere zeitgenössisches Filmmaterial enthält: 12 KinoWerbespots aus den 1950er- und
1960er-Jahren. Der Grundkurs im gedruckten Heft und das Material auf der
DVD sind miteinander verzahnt. Werbung gehört zu den Grundsteinen einer
Konsumkultur, in der — überspitzt formuliert — Menschen kaufen, was sie
nicht wollen, und Bedürfnisse befriedigen, die sich nicht haben.
Für den Historiker kann sie „Resonanzkörper oder sensibler Indikator des soziokulturellen Wandels im Lebens- und
Weltgefühl der Menschen“ (Siegfried J.
Schmidt) sein. Gerade Werbespots bieten sich für den Einsatz im Unterricht
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wegen ihrer Kürze und Pointiertheit
an. Diese dramaturgisch gestalteten
Zeitdokumente sind eine aufschlussreiche Quelle der Mentalitätsgeschichte,
weil sie den Erwartungshorizont der
Zuschauer/-innen bedienen mussten,
wenn sie erfolgreich sein wollten.
Die Geschichtswissenschaft hat sich
lange schwergetan mit dem Film als
Quelle. Die Wirkung von Filmen zielt
darauf ab, Spannung zu erzeugen und
Gefühle zu erregen. Im Falle der Werbespots besonders, Bedürfnisse zu wecken. Damit wird nicht nur der Verstand angesprochen, vor allem das Gefühlsmäßige und Unbewusste werden
adressiert. Gerade diesem Umstand
muss beim Einsatz im Unterricht Rechnung getragen werden.
Die Lerngruppe soll angeleitet werden,
diese „weichen“ Faktoren zu analysieren, dabei werden auch filmische
Fachbegriffe eingeführt (siehe Methodenkarte M 2.4). In einem weiteren
Schritt können dann plausible Aussagen
über gesellschaftliche Normen, Haltungen und Werte der Zeit formuliert
werden, in welcher die filmischen
Quellen gedreht und gezeigt wurden.
Das Filmmaterial stammt von der
Münchner Produktionsfirma Insel-Film,
deren Bestände das „Deutsche Filminstitut — DIF e.V. 1999“ in Wiesbaden
übernommen hat. Damit hat das DIF
eine der größten zusammenhängenden
Werbe- und Imagefilm-Sammlungen
der Bundesrepublik Deutschland zur
wissenschaftlichen und kommerziellen
Auswertung erhalten.
Die von Norbert Handwerk gegründete
Filmproduktionsfirma Insel-Film erhielt
im Jahr 1947 ihre Lizenz durch die
französische Militärregierung. Die vielfältig gestalteten Werbefilme, ob Realoder Animationsfilm, warben bis Ende
der 1980er-Jahre in Kino und Fernsehen unter anderem für Produkte der
Firmen Henkel, Siemens, Dallmayr,
Warsteiner und die Dresdner Bank.
Auch der erste TV-Werbespot der
deutschen Fernsehgeschichte wurde
von der Münchner Firma erdacht und
produziert: Liesl Karlstadt und Beppo
Brem ließen sich 1956 in „Mahlzeit“
vom Waschmittel „Persil“ überzeugen.
Neben einem erlesenen Team in der
Denkfabrik von Insel-Film steuerten
Die Bundesrepublik Deutschland in den 50er-/60er-Jahren
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auch berühmte Kameraleute ihr Können zum Erfolg der Filme bei, wie etwa Konstantin Tschet, der für die
Trickaufnahmen in Josef von Bakys
„Münchhausen“, D 1942/43, verantwortlich zeichnete. Aber auch junge
Filmschaffende begannen bei InselFilm ihre Karriere, wie beispielsweise
Edgar Reitz.
Wertewandel in der Konsumgesellschaft
Der Begriff „Konsumgesellschaft“ beschreibt einen wirtschaftlichen Zustand, in dem der Verbrauch und Verzehr von Gütern und Dienstleistungen
über die Bedürfnisbefriedigung hinaus
erfolgt. Der Durchbruch zur Massenkonsumgesellschaft gelang in der Bundesrepublik später, als es der Begriff
des „Wirtschaftswunders“ vermuten
lässt (vgl. M 4.1).
Die 1960er-Jahre lassen sich zudem als
Transformationszeitraum charakterisieren, in dem sich die Gesellschaft
von einer Industriegesellschaft mehr
und mehr zu einer postindustriellen
Gesellschaft entwickelte (immer weniger manuelle Arbeit, mehr Beamte und
Angestellte als Arbeiter — der sekundäre Sektor fällt hinter den tertiären
Sektor zurück). Damit einhergehend
hat stattgefunden, was der amerikanische Politikwissenschaftler Ronald Inglehart als „Silent Revolution“ bezeichnet hat: ein umwälzender Wandel
der Werte.
Nach Inglehart strebt eine Industriegesellschaft nach Leistung, Wohlstand
und Sicherheit, die Überwindung der
Armut steht an erster Stelle. In einer
Konsum- und Dienstleistungsgesellschaft steigt der Lebensstandard, individuelle Selbstverwirklichung wird zum
vordringlichsten Ziel: Ändern sich die
Lebensumstände, ändern sich die Werte — diese These bildet den Kern von
Ingleharts Forschung. „Postmaterialistische“ Werte wie Toleranz, Demokratie oder der Umweltschutz lösen „materialistische“ Überlebenswerte ab.
Das Vordringen der Frauen auf den Arbeitmarkt führe außerdem zu einer
wachsenden Gleichberechtigung der
Geschlechter (siehe M 2.2). Je mehr
sich eine Gesellschaft von der Industri-
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GESCHICHTE
betrifft uns
INHALT
alisierung löse und auf Wissen setze,
desto mehr wachse auch der Einfluss
von Frauen. Dadurch verändere sich
auch das weibliche Wertesystem: Als
der weibliche Lebensraum noch vornehmlich das Haus, der Herd und die
Kirche war, bevorzugten Frauen bewahrende Werte.
Auch die Entstehung einer eigenständigen Jugendkultur und der neue Stellenwert von „Jugend“ muss im konsumgeschichtlichen Kontext betrachtet
werden. Der kulturelle Konflikt zwischen Jugendlichen und Erwachsenen
lässt sich z.B. mithilfe kommerzieller
Jugendzeitschriften wie der „Bravo“
nachzeichnen. Musikstile, die aus
Großbritannien und vor allem den USA
importiert wurden, sind in ihrer Bedeutung als Erkennungszeichen in der
Jugendkultur von sozialhistorischer Relevanz. Mit den Rock- und BeatRhythmen konnten jugendliche Wünsche nach mehr Freiheit und Lockerheit ausgedrückt werden (M 3.1 und
M 3.2).
Der gesamtgesellschaftliche Wandel
der Werte lässt sich im Bereich Erziehung besonders gut zeigen, weil es a)
dazu von den frühen 1950er Jahren bis
heute viele demoskopische Quellen
gibt und b) diese Frage für die Schülerinnen und Schüler Teil ihrer Lebenswelt ist. Die Erziehungsziele verändern
sich laut Umfragen von „Unterordnung“ und „Gehorsam“ zu „freier Entfaltung“ und „Selbstbestimmung“.
Dass dieser Prozess jedoch nicht geradlinig verlaufen ist, lässt sich an der öffentlichen Debatte um „Heimerziehung
in den 1950er- und 1960er-Jahren“ zeigen. Die Schicksale ehemaliger Heimkinder, die systematisch erniedrigt und
missbraucht wurden, kamen erst 2006
ans Licht (M 3.3 und M 3.4). Ein „Runder Tisch“ (http://www.rundertischheimerziehung.de/), initiiert vom Petitionsausschuss des Deutschen Bundestags, ist zurzeit noch mit der Aufarbeitung dieser Missstände befasst.
Die öffentliche Behandlung von Skandalen lässt wichtige Rückschlüsse auf
die Verfasstheit einer demokratischen
Gesellschaft zu: Die Regierungsbehörden büßten im Verlauf der 1960erJahre nach und nach ihre Lenkungsmacht gegenüber den Massenmedien
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ein. Die Medien sahen sich zunehmend
bestärkt in ihrer Kontrollfunktion als
„Vierte Gewalt“ in der Demokratie.
Die „Spiegel-Affäre“ von 1962 erschütterte nicht nur nachhaltig das Prestige
der Regierung Adenauer (M 5.1 und
M 5.2). An dieser Affäre lassen sich
auch der Funktionswandel der Öffentlichkeit und die Wandlungsprozesse der
politischen Kultur veranschaulichen.
Der Historiker Edgar Wolfrum beschreibt die Formierung einer inneren
Opposition in jener Zeit als „Ferment
für die Veränderung der Republik“: Die
aufkeimende Protestwelle habe einen
Grad an Demokratieverständnis in der
Bevölkerung gezeigt, an dem es in der
Weimarer Republik noch gemangelt
habe.
Umgang mit der NSVergangenheit
Ebensowenig, wie man die Bundesrepublik der 1950er-Jahre unter dem
Schlagwort „Restauration“ zusammenfassen kann, lässt sich von einer
„Stunde Null“ sprechen. Das Bemühen,
nicht die NS-Vergangenheit, wohl aber
ihre Subjekte in das neue demokratische System zu integrieren, prägte die
„Vergangenheitspolitik“ der Ära Adenauer (M 6.1). Dieser Pragmatismus,
der sich in Adenauers Bonmot „Sie
können schmutziges Wasser nicht wegschütten, wenn sie noch kein frisches
haben“ ausdrückte, löste bei kritischen
Journalisten und Intellektuellen Verbitterung aus — die Mehrheit der Bevölkerung allerdings unterstütze ihn.
Im Grunde wird auch die justizielle
Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus nach der Besatzungszeit für
fast zehn Jahre ausgesetzt und man integriert fast alle in das System: Untersuchungen belegen, dass Mitte der
1950er-Jahre auch stark NS-belastete
Personen sozial wieder auf der gleichen Stufe stehen wie zuvor — oder
sogar noch höher. Diese Entwicklung
vergiftete die politische Kultur der
1950er-Jahre. Erst als die Integration
beinahe restlos gelungen war, begann
Ende der 1950er-Jahre — und verstärkt
in den 1960ern — die Auseinandersetzung mit der NS-Zeit. Der Nachkriegskonsens brach auf und eine jüngere
Die Bundesrepublik Deutschland in den 50er-/60er-Jahren
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ZUM
Generation fragte kritisch nach der
individuellen Schuld (M 6.3). Wesentlicher Faktor war dabei die neu einsetzende justizielle Aufarbeitung. So
rückte etwa der Frankfurter Auschwitz-Prozess (ab 1963) wie kein Ereignis zuvor den Holocaust und die NSVernichtungspolitik ins Zentrum der
gesellschaftlichen Wahrnehmung.
Demokratisierung, „Westernisierung“ und Liberalisierung
Der Weg der Bundesrepublik zu einer
modernen, am westlichen Wertesystem orientierten Gesellschaft sollte in
der vorliegenden Unterrichtseinheit an
einigen historischen Phänomenen exemplarisch skizziert werden. Mit seinem 1965 erschienenen Buch „Gesellschaft und Demokratie in Deutschland“
hat der 2009 verstorbene Soziologe
INHALT
und Publizist Ralf Dahrendorf (geboren
1929) ein „Grundbuch des westdeutschen Identitätswandels“ (Ulrich Herbert) geschrieben. Seine kritische
Zeitdiagnose beschrieb der Philosoph
Jürgen Habermas anlässlich des achtzigsten Geburtstags Dahrendorfs gar
als den „wahrscheinlich […] wichtigsten mentalitätsbildenden Traktat in
Deutschland“. In diesem Standardwerk
wurde die junge westdeutsche Demokratie vor allem mit der angelsächsischen verglichen, um an deren Vorbild
zu zeigen, wie wenig die bürgerliche
Emanzipation im vorausgegangenen
preußischen Obrigkeitsstaat gediehen
war. Ein Thema, das später von der
Geschichtswissenschaft in der Diskussion der „Sonderwegsthese“ weiter ausgeführt und letztlich relativiert werden sollte. Dahrendorf geißelte Mitte
der 60er-Jahre die mangelnde Durch-
setzung bürgerlicher Gleichheitsrechte, die unterentwickelten Mechanismen, mit denen soziale Konflikte geregelt wurden, die zu schwach ausgebildete Vielfalt sozialer Eliten und die
verkümmerte Ausbildung öffentlicher
Tugenden (siehe „Klausurvorschlag“).
Er konstatierte einen Widerspruch von
„moderner Welt und unmodernen Menschen“, der sozialen Sprengstoff in sich
berge. Damit die Bundesrepublik weiterhin den Weg des Westens beschreite, müsse sie mobiler im Bereich der
Bildung werden und verkrustete, autoritäre Strukturen aufbrechen. Erst
dann erhalte die Demokratie ihre eigentliche Lebenskraft. Eine Diagnose,
die immer noch nicht veraltet zu sein
scheint.
 Kompetenzerweiterungen
Sachkompetenz
Die Schülerinnen und Schüler
1. lernen Schlüsselbegriffe kennen,
mit denen gesellschaftliche Veränderungsprozesse
gekennzeichnet
werden (z.B. Liberalisierung, Westernisierung);
2. erfassen Positionen der Forschung
zu dem Begriff „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“;
3. analysieren die Verwendung der
Begriffe „Modernisierung“ und „Restauration“ für die behandelte
Epoche;
4. untersuchen und bewerten das Geschlechterverhältnis und kulturelle
Muster der Geschlechterrollen;
5. erkennen, wie sich eine Jugendkultur in der Bundesrepublik herausbildete und welche Rolle ihr von
der Forschung zugeschrieben wird;
6. erarbeiten und bewerten am Beispiel der Heimerziehung in den
50er- und 60er-Jahren, welche
schlimmen Auswüchse überholte
Erziehungsideale zeitigen konnten;
7. gewinnen eine Vorstellung von der
Andersartigkeit der Konsumwelt
der behandelten Epoche;
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GESCHICHTE
betrifft uns
8. reflektieren die Kehrseiten einer
Massenkonsumgesellschaft;
9. lernen den Kontext der „SpiegelAffäre“ kennen und reflektieren
den Stellenwert, den ihr die Forschung zuschreibt;
10. beschreiben und reflektieren den
Umgang mit der NS-Vergangenheit
in der frühen Bundesrepublik;
11. setzen sich mit divergenten Mentalitäten und Wertvorstellungen auseinander und nehmen dazu Stellung;
Urteilskompetenz
16. bewerten rückschrittliche Phänomene einer sich modernisierenden
Gesellschaft;
17. beurteilen die Diskussion um einen
„Schlussstrich“ im Kontext der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit;
Handlungskompetenz
16. erkennen die historische Dimension
der Konsumgesellschaft, in der sie
leben und reflektieren dabei eigene Werte und Vorstellungen.
Methodenkompetenz
12. analysieren Geschichtscomics als
historische Erzählung und lernen
dabei die Fachtermini zur Beschreibung der Comic-Narration
kennen;
13. lernen Werbung und Werbefilme
als kulturgeschichtliche Quelle
kennen;
14. erarbeiten dabei formale und inhaltliche Kriterien zur vertiefenden
Analyse von filmischen Quellen;
15. vertiefen ihre Fähigkeiten im Umgang mit diversen anderen historischen Quellengattungen (z.B. Karikatur, Leitartikel, Plakat);
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 Fragen zum „Zeitgeist“ einer Epoche
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Interview mit dem Hamburger Historiker Axel Schildt (2009)
Axel Schildt ist Professor für Neuere Geschichte an der UniGBU: Wird hier dann Liberalisierung mit Modernisierung
versität Hamburg und Direktor der Forschungsstelle für
gleichgesetzt?
Zeitgeschichte.
50 Schildt: Der Begriff der „Liberalisierung“ bezieht sich auf einen Strang dieser Modernisierung, insbesondere im politischkulturellen Bereich. Etwa die Rechtsordnung ist aufgelockert
GBU: Sie haben sich als Historiker unter anderem mit dem
worden, die vorher sehr streng war, zum Beispiel hinsichtlich
„Zeitgeist“ der Epoche beschäftigt. Wie kann man denn dieder Verfolgung von Homosexualität. Politisch wurde die Desen flüchtigen „Zeitgeist“ wissenschaftlich untersuchen —
welche Quellen bieten sich z.B. an?
55 mokratie noch alleine auf den Parlamentarismus bezogen,
Schildt: „Zeitgeist“ ist in der Tat ein sehr vager und diffuser
während weite Bereiche der Gesellschaft nicht demokratisch
funktionierten. Es wurde auch sehr offensiv von konservatiBegriff. Wie soll man einen „Geist der Zeiten“ auf Papier
ven Politikern gesagt: „Schulen, Irrenhäuser und Bundeswehr
bannen? Bei diesem metaphorischen Ausdruck geht es darkönnen nicht nach demokratischen Prinzipien geführt werum, dass man in der politischen Kultur und der Kultur insgesamt hegemoniale Strömungen identifiziert. Das kann man 60 den“. Das ist dann der Konfliktstoff der Sechzigerjahre.
natürlich mit Quellen, etwa wenn man sich die Zeitschriften
Durch die gesellschaftlichen Veränderungen ergibt sich dann
eine Dynamik der Liberalisierung und auch Demokratisieansieht, die für eine gehobene bildungsbürgerliche Klientel
rung, die weit über das bisherige Verständnis von „Demokraangeboten wurden. Das sind Zeitschriften wie „Merkur“, „Unitie ist gleich Parlamentarismus“ hinausgeht.
versitas“, die „Frankfurter Hefte“ oder „Gegenwart“, die in
den 50er-Jahren stark verbreitet waren. Wenn man dann bestimmte Tendenzen erkennt, wie über bestimmte Dinge ge- 65 GBU: In welchem Verhältnis stehen die Begriffe „Westernischrieben wird und was die Intellektuellen bewegt, dann
sierung“ und „Amerikanisierung“?
kommt man dem Zeitgeist schon auf die Spur. Wenn man
Schildt: Der Begriff der „Westernisierung“ konkurriert mit
dann die Kontraste im Vergleich der 50er-, 60er- und 70erdem Begriff der „Amerikanisierung“. Es geht bei letzterem
Jahre auswertet, kann man mit einiger Vorsicht diesen Begum die Vorstellung, dass unsere Gesellschaft sich nach dem
riff gebrauchen — es ist aber kein streng wissenschaftlicher 70 Muster der amerikanischen Gesellschaft veränderte. Der BeBegriff.
griff der „Westernisierung“ geht davon aus, dass es in den
beiden ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg so
gewesen sein mag. Prinzipiell müsse aber eher von einem
GBU: In der historischen Fachliteratur wird die Zeit der
Kreislauf der Ideen und der kulturellen Leitbilder ausgegan1950er- und 1960er-Jahre mit den Begriffen „Modernisierung“ und „Liberalisierung“ gekennzeichnet. Was steckt hin- 75 gen werden. Eine Forschergruppe um Anselm Doeringter diesen Begriffen?
Manteuffel in Tübingen hat die Durchsetzung eines „Konsensliberalismus“ konstatiert. Das heißt, dass eigentlich in der
Schildt: „Modernisierung“ war der erste Begriff, der Karriere
ganzen westlichen Welt eine ähnliche politische Werteordgemacht hat. Zu einer Zeit, als es noch kaum zeitgeschichtnung entsteht. Der Begriff der „Westernisierung“ ist also
liche Forschungen zur Bundesrepublik gab, richtete er sich
gegen eine gängige Vorstellung unter linken, kritischen Vor- 80 stärker auf den politischen Bereich und den Bereich der
zeichen. Dort sprach man von „Restauration“, um diese EpoIdeen bezogen, der Begriff der „Amerikanisierung“ stärker
auf den Bereich des Transfers von Konsumgütern und der
che zu kennzeichnen. Die Chance, 1945 zu einer radikalen
Massenkultur.
Erneuerung zu kommen, sei nicht genutzt worden. Es seien
vielmehr bleierne Zeiten angebrochen, die zumindest bis
1968 herrschten.
GBU: Die Modernisierung hat ja auch Ängste und GegenreakDagegen wurde dann die Empirie angeführt. Die Wirklichkeit 85 tionen ausgelöst. Erich Kästner hat die Zeit der 50er-Jahre
sah so aus, dass auf allen Gebieten eine enorme Modernisiezum Beispiel als „motorisiertes Biedermeier“ bezeichnet.
rung erfolgte, wirtschaftlich wie gesellschaftlich. Kluge ZeitWas macht dieses „Biedermeier“ aus?
historiker haben aber von vornherein auch die Brechungen
Schildt: Was Erich Kästner mit „motorisiertes Biedermeier“
gesehen. Es gibt ein schönes Zitat von dem Zeithistoriker
bezeichnet hat, geht eigentlich in dieselbe Richtung wie die
Christoph Kleßmann, der von einer „Modernisierung unter 90 eben zitierte „Modernisierung unter konservativen Auspikonservativen Auspizien“ gesprochen hat. Das umschreibt
zien“. Das heißt, dass die technische Lebenswelt sich rapide
den Widerspruch, dass die konservative Bundesregierung der
modernisiert, während dagegen in den 50ern versucht wurKabinette Adenauer nicht verhindern konnte oder wollte,
de, eine sehr sittenstrenge und insbesondere kirchlich gedass die Gesellschaft sich modernisiert. Mit den Ergebnissen
prägte moralische Norm aufrechtzuerhalten. Das geriet in
waren sie aber dann doch nicht zufrieden, denn diese neuen 95 Konflikt miteinander. Die wichtigste Angst, die die WestVerhältnisse haben dann letztlich die konservative Regierung
deutschen hatten, war allerdings, dass irgendwann wieder
beseitigt.
der große Kladderadatsch kommen würde. Man glaubte
nicht, dass dieser sagenhafte Aufschwung anhalten würde —
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Die Bundesrepublik Deutschland in den 50er-/60er-Jahren
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ben. Auch das Wochenende beginnt ja bis in die 60er-Jahre
als es Mitte der 60er-Jahre die erste, von heute aus betrachtet, marginale Delle in der Konjunktur gab, kamen wieder 145 hinein erst am Samstagmittag. Wenn man dann noch häusliÄngste vor einer Weltwirtschaftskrise auf. Dann gibt es auch
che Verrichtungen wie Aufräumen und Ähnliches abzieht,
die Angst vor den Begleiterscheinungen von dem, was man
dann war das Wochenende zeitlich nicht sehr üppig ausals „Amerikanisierung“ charakterisiert hat: Dass traditionelle
gestattet.
Werte zerstört würden, Kinder nicht mehr höflich zu ihren
105 Eltern wären, Erziehungsnormen hinterfragt würden. Nicht
GBU: Drückt sich dieser Rückzug in die Häuslichkeit dann
zufällig ergaben sich die Konflikte dann am Beispiel von Rock 150 auch in der Sehnsucht nach der „guten Stube“ aus — das
’n’ Roll und in den 60er-Jahren an der Beat-Musik und wur„Gelsenkirchener Barock“, das heute als muffig und bieder
den symbolisch in den Diskussionen um lange Haare und kurbelächelt wird, hält wieder Einzug in den 50ern?
ze Röcke in jeder Familie ausgetragen. Und zwar nicht nur in
Schildt: Ja, übrigens hängt das auch mit dieser enormen lebensweltlichen Modernisierung zusammen, dass sich die
110 bestimmten Gesellschaftsschichten, diese Konflikte waren
schichten- und klassenübergreifend.
155 Menschen als Kompensation nach dem Altvertrauten sehnen,
zu dem sie sich zurücktasten. Das gilt für alle ästhetischen
Vorlieben, zum Beispiel für die Filme, die gesehen wurden.
GBU: Wie hat überhaupt der Alltag einer durchschnittlichen
Dieselben Schauspieler, die man aus den 30er- und 40erFamilie in den 50er-Jahren ausgesehen — wie sah zum BeiJahren kannte, wie etwa Hans Albers und Heinz Rühmann,
spiel das Zeitbudget aus?
115 Schildt: Der Anteil an Freizeit hat sich enorm vergrößert. 160 waren wieder populär. Das geht hin bis zu der Weise, in der
Wir haben Mitte der 50er-Jahre die längste Ausdehnung des
Filme gemacht wurden. Neunzig Prozent der Kameramänner
Arbeitstages in der Industrie mit im Durchschnitt knapp fünfAnfang der 50er-Jahre haben auch schon in den 30er-Jahren
zig Stunden an sechs Arbeitstagen pro Woche. Da kann man
gearbeitet. Wenn man sich die Titelbilder der Illustrierten
sich vorstellen, dass der Feierabend nur ruhig und beschauansieht, wird man auch sagen, dass vieles Anfang der 50er120 lich sein konnte, also im Prinzip zur unmittelbaren Repro- 165 an die 30er-Jahre erinnert, soweit es unpolitische Dinge beduktion der Arbeitskraft genutzt wurde. Das waren Tätigkeitrifft. Insofern ist es auch kein Wunder, dass man in der
ten wie Ausruhen, Zeitunglesen und, insbesondere in den
Wohnumgebung das haben wollte, was als Rückgewinnung
50er Jahren, Radio hören. Seit dem Ende der 50er-Jahre bevon bürgerlicher Sekurität gegolten hat. Also diese sprichginnt die Durchsetzung der Fünf-Tage-Woche und eine entwörtlich behäbigen Möbel im „Gelsenkirchener Barock“;
125 sprechende Verkürzung der Wochenarbeitszeit auf zunächst 170 wuchtige Sessel und klobige Schränke, die zum Teil gar nicht
45 Stunden Mitte der 60er-Jahre und dann später 40 Stunin die kleinen Wohnungen des sozialen Wohnungsbaus hinden. Was die Menschen an zusätzlicher Freizeit gewinnen,
einpassten.
wird seither eigentlich eins zu eins in eine Vermehrung des
Medienkonsums umgesetzt. Es ist also nicht so, dass die auGBU: Die Zeit der frühen Bundesrepublik wird auch als „Ära
Adenauer“ bezeichnet. Ist es gerechtfertigt, eine Person so
130 ßerhäuslichen Freizeitaktivitäten anteilsmäßig zugenommen
hätten. Weil aber insgesamt mehr Zeit zur Verfügung steht, 175 herauszustellen?
ist auch Zeit übrig für Sport und andere Dinge.
Schildt: Wenn man überhaupt eine Persönlichkeit nennen
will, die in dieser Zeit politisch sehr wichtig war, kann man
sicher Adenauer nehmen. Es ist die Frage, ob man überhaupt
GBU: Wie ist das Radiozeitalter der 50er-Jahre durch das
Personen für die Bezeichnung einer Zeit suchen muss. Meneue Medium Fernsehen verändert worden?
135 Schildt: Man kann sagen, dass die Häuslichkeit zementiert 180 dien und Journalisten bedienen da das Bedürfnis der Menund ausgeweitet wird. Hinzu kommt die neue und attraktiveschen nach Personifizierung von Geschichte. Aber Adenauer
re Wohnumgebung: Der Komfort wächst und die Wohnungen
war fraglos eine sehr wichtige Figur — und er hat genau das
werden größer. Das hat sich auf einer ganz grundsätzlichen
personifiziert, was man als gesellschaftliche Modernisierung
Ebene abgespielt. Die Kommunikation, etwa mit Nachbarn,
unter kulturkonservativen Auspizien sehen kann: Adenauer
140 hat eher zugenommen. Die Menschen der frühen 50er-Jahre 185 war ein gläubiger Katholik, mit sehr sittenstrengen, uns heusind da noch viel mehr voneinander abgeschlossen. Das lässt
te völlig anachronistisch anmutenden Vorstellungen.
Das Interview mit Prof. Dr. Axel Schildt wurde im Mai 2009 von „Geschichte betrifft
sich u.a. mit den bereits erwähnten sehr langen Arbeitstagen
uns“ geführt.
erklären, die kaum noch andere Aktivitäten zugelassen ha100
Leitfragen/Arbeitsaufträge
Legen Sie auf Grundlage des Interviews Folgendes dar:
a) Definieren Sie die Begriffe „Modernisierung“ und „Liberalisierung“.
b) Unterscheiden Sie begrifflich „Westernisierung“ und „Amerikanisierung“.
c) Erläutern Sie die Rolle der Medien.
d) Erläutern Sie die Reaktionen auf die Modernisierung.
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„Nivellierte Mittelstandsgesellschaft“
tion in der frühen Bundesrepublik sehr viel skeptischer als
Schelsky und auch als Dahrendorf. Der Begriff der „nivellierten
Nach der Not der unmittelbaren Nachkriegsjahre gewann
Mittelstandsgesellschaft“ jedenfalls knüpfte ersichtlich an die
der Wiederaufbau unter günstigen weltwirtschaftlichen Be50 Vorstellung von der sozialharmonischen „Volksgemeinschaft“ an,
dingungen ein hohes Tempo. Das Wohlstandsniveau und die
die wenige Jahre zuvor noch als Leitbild des Nationalsozialismus
zivilisatorischen Standards hatten bereits 1949, im Grünfungiert und die Unterschiede und Konflikte einer modernen Gedungsjahr der BRD, den höchsten Stand der Zwischenkriegssellschaft geleugnet hatte. Bürgertum und Arbeiterschaft bzw.
zeit (1938/39) überholt. Hat das so genannte „WirtschaftsAngestelltenschaft trennte nach wie vor vieles voneinander.
wunder“ soziale Ungleichheit nivelliert? Der Historiker EdEdgar Wolfrum: Gab es die „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“? In: Ders.: Die 101
gar Wolfrum erläutert im nachfolgenden Text einen zentrawichtigsten Fragen. Bundesrepublik Deutschland. München: C.H. Beck Verlag 2009,
S. 77—79. ISBN: 978-3406-58515-9
len Begriff der zeitgenössischen Diskussion.
Gab es die „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“? Zu den BegLeitfrage/Arbeitsauftrag
riffen, die Karriere gemacht haben und fast zu Zauberformeln
geronnen sind, gehört sicherlich die „nivellierte MittelstandsSkizzieren Sie anhand der Darstellung des Historikers Edgesellschaft“, die der Soziologe Helmut Schelsky in den 1950er
gar Wolfrum die Forschungsgeschichte zum Begriff „niJahren in der Bundesrepublik zu erkennen glaubte. Die dahinvellierte Mittelstandsgesellschaft“.
ter stehende These besagte, dass der kollektive Aufstieg der
Industriearbeiter sowie der Angestelltenschaft, gefördert
M 1.3 Glossar: Narrative Logik des Comics
durch die ausgedehnte Sozial- und Steuerpolitik, sich mit Abstiegsprozessen bessergestellter bürgerlicher Gruppen im GePanel
Einzelbild, das dem Satz in der schriftlichen
folge von wirtschaftlichen Krisen, Kriegsniederlage, Zerstörung
Erzählung entspricht. Die Zeit ist eingefround Vertreibung kreuzte. Dadurch würden Klassengegensätze
ren.
abgebaut, und es komme zu einer sozialen Nivellierung in einer verhältnismäßig einheitlichen Gesellschaftsschicht, die
Sequenz
Folge von Einzelbildern, die eine Handweder proletarisch noch bürgerlich sei. Diese Nivellierung setlungs- und Erzähleinheit bildet. Von links
ze sich in einer Vereinheitlichung der sozialen und kulturellen
nach rechts gelesen wird ein Vorgang im
Verhaltensformen in der Konsum- und Freizeitgesellschaft
Zeitverlauf dargestellt.
fort, etwa durch den Besitz eines Autos und anderer langlebiHiatus
Zwischenraum zwischen zwei Panels. Diese
ger Konsumgüter oder durch Urlaubsreisen.
Lücke drückt die vergangene Zeit aus.
Ist dies mehr als eine schöne Sozialutopie? Einer der vehemenHabitus
Begrenzung der einzelnen Panels, meist
testen Kritiker Schelskys war Ralf Dahrendorf, ebenfalls Soziorechteckig. Wechsel der Größe zeigt den
loge, jung, aufstrebend und intellektuell brillant. Er meinte,
Rhythmus des Erzählens an: Folge gleichSchelskys These einer Vereinheitlichung der sozialen und kulgroßer Quadrate drückt Ruhe aus, unregelturellen Verhaltensformen sei nichts weiter als eine „optische
mäßige Rechtecke erzeugen Dynamik.
Täuschung“. Seine Argumente: Nicht jedes Auto gleiche dem
anderen, nicht jeder Urlaubsort sei eben ein Urlaubsort und
Einstellung
Kompositionsprinzip, nach dem einzelne
sonst nichts, und der Wunsch nach einem höheren LebensBilder und Sequenzen aufgebaut sind. Anstandard bedeute für den einfachen Arbeiter in der Industrie
lehnung an filmische Einstellungen (Totale,
etwas anderes als für den Prokuristen einer Bank.
Halbtotale, Nahaufnahme etc.)
Tatsächlich war die Vermögensverteilung in der BundesrepuPerspektive Blick des Betrachters auf das Geschehen,
blik in den 1950er und 1960er Jahren nach wie vor sehr unquasi durch das Auge einer Filmkamera (auf
gleich und ebenso wiesen Einkommen, Prestige und BildungsAugenhöhe, Vogelperspektive, Froschperchancen ganz erhebliche Unterschiede auf. All dies widerspektive etc.)
sprach der These einer „nivellierten“ Gesellschaft. Gegenüber
Blasentext
In Blasen wird (meist durch einen auf eine
dem Mittelstandsmodell bevorzugte Dahrendorf und bevorzuFigur weisenden Dorn) lesbar, was eine Pergen auch viele heutige Soziologen das Modell der „Schichson sagt oder denkt. Form und Gestaltung
tungsgesellschaft“. Dieses besagt, dass es Ungleichheit und
verdeutlichen, ob sie normal spricht,
ein Oben und Unten gebe, dass jedoch die Ungleichheit in der
schreit, flüstert etc.
modernen Gesellschaft, anders als in der alten Klassengesellschaft, durch den prinzipiell offenen Weg nach oben über BilBlocktext
Kommentiert die Erzählung, meist als
dung, Beruf und Leistung individuell überwindbar sei. Eine
rechteckiger Habitus abgegrenzt; entspricht
solche Offenheit kann als ein wichtiger Indikator für eine geeinem auktorialen Erzähler.
lungene Modernisierung verstanden werden.
AuthentiziGeschichtscomics zitieren meist bekannte
Die neuere empirische Forschung hat allerdings noch einmal
tätsbeteueBauwerke, Gegenstände oder Panoramen,
Wasser in diesen Wein geschüttet: Sie erkennt nur einen allmährungen
um den Wahrheitscharakter der Erzählung
lichen Abbau von Schichtungsbarrieren im Sinne eines langen, bis
zu belegen.
in die Gegenwart reichenden Trends, und sie beurteilt die Situa-
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Erich Kästner: Heinrich Heine und wir
Meine Damen und Herren,
gestatten Sie mir ein paar Worte. Ein paar Worte
nicht über Heine, sondern von ihm. Und danach ein
paar Worte nicht über Heine, sondern über uns.
Vor fast auf den Tag genau hundertzwanzig Jahren,
am 14. März 1836, schrieb Heine an Campe: „Ich vertrete in diesem Augenblick den letzten Fetzen deutscher Geistesfreiheit“, und am 29. März an Cotta:
„Sie wissen, der Bundestag hat, zunächst durch
preußischen Antrieb, meine künftigen Schriften verboten […] Unterdessen macht die preußische Regierung bekannt, daß das Interdikt gegen die jungen
Deutschlandverbrecher sich nicht auf die künftigen
Schriften derselben erstrecken solle, wenn sie ihre
Schriften hübsch untertänig von der preußischen
Zensur zensieren ließen […] Wie intelligent sind doch
diese Preußen, ebenso intelligent wie knickerig! Sie
wollen mich für mein eigenes Geld kaufen! Denn um
ein Buch drucken lassen zu können, um es durch die
Zensur zu bringen, dürfte ich darin nichts schreiben,
was ihnen mißfiele, ja ich müßte aus dieser Rücksicht manches Wohlgefällige für sie einweben, ich
dürfte fremde Staaten hecheln, wenn ich nur Preußen recht liebevoll den Fuß striche, kurz, ich müßte
im preußischen Interesse schreiben — um nur einige
Taler Honorar, die mein eignes, wohlerworbenes
Geld sind, einstecken zu können! Nächst diesem Verkauf, diesem indirekten Verkauf meiner Feder würde
ich die teuersten Interessen der deutschen Schriftwelt an Preußen verraten; denn durch dergleichen
feige Nachgiebigkeit gerieten alle deutschen Gedanken, ebenso gut wie die materiellen Stoffe, unter die
preußische Douane.“
Diese Sätze stammen aus einer Zeit, mit der wir Begriffe wie Junges Deutschland, Metternich, Vormärz
und Biedermeier verbinden. Der Bundestag von damals und der von heute sind bekanntlich nicht ein
und derselbe. Inzwischen ist — nach entsetzlichen
Zwischenspielen, die wir dadurch wiedergutmachen,
daß wir sie vergessen — der Fortschritt eingerissen.
Er hat das so an sich. „Künftige Schriften“ werden
ebensowenig verboten wie bereits erschienene. Es
gibt keine Vorzensur und es gibt keine Zensur mehr.
Man braucht eigen-sinnige Zeitschriften nicht mehr
zu verbieten — denn wir haben keine. Charaktervolle
Zeitungen lassen gelegentlich ihre „andere“ Meinung
wie einen Kanarienvogel aus dem Bauer. Besorgnis
ist nicht am Platze. Der Vogel, den wir haben, fliegt
nicht weg. Er ist an sein Futter gewöhnt. Und außerdem sind die Fenster zu. Wir haben keine Zensur,
weil wir keine brauchen. Wir haben, fortschrittlich,
wie wir nun einmal sind, die Selbstzensur erfunden.
Wir sitzen am Stadttore der Großgemeinde Schilda
und häkeln unsern Maulkorb selbst. Meine Damen
und Herren, sollten Sie um einen Namen für unsere
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Epoche verlegen sein, so möchte ich Ihnen und der Epoche einen Vorschlag machen: Wir leben im Motorisierten Biedermeier.
Bedarf es des Beweises und der Beispiele? Denken Sie doch nur an das
geradezu wahnwitzige Mißverhältnis zwischen den jeweils asthmatisch
mühsam bereitgestellten Summen für neue Schulbauten und den
schneidig bewilligten Geldern für die künftigen Kasernen! Verbirgt und
offenbart sich hier eisigster Zynismus? Handelt es sich um politische
Schizophrenie? Wie auch immer — gegen eine solche Staatsgesinnung
seinen Kanarienvogel ansingen zu lassen heißt: wenig mehr zu tun als
gar nichts. Man beruhigt, allenfalls, sein eigenes Gewissen und schont,
jedenfalls, das schwerhörige Gewissen der Öffentlichkeit. Und man verhindert in keinem Falle, daß die heranwachsende Jugend aus unzureichenden Schulen in moderne Kasernen umziehen wird.
Das ist ein Traktandum auf der Tagesordnung unserer „Demokratur“, und
die Liste ist lang wie diejenige Leporellos, nur nicht so erheiternd. Es ist,
hier und jetzt, nicht meine Aufgabe, die Traktanda aufzuzählen und mit
unseren Versäumnissen zu multiplizieren. Es soll ja Heines gedacht und,
in der Folge, eine Gedenktafel angebracht oder eine Büste, im Englischen
Garten, errichtet werden: in der Erinnerung an ihn, das sind wir ihm, und
als sichtbare Ermahnung, das sind wir uns schuldig. Nostra res agitur.
Erich Kästner: Heinrich Heine und wir (1956). In: Das Erich Kästner Lesebuch, hrsg. von Christian
Strich. Zürich: Diogenes Verlag 1978, S. 251—252
M 1.7
Karikatur zur „Ära Adenauer“ (1965)
Zeichnung: Fritz Behrend. Reproduziert nach Christoph Kleßmann: Zwei Staaten, eine Nation.
Deutsche Geschichte 1955—1970. Bonn: bpb (Schriftenreihe Bd. 343) 1997, S. 472
Leitfragen/Arbeitsaufträge
1. a) Fassen Sie den Text von Erich Kästner zusammen.
b) Charakterisieren Sie die Grundhaltung des Schriftstellers.
2. a) Erläutern Sie anhand der Karikatur (M 1.7), welche Eigenschaften Konrad Adenauer zugeschrieben wurden.
b) Diskutieren Sie seine Eignung zur Personifizierung der Epoche der 50er-Jahre.
Die Bundesrepublik Deutschland in den 50er-/60er-Jahren
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 1. Teil Ehe, Familie und Geschlechterrollen
M 2.1
„Die gute Ehe“ (1954)
Jeder Mann braucht eine gewisse Freiheit. Er will auch einmal
ihr von Natur aus zugedacht war. […] Während er heimkommt
für sich allein sein, zu Freunden oder zum Sport gehen, sich
und mit seiner Arbeit fertig ist, geht es bei ihr erst los mit Aufvom Beruf entspannen. Das hat nichts mit abflauender Liebe zu
räumen, Kochen, Putzen, Flicken oder Einkaufen. Da kann er rutun, und darum sind Vorwürfe, Tränen und Szenen in solchen 20 hig ein wenig mittun und die körperlich schwereren Arbeiten
5 Fällen fehl am Platz. Wenn er müde oder verärgert heimübernehmen. Es ist keine Schande, zu Zweien abzuwaschen oder
die Zimmer zu reinigen. Ihm steht jedenfalls der Bodenbohner
kommt, braucht er Ruhe und will keine Klagen hören über Anbesser als ihr. Mit Frohsinn und einem Kuß dazwischen geht es
nas zerrissene Schuhe oder über Frau Maiers angebliche Überviel leichter. Und sie bemüht sich, beizeiten den Haushalt zu
griffe am Wäscheplatz, über das verpfuschte Kleid und das zu
knappe Wirtschaftsgeld. Er braucht seinen zurechtgerückten 25 Gunsten einer guten Stunde der Zweiheit zu vergessen.
10 Stuhl, seinen Aschenbecher, die Zeitung und — seine Ruhe.
Noch etwas ist sehr wichtig für die berufstätige Frau. Sie
muß ganz Frau bleiben, trotz aller Selbständigkeit und VerDie Frau arbeitet natürlich auch; daheim wie im Beruf. Deshalb
antwortung, trotz Erfolg und Leistung. In einer Ehe gibt es
wäre es falsch, bei ihr keine Sorgen, keine Nöte und Spannungen
nichts Schöneres und Natürlicheres als eine weibliche Frau
zu vermuten. Da aber die Frau von Natur aus weicher und biegsamer ist, kommen nun einmal ihre Interessen nach den seinen 30 und einen männlichen Mann.
Erna Horn: Hohe Schule der Lebensart. Kempten/Allgäu: Verlag Albert Pröpster
15 — aber sie müssen auch kommen dürfen. Besonders die berufstä1954, S. 31
tige Frau braucht Rücksicht, da sie meist schon mehr leistet, als
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Ute Frevert: „Umbruch der Geschlechterverhältnisse?“
Daß „die 68er“ ihre Erfahrungen als eindeutige Zäsur verbuchten, entsprach der Handlungslogik einer neuen sozialen
Bewegung. Um die eigene Originalität und Innovationskraft
gebührend zur Geltung zu bringen, mußte die unmittelbare
Vergangenheit auf Abstand gehalten werden. Je drastischer
die Traditionalität und Bewegungslosigkeit der 50er Jahre ausgemalt wurden, desto beeindruckender nahm sich die reklamierte Dynamik der nachwachsenden Generation aus. Schließlich konnte der neue Wind der späten 60er Jahre um so frischer wehen, je miefiger die Verhältnisse davor ausfielen.
[…] Die Dynamik der 50er Jahre gerade auch auf geschlechterpolitischem Gebiet aber gerät damit aus dem Blick. Die Adenauer-Zeit nur als Restauration traditioneller Geschlechterverhältnisse abzuurteilen und sie mit ihrer konservativ-katholischen
Familienpolitik gleichzusetzen, verkennt gegenläufige Entwicklungen und Tendenzen, die bereits den Zeitgenossen auffielen.
So verzeichnete etwa die Erwerbsquote verheirateter Frauen in
der frühen Bundesrepublik einen rasanten Anstieg: von etwa
26,4 Prozent 1950 auf 36,5 Prozent 1961. Gewerkschafterinnen
machten gegen die offen diskriminierende Lohnpolitik Front
und prozessierten erfolgreich gegen die bis 1955 in Tarifverträgen üblichen Frauenlohngruppen und Frauenabschlagsklauseln.
Der Bonner Bundestag verabschiedete 1958 ein Gleichberechtigungsgesetz, das dem Artikel 3 Absatz 2 des Grundgesetzes
folgte und die meisten männlichen Privilegien des Bürgerlichen
Gesetzbuches abschaffte. § 1354 BGB, der dem Ehemann allein
die Entscheidung „in allen das gemeinschaftliche Leben betreffenden Angelegenheiten“ zugestand, wurde ersatzlos gestrichen, das Recht verheirateter Frauen auf Erwerbsarbeit grund-
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sätzlich bekräftigt. Nicht trennen wollten sich Regierung und
Parlament allerdings von der Entscheidungshoheit des Vaters in
strittigen Erziehungsfragen und seinem juristischen Vertretungsrecht. Hier mußte das Verfassungsgericht intervenieren,
das diese Privilegien 1959 für grundgesetzwidrig erklärte.
Auf diese Entwicklungen hinzuweisen heißt selbstverständlich
nicht, die 50er Jahre als Paradies der Gleichberechtigung
hochzuloben. Die Widerstände waren immens: in den Gewerkschaften, die am Leitbild des männlichen Familienernährers
festhielten, in den Kirchen, die als stärkste Bastionen einer restaurativen Familienideologie auftraten, in der Politik, die sich
nach Kräften mühte, den unbequemen Gleichberechtigungsartikel des Grundgesetzes und seine Anpassungsmahnung zu ignorieren. Doch es gab einflußreiche Gegentendenzen, im Rechtssystem ebenso wie in der wirtschaftlichen Entwicklung. Nicht
nur benötigte der ökonomische Aufschwung Arbeitskräfte, die
man zunehmend unter Frauen rekrutierte; auch die gestiegenen Konsumbedürfnisse der Bevölkerung, die ihrerseits das
Wirtschaftswachstum ankurbelten, ließen sich ohne den „Zusatz“-Verdienst der Ehefrauen kaum befriedigen. Die demographische Entwicklung tat das Ihrige: In den 50er Jahren sank das
Heiratsalter (bei Männern von 28,1 auf 25,9 Jahre, bei Frauen
von 25,4 auf 23,7 Jahre). Die jungen Familien wiederum
brauchten Geld, um sich einzurichten und die verlockenden
Angebote des expandierenden Konsumgütermarktes zu nutzen.
Dieser Trend setzte sich in den 60er Jahren fort.
Ute Frevert: Umbruch der Geschlechterverhältnisse? Die 60er Jahre als geschlechterpolitischer Experimentierraum. In: Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in beiden
deutschen Gesellschaften, hrsg. von A. Schildt/D. Siegfried/K. C. Lammers. Hamburg: Hans Christians Verlag 2000, S. 642—660, hier S. 643 f.
Leitfragen/Arbeitsaufträge
1. Charakterisieren und beurteilen Sie die Quelle M 2.1.
2. Arbeiten Sie die in M 2.2 beschriebenen Entwicklungen heraus.
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Die Bundesrepublik Deutschland in den 50er-/60er-Jahren
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Männliche Vorbildrollen
Material 1: Werbeanzeige (1961)
Material 2: Jugenderinnerung: Robert Clausen, geb. 1950
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Die Zeit vor 1968 war wirklich dumpf. Letztlich machte sie dumpf,
was alle Zeiten dumpf macht, dass die Menschen in ihrem Zusammenleben fassadenhaft miteinander umgehen, als ob sie sich
gleichsam verfestigten. Ein Teil war natürlich auch verlogen. Die
Liebesfilme, die damals gedreht wurden, mit diesem Bild der blütenweißen Frau, die mit dem netten, aufrichtigen Holzfäller-Sepp
oder Arzt glücklich wird. Die Bilder, die einem da in den Kopf gesetzt wurden, auch den Jungs, waren fatal. Meistens mussten die
Männer zum bitteren Ende doch gehen, obwohl sie am liebsten geblieben wären. „Heißer Sand und ein verlorenes Land“, der Frau
musste man beweisen, dass man sie richtig liebte, also wirklich
richtig liebte und es ganz gut meinte und nicht nur wegen Sex. Die
haben ein Frauenbild gegeben, durch das man als junger Mann
eher das Gefühl hatte, o je, da kann man nichts machen, es sei
denn, es ist alles besiegelt. Ganz nebenbei war auch gar nicht so
richtig klar, was man machen wollte. Man wurde eigentlich erzogen in die Richtung weißer Ritter und man schwor, dass man sich
immer anständig benimmt.
Neuer Wind kam erst auf mit dem Beginn der so genannten 68erJahre, dem Beginn der politischen Diskussionen. Meine Freunde
und ich waren so ab dem Alter von 15, 16 „Spiegel“-Leser. Auch
wenn wir nicht 68er waren und noch nicht studiert haben, sind wir
trotzdem häufig zur Uni gefahren und haben uns Sitzungen vom
SDS oder anderen angehört. Das war schon eine aufregende Zeit,
da hat sich mit einem Mal überall etwas geändert. Um die Ecke
von meiner Lehrfirma machte einer ein Geschäft für Sexualhygiene
auf. Oder so ein veralbernder Film wie „Zur Sache Schätzchen“, in
dem mal richtiger Unsinn und nicht Heinz-Erhart-Blödsinn vorkam,
lief in den Kinos. Plötzlich schienen sich überall Diskussionen breit
zu machen, selbst bei den Ärzten wurde über die Halbgötter in
Weiß diskutiert und an der Uni machte sich der Widerstand gegen
den „Muff unter den Talaren“ breit — das nahm zu auf allen Gebieten. Es war eine aufregende Zeit. Mit einem Mal hatte sich überall
etwas geändert.
Claudia Seifert: Aus Kindern werden Leute, aus Mädchen werden Bräute. Die 50er und 60er
Jahre. © 2006 Deutscher Taschenbuch Verlag, München, S. 208
Leitfragen/Arbeitsaufträge
1. Analysieren Sie die Werbeanzeige für Herrenhemden (Material 1).
2. a) Kontrastieren Sie die Jugenderinnerung (Material 2) mit
der Argumentation von Ute Frevert in M 2.2.
b) Erklären Sie die unterschiedliche Wahrnehmung dieser
Periode.
3. Versetzen Sie sich in das Jahr 1961 und entwerfen Sie eine
Werbeanzeige oder verfassen Sie einen Radiowerbespot
für ein Damenkleidungsstück Ihrer Wahl (berücksichtigen
Sie M 2.1).
Der Schauspieler Karlheinz Böhm wirbt für „Eterna“
Quelle: Revue 39/1961. Abbildung reproduziert nach: Michael Kriegeskorte:
Werbung in Deutschland 1945—1965. Die Nachkriegszeit im Spiegel ihrer Anzeigen. Köln: DuMont Buchverlag 1992, S. 77
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GESCHICHTE
betrifft uns
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Die Bundesrepublik Deutschland in den 50er-/60er-Jahren
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M 2.4
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Methodenkarte zur Analyse historischer Kino-Werbespots
BESCHREIBUNG
--
Spontane erste Eindrücke festhalten
Kurze Inhaltsangabe: Was wird beworben — wodurch wird es beworben (Figuren/Handlung)?
Erfassen und Benennen der einzelnen Bestandteile (Bild, Ton (auch Musik und Geräusche), Text)  Filmprotokoll
FORMALE ANALYSE
Visuelle Ebene
Auditive Ebene
Narrative Ebene
Montage/Schnitt
-
Figurenkonstruktion
Erscheinungsbild
Attribute und Handlungsweisen
--
= die technische Zusammenfügung des
Bild- und Tonmaterials
(der Einstellungen)
Einstellungsgrößen
Sprache
Weit — Totale — Halbtotale — Ame„on“ (Sprecher im
rikanisch (bis zur Hüfte: typisch für
Bild zu sehen)
den Western, um den Revolvergürtel
„off“ (Sprecher
noch zeigen zu können) — Halbnah
nicht im Bild)
— Nah — Groß — Detail
Schriftliche Texte (Inserts) im Film
Kameraperspektive
Normalsicht (Augenhöhe der hanGeräusche
delnden Figuren) — Aufsicht (Vogel„Atmo“ (Hintergrundperspektive) — Untersicht (Froschgeräusch, akustische
perspektive)
Atmosphäre)
Kamerabewegung
Schwenk (unveränderter Standpunkt) — Kamerafahrt — Zoom („unechte“ Bewegung mithilfe des Objektivs) — Kombination (der obigen
drei Grundformen der Bewegung)
Handlungsraum im Film
Innenraum — Stadt — Natur — sonstige besondere Kulisse
Licht
Normalstil (alles gleichmäßig ausgeleuchtet) — Low-Key-Stil (dunkle
Ausleuchtung) — High-Key-Stil (helle
Ausleuchtung)
Effektgeräusche/Soundeffects
(Geräuschstereotype,
die eine intendierte
Botschaft verstärken,
z.B. knarrende Türen
in Gruselfilmen)
Musik
Emotionserzeugung
durch verschiedene
Stile und Genres (unterschwellig — deutlich — aufdringlich)
Figurenkonstellation
Interaktion zwischen den Figuren
Unterscheidung zwischen Hauptund Nebenfiguren
Erzählstrategien
Erzählzeit und erzählte Zeit:
Beschleunigung („fast motion“)
Verlangsamung („slow motion“)
Zeitraffung (Auslassen von Teilen der Geschichte)
Zeitdehnung (Darstellung dauert länger als der tatsächliche
Ablauf)
Rückblende („flash back“)
Vorausblende („flash forward“)
Echtzeit
Parallelmontage (zwei verschiedene Handlungsstränge werden
im Wechsel montiert, um den
Eindruck der Gleichzeitigkeit zu
erwecken)
----
Sequenz
Einheit im Geschehen
mit erkennbarem
Handlungszusammenhang
„Continuity System“
In der Regel wird ein
„unsichtbarer Schnitt“
angestrebt; eine Montage mit fließenden
Übergängen, die der
Zuschauer nicht bewusst wahrnimmt.
Schuss-GegenschussVerfahren
Miteinander sprechende Figuren sind
jeweils abwechselnd
zu sehen
INTERPRETATION
Sinnvoll begründete Deutung und Bewertung auf Basis der bisherigen Analyseschritte unter Einbeziehung der folgenden
Leitfragen:
Welche Zielgruppe soll angesprochen werden. Wie wird der Betrachter angesprochen?
Welche Produktinformationen erhält der Betrachter? Welches Produktimage wird aufgebaut?
Welche Werbebotschaften werden deutlich? Wie ist die Werbewirksamkeit zu beurteilen?
Welche Rückschlüsse ziehen Sie auf den Erwartungshorizont der Betrachter?
---
Vorsicht vor Verallgemeinerungen — jeder Werbespot ist nur ein Mosaikstein für die Rekonstruktion des „Zeitgeistes“!
Autor: Jochen Pahl
Leitfrage/Arbeitsauftrag
Benutzen Sie bei der Sichtung der historischen Werbespots die vorliegende Methodenkarte. Arbeiten Sie heraus, wie in
den Spots die Geschlechterrollen und das Geschlechterverhältnis dargestellt werden.
G
GESCHICHTE
betrifft uns
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Die Bundesrepublik Deutschland in den 50er-/60er-Jahren
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MATERIALIEN
 2. Teil Jugend und Erziehung
M 3.1
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Jugendkultur und Rock ’n’ Roll
M 3.2
Außenpolitisch gab es für die junge Bundesrepublik bei prioritärer Westbindung
und konsequentem Hinarbeiten auf Souveränitätsfortschritte zu einem möglichst
engen Schulterschluss mit den Vereinigten Staaten keine ernsthafte Alternative,
und dies in Wort und Tat. Mittelfristig setzte dies einer virulenten Ablehnung kultureller Amerikanisierungstrends enge Grenzen und veranlasste etablierte Kreise,
solche Ausdrucksformen zu tolerieren, zu entpolitisieren, zu integrieren und — im
innerdeutschen Systemkonflikt — zu instrumentalisieren. […]
Auf Widerstand traf Rock ’n’ Roll freilich über die Erwachsenenwelt hinaus, die Abwehrfront reichte bis in die Generation der Kinder und Kindeskinder. Populäre Musik
für Massen kaufkräftiger junger Zuhörer: das war ein kulturhistorisch einschneidendes Phänomen. Doch weder bedeutete dies, dass künftig alle ausnahmslos und gleichermaßen jedes Genre schätzten, das auf den Markt kam, noch dass sich die breite
Mehrheit unter den Jugendlichen nunmehr vollkommen und ausschließlich auf eine
einzige Stilrichtung kaprizierte. Die meisten blieben „Allesfresser“, die sich anders
als die engeren, meist männlichen Kerngruppen einer Jugendkultur nicht festlegen
wollten. Und Offerten gab es neben Rock ’n’ Roll reichlich. Denn schon die späten
1950er und frühen 1960er Jahre glichen einem bunten Gemischtwarenladen aus dem
junge Leute nach persönlichem Gutdünken auswählen oder kombinieren konnten,
was für den eigenen Lebensalltag am sinnvollsten erschien. […]
Angeeignet zu Beginn im Milieu der städtischen Arbeiterjugend, entdeckten seit den
frühen 1960er Jahren immer mehr Mittel- und Oberschichtenjugendliche rockmusikalische Sparten für sich, kopierten einschlägige Dress- und Sprachcodes. Nachahmungseffekte von „unten“ nach „oben“: ein neues Phänomen und ein fundamental zukunftsweisender Vorgang. Nicht zuletzt durch Musik war Jugend nun Jugend quer zu
den Sozialgruppen, bei abnehmenden Bindungen aller Art zusammengehalten durch
musikvermittelte Einstellungs- und Verhaltensmuster, die im öffentlichen Raum mehr
und mehr an Sichtbarkeit gewannen. Allerdings lebten „feine Unterschiede“ fort,
einmal durch die unaufhaltsame Fragmentierung populärer Genres, dann durch Distinktionsgewinne innerhalb einzelner Stile, mit denen sich eingeweihte Szene-Eliten
von der dumpfen Masse an „Milieu-Mitläufern“ abzusetzen versuchten. […]
Auch in Westdeutschland gab es damals einheimische Rock ’n’ Roll-Stars. Schon
1956 betrat Peter Kraus, bereits Jahre zuvor als Kinderstar aus medienvertrautem
Elternhaus gefeiert, erstmals hüftschwingend die Bühne und ließ sich als deutsche
Antwort auf Elvis Presley feiern. Sagenumwoben sind die inszenierten Grabenkämpfe zwischen Peter Kraus und Ted Herold, der sich doch selbst stets als einzig
legitimen deutschen Rock ’n’ Roller empfand. Und dennoch: beide hatten den
gleichen Manager, standen bei der gleichen Plattenfirma unter Vertrag und gingen
gemeinsam auf Tournee. Eigenständig deutsche Künstler waren sie weniger als authentische Straßen-Rocker denn als schlagerhafte „Soft-Versionen“ amerikanischer
Originale, die sich über herrschende Moralvorstellungen nur ausnahmsweise hinwegsetzten. Eine größere Fangemeinde erreichten sie anders als die französischen
Interpreten nur kurzzeitig. Über den deutschsprachigen Raum hinaus bekannt wurden weder sie noch nachfolgende Teenager-Idole der 1960er Jahre […].
Dietmar Hüser: „Rock around the clock“. In: Chantal Metzger/Hartmut Kaelble (Hrsg.): Deutschland — Frankreich
— Nordamerika: Transfers, Imaginationen, Beziehungen. Schriftenreihe des Deutsch-französischen Historikerkomitees. © 2006 Franz Steiner Verlag GmbH, Stuttgart, S. 189—208
Leitfragen/ Arbeitsaufträge
1. Geben Sie wieder, was für den Historiker Dietmar Hüser die Bedeutung der
„Amerikanisierung“ ausmacht, und erörtern Sie, welchen Einfluss der Rock
’n’ Roll auf die Jugendkultur hatte. (M 3.1)
2. Ordnen Sie die zeitgenössische Quelle M 3.2 in diesen Zusammenhang ein.
G
GESCHICHTE
betrifft uns
1 · 2010
Kommentar (1956)
Woher kommt die Wirkung von „Rock
’n’ Roll“? Der Film „Rock around the
Clock“ selbst scheint auf den ersten
Blick der Inbegriff der Harmlosigkeit.
So harmlos scheint er, daß die Selbstzensur der englischen Filmindustrie ihn
ohne Zögern für Jugendliche freigab.
Es ist die Geschichte einer Jazzband,
die einen neuen Tanzrhythmus einführt
— eben „Rock ’n’ Roll“ — (zu deutsch
etwa „Wieg dich und rolle!“) — und
damit zu Ruhm und Reichtum gelangt.
Man kann sich ein konventionelleres
Filmsujet gar nicht denken. Was den
„Rock ’n’ Roll“-Rhythmus betrifft, so
ist er ebenfalls nichts Neues, sondern
lediglich eine verwässerte und kommerzialisierte Form der alten Bluesrhythmen, die ja zum eisernen Bestand
der alten, klassischen Jazzmusik gehören […]. Es ist eine zum Tanzen anregende Musik — aber wohl nicht mehr
als jede andere Jazzmusik. Also —
auch hier dürfte des Rätsels Lösung
nicht liegen.
Eher liegt die anregende oder, vielleicht besser, die aufreizende Qualität
von „Rock ’n’ Roll“ beim Text der
Schlager: dem in die Geheimnisse des
amerikanischen Jazzslangs nicht Eingeweihten mögen diese Texte als reiner Unsinn erscheinen, stumpfsinnige
Wiederholungen zusammenhangloser
Worte. Dem Eingeweihten aber ist der
Sinn dieser Texte nicht einmal zweideutig: ihm sind sie eindeutig mit erotischen Inhalten geladen. Hier könnte
also der Anlaß zu plötzlicher orgiastisch aufflammender Erregung liegen,
die dazu führt, daß Jugendliche in englischen Kinos den Überzug von den Sitzen rissen und ekstatisch zu heulen
begannen. […]
Sicher ist als Musik und als Lyrik und
als Filmkunst „Rock around the Clock“
banalster Kitsch, ja Schund. Aber dennoch ist der ganze Rummel im Grunde
eine recht harmlose Angelegenheit.
Die wirkliche Krise unserer Zeit — in
England und anderswo — ist viel ernster und liegt viel tiefer.
John Lynne: Außer Rand und Band. Woher kommt die
aufreizende Wirkung von „Rock ’n’ Roll“? In: Die Zeit,
Nr. 40, 4.10.1956, S. 18
Die Bundesrepublik Deutschland in den 50er-/60er-Jahren
MATERIALIEN
M 3.3
Interview: Heimerziehung in den 50er- und 60er-Jahren
Im Jahr 2006 wurden die ersten Fälle von Kindern öffentlich
bekannt, die in den 50er- und 60er-Jahren in Erziehungsheimen missbraucht und zu unentgeltlicher Arbeit gezwungen worden waren. Einige dieser ehemaligen Heimkinder
richteten eine Petition an den Bundestag; dabei ging es ihnen um gesellschaftliche Anerkennung und Aufklärung ihrer
Schicksale, aber auch um materielle Entschädigung für erlittenes Leid und geleistete Arbeit. Der Petitionsausschuss
empfahl die Gründung des Runden Tisches „Heimerziehung
in den 50er und 60er Jahren“. Neben dem Abschlussbericht
im Dezember 2010 ist ein Zwischenbericht für Januar 2010
vorgesehen. Der katholische Theologe Wilhelm Damberg und
der evangelische Theologe Traugott Jähnichen von der RuhrUniversität Bochum wollen in einer Studie unter anderem
klären, ob es sich bei den Übergriffen „nur“ um moralisches
Fehlverhalten oder um Gesetzesübertretungen gehandelt
hat. Im Interview mit der christlich orientierten Wochenzeitung „Rheinischer Merkur“ sprechen die beiden Wissenschaftler, die auch vom Runden Tisch gehört wurden, von
ihrer Studie.
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13
RM: Aus welchen Gründen kamen Jugendliche damals in die
Heime?
Damberg: Damals war man schneller in einem Heim, als man
sich das heute vorstellt. Es hing zum Beispiel davon ab, wie
ein Jugendamt zerrüttete Familienverhältnisse beurteilte.
Das war regional sehr unterschiedlich. In Rheinland-Pfalz gab
40 es viel mehr Fürsorgezöglinge als in Hamburg.
Jähnichen: Es gab viele Vollwaisen aufgrund von Flucht und
Vertreibung. Bei Scheidungen oder unehelichen Kindern gingen die Jugendämter aus heutiger Sicht sehr rigide vor. Jugendliche waren erst mit 21 Jahren volljährig. Wenn einer
45 mit 17 von zu Hause abgehauen ist, dann konnte das dazu
führen, dass er ins Heim kam. Oft waren es nichtige Gründe
für eine Einweisung. Bis 1969 gab es den Kuppelparagrafen:
Wer ein nicht verheiratetes Paar aufnahm, machte sich
strafrechtlich schuldig. Jugendliche kamen dann ins Heim.
35
RM: Gehörte Züchtigung zum Alltag in den Heimen?
Damberg: Häusliche und schulische Züchtigung waren verbreiteter als wir uns das heute vorstellen können. Dabei war
aber im öffentlichen Raum ein Trend zu immer engerer Regulierung von Körperstrafen unübersehbar. Schule und Heim
Rheinischer Merkur: Ehemalige Heimzöglinge erheben
schwere Vorwürfe. Es geht um Schläge, Demütigungen, un- 55 waren kein rechtsfreier Raum, die meisten Träger hatten reentgeltliche Arbeit, sexuelle Übergriffe. Was hat Ihre Forlativ präzise Vorschriften. Ob die Erzieher sich daran gehalschungsarbeit bisher ergeben? Wie war der Heimalltag in
ten haben, ist aber eine andere Frage.
den 1950er- und 1960er-Jahren?
Jähnichen: In vielen Heimen gab es Strafbücher. Das sind
wichtige Quellen, die wir auswerten. Darin sind genau VerTraugott Jähnichen: Sozialpsychologische Untersuchungen
haben gezeigt, dass Gehorsam als Erziehungsziel damals 60 gehen und Strafe benannt. So sollte eine Willkür der Erzieher
mehr als 80 Prozent Zustimmung in der Bevölkerung hatte,
ausgeschaltet werden. Es waren Vorgaben, welche Strafe
das Ziel Freiheit höchstens 20 Prozent. In den 70er-Jahren
welchem Delikt entspricht.
hat sich das spiegelbildlich umgekehrt. Das kann man in den
Heimen rekonstruieren. Die Heimreformen Anfang der SiebRM: Waren die Erzieher damals mit ihrer Aufgabe überforzigerjahre waren eine Zäsur. Erziehungsziele und -methoden
dert?
hatten sich gewandelt, und die Erzieher waren nun besser 65 Damberg: Im katholischen Bereich ging nach dem Krieg der
qualifiziert.
Nachwuchs in den Ordensgemeinschaften (wie auch bei den
Diakonissen) zurück. Junge Frauen, die noch vor dem Krieg
Wilhelm Damberg: Diese Prozesse haben einen langen Vorin großer Zahl in die Ordensgemeinschaften eingetreten sind
lauf. Schon in den 50er-Jahren gab es Veränderungen in den
und dort sozialkaritative und pädagogische Aufgaben überpädagogischen Diskursen und Denkschriften auch der konfessionellen Verbände, um auf Missstände in der Heimerziehung 70 nommen haben, blieben nun weg. So wurde die Personaldeaufmerksam zu machen. Aber es hatte keine durchschlagencke in allen Einrichtungen immer dünner. Es gab weniger
den Konsequenzen in der Praxis.
Leute und die waren älter und von den Jugendlichen schon
deshalb immer weiter entfernt. Das ist die soziologische
Grundstruktur, die vieles erklärt, wenn auch nicht rechtferRM: Warum zielen die Vorwürfe vor allem gegen die Kirchen?
75 tigt, was passiert ist.
Damberg: Rund zwei Drittel der Heime standen bundesweit
Jähnichen: Weltliche Kräfte konnten nicht gewonnen werin kirchlicher Trägerschaft. Doch was heißt das? Es muss erst
den, da das Berufsfeld von der Entlohnung, den Arbeitszeieinmal geklärt werden, was Heimerziehung ist, denn die
ten und dem Ansehen her sehr unattraktiv war. Im Bergbau
oder in der Stahlindustrie war viel mehr zu verdienen. So
Heimerziehung gibt es nicht. Es geht beispielsweise um Kinderheime, Fürsorge-Erziehungsheime, Waisenheime, um Be- 80 haben die Heime Frührentner aus dem Bergbau und ehemalihindertenheime und Lehrlingsheime. Von welcher Bezugsge Polizisten in Jungenheimen angestellt. Es gab insgesamt
größe reden wir also? Wir gehen davon aus, dass 800.000 bis
Qualifizierungsdefizite, weil die Ausbildung in modernen
eine Million Kinder von 1949 bis 1972 eine Heimerziehung
Fachschulen und Fachhochschulen erst später greifen konnte. Hinzu kam, dass die baulichen Verhältnisse in Heimen oft
durchlaufen haben. Unser Forschungsprojekt hat die Aufgabe, die Strukturen aufzuzeigen, die hinter dieser Problema- 85 katastrophal waren. Der Wohnungsbau ging vor. Die Heime
tik stehen.
wurden von der Gesellschaft zuletzt in den Blick genommen.
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GESCHICHTE
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Die Bundesrepublik Deutschland in den 50er-/60er-Jahren
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MATERIALIEN
und nicht, und was das für Folgen hat oder haben kann.
In den Einrichtungen für Behinderte kam es erst Ende der
70er-Jahre zu einer Modernisierungswelle. Das alles ergibt 95 Wenn wir die Debatte individualisieren auf einzelne perverse
eine kritische Masse. Das wollen wir in unserer Studie herAufseher, dann entlasten wir das System, das das zugelassen
hat, auch die Kirchen. […]
90 ausarbeiten. Wir müssen empirisch zeigen, wie die BelasBlick in die Strafbücher. Ein dunkles Kapitel aus den frühen Jahren der Bundesreputungssituation war, wie groß die Spielräume.
blik kommt ans Licht. Zwei Wissenschaftler erforschen die zeitgeschichtlichen ZuDamberg: Unsere Arbeit ist auch ein Beitrag zur politischen
sammenhänge. Interview von Rudolf Zewell. In: Rheinischer Merkur, Nr. 14,
2.4.2009, S. 23
Debatte heute: Eine Gesellschaft muss wissen, was sie tut
M 3.4
Karteikarte eines Heimzöglings (1969)
Ab dem Jahr 1951 konnten in das „Landesfürsorgeheim“ im schleswig-holsteinischen Glückstadt Jugendliche und junge entmündigte Erwachsene beiderlei Geschlechts eingewiesen werden. Die Besserungsanstalt war bis zu ihrer Auflösung am 31.
Dezember 1974 vom Charakter des Verwahrens und Wegschließens geprägt. Heimzöglinge wurden zudem zu Zwangsarbeiten
herangezogen. Verweigerung und Widerstand wurden mit Isolationshaft und Schlägen gemaßregelt. In der nationalsozialistischen Zeit wurde die Anstalt bereits als Schutzhaft- und Arbeitslager genutzt. Es ist anzunehmen, dass frühere SAAngehörige, die vor Kriegsende in Glückstadt als Hilfspolizisten tätig gewesen waren, dort später Anstellungsverträge als Erzieher und Aufseher bekamen.
Quelle: Frank Leesemann
Leitfragen/Arbeitsaufträge
1. Fassen Sie die Beschreibungen der beiden Wissenschaftler (M 3.3) zu den zeitgenössischen Vorstellungen von Erziehung
zusammen.
2. Arbeiten Sie den beschriebenen historischen Kontext heraus, der zu den unerträglichen Bedingungen in Heimen führen
konnte. Analysieren Sie dabei die Haltung, die die Wissenschaftler dazu einnehmen.
3. Beurteilen und bewerten Sie die Verwendung der abgebildeten Karteikarte (M 3.4).
G
GESCHICHTE
betrifft uns
1 · 2010
Die Bundesrepublik Deutschland in den 50er-/60er-Jahren
MATERIALIEN
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 3. Teil Konsum, Freizeit und Massenmedien
M 4.1
Ausstattung der Haushalte mit ausgewählten Gebrauchsgütern
M 4.2
 Tabelle 1 (Sommer 1955)
Frage: „Würden Sie sich bitte diese Bildkarten hier einmal ansehen und mir alle
Karten mit Sachen herausgeben, die Sie persönlich in Ihrem Haushalt besitzen? Was
von diesen Dingen haben Sie nach der Währungsreform (Juni 1948) eingekauft? Was
von diesen Dingen müßten Sie noch besitzen, um sagen zu können: Jetzt geht es
mir gut, jetzt habe ich einen angemessenen Lebensstandard?“
Anschaffung
Wunsch
Insgesamt
Besitz
Arbeiter
Insgesamt
Arbeiter
Insgesamt
Arbeiter
11 %
11 %
9%
4%
49 %
49 %
Waschmaschine 10 %
7%
7%
5%
35 %
36 %
Staubsauger
39 %
30 %
25 %
21 %
31 %
35 %
Fahrrad
63 %
65 %
30 %
33 %
2%
3%
Pkw
7%
2%
6%
2%
18 %
14 %
Radio
84 %
84 %
57 %
62 %
6%
7%
Fernseher
1%
1%
1%
1%
25 %
26 %
Fotoapparat
36 %
32 %
22 %
20 %
16 %
18 %
Kühlschrank
5
10
15
20
Angaben aus: Die Soziale Wirklichkeit. Aus einer Untersuchung des Instituts für Demoskopie (Allensbacher Schriften 3).
Allensbach: Verlag für Demoskopie 1956, S. 44 f.
25
 Tabelle 2 (Dezember 1964)
4-PersonenHaushalte von Beamten und Angestellten mit höherem Einkommen
Kühlschrank
Arbeitnehmerhaushalte mit
mittlerem Einkommen
2-PersonenHaushalte von Renten- und Sozialhilfeempfängern mit geringem Einkommen
95,3 %
83,4 %
21,2 %
Waschmaschine 32,3 %
41,4 %
16,4 %
Staubsauger
97,4 %
89,2 %
54,8 %
Fahrrad
66,7 %
74,9 %
17,1 %
Pkw
70,3 %
30,0 %
1,4 %
Radio
91,5 %
92,4 %
91,1 %
Fernseher
55,3 %
63,0 %
28,1 %
Fotoapparat
93,8 %
80,2 %
14,4 %
Wirtschaft und Statistik 1 (1966), S. 30. Zitiert nach: Christoph Kleßmann: Zwei Staaten, eine Nation. Deutsche Geschichte 1955—1970. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 1997 (2. überarb. u. erw. Aufl.), S. 485
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Leitfragen/Arbeitsaufträge
1. Interpretieren Sie die Tabellen unter M 4.1.
2. Versetzen Sie sich in die Konsumwelt Mitte der 50er-Jahre: Wie würde sich
Ihr Alltag verändern?
3. Diskutieren Sie in der Klasse, was die Kehrseite der von dem Historiker Arne
Andersen (M 4.2) beschriebenen neuen Konsumgesellschaft sein könnte.
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GESCHICHTE
betrifft uns
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Traum vom guten Leben
Kaum ein Zeitabschnitt in der deutschen Geschichte ist rückblickend für
die Mehrheit der Bevölkerung so positiv besetzt wie die „Wirtschaftswunderjahre“. Die 50er und 60erJahre gehören zu den seltenen Phasen in der
deutschen Geschichte, in denen es nur
aufwärts ging. Diese scheinbar krisenfreien Jahrzehnte des materiellen
Aufschwungs lösten den „kurzen
Traum der immerwährenden Prosperität“ […] aus und weckten zum ersten
Mal in der Geschichte der Moderne
auch in den Arbeiterfamilien die — berechtigte — Hoffnung, sich Wünsche
noch zu eigenen Lebzeiten erfüllen zu
können, die bis dahin nur unerreichbare Träume von einem guten Leben
gewesen waren. […]
In den ersten Nachkriegsjahren standen noch eindeutig Sparsamkeitsideale im Vordergrund, die mit einem
möglichst langen, wenn nicht gar lebenslangen Gebrauch von Gütern und
Ressourcen verbunden waren. Zunehmend wurde diese Perspektive durch
den Wunsch abgelöst, etwas Neues zu
besitzen. Man konnte es sich nun leisten, Dinge, die zwar noch funktionsfähig oder reparabel waren, wegzuwerfen und durch neue zu ersetzen.
An die Stelle elementarer Bedürfnisbefriedigung traten der Komparativ —
noch größer, noch schneller, noch
sauberer — und der Superlativ. Das
Schönste, Beste, Modernste musste es
sein. Und — diese veränderte Haltung
durfte auch noch Spaß machen.
Mit dem wachsenden gesellschaftlichen Reichtum nahm die subjektive
Bedeutung der Klassen- oder Schichtenzugehörigkeit ab. Die Arbeit war
nicht mehr der einzige Sinn des Lebens, an die Stelle von Verzicht und
Pflichterfüllung traten zunehmend
Hedonismus und Selbstverwirklichung.
Die sich dabei herausbildenden Lebensstile bestimmen mittlerweile das
kulturelle, politische und wirtschaftliche Leben der Bundesrepublik.
Arne Andersen: Der Traum vom guten Leben. Alltagsund Konsumgeschichte vom Wirtschaftswunder bis
heute. Frankfurt/New York: Campus Verlag 1999,
S. 6 f.
Die Bundesrepublik Deutschland in den 50er-/60er-Jahren
FOLIE
M 1.4
1
Geschichtscomic: „Aus alter Gewohnheit“ (Isabel Kreitz)
© Isabel Kreitz
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GESCHICHTE
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1 · 2010
Die Bundesrepublik Deutschland in den 50er-/60er-Jahren
FOLIE
M 1.5
2
Geschichtscomic: „Heimkehr der Zehntausend“ (Isabel Kreitz)
© Isabel Kreitz
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GESCHICHTE
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Die Bundesrepublik Deutschland in den 50er-/60er-Jahren
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Edgar Wolfrum: Wertewandel — Werbung als kulturgeschichtliche Quelle
In kulturgeschichtlich besonders reizvoller Weise läßt sich
der gesellschaftliche Wertewandel an der Produktkommunikation über Waren und Marken in der Konsumgesellschaft ablesen. In den 60er Jahren wurde auch in der Bundesrepublik
die Werbung professionalisiert und verwissenschaftlicht, es
entstand eine Marktforschung. Werbung ist eine intentional
auf Wirkung bedachte Form der Marktkommunikation und
versucht, die Menschen über ihre Wünsche, Erwartungen und
Interessen zu erreichen, und es ist aufschlußreich zu sehen,
welche Strategien glückten und welche mißlangen. Die überaus erfolgreiche Zigarettenmarke „Peter Stuyvesant“ wurde
1959 vom Tabakkonzern Reemtsma kreiert und versprach
den „Duft der großen weiten Welt“. Bereits der Name transportierte die Botschaft: Peter Stuyvesant war im 17. Jahrhundert Generaldirektor der niederländischen Westindischen
Kompanie, die ihren Sitz im damaligen Neu-Amsterdam, der
späteren Stadt New York, hatte. Demgegenüber erlebte die
Hamburger Brinkmann AG mit der 1968 eingeführten Marke
„Condor“, die für den nationalen Geschmack stehen sollte,
ein Desaster. „Wer ein Herz für das typisch Deutsche hat,
dem wird sie schmecken“, verkündete die Werbung ausgerechnet zu dem Zeitpunkt, als die NPD größere Erfolge erzielen konnte; die Erinnerung an die berüchtigte deutsche „Legion Condor“ im spanischen Bürgerkrieg tat ein übriges: Die
Zigarette kam in den Geruch einer „braunen Marke“, erwies
sich als nahezu unverkäuflich und mußte wieder vom Markt
genommen werden.
Trendsetterqualität für die Fernsehwerbung erlangte Ende der
60er Jahre die Seife „Fa“, denn erstmals präsentierte die
Fernsehwerbung eine nackte Frau, und zum ersten Mal hielt
das Lifestyle-Prinzip Einzug. Ohne die „sexuelle Revolution“
der vorangegangenen Jahre wäre dies unvorstellbar gewesen.
Der Schriftsteller und „Familienberater“ Oswalt Kolle hatte
sich damals zum Aufklärer der Nation ernannt und kämpfte
mit Filmen wie „Das Wunder der Liebe“, „Deine Frau, das unbekannte Wesen“ und „Dein Mann, das unbekannte Wesen“
sowie spektakulären Aktionen gegen die seiner Meinung nach
spießige und verlogene Sexualmoral. Wie immer man diese sexuelle Revolution bewertet, jedenfalls entstand ein neues
Verhältnis zum Körper, und die sexuelle Permissivität, vielmehr die akzeptierte als die praktizierte, nahm entsprechend
zu. Während die „Fa“-Seife wilde Frische, Ozean und Abenteuer versprach, entwarf der Deutsche Charles Wilp 1968 die
heutzutage in den Kult-Status gehobenen Werbespots für „Afri-Cola“, die u.a. aufreizend geschminkte junge Nonnen im
ekstatischen Afri-Cola-Rausch zeigten. Wilp fing mit der „Sexy-Mini-Super-Flower-Pop-Op-Cola (‚Alles ist in Afri-Cola‘)“Werbung die Zeitstimmung ein und wurde zum ersten Star der
Branche. Die Ära der putzigen Zeichentrickfilme und des
„Kaufen Sie“-Befehlstons war vorbei, dem potentiellen Käufer
wurde — Ausdruck veränderter Lebensformen — ein Erlebnis
versprochen, die Werbung war zur Bühne der Populärkultur
geworden, und Flower-Power, Sinnlichkeit und Sexualität,
aber auch Psychedelic und Drogen wurden instrumentell eingesetzt, weil man sich davon Verkaufserfolg versprach. Hat-
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GESCHICHTE
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ten sich die Hippies, die seit etwa 1964 zum alltäglichen Bild
nicht nur amerikanischer, sondern auch europäischer Metropolen gehörten, als Repräsentanten von Freiheit, Euphorie und
Ekstase verstanden und beansprucht, eine Gegenwelt zur materiellen Konsumwelt zu schaffen, so drangen sie mittels Werbung nun doch wieder in die Warenwelt ein. Ähnliches gilt für
die Mode, nicht zuletzt für die nordafrikanisch und asiatisch
inspirierte Hippie-Mode selbst. Die zum Programm erhobene
„Unnormalität“ wurde, jedenfalls in der Jugendkultur, normal. Galten Äußerlichkeiten als sekundär und wollte man nonkonformistisch sein, sich nicht dem herrschenden Prinzip des
Geschmacks unterwerfen und die Fremdbestimmung aufheben, so setzte das erklärte Ziel, nicht modisch auszusehen, sei
es durch lange Haare oder Kleidung, bereits wieder eine überaus folgenreiche modische Entwicklung in die Welt, die seither
nicht mehr wegzudenken ist: die Anti-Mode.
Die „stille Revolution“ des Wertewandels und schrille Aufbrüche in der Kunst gehörten zusammen und beeinflußten
sich gegenseitig. Für sämtliche Bereiche der Kunst und Kultur bedeuteten die 60er Jahre eine Art „Sattelzeit“: Es war
die Zeit der bedeutenden Manifeste, mit denen sich junge
Künstler von den Altvorderen lossagten, die Zeit der Provokationen, des Trotzes, der Umbrüche hin zu einem neuen,
erweiterten Kunstbegriff, der Zuwendung zur Massenkultur,
mithin eine Epoche, die auch auf diesem Feld einen Zuwachs
an Pluralismus und einen Abschied vom Elitären, von der abgezirkelten Exklusivität, brachte.
Edgar Wolfrum: Die geglückte Demokratie. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von ihren Anfängen bis zur Gegenwart. Stuttgart: Klett-Cotta 2006, S. 256—257
Alle Werbung vergebens — langhaariger Jugendlicher
vor einem Friseursalon (1965)
Fotografie: Günter Zint. © bpk — bildarchiv preußischer kulturbesitz, Nr. 30004853
Leitfrage/Arbeitsauftrag
Beschreiben Sie, inwiefern sich Werbung als kulturgeschichtliche Quelle eignet. Beziehen Sie die Fotografie in
Ihre Überlegungen ein.
Die Bundesrepublik Deutschland in den 50er-/60er-Jahren
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M 4.4
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Leitmedium Fernsehen
Nach einer mehrjährigen Versuchszeit strahlte der Nordwestdeutsche Rundfunk (NWDR) ab dem 25.12.1952 das
erste offizielle Fernsehprogramm aus. Bereits 1956 konstatierte der kulturkritische Philosoph Günther Anders,
dass mit dem Siegeszug des Fernsehens der Wohnzimmertisch als „Symptommöbel“ der Familie ausgedient habe.
Die Familie versammelt sich nun allabendlich vor dem
Fernsehapparat, der zum neuen Mittelpunkt wird.
Der Gerätehersteller AEG-Telefunken wirbt 1965 mit dem
Slogan „Wenn die Sonne hinter den Dächern versinkt,
leuchten in den Wohnungen die Bildschirme auf […]“.
Fernsehen wird zu einer neuen Erlebnisdimension, zu einem „Fenster zur Welt“. In einer Zeit, in der es nur ein
oder zwei Programme (Gründung des ZDF 1963) gibt, sind
bestimmte Abendsendungen mit Einschaltquoten von
über 90% kollektiver Gesprächsstoff. Wer nicht mitreden
kann, isoliert sich sozial — auch der Konformitätsdruck
führt letztlich zu einer fast flächendeckenden Versorgung
mit Geräten bis zur Mitte der 70er-Jahre.
In seiner gesellschaftlichen Wirkung kann das Fernsehen
als „Vermittlungsagentur gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse“ (Knut Hickethier) begriffen werden: Es
setzt neue Standards in den Lebensweisen und Geschmäcken. Ab dem Beginn der 60er-Jahre wird es zu einem
bedeutenden Faktor der politischen Meinungsbildung.
Darüber hinaus hat es auch integrative Funktionen. Bis in
die frühen 60er ist es ein vorwiegend städtisches Medium,
weil die in der Landwirtschaft arbeitende Bevölkerung
schlicht keine Zeit zum Fernsehen hat. Mit seiner Ausbreitung auf dem Lande nivelliert es Stadt-LandUnterschiede, weil es urbane Konsumgewohnheiten und
Denkweisen mit versendet.
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FRAU IRENE: Es ist mir unangenehm, in einen ehelichen
Streit einzugreifen. Aber da Sie mich fragen, muß ich Ihnen
ehrlich sagen, daß Ihr Mann recht hat. Es geht wirklich nicht,
daß Sie eine Sparbüchse als eine Art stummen Mahner auf
den Tisch stellen oder gar offen von Ihren Fernsehgästen ein
Eintrittsgeld verlangen. Wenn Sie ein Fernsehgerät gekauft
haben, müssen Sie schon selber und ohne Mithilfe Ihrer
Freunde und Bekannten die Raten aufbringen. Daß Sie diese
Zaungäste des Fernsehens auch noch bewirten sollen, finde
ich allerdings zuviel verlangt. Es würde sich meiner Ansicht
nach gehören, daß die häufigeren Gäste durch kleine Mitbringsel — eine Flasche Wein oder ähnliches — sich erkenntlich zeigen. Tun sie es nicht, sondern nehmen sie die Bewirtung als selbstverständlich hin, so ist das taktlos und phantasielos. Ich finde es übrigens interessant, daß sich durch das
Fernsehen eine neue Art von Geselligkeit zu entwickeln
scheint. Das mag freilich eine etwas stumme Gesellschaft
sein, die die Unterhaltung ganz und gar dem Gerät überläßt.
Und daß niemand aus eigenem Bemühen etwas zur Unterhaltung beisteuern muß ist wohl doch bedauerlich.
 Coverabbildung „HÖRZU“ (1961)
Autor: Jochen Pahl
 Leserzuschrift (1955)
FRAGEN SIE FRAU IRENE:
Mein Mann findet es unmöglich — „Hör Zu“ Nr. 44/1955, S. 30:
Seit zwei Monaten haben wir ein Fernsehgerät. Es macht uns
viel Freude. Aber ich habe gar nicht gewußt, wie viele gute
Freunde und getreue Nachbarn wir haben. Es vergeht fast kein
Tag, ohne daß es bei uns klingelt, ohne daß sich jemand für
5 diese oder jene interessante Sendung abends ansagt. Darunter
sind Menschen, die sich viel eher als wir ein Fernsehgerät leisten könnten. Wir jedenfalls müssen unser Gerät mit ziemlich
erheblichen und uns sehr beengenden Raten abzahlen. Außerdem bleibt es nicht aus, daß wir unsere Fernsehgäste noch mit
10 einem Täßchen Kaffee, mit einem Schnaps oder mit Zigaretten bewirten müssen. Ich finde, daß uns damit zuviel aufgebürdet wird. Ich habe deshalb meinem Mann vorgeschlagen,
daß wir eine Sparbüchse aufstellen sollten, in die jeder unserer Fernsehgäste einen kleinen Betrag hineinstecken könnte.
15 Dadurch würden unsere Ratenzahlungen sehr erleichtert werden. Mein Mann findet, daß das eine unmögliche Forderung
ist. Bitte, sagen Sie uns doch, wer nun eigentlich recht hat.
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Mit freundlicher Genehmigung der HÖRZU. Quelle: http://www.zuschauerpost.de
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Schreiben Sie aus historischer Perspektive einen fiktiven
Leserbrief, in dem Sie die Gefahren des Fernsehens ausmalen.
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 4. Teil Politisierung: kritische Öffentlichkeit und öffentlicher Protest
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Zeitungskommentar zur „Spiegel“-Affäre (1962)
Karl-Hermann Flach (1929—1973) war Journalist und liberaler Politiker. Nach seiner Tätigkeit als Bundesgeschäftsführer der FDP von 1959—1962 wurde er Redakteur der „Frankfurter Rundschau“. Er blieb jedoch der Politik verbunden
und gilt als einer der Wegbereiter der sozialliberalen Koalition von 1969. 1971 wurde er Generalsekretär der FDP.
Es waren fünfzehn Jahre nach dem Ersten Weltkrieg vergangen, als die Jahreszahl 1933 in das Buch der Geschichte einging. Heute sind es siebzehn Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, und wir schreiben das Jahr 1962. Wir wissen, die Geschichte wiederholt sich niemals in den alten Formen; auch
sollen hier keine falschen Vergleiche angestellt werden. Sicher aber sind wir, daß es heute und hier in diesem Lande
ernsthaft um die Frage geht, wie lange die Deutschen die
Freiheit, die ihnen geschenkt wurde, vertragen können.
Wer das Vorgehen der im Auftrage der Bundesanwaltschaft
handelnden Sicherungsgruppe Bonn des Bundeskriminalamtes
gegen den Herausgeber und die Redaktion des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“ verfolgt hat, konnte sich des Gefühls
nicht erwehren, daß in der Nacht vom Freitag zum Samstag
das Kapitel „Zweite Nachkriegsdemokratie“ der neuesten
deutschen Geschichte im festen Griff einer zackigen deutschen Polizeiaktion zugeknallt werden sollte. Es ist mehr als
ein Zufall, es ist ein Zeichen, daß der entscheidende Akt dieses Dramas, die Verhaftung des Redakteurs Conrad Ahlers,
auf deutschen Antrag ausgerechnet von der Polizei des faschistischen Spaniens vollzogen wurde.
Wenn es also morgens in aller Frühe bei uns klingelt, können
wir uns nicht weiterhin in dem beruhigenden Gefühl strecken, daß es nur der Milchmann oder der Junge mit den
Brötchen sein kann; wenn um Mitternacht jemand an unsere
Türe schlägt, wissen wir nicht mehr genau, daß es sich
schlimmstenfalls um einen Telegrammboten oder einen betrunkenen Weggenossen handeln kann, der sich in der Türe
geirrt hat. Wir müssen damit rechnen, daß es die politische
Polizei ist, die bei Nacht und Nebel nach Landesverrätern
sucht. Wenn wir hören, daß Kinder weinen, weil zu später
Stunde ihre Zimmer nach Belastungsmaterial gegen ihre Eltern durchstöbert wurden, daß man Redakteuren die Abzugsfahnen ihrer Artikel beschlagnahmte und der Zensur zuführte, wenn es heißt, daß die „Spiegel“-Redaktionen in Hamburg und Bonn schlagartig von bewaffneten Kommandos besetzt worden sind und der Kollege den Kollegen in der Nachbarredaktion telefonisch nicht mehr erreichen konnte, dann
dürfen wir nicht mehr sicher sein, daß es sich um eine Geschichte aus Moskau, Prag oder Leipzig oder aber aus dem
Berlin des Jahres 1944 handelt. Doch wir sollen beruhigt
sein. Das alles geschieht im Namen und zur Sicherung der
Freiheit.
Diese Schilderung mag übertrieben klingen. Viele werden sagen: Das ist doch ein Einzelfall. Es wird sogar ganz Kurzsichtige geben, die sich hämisch die Hände reiben, weil es den
bei manchen Stellen wenig beliebten Herrn Augstein getrof-
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fen hat, dessen journalistische Methoden nicht immer den
Beifall auch kritischer Köpfe finden konnten. Im Schatten
der Kuba-Krise werden andere wiederum meinen, mit Landesverrätern sollte man kurzen Prozeß machen. Wir aber sagen: Wehret solchen Anfängen! Niemals dürfen wir uns im
Kalten Krieg den Methoden des totalitären Gegners so anpassen, daß wir gefährden, was allein verteidigungswürdig ist.
Vielleicht hat die Bundesanwaltschaft Beweismaterial für
landesverräterische Tätigkeit von Angehörigen der „Spiegel“Redaktion in der Hand, das wir nicht kennen. Vielleicht sieht
sie die Gründe, die ein Vorgehen gegen ein Organ der freien
Presse gestatten, das höchstens bei Zerschlagung eines umfassenden Spionageringes und gefährlichen Agentennetzes
gerechtfertigt sein könnte. Darüber wird der verantwortliche
Bundesjustizminister Stammberger der Öffentlichkeit und
seinen Wählern Rede und Antwort stehen müssen. Der inkriminierte Artikel allein kann jedenfalls nicht Rechtfertigung
eines solchen Vorgehens sein. Er mag rein formell den Tatbestand des Landesverrates erfüllen. Auch das wird noch zu
klären sein. Es wird aber kaum einen Schüler oder Lehrling
geben, den man ernsthaft glauben machen kann, daß durch
diesen Artikel die Sicherheit der Bundesrepublik gefährdet
worden ist. Es stand nichts darin, was der Vorstellung des
Durchschnittsbürgers von der Kriegslage einer atomaren Auseinandersetzung im dichtbesiedelten Mitteleuropa nicht ohnehin entspricht. […]
Auch wenn man voraussetzt, daß es einwandfreie rechtliche
Begründungen für die Polizeiaktion gegen den „Spiegel“ gibt,
so ist dazu zu sagen, daß das formale Recht in Deutschland
noch nie versagt hat, wenn es darum ging, die Freiheit zu
beschneiden.
Wir rufen alle Journalisten und Verleger und mit ihnen die
gesamte demokratische Öffentlichkeit auf, sich der Herausforderung bewußt zu sein, vor die sie durch die Ereignisse
der Nacht vom Freitag zum Samstag gestellt sind. Die Freiheit in diesem Volke ist so stark wie der Wille der Menschen,
sie nach innen und außen zu verteidigen. Jede Demokratie
erleidet das Schicksal, welches ihre Bürger mit ihr geschehen
lassen. Noch ist es Zeit, nicht nur dem Wortlaut der Gesetze,
sondern auch dem Geist des Grundgesetzes dieses Staates
durch eine machtvolle Demonstration aller wahrhaft freiheitlichen Kräfte wieder zur Geltung zu verhelfen.
Karl-Hermann Flach: Bei Nacht und Nebel. In: Frankfurter Rundschau (1962), 18. Jg.,
Nr. 252, S. 3. Zitiert nach: Quellen zur Innenpolitik in der Ära Adenauer 1949—1963.
Konstituierung und Konsolidierung der Bundesrepublik (FSGA, B., Bd. 40), hrsg. von
Hans-Erich Volkmann. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2005, S. 283—
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Leitfrage/Arbeitsauftrag
Beschreiben Sie die Argumentationsstrategie des Verfassers. Was will er erreichen?
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Hans-Ulrich Wehler: „Die Entstehung einer kritischen Öffentlichkeit als Vierte Gewalt“
Keineswegs als Auftakt, sondern als ein inzwischen symbolisch drastisch überhöhter Höhepunkt fungierte die „Spiegel“-Affäre seit Ende Oktober 1962.
Das Hamburger Magazin hatte eine überwiegend auf längst
gedrucktem Material, aber auch auf einigen geheimen, aus
dem Verteidigungsministerium zugespielten Quellen beruhende Kritik an dem NATO-Herbstmanöver „Fallex“ geübt,
das den Verteidigungsfall unter fatalen Umständen simulierte. Volle zwei Wochen später besetzte plötzlich Polizei die
Redaktionsräume und kassierte Berge von Akten; Augstein
wanderte mit dem Verlagsdirektor Becker ins Gefängnis. Der
für den Artikel verantwortliche Redakteur, Conrad Ahlers,
landete, nachdem Verteidigungsminister Strauß, mit dem
der „Spiegel“ seit Jahren in Fehde lag, unter rechtswidriger
Einschaltung des deutschen Militärattachés in FrancoSpanien für seine Verhaftung im spanischen Urlaubsdomizil
gesorgt hatte, ebenfalls im Gefängnis. Allen dreien wurde
Landesverrat vorgeworfen. Mit gekonnter Dramatisierung
klagte auch Adenauer im Bundestag den „Abgrund von Landesverrat“ an, der sich beim „Spiegel“ aufgetan habe.
Strauß, der die Intervention in Madrid erst glatt geleugnet
hatte, mußte allerdings seine Lüge binnen kurzer Zeit zugeben. Die FDP zog ihre Minister, darunter den bewußt umgangenen Justizminister Wolfgang Stammberger, aus dem Kabinett zurück, trat aber, das Auge starr auf den Machterhalt
gerichtet, im Dezember wieder ein. Mitte 1963 mußte das
Ermittlungsverfahren aus Mangel an belastender Evidenz mit
beschämender Ergebnislosigkeit eingestellt werden. Freilich
wurde auch eine Verfassungsbeschwerde des „Spiegels“
beim Bundesverfassungsgericht wegen Stimmengleichheit
der Richter nicht angenommen — eine der wenigen blamablen Entscheidungen in der Geschichte des höchsten deutschen Gerichts und Hüters der Verfassung.
Die „Spiegel“-Affäre bestand aber nicht nur aus einer kläglich gescheiterten Staatsaktion mit ihrer krassen Verletzung
der Pressefreiheit und der Willkür eines Bundesministers.
Vielmehr gewann sie ihre eigentliche Brisanz durch die neuartige Mobilisierung der Öffentlichkeit, die spontane Solidarisierung mit dem „Spiegel“, die schroffe Polarisierung zwischen Linksliberalen und Rechtskonservativen. Die Kritik an
dem Polizeimanöver erfaßte im Nu zahlreiche Zeitungen,
wurde von „Panorama“ und „Report“ unverzüglich aufgegriffen, kam in Werner Höfers „Frühschoppen“ zur Sprache,
wurde von „Stern“ und „Quick“ lebhaft unterstützt. Schon
das war eine erstaunlich breit gefächerte Phalanx. Sie wurde
jedoch noch ausgeweitet durch den Protest von Schriftstellern und Professoren, auf den Massenveranstaltungen von
Studenten. Über Nacht wurden die Konturen eines regierungskritischen Lagers sichtbar, das durchaus heterogen war,
doch in der Einmütigkeit des Widerstands gegen den obrigkeitlichen Rechtsbruch monatelang zusammenfand.
Die Wirksamkeit des neuen TV-Mediums, die aufbrechenden
Parteienfronten und die wachsende Abneigung gegen Ade-
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nauers Politikstil vermögen die Emphase dieser Protestaktionen mit ihrer einheitlichen Stoßrichtung noch nicht befriedigend zu erklären, erst recht nicht die von den etatistischen
Konservativen, zu deren Sprecher sich wieder einmal der
Freiburger Historiker Gerhard Ritter machte, unterstellte
Sensationslust. Im Kern ging es vielmehr um einen echten
Normenkonflikt, um das Ziel der inneren Demokratisierung,
für das auch und gerade die neue Journalistengeneration mit
unerwarteter Wucht eintrat. Die Bloßstellung von Skandalen
war zum „akzeptierten Instrument“ in den westdeutschen
Medien geworden.
Aber noch einmal: Die „Spiegel“-Affäre stellte kein einzigartiges Phänomen dar, sondern die Hochphase in einer Zeit, in
der die Affären und Skandale dicht aufeinander folgten. In
aller Regel drehten sich diese Konflikte um die Auswüchse
eines obrigkeitsfrommen Etatismus, um die Exzesse des Antikommunismus und die immer noch umstrittene Rolle der
Streitkräfte. Unstreitig kam es nach dem Auftakt zwischen
1957 und 1964 zu einer Radikalisierung der Kritik zwischen
1965 und 1974, und das Publikum wußte die neue Skepsis
und Polemik offensichtlich zu schätzen. So stieg etwa die
Auflage der „Zeit“, inzwischen das prominente linksliberale
Sprachrohr, von 1962 = 140.000 bis 1970 auf genau das Doppelte, während „Christ und Welt“ bei 140.000 stagnierte.
Und der „Spiegel“ verkaufte 1968 statt der 570.000 Exemplare von 1962 volle 877.000. 25 Jahre nach der Gründung
hoffte seine Leitung, die Millionengrenze überschreiten zu
können.
Der eingeübte kritische Grundton ist dann durch die Studentenbewegung von 1967/68 verstärkt worden. Auffallend viele
Zeitungen, Zeitschriften und Illustrierten, aber auch Rundfunk und Fernsehen brachten zunächst viel Verständnis für
das neuartige Aufbegehren auf. Ohne ihre aktive Beteiligung
wäre „68“ nicht zu dem großen Medienereignis geworden,
als das es sich nach kurzer Zeit erwies. Denn ohne den Verstärkereffekt, der zeitweilig von allen Medien ausging, hätte
die Protestbewegung bei weitem nicht die Wirkung erreichen
können, die sie schließlich nicht nur unter den aktiven Teilnehmern, sondern in weiten Teilen der Gesellschaft ausübte.
Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bundesrepublik und DDR
1949—1990. München: C.H. Beck 2008, S. 272 ff., ISBN: 978-3406.52171-3
Leitfragen/Arbeitsaufträge
1. Legen Sie dar, wie Hans-Ulrich Wehler den historischen Stellenwert der „Spiegel“-Affäre beurteilt und
welche Bedeutung er ihr beimisst.
2. Fassen Sie zusammen, wie die Entwicklung der Medienlandschaft beschrieben wird.
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 Umgang mit der NS-Vergangenheit
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Norbert Frei: „Vergangenheitspolitik“
Der Historiker Norbert Frei schildert in
seinem Buch „Vergangenheitspolitik“,
wie die frühe Bundesrepublik mit ihrer
NS-Vergangenheit umging, nachdem
die Alliierten die juristische Zuständigkeit in deutsche Hände übertragen
hatten.
Im Herbst 1949, sofort nach Eröffnung
des Bundestages, begannen in allen
Fraktionen Bemühungen um eine Beendigung, zum Teil sogar Rückgängigmachung der politischen Säuberung,
wie sie die Alliierten seit 1945 durchgesetzt und wie sie die von ihnen lizenzierten demokratischen Parteien
zunächst auch mitgetragen hatten. Der
Revision dieser — insgesamt durchaus
nicht wirkungslosen — Säuberungspolitik diente eine Reihe parlamentarischer Initiativen, Gesetzgebungswerke
und administrativer Entscheidungen,
die von der Zeitgeschichtsschreibung
bisher gar nicht oder nur in anderem
(meist sozialpolitischem) Kontext beachtet worden sind. So wenig hinter
diesen Maßnahmen eine strategische
Planung zu erkennen ist, so sehr bilden
sie in der Rückschau doch ein geschlossenes Ganzes; auch ihre Verknüpfung
mit spezifischen Formen anti-nationalsozialistischer Normsetzung spricht dafür, sie als Einheit zu betrachten und
als Vergangenheitspolitik zu bezeichnen.
Natürlich ist Vergangenheitspolitik kein
aus den Quellen stammender Begriff.
Er greift kürzer, ist aber unvergleichlich viel präziser als der Begriff „Vergangenheitsbewältigung“ und nicht
wie dieser (oder seine Umschreibungen) im Grunde auf alles politische
Handeln zu beziehen, das als Reaktion
auf das „Dritte Reich“ verstanden
werden kann. Vergangenheitspolitik
bezeichnet demgegenüber einen politischen Prozeß, der sich ungefähr über
eine halbe Dekade erstreckte und
durch hohe gesellschaftliche Akzeptanz
gekennzeichnet war, ja geradezu kollektiv erwartet wurde. In erster Linie
ging es dabei um Strafaufhebungen
und Integrationsleistungen zugunsten
eines Millionenheers ehemaliger Par-
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teigenossen, die fast ausnahmslos in
ihren sozialen, beruflichen und staatsbürgerlichen — nicht jedoch politischen — Status quo ante versetzt wurden, den sie im Zuge der Entnazifizierung, Internierung oder der Ahndung
„politischer“ Straftaten verloren hatten. In zweiter Linie, gewissermaßen
flankierend, ging es um die politische
und justitielle Grenzziehung gegenüber
den ideologischen Restgruppen des Nationalsozialismus; dem jeweiligen Bedarf entsprechend, wurde der antinationalsozialistische Gründungskonsens der Nachkriegsdemokratie dabei
punktuell neu kodifiziert. Was als Vergangenheitspolitik verstanden und untersucht werden soll, konstituiert sich
somit aus den Elementen Amnestie, Integration und Abgrenzung.
Die analytische Trennschärfe des Begriffs Vergangenheitspolitik demonstriert am sinnfälligsten der Hinweis auf
ihre Nutznießer: Nicht die Opfer des
Nationalsozialismus waren ihre Adressaten, sondern — pauschal gesagt, jedoch ohne den seinerzeit verbreiteten
Zynismus — die „Opfer“ seiner Bewältigung. Vor allem profitierten von der
Vergangenheitspolitik die im Rahmen
der politischen Säuberung entlassenen
Beamten und die große Zahl der „Mitläufer“. Aber auch den übrigen „Entnazifizierungsgeschädigten“, den immerhin nach Zehntausenden zählenden
ehemaligen Internierten, ja sogar den
meisten der von den Alliierten bestraften Kriegsverbrechern und vielen der
von gewöhnlichen Gerichten verurteilten NS-Tätern kam die Vergangenheitspolitik zugute. Und weil mit ihrem
Fortschreiten zugleich der im seinerzeitigen Projekt der politischen Säuberung enthaltene moralische Schuldvorwurf an die Deutschen verblaßte,
konnten sich am Ende auch die persönlich nie Beschuldigten symbolisch entlastet fühlen.
Norbert Frei: Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der
Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit. München:
Verlag C.H. Beck 1996, S. 13 f., ISBN: 978-3406-41310-0
„Schlussstrich“?
Wahlplakat der FDP (1949)
Quelle: Skandale in Deutschland nach 1945. Begleitbuch zur Ausstellung im Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, hrsg. v. Stiftung Haus der
Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Bielefeld/Leipzig: Kerber Verlag 2007, S. 35
Aus der Regierungserklärung
Ludwig Erhards (1965)
Ludwig Ehrhard (CDU), der 1963 die
Nachfolge Adenauers angetreten hatte, bleibt nach der Bundestagswahl
1965 Kanzler.
[…] Der 5. Deutsche Bundestag wurde
im 20. Jahr nach dem Ende des 2.
Weltkrieges gewählt. 167 seiner 518
Abgeordneten erreichten erst nach
1945 das Alter der Wählbarkeit. Zwei
Drittel unseres Volkes waren im Jahre
1933 Kinder oder noch nicht geboren.
Für nahezu die Hälfte aller Menschen
in unserem Lande sind die Jahre 1933
bis 1945 geschichtliche Vergangenheit
ohne persönliche Erinnerung. […]
Alle Generationen unseres Volkes tragen zwar an den Folgen einer im deutschen Namen von 1933 bis 1945 geübten Politik. Die Bezugspunkte in der
Arbeit des 5. Deutschen Bundestages
und der Politik der Bundesregierung
dürfen dennoch nicht mehr der Krieg
und die Nachkriegszeit sein. Sie liegen
nicht hinter uns, sondern vor uns. Die
Nachkriegszeit ist zu Ende!
Zit. nach: http://www.mediaculture-online.de
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Claudia Fröhlich: „Skandalisierung der versäumten Aufarbeitung der Vergangenheit“
In den späten 1950er Jahren wurden einige skandalöse antisemitische Vorfälle zum Auslöser einer kritischen, öffentlichen Debatte über den Umgang mit der Vergangenheit. Sie
zeigten, dass die Integration von ehemaligen NS-Funktionseliten
in die politischen Institutionen und den bürokratischen Apparat der Bundesrepublik und die Abwehr der Vergangenheit
miteinander verknüpft waren. Als am 24. Dezember 1959 in
Köln die erst wenige Monate zuvor eingeweihte Synagoge geschändet wurde, spielte zwar Bundeskanzler Konrad Adenauer die strukturelle Bedeutung des Vorfalls herunter, indem er die für die Schändung Verantwortlichen als „Lümmel“ charakterisierte. Eine Debatte über den Antisemitismus
in Westdeutschland war allerdings nicht mehr aufzuhalten.
[…]
In den 1960er Jahren verstärkte sich die Auseinandersetzung
mit dem Nationalsozialismus: Die in vielen Städten gezeigte
und von Generalbundesanwalt Max Güde öffentlich in ihrer
Authentizität gewürdigte Ausstellung „Ungesühnte Nazijustiz“ problematisierte die Weiterbeschäftigung von NSJuristen in der Bundesrepublik. 1958 verständigten sich die
Justizminister der Länder auf die Einrichtung der „Zentralen
Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen“ in Ludwigsburg, die den Beginn
einer systematischen Aufklärung der NS-Verbrechen einläutete. Im Dezember 1963 wurde in Frankfurt der große Auschwitz-Prozess eröffnet, in dem das ehemalige KZ-Personal
strafrechtlich zur Verantwortung gezogen und das System
des Konzentrationslagers dokumentiert wurde. Parallel wurde in der Paulskirche eine erste Foto-Ausstellung gezeigt.
Das Wintersemester 1963/64 markiert den Auftakt des studentischen Diskurses über die Bedeutung der Vergangenheit.
An westdeutschen Hochschulen wurden die ersten Ringvorlesungen zur Frage des Umgangs mit den ehemaligen Funktionsträgern des Unrechtssystems veranstaltet. […] Auch Theater, Fernsehen und Rundfunk griffen das NS-Thema verstärkt
auf. Einen Höhepunkt der öffentlichen und medienwirksam initiierten Kritik an der Abwehr der Vergangenheit markiert die
Ohrfeige, mit der Beate Klarsfeld im November 1968 Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger bloßstellte, um dessen nationalsozialistische Vergangenheit zu skandalisieren.
Beate Klarsfeld stammte aus einer kleinbürgerlichen Familie,
hatte ihre Schulausbildung abgeschlossen, eine Handelsschule besucht und als Sekretärin gearbeitet. Als 21-Jährige entschied sie sich 1960, Berlin zu verlassen und als Au-PairMädchen nach Paris zu gehen. Ihre Erfahrung ist typisch für
die westdeutsche Schülergeneration der 1950er Jahre. Die
Geschichte des Nationalsozialismus war weder im Schulunterricht behandelt worden, noch hatten die Jugendlichen
mit ihren Familien über die Vergangenheit gesprochen. Beate Klarsfeld wurde nun im Ausland mit der Vergangenheit
konfrontiert. Sie hatte ihren späteren Mann, Serge Klarsfeld,
kennengelernt, dessen Vater als Jude nach Auschwitz deportiert und im Konzentrationslager ermordet worden war.
Durch ihre Erfahrung im Ausland wurde sie politisiert und ihr
Blick auf Deutschland veränderte sich.
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Sie protestierte zunächst in der Zeitung „Combat“ gegen
Kiesingers Wahl zum Bundeskanzler, dokumentierte gemeinsam mit ihrem Mann seine Geschichte, trug mit Unterstützung eines Historikers aus dem Dokumentationszentrum
„Centre de documentation juive contemporaine de Paris“
eine Quellensammlung zusammen, problematisierte den Fall
Kiesinger vor der deutschen Presse und durch Zwischenrufe
von der Tribüne des Deutschen Bundestags. Klarsfeld erinnert sich: „Die Reaktion war aber immer die gleiche: Da
kann man nichts machen, der Mann ist demokratisch gewählt. Wir haben also gemerkt, dass man zu drastischeren
Maßnahmen greifen musste, um Aufmerksamkeit zu erzwingen.“ Im November 1968 verschaffte sie sich Zutritt zum
Bundesparteitag der CDU in Berlin und ohrfeigte Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger. „Der Öffentlichkeit sollte der Skandal bewußt werden, daß die Bundesrepublik von einem Kanzler regiert wurde, dem als stellvertretender Abteilungsleiter
für Rundfunkfragen im Auswärtigen Amt der Abhördienst und
die Auslandssendungen unterstanden und der durch seine
Kontakte zum Propagandaministerium, wie es Sitzungsprotokolle bestätigen, über die Judenverfolgung und -vernichtung
informiert war.“
Dass Beate Klarsfeld von vielen Medien als „Nazijägerin“ bezeichnet und von manchen Politikern gar als „Exhibitionistin“ diffamiert wurde, täuscht bis heute darüber hinweg,
dass die Motive ihres politischen Engagements beispielhaft
die seit Ende der 1950er Jahre veränderten Kommunikationsmodi über die Vergangenheit spiegeln. Klarsfeld steht
exemplarisch für ein Phänomen der 1960er Jahre: Nun forderte die erste in der Bundesrepublik sozialisierte Generation ihre Eltern und die Gesellschaft auf, sich mit der NSVergangenheit zu beschäftigen. Bedeutend für die Entwicklung der politischen Kultur war dabei zweierlei: Die zunächst
tabuisierte Verantwortung des Einzelnen im Nationalsozialismus wurde zu einem zentralen Thema, und die junge Generation erprobte Formen und Möglichkeiten politischer Partizipation und Debatte.
Claudia Fröhlich: Rückkehr zur Demokratie — Wandel der politischen Kultur in der
Bundesrepublik. In: P. Reichel/H. Schmid/P. Steinbach (Hrsg.): Der Nationalsozialismus. Die zweite Geschichte. Überwindung — Deutung — Erinnerung. München:
C.H. Beck Verlag 2009, S. 105—126, hier S. 115 ff., ISBN: 978-3406-58342-1
Leitfragen/Arbeitsaufträge
1. Wie wird in M 6.1 „Vergangenheitspolitik“ definiert?
2. Analysieren Sie das Wahlplakat (M 6.2) und nehmen
Sie Stellung zu der im Plakat erhobenen Forderung
nach einem „Schlussstrich“.
3. Versetzen Sie sich in das Jahr 1949: Entwerfen Sie ein
Wahlplakat, das sich gegen den „Schlussstrich“ ausspricht, oder sammeln Sie Argumente, die Sie einem
Vertreter der FDP entgegnen würden
4. Skizzieren Sie den Kontext, der zu einer verstärkten
Aufarbeitung der Vergangenheit führte (M 6.3).
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 „Ära Adenauer“ — eine Periode „aufregender Modernisierung“?
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Hans-Peter Schwarz zur Ära Adenauer(1981)
Alle Anzeichen deuteten darauf hin, daß die Deutschen in
überwältigend großer Zahl und mit dem denkbar besten Gewissen zu den Lebensgewohnheiten zurückkehrten, in denen
sie vom Krieg und teilweise schon vom Dritten Reich gestört
worden waren. Jene Gruppen von Intellektuellen, die mit
der politischen Entwicklung unzufrieden waren, zögerten
daher nicht, den Vorwurf, in der Bundesrepublik vollziehe
sich eine Restauration, auch auf den allgemeinen Lebensstil
und das Daseinsgefühl zu übertragen. Die Auffassung hielt
sich bei ihnen, daß diese Epoche durch ein deutliches Defizit
an gesellschaftlicher Veränderung gekennzeichnet gewesen
sei: statische Jahre!
Die Wirklichkeit sah wesentlich anders aus. Die fünfziger
Jahre waren zugleich eine Periode aufregender Modernisierung. Für die Intensität des Wandels, der sich in diesem Zeitraum vollzogen hat, gibt es in der neueren deutschen Sozialgeschichte nur noch eine Parallele: die Jahrzehnte des Übergangs zur Industriegesellschaft zwischen der Reichsgründung
und dem Ersten Weltkrieg.
Zugleich mit der Normalisierung setzte ein neuer, großer
Umbruch ein. Die Anfänge der Adenauer-Ära wirken noch in
vielen Bereichen wie eine Wiedergeburt der deutschen Gesellschaft vor dem Zweiten Weltkrieg. Hingegen erkennen
wir in der Gesellschaft der späten Adenauer-Ära bereits die
vertrauten Züge unserer Gegenwart.
Die Veränderungen jener Epoche haben sich in zwei großen
Schüben vollzogen, die bruchlos ineinander übergingen. In
einer ersten Phase, die mit der Währungsreform begann und
gegen Mitte der fünfziger Jahre einen gewissen Abschluß erreicht hatte, richteten sich die Energien auf den Wiederaufbau. Treibendes Motiv war das Bestreben aller Bevölkerungsgruppen, möglichst rasch aus der Misere der Kriegs- und
Nachkriegszeit herauszukommen. Es war fast selbstverständlich, daß sich dieser Wiederaufbau dabei an den Daseinsformen, am Lebensstandard, an den Sozialverhältnissen, auch
an den Ideen der Vorkriegszeit orientierte.
Das Verlangen nach Normalisierung herrschte überall vor. Als
normal wurde dabei die Gesellschaft vor dem Zweiten Weltkrieg angesehen. So ganz vollständig wollte man die Vorkriegszeit allerdings nicht wiederherstellen. Angestrebt wurde eine gesäuberte, heile „Welt von gestern“, eine Gesellschaft ohne die Politisierung durch den Nationalsozialismus,
ohne die Zerrüttung von Inflation und Weltwirtschaftskrise.
Auch das gewaltsam amputierte preußische Organ der deutschen Vorkriegsgesellschaft schien den meisten verzichtbar.
Der vorläufig, vielleicht sogar für immer verlorene Osten mit
seinen besonderen Wirtschafts- und Sozialverhältnissen, die
preußisch-deutsche politische Elite, der preußische Geist —
diese bis zum „Zusammenbruch“ für die deutsche Sozialgeschichte grundlegenden Elemente sollten nicht mehr bestimmend werden. Insofern waren die noch in der Besatzungszeit vollzogene Auflösung Preußens und die Wahl Bonns
zur Bundeshauptstadt Vorgänge von beträchtlicher Symbolik.
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Soweit die Muster der Vorkriegswelt als Vorlage für die Gegenwart dienten, sind sie also nur in einer Auswahl aufgegriffen worden.
Aus dem Normalisierungsvorgang der frühen fünfziger Jahre
entfaltete sich alsbald in einer zweiten Welle der Veränderung
die typisch moderne Gesellschaft der zweiten Jahrhunderthälfte. Dieser Modernisierungsprozeß setzte in manchen Bereichen früher, in anderen später ein — im ganzen war er aber
schon das große Thema der Sozialgeschichte in der zweiten
Hälfte der fünfziger Jahre. Allerdings wurde weder damals
noch später voll erkannt, daß hier nicht nur Wiederaufbau und
Rückkehr zur Normalität vor sich gingen, sondern eine in die
Tiefenschichten der Gesellschaft reichende Veränderung.
Der Umbruch vollzog sich auf vielen Ebenen und in unterschiedlichen Erscheinungsformen. Am unmittelbarsten faßbar und erlebbar war er in der staunenerregenden Zunahme
des Zivilisationskomforts. Wesentliche Begleiterscheinungen
des Massenwohlstandes — Motorisierung, besseres Wohnen,
gewandeltes Freizeitverhalten — veränderten jetzt das Bild
der Großstädte, der kleineren Städte und der Dörfer von
Grund auf. Die industrielle Modernisierung mit ihren Folgeerscheinungen begann bisher unberührte oder doch noch weitgehend intakte Landschaften zu erfassen. Neue Industriegebiete, besonders in Süddeutschland, Straßen, Flughäfen und
— auf dem Reißbrett geplante — ganze Wohnviertel veränderten die Umwelt. Diese Vorgänge mitsamt ihren kaum bedachten Nebenfolgen in Gestalt von Lärm, Gewässerverschmutzung, Zersiedelung von Naherholungsgebieten und
Zerstörung gewachsener Wohnformen sind damals nur selten
als Bedrohung empfunden worden. Die seit langem von der
Technik begeisterten Deutschen haben ihre grundsätzlich positive Einstellung zur technischen Modernität auch in dieser
Epoche beibehalten und noch verstärkt. Man erfreute sich an
der technischen Eleganz der Autobahnführungen, der wiederaufgebauten Brücken, der Wolkenkratzer aus Stahl und
Glas oder der modern gestalteten Bürogebäude und Fabrikanlagen, während die negativen Begleiterscheinungen der
Modernisierung tragbar erschienen. Die Öffentlichkeit war
sich des Zusammenhangs zwischen Industrialisierung und
heiß erstrebter Wohlstandsmehrung voll bewußt, und so
begrüßte sie entsprechende Veränderungen mit jener optimistischen Naivität, die auch in den westeuropäischen Nachbarstaaten in dieser großen Periode des Aufbaus und des
Wirtschaftswunders vorherrschte. […]
Die Verbesserungen des Zivilisationskomforts schienen alles
aufzuwiegen. Sie waren in der Tat phantastisch und wirkten
auf dem Hintergrund des Elends der Nachkriegsjahre überwältigend. Die Älteren wußten, daß die Deutschen seit der
Weltwirtschaftskrise, im Grunde sogar seit dem Ersten Weltkrieg, keine derart fühlbare Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse mehr erlebt hatten.
Hans-Peter Schwarz: Die Ära Adenauer. Gründerjahre der Republik 1949—1957
(Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2). Stuttgart: Deutsche VerlagsAnstalt 1981, S. 382 ff.
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Christoph Kleßmann (1985)
Schwarz’ Darstellung ist und bleibt trotz allen Bemühens um
so eindrucksvoll deutlich geworden. Es war eine Zeit rasanDifferenzierung und historische Gerechtigkeit eine Geschichten sozialen und technischen Wandels und damit auch wichte der Sieger — oder vielleicht besser des Siegers: Adenauer.
tiger Durchbrüche für eine funktionierende Demokratie, aber
In diesem Sinne darf man vielleicht überspitzt die vorn im
auch fortwirkender autoritärer Traditionen. KleinbürgerliTitel gebrauchte Formulierung als Schlüssel für den Tenor 60 cher Mief („Der Wohnküchenmief … damals war die Lebensdes ganzen Werks verstehen: Die Restaurationskritik und die
luft von Millionen“, S. 384) hielt sich neben einer nie dage„Schelte der Intellektuellen unterschiedlicher ideologischer
wesenen Mobilität, Öffnung gegenüber neuen Tendenzen der
Orientierung“ haben nach Schwarz „die ganze Adenauer-Ära
westlichen Welt, Amerikanisierung des Alltags, überhaupt
begleitet wie mißtönendes Möwenkrächzen die Fahrt eines
Öffnung nach außen. Die Modernisierung unter konservativen
großen Schiffes“ (S. 448). Das Bild ist deutlich und zeigt, wo 65 Auspizien und die Bejahung der Moderne durch den deutdie Sympathien des Verfassers liegen. Sicher hat sich eine
schen Konservativismus machen den Bruch mit Weimar überpauschale Restaurationskritik, wie sie Anfang der 70er Jahre
deutlich. Politische Apathie und Rückzug ins Private waren
en vogue war, historiographisch längst als unhaltbar erwiesicherlich die dominierenden politischen Verhaltensweisen —
sen. Aber waren die zeitgenössischen Kritiker — und implizit
nicht zuletzt auf dieser Basis konnte Adenauers Politik gedamit auch ihre historiographischen Epigonen — wirklich 70 deihen. Es hat jedoch auch nie die dezidierte politische Opnicht mehr als die „Hofnarren der bürgerlichen Gesellschaft“
position und scharfe intellektuelle Kritik gefehlt, mochte sie
(S. 424), denen man ihr ehrliches Bemühen wohlwollend beletztlich auch nicht viel mehr bewirken als Möwengekrächz
scheinigt, die man aber letztlich als unvermeidliche intellekauf der Fahrt eines großen Schiffs.
Christoph Kleßmann: Ein stolzes Schiff und krächzende Möwen. Die Geschichte der
tuelle Querulanten nicht weiter ernst zu nehmen braucht?
Bundesrepublik und ihrer Kritiker. In: Geschichte und Gesellschaft 11 (1985), S.476—
An etlichen Beispielen ließe sich verdeutlichen, welche Kon494, hier S. 480 ff.
sequenzen eine solche Grundeinstellung für die Auswahl und
Gewichtung des Stoffes hat. Hier wird eine ganze politische
Dimension ausgeblendet, auch wenn der Verfasser andernorts das „Restaurative“ der Epoche unterstreicht. Denn daß
nach dem Ende des „Dritten Reiches“ die politisch besonders
aktiven Kräfte der Linken aus Widerstand, Emigration und
Konzentrationslagern eine aus bitteren Erfahrungen gespeiste Alternative zur „Restauration“ wollten und darin auch
festhielten, als sie nicht mehr im Zeittrend lag, als kommunistische Widerstandskämpfer vom Bundesentschädigungsgesetz ausdrücklich ausgeschlossen wurden und z.T. erneut für
ihre politische Überzeugung ins Gefängnis wandern mußten,
während kein hoher Richter für seine Vergangenheit zu büßen hatte — das kann man doch nur leichthin abtun, wenn
Pragmatismus und Anpassung zur selbstverständlich akzeptierten und akzeptablen politischen Wertvorstellung gemacht werden. Daß die unzureichende Auseinandersetzung
Bremen-Vahr, Neubaugebiet (Oktober 1960)
mit der Vergangenheit der Preis für die Stabilisierung der
Foto: Simon Müller, Quelle: Bundesarchiv B 145 Bild F008854-0004
zweiten Republik gewesen sei, wie Hermann Lübbe behauptet hat, mag zwar funktional richtig sein, eine notwendige
Voraussetzung war es jedoch keineswegs. Der Anteil der GeLeitfragen/Arbeitsaufträge
werkschaften am Wiederaufbau und ihr vergeblicher Kampf
um eine echte Mitbestimmung und Anerkennung als „Wirt1. Vertiefen Sie durch eigene Recherche (Lexika und Inschaftsbürger“, wie Hans Böckler es 1949 formulierte,
ternet) die Definitionen der Begriffe „Moderne“ und
taucht, gemessen am Umfang des Gesamtwerks, nur peri„Restauration“
pher auf. Das politisch für ein gespaltenes Land immerhin
2. Welche Kritikpunkte an der Darstellung von Hansbedeutsame KPD-Verbot von 1956 wird lediglich mit wenigen
Peter Schwarz führt Christoph Kleßmann an?
Zeilen erwähnt (S. 438). […]
3. Nehmen Sie dazu Stellung.
Bei aller Kritik an konzeptionellen und punktuellen Schwächen des Schwarzschen Werkes ist in der Summe jedoch ein
sehr wichtiges und gegenüber jeder verkürzten Restaurationskritik an der Ära Adenauer richtiges Ergebnis zu unterstreichen: Das Erscheinungsbild dieser Phase war außerordentlich ambivalent und widersprüchlich. In keinem anderen Werk zur Geschichte der Bundesrepublik ist das bislang
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KLAUSURVORSCHLAG
Ralf Dahrendorf: „Exkurs über Humanität und Unmenschlichkeit“ (1965)
Der Soziologieprofessor Ralf Dahrendorf (1929—2009) gilt als
Vordenker des Liberalismus in der Bundesrepublik.
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Es gibt Beobachtungen in der deutschen Gesellschaft von
vorgestern, gestern und auch noch heute, bei denen sich der
Verdacht aufdrängt, daß sie in einem Zusammenhang mit der
Mentalität stehen könnten, die Ärzten und Richtern und Offizieren den Mord erlaubte. Es gibt Winkel dieser Gesellschaft, in denen die oft gedankenlose Unmenschlichkeit als
System fortlebt. Es gibt den beißenden Kontrast des Geredes
von der Humanität zu der Gleichgültigkeit gegenüber dem
Leben. Einige solche dunklen Winkel der deutschen Gesellschaft möchte ich im Folgenden auskehren. Immer geht es
dabei um die Integrität menschlichen Lebens, um die gerade
in Deutschland so gerne gelobte „Achtung vor dem Leben“.
Immer steht über den Wirklichkeiten der Gegenwart, so düster sie sein mögen, die noch viel schwärzere Wolke der Erinnerung. […]
[…] das deutsche Leiden, der Virus der Unmenschlichkeit, ist
so evident, daß sich subtile Erörterungen erübrigen. Gehen
wir daher einen Schritt weiter, zu den Fremden im eigenen
Haus, den Abnormen. Nach dem exzentrisch Gekleideten
drehen sich die Menschen in Deutschland feixend um; gäbe
es deutsche „Beatles“, dann würde deren Auftritt eher durch
eine „Aktion saubere Bühne“ verboten als durch ein Bundesverdienstkreuz belohnt werden. Den, der unorthodoxe Meinungen kundtut, bedrohen nicht nur offizielle Stellen mit
Worten und Taten; schon milden Halblinks-Intellektuellen
droht häufig mindestens ein Redeverbot. Von dem, der
schuldlos krank ist, wenden die Menschen sich ab; dem Contergan-Kind bleibt der Kindergarten versperrt, und der geistig Kranke wird von einem Gerichtsassessor hinter Schloß
und Riegel gesetzt, auch wenn er niemanden bedroht. […]
Niemand fragt danach, wie es in den „Anstalten“ aussieht, in
die man gerade in Deutschland so leicht geraten kann. Weil
niemand fragt, weiß es auch niemand. Man erregt sich über
die „Schlangengrube“ der anderen, ohne die eigene zu kennen und ohne vor allem zu sehen, daß es die anderen selbst
waren, die die ihre dem Licht der Öffentlichkeit erschlossen
haben. Es ist sicher wahr, daß die meisten Deutschen „nichts
gewußt“ haben von den nationalsozialistischen Gewaltverbrechen: nichts Genaues nämlich, weil „man“ nach dem
nicht fragt, was den engen Rahmen des Normalen verläßt.
Was für die Konzentrationslager der nationalsozialistischen
Zeit galt, gilt nämlich im Grunde auch für die Gefängnisse
und Zuchthäuser der Gegenwart: Wer weiß schon, was in ihnen vorgeht? Und wer fragt danach? […]
Gastarbeiter, Geisteskranke und Gefangene — sind sie wirklich geeignete Zeugen für deutsche Humanität? Ja, sie sind
es. Ich will gar nicht von ihrer Zahl sprechen; wo vom Verhalten der Menschen zueinander die Rede ist, zählen keine
Zahlen. An den Außenstehenden dokumentiert sich aber das,
was in einer Gesellschaft vor sich geht. Denn die beschriebe-
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nen Mängel sind nicht das Ergebnis des Versagens Einzelner.
Die Preisgabe der anderen ist selbst soziales Gesetz und gerät mit den übrigen Werten, die gelten, in das Benehmen
des Einzelnen. […]
Wenn dies irgendwo gilt, dann herrscht unter deutschen Bürgern eine große Ruhe. Man erregt sich nicht, und schon gar
nicht über die Unmenschlichkeit in der eigenen Welt. Man
sieht sie erst gar nicht, man verschließt die Augen und
nimmt sie nicht zur Kenntnis. Die erste Seite der großen Ruhe liegt in der Schwierigkeit, über die Dinge, von denen ich
in diesem Kapitel häufig nach Eindrücken und einzelnen Beispielen gesprochen habe, auch nur genaue Informationen zu
bekommen. Für England, die Vereinigten Staaten, selbst
noch das in vielem Deutschland so ähnliche Frankreich wüßte ich zu fast jeder der zitierten Beobachtungen mindestens
ein Buch zu nennen, das die Öffentlichkeit aufgerührt und
Änderungen zur Folge gehabt hat. […] Die zweite Seite der
großen Ruhe liegt in der Fähigkeit der deutschen Öffentlichkeit, auch auf publizierte Mißstände nicht zu reagieren. Man
kann in Deutschland zwar Wahlen gewinnen mit ein paar
Wiedervereinigungs-Phrasen, nicht jedoch mit ernsthaften
Versuchen, der menschlichen Malaise der deutschen Medizin
oder Rechtspflege, Erziehung oder Verkehrsnot beizukommen. Menschlichkeit verkauft sich schlecht. Doch braucht
man dies nur zu sagen, um sogleich zu erkennen, daß es ungenau ist. Denn dies ist die dritte Seite der großen Ruhe gegenüber der Unmenschlichkeit in Deutschland, daß sie gepaart erscheint mit einem maßlosen Geschwätz über Humanismus und Humanität, wie kein anderes Land der Welt es
kennt. Vielleicht ist es zuletzt doch diese Mischung von theoretischer Humanität und praktischer Unmenschlichkeit, die
Deutschland zuweilen so unerträglich macht: die heilige Familie und die tödliche Hausgeburt, der unantastbare Rechtsstaat und das Schicksal der Untersuchungshaft, die Idee der
Bildung und das Analphabetentum der geistig Behinderten,
der Oberscharführer, der nach einem schweren Arbeitstag an
der Gaskammer sich beim Violinspiel erholt.
Ralf Dahrendorf: Gesellschaft und Demokratie in Deutschland. © 1965 Piper Verlag
GmbH, München, S. 376—394
Leitfragen/Arbeitsaufträge
1. Fassen Sie zusammen, wie im Text die zeitgenössische Gesellschaft dargestellt und bewertet wird.
2. Ordnen Sie die Argumentation des Verfassers in den
historischen Kontext ein.
3. Setzen Sie sich kritisch mit den Bezügen auseinander,
die der Verfasser zur deutschen Mentalität der nationalsozialistischen Zeit herstellt.
Die Bundesrepublik Deutschland in den 50er-/60er-Jahren
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 Einstiegsmodul: Fragen zum „Zeitgeist“ einer Epoche
EINSTIEG UND PROBLEMAUFRISS
Unterrichtsgespräch, Gruppenarbeit
 M 1.1 — M 1.2 sowie DVD-Beilage: Video 01
Arbeitsanregung: Das Historikerinterview (M 1.1) kann vorab im Unterricht gezeigt werden (DVDBeilage: Video 01). Der transkribierte Text kann dann Grundlage für die Beantwortung der Fragen sein.
-
Interview (M 1.1)
-
„Modernisierung“: Gegenbegriff zur Vorstellung, die Nachkriegszeit sei eine Zeit der „Restauration“ gewesen („bleierne Zeit“), in der die Chance einer gesellschaftlichen Erneuerung nach 1945 vergeben wurde.
„Liberalisierung“: Insbesondere auf politisch-kulturellem Feld Reformen, die u.a. zu einer fortschrittlicheren Rechtsordnung führten. Die Idee der Demokratie musste sich im Laufe der 60er-Jahre erst gesamtgesellschaftlich durchsetzen, um nicht auf den Bereich des Parlamentarismus begrenzt zu bleiben.
Konkurrierende Begriffe: „Amerikanisierung“ = Veränderung der Gesellschaft nach amerikanischem
Vorbild; Transfer von Konsumgütern und Massenkultur. „Westernisierung“ = stärker auf den politischen
Bereich bezogen, postuliert vergleichbare Werteordnung der westlichen Welt („Konsensliberalismus“).
Rolle der Medien: In den 50er-Jahren spielt das Radio eine wesentliche Rolle in der Freizeitgestaltung.
Die zunehmende Freizeit wird im Laufe der 60er-Jahre v.a. in gesteigerten Medienkonsum investiert,
dabei spielt das Fernsehen eine herausragende Rolle.
Reaktionen auf die Modernisierung: Sehnsucht nach „Altvertrautem“ ist feststellbar. Vor allem an ästhetischen Vorlieben kann sie verdeutlicht werden: Filmstars der Vorkriegszeit sind wieder populär, Produktionsweisen und Ästhetik von Filmen knüpfen an diese Zeit an. Dasselbe gilt z.B. auch für die Gestaltung von Illustrierten. Der Einrichtungsgeschmack vieler Menschen (Möbel im Stil des „Gelsenkirchener
Barock“, besonders klobig und wuchtig; im Grunde nicht funktional für die im Durchschnitt kleinen Wohnungen), verdeutlicht ebenfalls die Sehnsucht nach „bürgerlicher Sicherheit“.
„Nivellierte Mittelstandsgesellschaft“ (M 1.2)
-
„Nivellierte Mittelstandsgesellschaft“ (gemäß H. Schelsky, 50er-Jahre): Der materielle Aufstieg der
Arbeiterklasse durch die Sozial- und Steuerpolitik und der Abstieg bürgerlicher Klassen durch Krisen und
Kriegsfolgen hätten zu einer Nivellierung (Ausgleich von Unterschieden) der bundesdeutschen Gesellschaft geführt, Klassengegensätze seien dadurch abgebaut worden.
Kritik: Diese Vereinheitlichung, die sich v.a. an Verhaltensformen ablesen lässt, ist nur eine optische
Täuschung (Ralf Dahrendorf). Deutliche Unterschiede bestehen weiter fort. Je nach dem Vermögen der
Haushalte existieren unterschiedliche Konsummöglichkeiten und Konsummuster. An den Einkommen,
dem Prestige und den unterschiedlichen Bildungschancen zeige sich nach wie vor gesellschaftliche Ungleichheit. Das Modell der „Schichtungsgesellschaft“ erkennt diese Ungleichheit an, betont aber die
neue Offenheit der modernen bundesrepublikanischen Gesellschaft, die in der alten Klassengesellschaft
nicht gegeben gewesen sei. Durch Bildung und berufliche Leistungen seien dem Individuum prinzipiell
keine Schranken beim gesellschaftlichen Aufstieg gesetzt.
Die neuere Forschung relativiert auch die Thesen des „Schichtungsmodells“. Der tatsächliche Abbau
von Barrieren zwischen den gesellschaftlichen Schichten wird skeptischer beurteilt — die bundesdeutsche Gesellschaft war weniger durchlässig als behauptet. Der Begriff der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ wird als ideologischer Begriff entlarvt (wurzelt in der nationalsozialistischen Vorstellung einer
harmonischen „Volksgemeinschaft“, die Unterschiede und Konflikte der Gesellschaft leugnete).
ERARBEITUNG I
Unterrichtsgespräch
 M 1.3 — M 1.5
Hinweis: Mit den Comics (M 1.4 und M 1.5), die hier als Narration analysiert werden sollen, kann das Vorwissen der Lerngruppe zum historischen Kontext der Epoche aktiviert werden. Neben der Zusammenfassung
des Inhalts der erzählten Geschichte soll mithilfe des Glossars (M 1.3) die Darstellung formal analysiert werden.
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UNTERRICHTSVERLAUF
Analyse M 1.4
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Historischer Kontext: Pokalübergabe nach dem Endspiel der Fußballweltmeisterschaft am 4. Juli 1954,
die in einer deutschen Stadt von Menschen am Fernseher in einer Eckkneipe verfolgt wird. Ein Fernseher
war noch ein unbezahlbares Luxusgut und Fernsehen daher ein öffentliches Gruppenerlebnis.
Inhalt: Die Ehrung der deutschen Nationalmannschaft wird von den Zuschauern gebannt und mit Rührung
verfolgt. Dass das Publikum im Stadion laut die erste Strophe der Nationalhymne singt, irritiert einen
Kneipenzuschauer. Dem Wirt scheint dieser Fauxpas der Stadionzuschauer so peinlich zu sein, dass er
lieber auf die englische BBC umschalten lässt.
Formale Analyse: Die einzelnen Panels werden von einer durchlaufenden Banderole getrennt, auf der
der Liedtext der ersten Strophe der Hymne steht. Sie steht im Zentrum der Geschichte; die Sequenz der
Einzelbilder bildet zeitlich genau den Gesang dieser Strophe und die Reaktion der Zuschauer ab. Die
Banderole sorgt auch grafisch dafür, dass die Geschichte fließend erzählt wird (Panels sind bauchig geschwungen). Die erste Einstellung etabliert in einer Totalen den Handlungsraum: Auf eine Arbeitersiedlung deuten Industrieschlote hin; der Name der Eckkneipe „Seute Deern“ weist auf eine norddeutsche
Stadt (Hamburg?) hin. Die Menschen werden „Nah“ gezeigt, so sind mimische Besonderheiten wie Freude
und Rührung besonders gut erkennbar. Das Fernsehbild der Nationalmannschaft (fast demütig gesenkte
Köpfe) in „Groß“ konzentriert den Blick auf die Pokalübergabe: Im Hintergrund grölt das Publikum.
Aussage: Der Comic beschreibt die allgemeine Verunsicherung nach dem Krieg, wie mit nationalen Symbolen umgegangen werden soll. Er zitiert die Legende, dass das „Wunder von Bern“ 1954 die „wahre
Geburtsstunde“ der Bundesrepublik gewesen sei. Der Titel „Aus alter Gewohnheit“ spielt darauf an, dass
die unzeitgemäße erste Strophe der Nationalhymne in der nicht lange zurückliegenden NS-Zeit eingehend gelernt und chauvinistisch missbraucht worden war.
Analyse M 1.5
-
Historischer Kontext: Als „Heimkehr der Zehntausend“ wurde im Volksmund die Rückkehr der letzten
Kriegsgefangenen aus der Sowjetunion bezeichnet. Ab dem 7. Oktober 1955 wurden viele dieser entwurzelten Männer in Durchgangslagern (z.B. in Friedland) aufgenommen.
Inhalt: Ein anonymer Kriegsheimkehrer nähert sich zu Fuß einer Stadt. Er durchstreift schließlich ein
Neubaugebiet, passiert Läden und überquert belebte Plätze und Straßen.
Formale Analyse: Vor dem Hintergrund der „Wirtschaftswunderwelt“ erscheint diese Figur als deutlicher Kontrast. Sie ist in einen graugrünen Lodenmantel gekleidet und hebt sich so von der bunten Umgebung ab, die mit den Insignien des Wirtschaftsaufschwungs und der Prosperität gespickt ist (VW-Käfer,
Campingurlauber, Neubausiedlung, Feinkostgeschäft, belebtes Straßencafé, Kaufhaus). Der Kriegsheimkehrer ist nie von vorne zu sehen, in zwei Panels nur im Hintergrund. Im Schlussbild wird die Einstellung
zu einer Totalen aus der Vogelperspektive aufgezogen, was die Isoliertheit dieser Figur besonders veranschaulicht. Die Naheinstellung im langgezogenen Panel in der Mitte zeigt deutlich, wie misstrauisch der
abgerissene Heimkehrer beäugt wird (Kontrast zu überschwänglichen Zeitungsschlagzeilen im ersten Panel). Der Verzicht auf Text unterstreicht den gemächlichen Gang und die Anonymität der Hauptfigur.
Aussage: Der Comic problematisiert die vorgeblich heile Welt der „Wirtschaftswunderzeit“ anhand der
Außenseiterfigur des Kriegsheimkehrers. Bei aller Freude über die „Heimkehr der Zehntausend“ ist die
Erinnerung an die Kriegsfolgen auch ein Störfaktor in der neu aufblühenden Gesellschaft.
ERARBEITUNG II
Hausaufgabe, Unterrichtsgespräch
 M 1.6 — M 1.7
-
Erich Kästner: Heinrich Heine und wir (M 1.6)
-
Äußerer Anlass: Jubiläum (120 Jahre) eines Briefwechsels zwischen Heinrich Heine und den Verlegern
Campe und Cotta; Heine beklagt sich (vom Pariser Exil aus) über Zensurmaßnahmen des Frankfurter
Bundestages, die maßgeblich von Preußen veranlasst wurden; er verteidigt die Geistesfreiheit und gibt
dafür seine Existenzgrundlage auf: Heine will sich nicht der „preußischen Douane“ (Z. 33 = „Zollvorschriften“, hier übertragen auf Gedankengut) unterwerfen.
Tatsächlicher Hintergrund für die Erinnerung an das eher nebensächliche „Jubiläum“ (durch direkte Ansprache in Z. 1 wird der Gestus einer Festrede imitiert) ist die Parallele, die Kästner zu der Zeit des „Vormärz“
(1815—1848) zieht: Epoche der „Restauration“/„Biedermeierzeit“; innere Unterdrückung aufkeimender Ideen
des Liberalismus und der Demokratie. Die Zensurmaßnahmen jener Zeit setzt Kästner in Bezug zum geistigen
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Die Bundesrepublik Deutschland in den 50er-/60er-Jahren
UNTERRICHTSVERLAUF
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Klima der 50er-Jahre: Zwar gäbe es keine offizielle Zensur mehr, aber sie wäre auch gar nicht nötig: Materieller Fortschritt führe zu bereitwilliger Selbstzensur, zu einem „motorisierten Biedermeier“ (Z. 57).
Kästners Kritik: Wiederbewaffnung (1955) versus Bildungsmisere (Z. 58 ff.).
Grundton des Textes: resignativ („Demokratur“ = „Demokratie“ und „Diktatur“, Z. 69); geringe Möglichkeit der politischen Einflussnahme. Appell am Schluss: „nostra res agitur“ („Es geht um uns.“).
Karikatur zur „Ära Adenauer“ (M 1.7)
Die zwei Jahre nach dem Ende der Regierungszeit Adenauers (1949—1963) erschienene Karikatur handelt geläufige Stereotype ab: „starker Mann“ der CDU versus „gestriger Greis“; „amerikanisch gesteuerter Kriegstreiber“; tief katholischer „Ultramontane“ (Romhörige); der Patriarch, der keine Widerworte duldet; eine
hart zu knackende Nuss — ein gewitzter „Realpolitiker“. (Die Karikatur finden Sie auf einem eigenen Materialblatt groß abgebildet auch im Bonusbereich für Abonnenten.)
 Grundkurs: Kultur und Gesellschaft der 50er-/60er-Jahre
ERARBEITUNG (PROBLEMATISIERUNG DER GESCHLECHTERROLLEN)
Einzelarbeit und Unterrichtsgespräch
 M 2.1 — M 2.3
„Die gute Ehe“ (M 2.1)
Aus einem zeitgenössischen Benimmbuch (normative Quelle): Zementierung traditioneller Normen und Konventionen (besonders Frauenrolle), Rückschluss auf „Zeitgeist“.
„Umbruch der Geschlechterverhältnisse?“ (M 2.2)
-
Ute Freverts Position: Die Geschlechterverhältnisse waren bereits in den 50er-Jahren dynamisch:
Erwerbsquote steigt, Lohnpolitik („Frauenlohngruppen“ und „Frauenabschlagsklauseln“ werden 1955
abgeschafft); Gleichberechtigungsgesetz (1958); Entscheidungshoheit des Vaters in Erziehungsfragen
1959 abgeschafft
Bremsende Kräfte: Gewerkschaften — halten am Leitbild des männlichen Ernährers fest; Kirchen —
pflegen traditionelles Familienideal; Politik — Versuche, den Gleichberechtigungsartikel des Grundgesetzes zu ignorieren.
Wirtschaftliche Entwicklung als treibende Kraft: Aufschwung  mehr weibliche Arbeitskräfte; gestiegene Konsumbedürfnisse  „Zusatz“-Verdienst der Frauen benötigt
Männliche Vorbildrollen (M 2.3)
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Werbeanzeige (Material 1)
Gefestigte Männergesellschaft im Nachkriegsdeutschland: Berühmter Schauspieler (Karlheinz Böhm, „Sissi-Filme“ ab 1955) wird vor einer Gruppe von Männern gezeigt, die, wie der Text suggeriert, alle Eterna
tragen. Nur Böhm trägt keine Anzugjacke (= leger, deutlicherer Eindruck vom Hemd); Vertraulichkeit der
Herrenrunde: Schmuck (Goldkettchen), Weinbrandglas; Haltung (zugewandt) bezieht den Betrachter ein.
Text verdeutlicht die Gepflogenheiten der Männergesellschaft: „Junggesellen“ und „geplagte Ehefrauen“ werden explizit angesprochen; technische Fachtermini („Eterna san“, „perlon porös“, „Millionen Mikro-Poren“ etc.) sollen die männliche Kundschaft beeindrucken und zur Kennerschaft erziehen; Vorbild
ist ein „Weltstil“, eine imaginäre „internationale Freizeitmode“, die sich, wie die Bezeichnung „kings
forest“ zeigt, am anglo-amerikanischen Geschmack orientiert.
Es herrscht offensichtlich kein Mangel mehr, Kleidung wird als Luxusgut inszeniert; exotisch anmutende
Spezialausdrücke und Funktionen („3 Kragenstellungen“) erzeugen künstlichen Bedarf.
-
Jugenderinnerung (Material 2)
Quelle = subjektiv: „Zeitgeist“ vor 1968 wird beschrieben, v.a. mit den tonangebenden Produkten der Unterhaltungsindustrie; traditionelles Geschlechterbild (unschuldige Liebe ohne Sex: „weißer Ritter“, männlich-dominante Männer: „Holzfäller-Sepp“, „Arzt“); Zusammenleben der Geschlechter — ausnahmslos in der
Ehe („es ist alles besiegelt“). Vergleich mit M 2.2: Entwicklungen auf z.B. rechtlichem Gebiet sind erst mit
zeitlichem Abstand individuell spürbar.
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UNTERRICHTSVERLAUF
VERTIEFUNG (FILMANALYSE)
Gruppenarbeit mit Präsentation, Unterrichtsgespräch
 DVD-Beilage: Video 02 — Video 09 sowie M 2.4
Werbespots: „Geschlechterrollen“, Analysematrix im DVD-Material sowie M 2.4
Die Textarbeit mit den Materialien M 2.1—M 2.3 soll für die Thematik der Geschlechterrollen sensibilisieren. Der Zugang zu den zum Teil amüsanten Werbespots wird so inhaltlich vorbereitet. Fragestellung und
Arbeitsaufträge zur Filmanalyse können mit der Methodenkarte (M 2.4) entwickelt werden.
1. Die Schülerinnen und Schüler werden entsprechend der Kategorien der Analysematrix (siehe Arbeitsmaterialien auf der beiliegenden CD-ROM) in fünf Gruppen eingeteilt. Jede Gruppe notiert ihre Beobachtungen auffälliger Gestaltungsmittel (Fachtermini — siehe Methodenkarte M 2.4). Pro Werbespot und Kategorie wird jeweils ein DIN A4-Blatt verwendet, sodass die Blätter am Ende zu einer vergrößerten Matrix
zusammengestellt (Pinnwand) werden können.
2. Diese Matrix wird von den Gruppen präsentiert und erläutert.
3. Im anschließenden Unterrichtsgespräch werden die Werbespots interpretiert.
EINSTIEG UND PROBLEMAUFRISS
Vorführung Filminterview, Einzelarbeit und Unterrichtsgespräch
 DVD-Beilage: Video 10 sowie M 3.1 — M 3.2
Einstieg in das Thema „Jugend und Erziehung“ kann das Interview mit dem Historiker Axel Schildt (Video
10) sein. Das Arbeitsblatt „Faktencheck“ (siehe Arbeitsmaterialien auf der beiliegenden CD-ROM) dient der
Sicherung; Auflösung des „Faktenchecks“ im Plenum und Überleitung zur Lektüre von M 3.1.
-
Jugendkultur und Rock ’n’ Roll (M 3.1)
Die politisch eindeutig gewollte Westbindung hat verhindert, dass die kulturellen Trends, die aus Amerika stammten, vehement abgelehnt werden konnten. Hintergrund: Ost-West-Konflikt.
Rockmusik findet im Laufe der Zeit zunehmend schichtübergreifend Anklang bei Jugendlichen. Einstellungs- und Verhaltensmuster werden quer zu allen Sozialgruppen kopiert; „feine Unterschiede“ bleiben.
Die deutschen Nachahmer der amerikanischen Rockstars waren meist schlagerhafte „Soft-Versionen“,
die sich eher nicht über gängige Moralvorstellungen hinwegsetzten.
Kommentar aus „Die Zeit“, 1956 (M 3.2)
„Jazz“ als Sammelbegriff für jede moderne und rhythmusbetonte Musik, die mit Afroamerikanern oder speziell dem Amerikanischen assoziiert wurde; Rockmusik ist mit dem Stigma der Anrüchigkeit belegt.
ERARBEITUNG UND PROBLEMATISIERUNG
Einzelarbeit, Unterrichtsgespräch, Plenumsdiskussion (Pro-Kontra)
 M 3.3 — M 3.4
-
Interview: Heimerziehung in den 50er- und 60er-Jahren (M 3.3)/Karteikarte (M 3.4)
Zu 1.: Mentalitätsgeschichtliche Aspekte (Erziehungsziel „Gehorsamkeit“ versus Erziehungsziel „Freiheit“, Züchtigung als gängige Erziehungspraxis etc.)
Zu 2.: Strukturelle Aspekte (Personelle Engpässe, Qualifizierungsdefizite des Personals etc.); Gefahr:
moralisches und rechtliches Fehlverhalten wird historisiert und damit relativiert.
Zu 3.: Die Karteikarte erhärtet den Verdacht, dass Vorstellungen aus der NS-Zeit noch bis weit in die
60er-Jahre die Erziehungsarbeit beeinflusst haben; Vermutung: personelle Kontinuitäten.
Arbeitsanregung: Die Arbeit des „Runden Tischs Heimerziehung“ kann auf der Seite www.rundertischheimerziehung.de weiterverfolgt werden. Nach der Lektüre dort bereitgestellter Materialien könnten die
Schüler/-innen zu einer Pro-Kontra-Diskussion zum Thema „Entschädigung“ angeregt werden.
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EINSTIEG UND PROBLEMAUFRISS
Filmpräsentation, Einzelarbeit und Unterrichtsgespräch
 DVD-Beilage: Video 11 — Video 14 sowie M 4.1 — M 4.4
Arbeitsanregung: Es bietet sich an, zum Einstieg in die Unterrichtseinheit die Werbespots Video 11 bis Video
14 zu zeigen. Erläuterungen zu diesen Spots finden sich bei den Arbeitsmaterialien auf der beiliegenden CD-ROM.
Ausstattung der Haushalte mit ausgewählten Gebrauchsgütern (M 4.1)
Im Verlauf des Jahrzehnts werden einige Haushaltsgeräte vom Luxusgut zur Massenware. Unterschiede bleiben aber je nach Einkommenssituation der Haushalte erheblich (Pkw, Fernseher).
Traum vom guten Leben (M 4.2)
Für den Umgang mit den Ressourcen der Natur stellen die 50er-Jahre eine Epochenschwelle dar. Umweltverschmutzung und Raubbau nehmen in großem Maße zu — die Kehrseite einer Wachstumsgläubigkeit und
Abkehr von Sparsamkeitsidealen.
Wertewandel — Werbung als kulturgeschichtliche Quelle (M 4.3)
Gerade weil Werbung versuchen muss, den Erwartungshorizont der Menschen zu treffen, sie „über ihre
Wünsche, Erwartungen und Interessen zu erreichen“ (Z. 8 f.), ist sie eine interessante Quelle, um einen gesellschaftlichen Wertewandel aufzuzeigen. Dass die 60er-Jahre eine „Transformationszeit/Sattelzeit“ sind,
lässt sich auch an den Werbespots ablesen, in denen die Zeitstimmung eingefangen wird (neue Sexualmoral,
Konsum als Erlebnis). Auch Gegenbewegungen zur Konsumgesellschaft (Hippies) werden von der Werbesprache usurpiert. „Anti-Moden“ werden zu einer gängigen Erscheinung (v.a. der Jugendkultur) — in diesen Kontext lässt sich auch das Foto „Alle Werbung vergeblich“ einordnen.
ARBEITSTEILIGE ERARBEITUNG (z.B. „KUGELLAGER“)
Gruppenarbeit (arbeitsteilig) und anschließende Präsentation der Gruppenarbeitsergebnisse
 M 5.1 — M 5.2
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Momentaufnahme des Höhepunkts der „Spiegel“-Affäre — der Verfasser will aufrütteln und appelliert an
alle demokratischen Kräfte öffentlich zu protestieren (appellativer Grundton)
Parallelen zum Umgang mit der Presse zur NS-Zeit werden drastisch ausgemalt. Ironischer Grundton bei
der Beurteilung der Ursache des Skandals (Z. 67 ff.).
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Einbettung in größeren Kontext, Relativierung der Bedeutung. Entscheidender historischer Faktor: neue
Mobilisierung der Öffentlichkeit und Polarisierung der Gesellschaft.
Normenkonflikt: Bloßstellung von Skandalen wird zu einem „akzeptierten Instrument“, um die innere
Demokratisierung voranzutreiben (Z. 60 ff.).
Zeitungskommentar zur „Spiegel“-Affäre, 1962 (M 5.1)
„Die Entstehung einer kritischen Öffentlichkeit als Vierte Gewalt“ (M 5.2)
 Erweiterungsmodul: Umgang mit der NS-Vergangenheit
ERARBEITUNG UND PRÄSENTATION
Einzel-/Partnerarbeit, Unterrichtsgespräch
 M 6.1 — M 6.3
--
Norbert Frei (M 6.1) und Claudia Fröhlich (M 6.3)
Frei: „Entnazifizierungsopfer“ und „Mitläufer“ profitierten von der „Vergangenheitspolitik“ der 50er-Jahre.
Fröhlich: Ende der 50er-Jahre war die bis dahin unterdrückte Debatte über den immer noch existenten
Antisemitismus nicht mehr aufzuhalten; die juristische Aufarbeitung der Nazi-Verbrechen (Ludwigsburg,
Frankfurter Auschwitzprozess ab 1963) führte zu einem verstärkten historischen Bewusstsein der Verbre-
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GESCHICHTE
betrifft uns
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Die Bundesrepublik Deutschland in den 50er-/60er-Jahren
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UNTERRICHTSVERLAUF
chen und öffentlichen Diskussionen in den Medien; (symbolischer) Höhepunkt der Auseinandersetzung
mit der NS-Vergangenheit stellt die Kiesinger-Ohrfeige von Beate Klarsfeld dar: Es wird nun nach individueller Schuld gefragt; Schuldfrage wird nicht auf eine „Nazi-Clique“ reduziert.
 Urteilsmodul: „Ära Adenauer“ — eine Periode „aufregender
Modernisierung“?
ERARBEITUNG
Textwiedergabe mit anschließender Diskussion
 M 7.1 — M 7.2
-
Hans-Peter Schwarz (M 7.1)
Fokus vor allem auf wirtschaftliche und soziale Modernisierungsprozesse — Normalität des zivilisatorischen Standards gemessen an unserer Gegenwart (Motorisierung, Wohnen, Freizeitverhalten)
Kehrseite der Modernisierung (Umweltverschmutzung, Zerstörung gewachsener Wohnformen etc.)
Christoph Kleßmann (M 7.2)
-
Kleßmann wirft Schwarz eine zu parteiische Sicht auf die unleugbare Modernisierung vor: Adenauer als
Heldengestalt. Vor allem auf politischer Ebene kommen restaurative Elemente der Epoche nicht zur
Sprache (harter Umgang mit ehemaligen kommunistischen Widerstandskämpfern bei gleichzeitiger Ausblendung der Schuldfrage des Justizapparats, Z. 29 ff.).
Relativierung: „Modernisierung unter konservativen Auspizien“ (Z. 64), d.h. autoritäre Traditionen wirken fort — aber die Bejahung der Moderne durch den deutschen Konservatismus ist Voraussetzung für
den Erfolg Adenauers; negative Begleiterscheinungen: „politische Apathie“ und „Rückzug ins Private“.
 Klausurvorschlag
-
Ralf Dahrendorf: „Exkurs über Humanität und Unmenschlichkeit“ (1965)
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Zu 1.: Dahrendorf meint eine deutsche Mentalität der „gedankenlosen Unmenschlichkeit“ feststellen zu
können, die von der Kaiserzeit über die NS-Zeit bis in die Bundesrepublik („vorgestern, gestern und auch
noch heute“, Z. 2) reicht. Symptomatisch ist sie v.a. für die Eliten (Ärzte, Richter, Offiziere, Z. 4 f.) —
eine Mentalität, die im paradoxen Missverhältnis zum Gerede von Humanität steht, v.a. vor dem Hintergrund der jüngsten Verbrechen der NS-Zeit („schwärzere Wolke der Erinnerung“, Z. 14 f.). Diese Mentalität zeige sich in der aktuellen Gesellschaft (Mitte der 1960er-Jahre) immer noch am Umgang mit „den
Fremden“ und „den Abnormen“ (Z. 18 f.): exzentrische Künstler, politisch Andersdenkende, Behinderte
(Contergan-Kinder, Z. 27 f.), geistig Kranke, Inhaftierte. Dahrendorf moniert eine fehlende Kultur der
kritischen Öffentlichkeit in Deutschland, die es auch in der NS-Zeit ermöglicht habe „von nichts zu wissen“ (Z. 37 f.), er appelliert über die Verantwortung des Individuums hinaus für eine neue soziale und
pluralistische Kultur der Gesellschaft. Dahrendorf konstatiert, dass die publizierte kritische Öffentlichkeit im Vergleich mit Ländern der westlichen Welt (USA, GB, F) erheblich schlechter entwickelt sei (Z.
59—67); die deutsche Gesellschaft zudem auf veröffentlichte Kritik nicht angemessen reagiere (Z. 67—
76) weil sie letztlich lieber von Humanität rede, als zu handeln (Z. 76—Schluss).
Zu 2.: Unter Rückgriff auf die Materialien des Kurses können hier die Aspekte zur Sprache kommen, die
das ambivalente Verhältnis von Modernisierung und Rückständigkeit in der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft aufzeigen: ein noch sehr traditionelles Verständnis von Geschlechterrollen; ein Erziehungsideal, das Gehorsam in den Vordergrund rückte und schlimme Auswüchse zeitigen konnte (Bsp. „Heimerziehung“ M 3.3). Die Gesellschaft war aber durchaus schon weiter, als Dahrendorf in der Überspitzung
seiner Thesen zugestehen mochte (M 5.1/M 5.2: Entstehung einer kritischen Öffentlichkeit, M 6.3: Skandalisierung der versäumten Aufarbeitung der NS-Vergangenheit).
Zu 3.: Dahrendorf vertritt letztlich eine Sonderwegsthese, in der die Mentalität der deutschen Gesellschaft drastisch charakterisiert wird. Das Fehlen einer liberalen und demokratischen Kultur in Deutschland musste aber nicht zwangsläufig zu den Verbrechen der NS-Zeit führen — eine Gleichsetzung der
damals aktuellen Missstände der Bundesrepublik mit dem systematischen Unrecht des „Dritten Reiches“
ist mehr der Rhetorik geschuldet und vergleicht Unvergleichbares.
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GESCHICHTE
betrifft u n s
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Die Bundesrepublik Deutschland in den 50er-/60er-Jahren
LITERATUR
LITERATUR
Zur Einführung
Axel Schildt: Die Sozialgeschichte der
Bundesrepublik Deutschland bis 1989/90.
München: R. Oldenbourg Verlag 2007
Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. 1949—1990 (Deutsche Gesellschaftsgeschichte Bd. 5).
München: C.H. Beck Verlag 2008
Strukturgeschichte der beiden deutschen Nachkriegsstaaten. Nachdrückliche Auseinandersetzung mit dem Weiterbestehen sozialer Ungerechtigkeit
in der Bundesrepublik.
Edgar Wolfrum: Die Bundesrepublik
Deutschland. 1949—1990 (Gebhardt.
Handbuch der Deutschen Geschichte
Bd. 23). Stuttgart: Klett-Cotta 2005
Edgar Wolfrum: Die geglückte Demokratie. Geschichte der Bundesrepublik
Deutschland von ihren Anfängen bis zur
Gegenwart. Stuttgart: Klett-Cotta 2006
Kulturelle und gesellschaftliche Entwicklungen werden hier ebenso behandelt, wie die herkömmliche Politikgeschichte. Die beiden Titel sind zu
weiten Teilen textidentisch, letzterer
ist indes bis in die jüngste Vergangenheit fortgeschrieben.
Zur Vertiefung
Axel Schildt/Arnold Sywottek (Hrsg.):
Modernisierung im Wiederaufbau. Die
westdeutsche Gesellschaft der 50er
Jahre (aktualisierte und ungekürzte
Studienausgabe). Bonn: Verlag J.H.W.
Dietz Nachf. 1998
Axel Schildt/Detlef Siegfried/Karl Christian Lammers (Hrsg.): Dynamische
Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden
deutschen Gesellschaften. Hamburg:
Hans Christians Verlag 2000
Werner Faulstich (Hrsg.): Die Kultur
der 50er Jahre (Kulturgeschichte des
20. Jahrhunderts). Paderborn: Wilhelm
Fink Verlag 2002
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Werner Faulstich (Hrsg.): Die Kultur
der 60er Jahre (Kulturgeschichte des
20. Jahrhunderts). Paderborn: Wilhelm
Fink Verlag 2003
Die beiden Aufsatzbände liefern ein
differenziertes und facettenreiches
Gesamtbild der beiden Dekaden und
beziehen dabei Aspekte wie etwa populäre Musik, Mode und Design oder
vernachlässigte Quellen, wie z.B. Reklame und Groschenromane, mit ein.
Arne Andersen: Der Traum vom guten
Leben. Alltags- und Konsumgeschichte
vom Wirtschaftswunder bis heute.
Frankfurt am Main: Campus Verlag
1997
Gut lesbare Abhandlung zu den verschiedenen „Wellen“ des Konsums und
der Haushaltsausstattung in Nachkriegsdeutschland.
Torben Fischer/Matthias N. Lorenz
(Hrsg.): Lexikon der „Vergangenheitsbewältigung“ in Deutschland. Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945. Bielefeld:
transcript Verlag 2009
Das Nachschlagewerk ist chronologisch
aufgebaut, bietet aber auch einen systematischen Zugang zur Thematik. Die
170 Einträge können auch mit Gewinn
von vorne bis hinten als Kulturgeschichte deutscher Befindlichkeiten
nach dem Holocaust gelesen werden.
Norbert Frei (Hrsg.): Hitlers Eliten
nach 1945. München: dtv 32007
Das Begleitbuch zu einer mehrteiligen
Fernsehdokumentation ist zugleich
wissenschaftlich seriös und eingängig
geschrieben. Eignet sich auch zur Verwendung im Unterricht.
Hinweis: Die in diesem Heft angegebenen Internetadressen haben wir geprüft (Redaktionsschluss: 21.12.2009).
Dennoch können wir nicht ausschließen, dass unter einer dieser Adressen
inzwischen ein ganz anderer Inhalt
dargeboten wird.
ZUM AUTOR
Jochen Pahl arbeitet zurzeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Stiftung Deutsche Geisteswissenschaftliche
Institute im Ausland (DGIA) und lehrt
Geschichtsdidaktik an der Universität zu
Köln. Seit 2005 ist er außerdem Redakteur des Lese- und Schreibförderungsprojekts „lesepunkte“ (www.lesepunkte.de).
„Geschichte betrifft uns“
mit Video-DVD
Ab 2010 werden pro Jahr jeweils
zwei Ausgaben von „Geschichte betrifft uns“ durch eine Video-DVD und
eine CD-ROM ergänzt. Die Filmbeilagen sind inhaltlich immer mit dem
Thema des Heftes verzahnt und ermöglichen einen problemlosen Einsatz in Ihrem Geschichtsunterricht.
Sie erhalten die Filme auf einer Video-DVD für den Einsatz im DVDPlayer und für die Arbeit mit Computer und Beamer. Auf der CD-ROM finden Sie die Filme zusätzlich in einem
kleineren Datenformat. Die CD-ROM
enthält außerdem die Arbeitsblätter
für den unterrichtlichen Einsatz der
Filme, Erläuterungen und Lösungen zu
den Aufgaben sowie ein Verzeichnis
der DVD-Inhalte.
Die Filmbeilagen werden ab diesem
Jahr regelmäßig zu den Ausgaben 1
und 4 von „Geschichte betrifft uns“
erscheinen. Der Jahrespreis für die
sechs Ausgaben „Geschichte betrifft
uns“ inklusive der zwei Video-DVDs
beträgt dann 82,80 € zzgl. 4,50 € Versandpauschale (innerhalb Deutschlands).
Wir freuen uns, Ihnen diese authentischen visuellen Quellen für Ihren Unterricht anbieten zu können und wünschen
Ihnen viel Freude beim Unterrichten!
IN VORBEREITUNG
Römer und Germanen
Kulturkontakte und religiöse Vielfalt
GESCHICHTE b e t r i f f t u n s
bietet Planungsmaterial für einen modernen und interessanten Geschichtsunterricht in den Jahrgangsstufen 9—13
enthält jeweils eine vollständige Unterrichtsreihe mit Sachinformationen zum Thema, einsatzfertigen Materialien, einem
ausführlichen Unterrichtsverlauf und zwei farbigen OH-Folien
freut sich auf Ihre Anregungen und Unterrichtsentwürfe: Bergmoser + Höller Verlag AG,
Redaktion „Geschichte betrifft uns“, Postfach 50 04 04, 52088 Aachen, DEUTSCHLAND, [email protected]

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