Leseprobe - Wilhelm Fink Verlag
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Leseprobe - Wilhelm Fink Verlag
DANIEL HORNUFF SCHWANGERSCHAFT Druckdaten Hornuff. Pränatalismus (F5700).indd 1 10.07.14 15:11 Druckdaten Hornuff. Pränatalismus (F5700).indd 2 10.07.14 15:11 DANIEL HORNUFF SCHWANGERSCHAFT Eine Kulturgeschichte Wilhelm Fink Druckdaten Hornuff. Pränatalismus (F5700).indd 3 10.07.14 15:11 Umschlagabbildung: Fetal ultrasound © Howard Sochurek/CORBIS Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der foto mechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte, Zeichnungen oder Bilder durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 UrhG ausdrücklich gestatten. © 2014 Wilhelm Fink, Paderborn Wilhelm Fink GmbH & Co. Verlags-KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn Internet: www.fink.de Satz: Martin Mellen, Bielefeld Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co KG, Paderborn ISBN 978-3-7705-5700-4 Druckdaten Hornuff. Pränatalismus (F5700).indd 4 11.07.14 10:59 Für Melia und Levi Druckdaten Hornuff. Pränatalismus (F5700).indd 5 10.07.14 15:11 »Aus dem prinzipiell unsichtbaren Ungeborenen ist – auch für die Frau – ein Fötus geworden.« (Barbara Duden, 2002) »Das Accessoire der Saison ist eine runde Kugel auf Taillenhöhe.« (Eltern. Special Schwangerschaft, Ausgabe 2010/11) Druckdaten Hornuff. Pränatalismus (F5700).indd 6 10.07.14 15:11 Inhaltsverzeichnis Vorwort .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 EINFÜHRUNG .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Kontaktaufnahme | Anschluss | Gesichter | Epoche? | Wandel | Triumph | Alternativen KAPITEL 1 SICHTBARMACHUNG Wie erzählen Bildgeschichten? .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 Statuengleich | Humus | Ernüchterung | Umweg KAPITEL 2 IDEALGESCHÖNT Totgeburten auf extraterrestrischer Mission .. . . . . . . . . . . . 37 Brief | Projekt | Fundus | Stilistik | Physiognomik | Erleichtert | Bio-Plastik | Ebenmaß | Entgrenzung: Lennart Nilsson | Begegnung? | Zweifachschutz | Lebensbeginn KAPITEL 3 SCHRÖPFGEFÄSS Antike Herrengymnastik, barockes Kinderturnen .. . . . 61 Embryonalgeschütze | Seelenerbe | Vergleichen | Eingriff | Turnübungen | Urzeugung | Werbepause | Geburtshelfer | Uterusballon | Gewissenssache | Gefäße KAPITEL 4 POTENZEN Vom Knaben im Uterus der Kuh .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 Exportschlager | Massenrecycling? | Leonardo-Fans | Abhängigkeit | Bonding | Geheimniskrämerei | Allverbundenheit | Wickelkinder | Entblättern | Botanisierung – Theatralisierung | Joker KAPITEL 5 EINSCHACHTELUNG Im Nichts ein Ganzes entdecken .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Landschaftspflege | Vorbildung? | Sehenmüssen | Homunculus | Skepsis | An-/abwesend? | Marsmännchen | Verschwörung | Nabelschnurlasso | Harnschau KAPITEL 6 PORTRÄTKULTUR »Wow, das ist mein Kind!« .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. 129 Geschlechtsbestimmung | Wiedererkennung? | Fotografie | Ahnengalerie | Ultraschallfahndung | Finestra aperta | Vaterfreude | Der Andere | Dramaturgie | Fetus-to-Go | Wettbewerb | Unschuldiges Auge? Druckdaten Hornuff. Pränatalismus (F5700).indd 7 10.07.14 15:11 KAPITEL 7 PS-FÖTEN Auf der Überholspur ins Leben .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. 153 Nippesföten | Lebensschutz | Embryonenkontroverse | Attribuierung | Testimonial | Autonomiedrang | Alfabetisierung | Mutter-Van | Reizflächen | Reinheits versprechen | Postnatalisierung KAPITEL 8 EINWÄNDE Von der Transzendenzdrohne zu einem Stück Fleisch . 179 Bauchfenster | Maria gravida | Einflug | Pränatalkon versation | Schutzmantel | Feminismus | Entfremdungs diagnose | Mutterlos | Kulturkritik | Reproduktion | Parasitäres | Doppel-Ich | Gebärmaschine | Eigenwerte KAPITEL 9 KUGELWESEN Zur ästhetischen Karriere der Schwangerschaft .. . . . . . . . 205 Mama-Glück | Peinlichkeiten | Schwangerschaftspflege | Gammel-Stil | Fräuleinwunder | Bauchkopisten | Anti- Erotik | Boulevardisierung | Bauchpolitik | Zupfmassage | Stretching | Idealisierung | Uterusersatz? | Ausgekugelt KAPITEL 10 PRÄNATALISMUS (2.0) Bauchgezwitscher. The Pregnant Sublime .. . . . . . . . . . . . . . 239 Twitter-Beweis | Schattenriss | Stresstest | Zügellosigkeiten | Versehen | Ersatz! | Der Glötus | Konstruktionen | Konkurrenzlos | Bauchgeschichte Nachwort .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. 257 Anmerkungen .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 Quellenverzeichnis .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 Abbildungsverzeichnis .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. 299 Druckdaten Hornuff. Pränatalismus (F5700).indd 8 10.07.14 15:11 Vorwort Nein, an Kulturgeschichten herrscht kein Mangel. Es gibt eine Kulturgeschichte des Zuckers und zwei des Salzes. Es wurde eine Kulturgeschichte des Tennis, eine des Basketballs, eine weitere des Schachs und sogar eine des gesamten Sports verfasst. Die Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts erschien in zehn Bänden, die der Menschheit in zwanzig. Jene der Welt wiederum passte zwischen zwei Buchdeckel. Das Geld war ebenso wie die Haut, die Sonnenbrille, die Klaviermusik, der Christbaumständer, die Antike, die Gegenwart, die Lüge, der Wahnsinn, das Herz, der Kuss, der Mord, die Tankstelle und die deutschen Briefkästen auf je eine Kleine Kulturgeschichte zu begrenzen. Methodisches findet sich neben der Allgemeinen Kulturgeschichte in den Grundfragen der sowie auf den Wegen zur Kulturgeschichte. Und schließ8 lich in der Kulturgeschichte der »Kulturgeschichten«. Wäre also nur noch mit dem Historiker Peter Burke zu fragen: Was ist Kulturgeschichte? 9 Eine verbindliche Antwort fand sich bis heute nicht. Niemand kann sagen, welche Kriterien ein Buch erfüllen muss, um als Kulturgeschichte firmieren zu können. So ist alles und nichts zur Kulturgeschichte zu erklären. Inzwischen dürfte der Trend zur Kulturgeschichte an einer eigenen Geschichte innerhalb unserer Buchkultur schreiben. Das Label Kulturgeschichte suggeriert Lesern, sie bekämen ein kulturelles Phänomen in seiner historischen Breite dargeboten. Doch genau das leistet dieses Buch nicht. Denn es erzählt weder geordnet in der Chronologie der Geschichte noch analog zum Lauf der Epochen. (Abgesehen davon bleibt auch bei Büchern zur Kulturgeschichte oft unklar, was unter Kultur und ihrer Geschichte genau verstanden wird.) Im Zentrum des Buchs steht die Inszenierung der Schwangerschaft. Das heißt, es geht nicht um die Schwangerschaft an sich und demnach auch nicht um körperliche, emotionale oder biografische Individualerlebnisse. Indem Inszenierung als ein Zur-Aufführung-Bringen von etwas verstanden wird, handelt das Buch von den medialen Repräsentationen der Schwangerschaft. Ein deutlicher Schwerpunkt fällt auf die Darstellung des Ungeborenen; ein weiterer (allerdings knapper ausgeführter) auf den Auftritt schwangerer Frauen. Das Material stellen, neben einigen Bildern, vor allem soziale Praktiken und Theorien des Vorgeburtlichen aus unterschiedlichen Zeiten und Bereichen: aus anatomischen Gelehrtentraktaten ebenso wie aus der BILD-Zeitung, aus Ideen der spätgriechischen Antike wie aus Ideologien Druckdaten Hornuff. Pränatalismus (F5700).indd 9 10.07.14 15:11 unserer Gegenwart. Nicht alles ist dabei neu. Vieles lag bereits vor und wurde nur anders als bisher arrangiert. Folglich bezieht sich der kulturgeschichtliche Anteil des Buchs weniger auf seinen Inhalt als auf die Form, in der er entfaltet wird. Einzelne Phänomene – ob historischen oder aktuellen, wissenschaftlichen oder populären Ursprungs – werden zueinander in Beziehung gesetzt und vergleichend betrachtet. Gleichzeitig sollen die Facetten des Themas ihren Kontexten treu bleiben. Sie werden demnach nicht nur miteinander, sondern auch im Verhältnis zu ihrer Entstehung und Aneignung beleuchtet. Dies betrifft vor allem die Bilder, die in das Buch Eingang fanden. Da ein Bild, für sich genommen, weitgehend aussagelos bleibt, geben vor allem die Bezüge, in die es eingespannt wird, Hinweise auf seine Bedeutung. Zwei Gestaltelemente mögen helfen, allzu Weitschweifendes wieder einzufangen: So führen zur Orientierung kurze Zusammenfassungen in die Kapitel ein. Zum anderen gliedern Stichwörter die ausführlich geratenen Kapitel in kleinere Sinnabschnitte. Dass man auch beim Schwangergehen mit einem Thema zu mancher Übertreibung neigt, bleibt mir als Mahnung hängen. Ins Positive gewendet: Sollte das Buch neben ein paar Einsichten auch vergnügliche Momente bereiten, hätte sich seine Entbindung gelohnt. Vorwort Daniel Hornuff München und Karlsruhe, im April 2014 Druckdaten Hornuff. Pränatalismus (F5700).indd 10 10.07.14 15:11 EINFÜHRUNG 10 11 Druckdaten Hornuff. Pränatalismus (F5700).indd 11 10.07.14 15:11 Einführung Druckdaten Hornuff. Pränatalismus (F5700).indd 12 10.07.14 15:11 Kontaktaufnahme Als die Schwangere begann, den Bildschirm des Ultraschallgeräts zu streicheln, war die Idee zu diesem Buch geboren. Zu beobachten war eine ähnliche Bewegung, mit der die Frau zuvor ihren Bauch berührt hatte. Doch bei diesem Vorsorgetermin betastete sie nicht mehr den eigenen Körper. Für Augenblicke galt ihre Zuneigung einer technischen Apparatur. Gewiss, sie streichelte flüchtig und intuitiv – aber gerade deshalb in nicht unauffälliger Weise. Offenbar hatte sich ihr im Monitor ein Wesen gezeigt, das es nun zu begreifen galt. Aus dem Innendrin wurde ein Gegenüber, aus der guten Hoffnung eine Person – als sei mit diesem einen Bild zum Gesicht geworden, was bisher ein anderer Umstand, ein Gefühl, eine Ahnung gewesen sein mochte.1 Viele Paare zählen Termine bei der Pränataldiagnostik zu den emoti12 onalsten, intensivsten oder einfach nur schönsten Ereignissen ihres Lebens. Sie verlassen die Praxis unter dem Eindruck, einer Erstbegegnung13 beigewohnt zu haben. Noch Jahre nach der Geburt tragen sie ein Ultraschallbild ihres – wie sie es nennen – ›Kindes‹ im Portemonnaie mit sich herum. Oder aber sie hängen es, feierlich gerahmt, in ihrem Schlafzimmer an die Wand. Sie werten es als Zeugnis des Gezeugten, als erstes Porträt vom Nachwuchs. Da verwundert es nicht, dass manch werdender Vater dazu neigt, im Ultraschallbild ein faziales Dokument seiner Potenz zu erkennen. Er folgt einer simplen Formel: Je fester sein Glaube an das Bild, desto schwächer die Zweifel an seiner Autorschaft. Denn was sich gesichtsmäßig zeigt, wird seine wahre Urheberschaft wohl kaum leugnen können. »Es sollen schon gestandene Kerle einen Kloß im Hals gehabt haben, als sie ihr Baby zum ersten Mal auf dem Bildschirm sahen«2, raunt es von einer Internet-Ratgeberseite für Schwangere. Auffallend wenige halten das alles für Quatsch. In westlichen Wohlstandsgesellschaften gehört zur radikalen Ausnahme, wer auf Vorsorgeuntersuchungen verzichtet und sich gegen medizinische Überwachungsmaßnahmen entscheidet. Umso drängender stellt sich die Frage nach der Angemessenheit: Kann die Uterusschau nicht auch einen anmaßenden Eingriff in das Hoheitsgebiet des Körpers bedeuten? Liegt in bildgebenden Verfahren nicht auch ein Moment der Entfremdung, eine Geste der Fremdkontrolle? Unbestritten: Wer sich als Schwangere heute medizinischen Systemen entzieht, gerät unter Verdacht, sein Kind bereits vorgeburtlich zu vernachlässigen. Wenn schon nicht vorgesorgt werde, wie könne dann Druckdaten Hornuff. Pränatalismus (F5700).indd 13 10.07.14 15:11 Abb. 1 1985. Hockt der Fötus im Gerät? Illustration eines Schwangerschaftsratgebers von Einführung jemals adäquat versorgt werden? Die Ultraschallfrage ist, selbst wenn sie nur unterschwellig ausgetragen wird, eine Frage der sozialen Distinktion. »Die Reduktion der Frauen auf ihre Verantwortung als Mutter fängt mit dem ersten Tag der Schwangerschaft an«, hält die Literaturwissenschaftlerin Barbara Vinken fest. Gebote des Verzichts würden zum bestimmenden Paradigma der kommenden neun Monate erhoben: »Kein Tropfen Alkohol, keine einzige Zigarette, eine rauchfreie Umgebung. Sonst drohen unabsehbaren Folgen für die Gesundheit des Kindes«.3 Schwangerschaft erscheint als moralisch getränkte Askeseleistung. Nachlässigkeiten und mangelnde Disziplin führen zur Schädigung des schwächsten aller Wesen – wer will das schon riskieren? Mit der Befruchtung übernimmt die Sorge um das Heranwachsende die Regie im Leben der Erwachsenen. Ungeachtet dessen scheinen erstaunlich viele Frauenärzte über eine Zusatzqualifikation in Bilddramaturgie zu verfügen. Sie wissen um den Effekt, der mit einem Blick in die Black Box Uterus zu erzeugen ist. Abzulesen ist dies etwa an der Ausstattung rein kommerziell agierender Ultraschallstudios. Bei ihnen handelt es sich um Einrichtungen, die ohne medizinischen Diagnoseauftrag ein »Babyfacing« ermöglichen. Wer sie betritt, fühlt sich an die Szenografie multimedialer Totaltheater erinnert. Und tatsächlich gelangt an diesen Schauplätzen des Pränatalen die visuelle (und akustische) Premiere des Ungeborenen als synästhetisches Gesamtkunstwerk zur Aufführung. »Gerade auch für Väter« sei der »Blick auf das Baby […] ein Ereignis«, heißt es auch dort wieder. Schließlich werde Männern mit dem Screening die Schwangerschaft »ein bisschen greifbarer und realer«. Überhaupt sei durch »Ultraschallbilder das Bonding zwischen Eltern und Kind« zu fördern.4 Es ist also nur konsequent, wenn Markus Heckemann, Firmenchef Druckdaten Hornuff. Pränatalismus (F5700).indd 14 10.07.14 15:11 von babyfacing.de, von einem »Ultraschall-Babyfernsehen« spricht: »Das Glücksgefühl […] ist bei allen gleich: Wenn sie ihr Kind auf dem Bildschirm sehen, fließen oft Freudentränen«.5 Angesichts solcher Emphasen muss erstaunen, warum sich bisher nur vereinzelt Geisteswissenschaftler – fast nur Medizinhistoriker6 – gefunden haben, denen es ein Anliegen war, die Bildpraxis der Vorsorgekultur genauer unter die Lupe zu nehmen. »Noch bevor« der Fötus »als Mensch das Licht der Welt« erblickt, treffen ihn die Wellen des Ultraschalls und werfen das Licht der Welt auf ihn, lautet eine der wenigen Beobachtungen. Sie stammt von Verena Krieger, die sich als bisher einzige Kunsthistorikerin mit Phänomenen der Pränatalvisualisierung eingehend auseinandergesetzt hat.7 Pointiert hat sie herausgearbeitet, wie in der klinischen Praxis die Sichtbarmachung des Ungeborenen an ein Unsichtbarwerden des schwangeren Körpers gebunden ist – mit durchaus defizitären Auswirkungen: »Feten überhaupt darzustellen bedeutet, eine neue Ästhetik der Schwangerschaft zu schaffen, eine Schwangerschaftsästhetik ohne schwangeren Bauch«.8 Ihre Diagnose ist insofern erhellend, als heute tatsächlich die Überzeugung vertreten wird, wonach der Geburt in das Leben eine Geburt in das Bild vorausgehe. »Der Mensch entsteht im Bild«, ist sich beispielsweise die Wissenschaftshistorikerin Barbara Orland sicher.9 Die Körperhistorikerin Barbara Duden führt diesen Punkt differenzierter und nicht ohne kriti14 schen Unterton aus: »Sie schaut in einen stockdunklen, technisch konstruierten ›Raum‹ hinein und ihr ›Gesicht‹ wird dazu veranlaßt, dort ihr kom-15 mendes Kind zu ›sehen‹«.10 Anschluss Über weite Strecken schließt sich das Buch Barbara Dudens Skepsis an. Denn sie vertritt einen Zweifel, der die Selbstgewissheit medizinischer Bil derwelten und ihren oft autoritären Einsatz in Frage stellt. Ihre Arbeiten zum Thema gehören nicht nur zu den seltenen geisteswissenschaftlichen Beiträgen zu pränatalen Bildformen. Sie liefern überdies Grundlagen zu einer Wahrnehmungsgeschichte des weiblichen Körpers. »So etwas wie der ›öffentliche Fötus‹, also jenes Gebilde, das jetzt durch die Medien spukt, ist bis vor zwei Jahrzehnten dem körperlichen Erlebnis der Frauen in anderen Umständen gänzlich fremd gewesen«, bemerkte Duden im Jahr 2001, um zugespitzt zu schließen: »Der Frauenleib wird zum öffentlichen Ort, der Embryo zur öffentlichen Sache und die Schwangere zum uterinen Feld für ein Leben«. Auch wenn man Duden nicht in allen kulturkritischen Untertönen folgen mag, so bietet ihr Denken über Ungeborenes, Schwangerschaft und Geburt bis heute wichtige, aus Perspektive mancher Frauenforschung vielleicht sogar verbindliche Konturen.11 Hinzu treten die Studien der Medizinhistorikerin Eva Labouvie12, die in ihrer empirischen Tiefe wertvollste, fesselnd erzählte Einblicke in die Erfahrungswelten von Schwangeren liefern. In ihre Untersuchungen bezieht Druckdaten Hornuff. Pränatalismus (F5700).indd 15 10.07.14 15:11 Einführung Labouvie den großen Personenkreis mit ein, der an einer Schwangerschaft teilnimmt, der sie begleitet, reguliert oder aber normiert: Familienangehörige, Hebammen, Ärzte, Juristen und Geistliche kommen bei ihr zu Wort. Aus deren Reden über Schwangergehen und Ungeborenes schöpft Labouvie umfassende Mentalitätsgeschichten der anderen Umstände, wobei sie sich vor allem auf vor- und frühmoderne Zeiten konzentriert. Was also wäre mit einem Konkurrenzbuch zu Dudens und Labouvies Studien gewonnen? Außer einer hochmütigen Geste – nichts! Zu offenkundig demonstrieren ihre Arbeiten, wie breit vor allem die historische Dimension der Schwangerschaftskultur aufgearbeitet und theoretisch durchdrungen wurde. Das vorliegende Buch verfolgt bescheidenere Ziele. Beispielsweise dieses: Es möchte an ein wissenschaftliches Ungleichgewicht erinnern. Denn trotz der geleisteten Arbeit hat sich eine Einseitigkeit in die bisherige Themenbehandlung eingeschlichen. So fällt auf, dass die Medizingeschichte dazu neigt, Status und Rolle des Ungeborenen auf ärztliche und klinische Kontexte zu beschränken. Eine Tendenz zur system immanenten Argumentation ist die Folge. Aus dem Fokus geraten (neben überlieferten Erfahrungsberichten schwangerer Frauen) die enormen Designanstrengungen, die das Schwangerschaftsthema ebenso prägen und es teilweise sogar dominieren. Feministische Positionen wiederum behalten zwar genau diesen Aspekt im Auge, empfinden ihn dort aber als schmerzenden Dorn. Denn gerade die Inszenierungen medizinischer Für- und Vorsorgeleistungen sind es, die als Bedrängnis und angewandter Systemzwang gedeutet werden. Häufig findet sich eine parteipolitische Eintrübung ihrer so wichtigen, weil sozial brisanten Diagnosen. Freilich bleibt davon unberührt, dass es zuvorderst feministische Impulse waren, die der scientific community überhaupt erst die Notwendigkeit einer Frauen- und Geschlechterforschung dargelegt haben. Einen Anstoß, die Kultur der Schwangerschaft einem Beleuchtungswechsel zu unterziehen, verdankt das Buch dem französischen Soziologen Luc Boltanski. Frei von Dogmatik war er daran gegangen, den technisch erzeugten Blick auf das Ungeborene besser zu verstehen. Boltanski fiel auf, dass Debatten um den Schwangerschaftsabbruch die gesellschaftlich unentschiedene Stellung des Fötus besonders klar vor Augen führen. So stellt er eine recht simple Frage – allerdings eine, die zum »Knotenpunkt des Widerspruchs« führt, in den die Rolle des Ungeborenen »eingeklemmt« scheint: Handelt es sich beim Ungeborenen, fragt Boltanski, um »ein Wesen durch das Fleisch«? Ist das Ungeborene demnach animiert allein durch sich selbst, durch seine bloße physische Existenz? Oder verhält es sich anders: Sind wir es, die dem Ungeborenen durch unser Reden ein Wesen verleihen? Machen erst wir es zu einem »Wesen durch das Wort«? Und welche Bewertungsfolgen ergeben sich aus dieser ungeklärten Zuschreibung? Immerhin »können die Föten vom Standpunkt des Zeugenden […] aus als ›austauschbar‹ (wenn sie abgelehnt werden) betrachtet werden, da sie andere machen können, oder im Gegenteil als absolut einzigartig behandelte Wesen, die mit einem unendlichen Wert ausgestattet werden, wenn sie sie Druckdaten Hornuff. Pränatalismus (F5700).indd 16 10.07.14 15:11 adoptiert haben«. Die Frage nach dem (Lebens)Wert des Ungeborenen ist wohl nur als »Frage der Ungleichheit der Behandlungen«, die ihm widerfahren, gesellschaftlich auszuhandeln.13 Gesichter In einer Passage seiner Soziologie der Abtreibung zitiert Boltanski einen Auszug aus einer Studie über Schwangerschaftsdiagnosen. Seine Fachkollegin Bénédicte Champenois-Rousseau hatte mehr als dreihundert Pränatalberatungen beobachtet und die Besprechungen einiger Routine- Ultraschallaufnahmen teilweise wörtlich dokumentiert. Einer ihrer Berichte erschien Boltanski als besonders beispielhaft. Indem er hier wiedergebeben wird, möge er illustrieren, was Barbara Duden mit dem Begriff des ›veranlassten Sehens‹ gemeint haben könnte: »Der Arzt (legt die Sonde auf den Bauch der Frau und blickt auf den Bildschirm vor ihm): ›Also, das Baby liegt quer, da ist der Kopf, der Rücken quer.‹ / Die Patientin: ›Ja, das sieht man gut!‹ (auf dem Bildschirm sieht man ein kleines Etwas, das sich bewegt, sich ausweitet und sich dann schnell wieder zusammenzieht.) […] Der Arzt: ›Das ist das Blut, das durch sein Herz fließt.‹ / Die Patientin (zu ihrem Mann, der neben ihr sitzt): ›Schau, da ist der Mund, siehst Du?‹ […] Der Arzt: ›Möchten 16 Sie das Geschlecht wissen?‹ / Die Patientin: ›Ja‹ / Der Arzt (bewegt die Sonde): ›Es ist ein Mädchen.‹ / Die Patientin: ›Ah!‹ / Der Arzt: ›Gut, das17 ist in Ordnung, bestens‹«.14 Nun mag man diese Szene für eine weitere Banalität aus der täglichen Praxis halten. Und doch veranschaulicht sie, in Ergänzung zum eingangs geschilderten Geschehen, Entscheidendes: Denn offenkundig ist es weniger das Bild allein als dessen Einbettung in eine Situation, die seine Wirkung bestimmt. Der Arzt, durch Wissens- und Deutungsvorsprung legitimiert, tritt als eine Art Kryptologe, als Enträtseler des Bildes auf. Er entschlüsselt das scheinbar Unentwirrbare, jenes ›kleine Etwas‹, indem er Schattenverläufe als die körperlichen Merkmale des Ungeborenen identifiziert. In der Folge scheint sich aus den abstrakten Einzelelementen – wohl »kaum mehr als ein harter zerfranster Schatten«15 – ein anschauliches Gesamtbild zu ergeben. An seiner Vollkommenheit bestehen keine Zweifel. Wie selbstverständlich bezeichnet der Arzt die Darstellung als ›Baby‹. Er bestimmt den aktuellen Zustand, indem er ihn in ein zukünftiges Entwicklungsstadium projiziert. Erst damit hat sich für die werdenden Eltern ihr ›Kind‹ gezeigt. In routinierter Beiläufigkeit wird die Diagnose durch den Hinweis beschlossen, wonach kein auffälliger Befund festzustellen sei. Der Arzt setzt eine rhetorische Signatur, mit der sich Normalzustände zertifizieren lassen. Solange Abweichungen ausbleiben, sind die inneren Wunschbilder der werdenden Eltern recht mühelos in Übereinstimmung mit dem äußeren Diagnosebild zu bringen. Es kommt zu einer Vermählung zwischen der geschürten guten Hoffnung (auf Gesundheit) und einer vermeintlich objektiven Einsicht (in die Gesundheit). Boltanski erkennt in der Szene sogar Druckdaten Hornuff. Pränatalismus (F5700).indd 17 10.07.14 15:11 einen Akt familienbildender Aneignung: »Das Fleisch gewordene Wesen wird als ›Ihr Baby‹ bezeichnet; […] deshalb ist dieser Augenblick heute eine wichtige Etappe bei der Adoptionsarbeit, die die Mutter für das in ihr wachsende Wesen leistet«.16 Es ist das Gefühl einer Einlösung des Erwarteten, mit dem erst Vertrauen in das Bild und dann Vertrautheit mit dem darin gezeigten Wesen hergestellt wird. Fortan herrscht eine Form der Gewissheit, für die es nicht mehr nur ›harte zerfranste Schatten‹ oder ein ›kleines Etwas‹ gibt. Von Stund an hat es das Paar mit einem Subjekt zu tun. Für dieses wird nun ein Name gesucht, es soll Schutz erfahren und in den Genuss weiterer Vorsorge kommen. Es hat die Mitgliedschaft im Leben erworben, ohne geboren worden zu sein. Epoche? Einführung Es überrascht also nicht, dass pränataldiagnostische Untersuchungen Brutstätten eines schier unerschütterlichen Bildglaubens sind. In ihnen verdichtet sich das Vertrauen auf die Unbestechlichkeit medizinischer Einsichten mit der Aussicht auf gewünschtes Leben. Das Versprechen, den ersten medial verwertbaren Signalen eines Menschen beiwohnen zu können, garantiert vorgeburtlichen Bilderwelten eine herausgehobene Stellung auf dem Feld bildgebender Technologien. Kartografien von Gehirnaktivitäten, Fotos, die im Weltraum geschossen wurden oder Darstellungen von Viren gehören aktuell zwar ebenfalls zu gängigen wissenschaftlichen Bildformeln. Und doch fehlt ihnen das sugges tive Moment, Wesenhaftes erstmalig erfassen und durch technologische Transformation visuell konservieren zu können. Das faziale Potenzial pränataler Bilderwelten öffnet einen ungleich breiteren Inszenierungsraum. Er lässt sich mit Figuren bespielen, denen neben einem eigenständigen Körper ebenso eine zu prägende Emotionalität und, glaubt man gewieften Ratgebern, sogar ein Wille zur Geistes- und Seelenbildung anzuhängen sind. Wer nach historischen und aktuellen Darstellungsformen sucht, die Ungeborenen Hauptrollen zuweisen, dem fällt auf, wie irreführend eine Einschränkung auf das Gebiet der Embryologie wäre. Denn seit der spätgriechischen Antike soll mit pränatalem Bildmaterial immer wieder eine Grundannahme veranschaulicht werden: dass das Ungeborene ein Selbst, ein Mensch von Anfang an, ein autonomiefähiges Wesen verkörpere. Ein Typenmerkmal von Ungeborenenbildern liegt daher in ihrer Rolle als Legitimationsverstärker. Sie sollen in Sichtbarkeit und Präsenz überführen, was sich über Unsichtbares und Verborgenes erdenken lässt. Damit aber kann es in diesem Buch nicht mehr nur um das Ungeborene allein gehen. Schließlich ist seine Bildwerdung immer auch in eine Lebenspraxis der Schwangerschaft eingebettet. Schon einem geringen Interesse an Gegenwartsfragen wird nicht entgehen, dass weite Teile unserer Gesellschaft soeben begriffen sind, ein ganzes Zeitalter des Pränatalismus auszugestalten. Nie zuvor interessierten sich Menschen brennender und Druckdaten Hornuff. Pränatalismus (F5700).indd 18 10.07.14 15:11 umfassender für das Thema Schwangerschaft. Und nie zuvor investierten sie mehr Energie in die Inszenierung der anderen Umstände. In einer Gesellschaft, in der die Schwangerschaft eine biografische Ausnahme darstellt, in der eine Frau im Durchschnitt gerade noch 1,4 Kinder gebärt, liegen die soziokulturellen Voraussetzungen zur Überhöhung des Pränatalen vor. Allerdings sei diese Behauptung sogleich relativiert – und daran erinnert, dass die Ausrufung neuer Ismen zu den beliebtesten (und entsprechend inflationär angewandten) Übungen von Intellektuellen gehört. Viele sind schnell und manchmal auch übereifrig zur Stelle, wenn es darum geht, einem Trend den Stempel der eigenen Deutung, das Sigel flotter Wortschöpfung aufzudrücken. Was also veranlasst, unsere Zeit nun plötzlich als eine des Pränatalismus zu bezeichnen? Man könnte darauf verweisen, dass das Zeitalter des Pränatalismus über einen Geburtstermin verfügt. Er fällt auf den 1. August 1991. An jenem Tag wurde die amerikanische Schauspielerin Demi Moore auf dem Zeitschriftencover der Vanity Fair als nacktschwangerer Tabubruch der Weltöffentlichkeit vorstellig. Seither vergeht keine Woche, in der nicht mindestens eine neu entdeckte Schwangerschaft aus dem Prominentensektor verkündet wird. Mittlerweile gibt es sogar Personen, die allein aufgrund ihrer Schwangerschaft die Aufmerksamkeit der Massenmedien auf sich ziehen. Ist die Karrierekurve erst einmal auf Höhe der Nulllinie eingerostet, verlegen sich viele auf eine Art Dauerschwangergehen. Als Permanent Celebrignancies 18 wollen sie letzte Kurzauffälligkeiten verbuchen.17 19 Wandel Die Überlebensfähigkeit der Promi-Schwangeren im Öffentlichkeitsgewerbe unterstreicht: Neben der Visualisierung des Ungeborenen hat sich die Gravidität im Gesamten zu einer eigenen Kulturpraxis ausgeweitet. Schwangerschaft ist als Mittel sowohl einer inneren, identitätsorientierten als auch einer äußeren, inszenatorischen Selbstgestaltung akzeptiert. Mit ihr lässt sich an das modernistische Ideal einer individuell perfektionierbaren, generell steigerbaren, Einzigartiges schaffenden Lebens- und Körperwelt anschließen. Der lange vorherrschende ästhetische Widerspruch zwischen einer Schwangerschaft und dem Celebrity Design18 wurde aufgelöst. Inzwischen droht Schwangeren permanente Betatsch-Gefahr, wie die Autorin Annabal Wahba ausführt. Was ehemals der ordinäre »Busengrapscher« war, ist heute die weit unverdächtiger wirkende »Geste des Handauflegens«, der »Bauchgrapscher«: »Meist sind es Kinderlose, und da vor allem Männer, die einem an den Bauch fassen. Die Männer fragen üblicherweise auch nicht, als gäbe es nichts Normaleres, als den Bauch einer Schwangeren zu berühren«. Für viele scheint es kein Halten mehr zu geben, sie »tragen ein Leuchten in den Augen, als sei so ein Schwangerenbauch etwas ganz gar Mystisches«.19 Wie tief dabei ein Mentalitätswandel eingegriffen und der Schwangerschaft einen vollgültigen Eigenwert beigemessen hat, belegt die über Jahr- Druckdaten Hornuff. Pränatalismus (F5700).indd 19 10.07.14 15:11 Einführung zehnte praktizierte Entgravidisierung der Medienkultur. Vor der Geburt des Pränatalismus aus der Kamera der Annie Leibovitz (Demi Moores damaliger Fotografin) war keine Frau – keine Schauspielerin, kein Model und schon gar keine Politikerin – öffentlich schwanger. Als zu unkalkulierbar erschien das Risiko, als Kugelwesen identifiziert und in das Tal der Bedeutungslosigkeit abgerollt zu werden. Und obwohl schwangere Politikerinnen inzwischen fester Bestandteil einer Ikonographie der Macht sind, werden gerade sie ungebrochen misstrauisch beäugt: »Es kann von Vorteil sein, als Politikerin die Schwangerschaft öffentlich zu machen«, gesteht Österreichs derzeitiger Gesundheitsminister Alois Stöger gönnerisch zu, »weil es ein Anlass für gesellschaftliche Debatten sein kann. Das ist legitim. Aber dann sollte es auch genug sein«.20 Der antifeministische Reflex empfiehlt nach wie vor, das Endstadium einer Schwangerschaft unter Ausschluss der Öffentlichkeit, bestenfalls im Refugium des Privaten auszutragen. Offenbar will Stöger Schlimmeres verhindern, will dafür Sorge tragen, dass sich Schwangerschaften nicht auch noch zur (ästhetischen, sozialen, politischen?) Belastung für die Allgemeinheit auswachsen. Schwangerschaft galt über Jahrhunderte als defizitäre Krankheitsform. Das zumeist entbehrungsvolle Austragen stand nach Meinung der Gelehrtenwelt einem biologischen Funktionalismus nahe. Auch hier hat die feministische Forschung vieles freigelegt – etwa Erkenntnisse darüber, welche Folgen es hatte, wenn bis zur Geburt nicht sicher war, was aus der Empfindung eines veränderten Zustands erwachsen würde. Frauen wähnten sich häufig ein bisschen schwanger. Sie spürten das ungewisse Neue, ahnten, dass sich ein Irgendetwas, ein unbestimmtes Es am Entwickeln war. Und doch mangelte es ihnen an Instrumenten, die Zeichen des Körpers auszulesen. Die unentrinnbare Nähe zwischen der Geburt eines neuen Lebens und dem eigenen Tod spielte ärztlichen Autoritäten in die Karten. Schwangerschaften waren trotz ihres alltäglichen Charakters zugleich auch Überlebensphasen, Zustände des Zitterns und Bangens und hatten mit der Inszenierung figuraler Sensationen wenig bis nichts gemein. Umso wichtiger aber ist es, das Schwangergehen und seinen Bedeutungswandel als ideengeschichtliche Hintergrundfolie in Anschlag zu bringen. Denn erst vor ihr erlangt das Ungeborene als Inszenierungsfigur Bedeutsamkeit. Die zunehmende fleischliche Präsenz äußerer Schwangerschaftssignale kontrastiert die haptische Absenz des Ungeborenen. Dieses wird zum Objekt von Bildern, weil sich der blinde Fleck seiner Unsichtbarkeit als Austragungsort von Ideen, Visionen und Imaginationen besonders eignet. Das Ungeborene markiert eine ikonische Nullstelle. Sie lässt sich als Stimulanz für eine, um mit dem Kunsthistoriker Ulrich Pfisterer zu sprechen, Zeugung der Idee21 vereinnahmen und als deren Aufführungsfläche einsetzen. Das Buch führt aus, wie Bilder von Ungeborenen der Figuralisierung von Weltsichten, Evolutionstheorien, moralischen Bekenntnissen und anatomischen Leistungen dienen sollten. Nahezu durchgängig wurde ihnen die Aufgabe zugewiesen, mit Mitteln gestalthafter Anmutung augenscheinlich Druckdaten Hornuff. Pränatalismus (F5700).indd 20 10.07.14 15:11 zu machen, was sich in Theorien ausbrüten, durch Empfindungen gebären oder mit Erzählungen überliefern ließ. Gedanklich Gewordenes, so eine immer wieder anzutreffende Hoffnung, soll im pränatal Werdenden zur bildlichen Veranschaulichung finden.22 Triumph Neben die öffentliche Bildfigur des Ungeborenen tritt seit Mitte der 1990er Jahre die nicht minder öffentliche Schwangere. So lässt sich inzwischen eine ganze Stilgeschichte der Pregnant Cover Girls erzählen oder aber ein »Baby-Boom im Bundestag«23 beobachten. Es war demnach nur eine Frage Zeit, bis ein Modedesigner (Michael Michalsky) ein hochschwangeres Model (Patricia Kaiser) auf der Berliner Fashion Week 2012 erstmals über einen Laufsteg schickte. In zuverlässiger Regelmäßigkeit findet sich ein Magazin, das die »schönste Schwangere der Welt«24 kürt und der Siegerin das Titelbild freiräumt. So wurde die Schwangerschaft seit Demi Moores Auftritt aus der Abschottung des Privat-Verschämten herausgeholt, all ihrer Unpässlichkeit entkleidet, der Ästhetisierung unserer Lebenswelt eingegliedert und damit zum Pop-Ereignis und medialen Karrieremotor stilisiert. Einen der augenfälligsten Belege liefert die neu interpretierte Aufgabe der Umstandsmode. Wo ehemals voluminöse Kleidergardinen die Wölbun20 gen wie hässliche Geschwülste kaschierten, ist inzwischen üblich, das pralle Endstadium nur mit Negationen zu bekleiden. Die so freigelegte Kugel wird21 der Neugier und vielleicht auch dem Neid der Anderen dargeboten; als handele es sich bei Schwangerschaften um körperliche Leistungsnachweise mit differierender Erfolgsquote. Wer nur einmal Fußgängerzonen und Einkaufszentren aufmerksam inspiziert hat, wird bemerkt haben, wie sehr die Inszenierungsmuster der Regenbogenpresse auf die Privatkultur durchschlagen. Manche Frauen wirken, als trügen sie ein mit Fötus und Stolz geschwelltes Bekenntnis spazieren. Es soll sogar vorkommen, dass Schwangere untereinander ihre Bäuche mit kontrollierenden Blicken abgleichen – was wohl weniger auf eine Übernahme plumper Männerriten denn auf eine Art innerpränatales Konkurrenzklima deutet. Gestalt und Volumen entscheiden dann über den Grad der Anerkennung, die einem von anderen entgegengebracht wird. »Jede werdende Mutter macht den Bauchvergleich«, ist sich ein Schwangerschaftsmagazin sicher – und zwar »beim Frauenarzt, bei der Hebamme, im Kurs zur Geburtsvorbereitung«.25 Der Babybauch hat sich, despektierlich gesprochen, zum Frontspoiler des Pränatalismus entwickelt. Soziale Spannungen zwischen diesen, im Konkurrenzmodus sich über den Weg laufenden »Parallelschwangeren« sind folglich nicht mehr ausgeschlossen: »Wenn sich zwei Schwangere begegnen, schauen beide Frauen in die entgegengesetzte Richtung!«, weiß die ELTERN-Autorin Franziska Groß in einer Glosse »nach Monaten intensiver Beobachtung« – einen »Subtext« hat sie sich für diesen Moment irritierter Identitätserfahrung Druckdaten Hornuff. Pränatalismus (F5700).indd 21 10.07.14 15:11 Einführung Abb. 2 Entpellte Ereignisse: Die Kugel als Trophäe erhöht die Schwangerschaft zum Triumph. bereits zurechtgelegt: »Ha! Ich lass mich von deinem Bauch nicht blenden! Ich hab ja selbst einen! Ich werde dir auch nicht die Aufmerksamkeit schenken, mit der dich gerade alle anderen zuschütten«.26 Das Interesse der Popliteratur an Phänomenen unseres Alltags packte diese neuen Umstände in ironische Wendungen: Die »Attitüde der Prenzlauer-Berg-Mütter« zeige, wie Schwangerschaft und Kinderkriegen zum »Lebensmittelpunkt« aufgestiegen seien, ja wie der »Glaube« gelebt werde, »mit Kinderyoga, Bio-Nahrung, Ökostramplern und garantiert weichmacherfreiem Holzspielzeug […] alles richtig zu machen«.27 Doch artikuliert Druckdaten Hornuff. Pränatalismus (F5700).indd 22 10.07.14 15:11 Abb. 3 Beim Bauchspoilervergleich entscheiden Form und Größe über Sieg und Niederlage. sich darin wirklich ungetrübte Selbstgewissheit? Oder nicht doch eher der Versuch, eine Situation des sozialen Drucks und der biografischen Unsicherheit durch Demonstration emsig-eifriger Fürsorgeanstrengungen zu meistern? 22 Die Umwertung der Schwangerschaft zu einem öffentlichen Ereignis zeichnet sich besonders grell durch die Masse entsprechender Unterhal-23 tungsangebote ab. In Ratgebern, Pop-Romanen, halbfiktionalen Tagebüchern, Werbe- und Spielfilmen übernehmen Schwangere, meist im innigen Dialog mit ihren Ungeborenen begriffen, zentrale Rollen. Die Frau wird zwei mit sich selbst, erscheint als eine Schizophrene mit besten Absichten. Zusätzlich reagieren viele eigens entwickelte Konsumprodukte – Dusch gels, Öls, Cremes, Tees – auf das Bedürfnis, dem Doppelsubjekt aus Frau und Fötus spezielle Fürsorge und außerordentliche Pflege zukommen zu lassen. Der Pränatalismus ist somit auch durch sein Einsickern in unterschiedlichste Lebensbereiche gekennzeichnet. Für- und Vorsorge wird zur überspannenden Leitinstanz einer Schwangerschaftsmentalität, die den körperlichen und psychischen Ausnahmezustand feiert und ihm gleichzeitig möglichst jede Ungewissheit nehmen will. »Die Verherrlichung von Schwangerschaft und Geburt«, kommentierte die Journalistin Sylvia Margret Steinitz, »lässt Frauen nur wenig Raum, darüber nachzudenken, ob sie das Schwangersein wirklich brauchen«. Das biografische Singularereignis Schwangerschaft wird zum Must-have eines gelingenden Frauenlebens. Nur noch hinter vorgehaltener Hand sei eine Schwangerschaft als Fehler einzustufen: »Ich kenne Mütter, die mir im Vertrauen steckten, sie hätten ›auf das alles‹ liebend gern verzichtet«.28 Hier schließt sich Kreis. Denn es ist die Frauenarztpraxis in Funktion einer Überwachungsbasis, die ultimativen Schutz in Form einer Risiko elimination im Angebot trägt. Was sich Diagnose nennt, soll »maximale Druckdaten Hornuff. Pränatalismus (F5700).indd 23 10.07.14 15:11 Sicherheit für Mutter und Kind«29 garantieren. Gynäkologiezentren koalieren auf raffinerte Weise eine wissenschaftliche Überwachungsbeteuerung mit einem gesamtästhetischen Inszenierungsaufwand. Alternativen Einführung Freilich können auch alternative Zugänge zum Thema gefunden werden. Denkbar ist etwa, weniger den Facetten des Ungeborenen als vielmehr seinen Umwandungen auf die Schliche zu kommen. Man hätte sich also auch allein auf den Uterus berufen und ihn als einen »›Raum‹, ein[en] ›Ort‹, ein ›Haus des Seins« vorstellen können. Und tatsächlich ging der Philosoph Peter Sloterdijk in seiner Deutung der Gebärmutterfunktion (und in Anlehnung an Martin Heidegger) sogar noch einen Schritt weiter in Richtung anthropologischer Gewissheit, als er formulierte: »Der erste Aufenthalt des Menschen ist der Uterus; hier wird er zum Menschen«. Zu ergänzen wäre, dass die Idee einer menschenbildenden Initialzündungskraft, die von den inwendigen Gliedern der Frau ausgehen soll, in massiver Weise durch die Bild- und Mediengeschichte des Ungeborenen flankiert wurde. Erst durch sie kam es tatsächlich zu so etwas wie einer »Uterodizee«, zu einer moralisch aufgeladenen »Verteidigung des weiblichen Unterleibs«.30 Das Ungeborene und seine Behausung erweisen sich damit nicht nur als physisch unsichtbar und entsprechend geheimnisvoll. Ebenso lassen sie sich zur Verhandlung ideologischer Grundsätze heranziehen. Offen bleibt dennoch, warum gerade Embryonen und Föten als besonders wirkmächtige Werbeträger weltanschaulicher Interessen fungieren sollen. Jedenfalls erscheint die heute geläufige Rede von einem ›Babybauch‹ nicht länger als hohle Redensart. Vielmehr wird einsichtig, dass sie den Hauptbegriff einer oftmals übersteigerten Fokussierung auf alles – irgendwie – Vorgeburtliche stellt. Somit wäre naheliegend gewesen, den Darstellungen der christlichen Ikonographie einen noch größeren Platz einzuräumen. Dass dies hier nicht geschehen ist, hat mit der herausragenden Publikation des Kunsthistorikers Gregor Martin Lechner zu tun. Seine 1981 erschienene Studie Maria gravida. Zum Schwangerschaftsmotiv in der bildenden Kunst31 liefert eine faszinierende, zudem beeindruckend umfassende und detailreich schildernde Typologie der schwangeren Maria in ihren bildlichen Repräsentationen. Lechners Ergebnisse werden im Verlauf des Buchs aufgegriffen, um die Frage zu diskutieren, inwiefern christliche Inszenierungsweisen in anderen, etwa populären Kontexten wiederauftauchen. Besondere Beachtung verdient dabei die Kategorie des sogenannten foe tus type, die äußerlich einsehbare Figur des Ungeborenen im Körper der Schwangeren. Ein Desiderat bleibt die jüngere künstlerische Verhandlung des Ungeborenen und der schwangeren Frau. Neueste Arbeiten32 beginnen jedoch, diese Lücke mit Blick auf die Klassische Moderne zu schließen. Und nicht zuletzt braucht es mehr als eine einzelne Untersuchung (vor allem aber die Gelassenheit einer historischen Distanz!), um die kürzlich Druckdaten Hornuff. Pränatalismus (F5700).indd 24 10.07.14 15:11 massiv entflammte Debatte um den Lebensbeginn des Menschen aus kulturwissenschaftlicher Sicht einordnen und in ihren zugrunde liegenden Motivationen gewichten zu können. Dies betrifft vor allem Diskussionen um das Embryonenschutzgesetz und um In-vitro-Fertilisationen, Bewertungen der Präimplantationsdiagnostik und allgemein humangenetischer Möglichkeiten, Kontroversen um den (Hollywood-)Trend zur Leihmutterschaft33 sowie die Auslegung des Abtreibungsparagraphen.34 Diese Auseinandersetzungen sind von einer oft emotionalisierten, zudem komplex verschachtelten Durchkreuzung medizinethischer, juristischer, politischer und theologischer Einwürfe gekennzeichnet. Sie zu entwirren kommt einer fachübergreifenden Herkulesaufgabe gleich – will man nicht, wie jüngst die Schriftstellerin Sybille Lewitscharoff, in platte Weltanschauungsbekenntnisse verfallen, als sie gestand, »im Übrigen auch froh« zu sein, »nicht der Onanie und darauf folgenden komplexen medizinischen Machinationen [ihre] Existenz zu verdanken, sondern auf herkömmlichen Vereinigungswegen gezeugt worden zu sein«.35 Das Buch konnte einige dieser Meinungsreflexe dort berücksichtigen, wo ihre visuellen Argumenta tionshilfen bedeutsam schienen.36 Die Bildfiguren des Ungeborenen sind von den Denkfiguren, die vom werdenden Leben entworfen werden, nicht zu entbinden. Wer sich auf die Suche nach Bildern begibt, die vorgeben, das Körperinnere der anderen Umstände aufzuweisen, sollte nicht den Fehler begehen, die Andersartig24 keit jener Umstände absolut zu setzen und aus allen Bezügen freizustellen. Von solchen Beziehungen und ihren ästhetischen Umsetzungen handelt25 dieses Buch. Das nun folgende, ein wenig theoretischer angelegte Kapitel ist der Methode gewidmeten. Es behandelt die Frage nach dem angemessenen Umgang mit Bildern, die, wie etwa in der Geschichte der Embryologie, Gebrauchsfunktionen übernehmen sollen. Druckdaten Hornuff. Pränatalismus (F5700).indd 25 10.07.14 15:11 Druckdaten Hornuff. Pränatalismus (F5700).indd 26 10.07.14 15:11 KAPITEL 1 SICHTBARMACHUNG Wie erzählen Bildgeschichten? 26 Eine Figur hockt im Zentrum dieses Buchs: Nennen wir sie schlicht und aus Mangel an neutralen Bezeichnungen – das Ungeborene. Sein auf fälligstes Merkmal ist seine Unsichtbarkeit. Denn kaum jemandem bietet sich in sei nem Leben auch nur einmal Gelegenheit, ein Ungebore nes leibhaftig zu sehen oder gar zu berühren. Dennoch geben viele ihrem Ungebore nen einen Namen, spielen ihm Stücke von Mozart oder Bach vor und sprechen mit ihm, als handele es sich um ein Mitglied der Familie. Offenbar erkennen wir im Ungeborenen mehr als nur ein Stück Fleisch. Es ist uns Druckdaten Hornuff. Pränatalismus (F5700).indd 27 als Mensch vertraut, weil wir 27 seinen Bildern den Status von Porträts zuweisen. Tatsäch lich scheinen vor allem Ultra schallaufnahmen jemanden abzubilden, der nicht nur in einem anderen Menschen, sondern bereits – irgendwie – unter uns lebt. Geschaffen wurde diese Figur in den Ni schen der Medizin und Ana tomie. Unter Gelehrten kur sierten über Jahrhunderte hinweg Bilder von Ungebo renen. Nicht selten erwiesen sie sich als derart raffiniert inszeniert, dass sie ganze Evolutionstheorien zu bele gen schienen. Doch bei aller Euphorie möchte das erste Kapitel 10.07.14 15:11 Sichtbarmachung Misstrauen schüren. Folgen über die Macht und Ohn wir nicht blindlings unserem macht von Bildern gelesen Blick, und glauben wir nicht werden. Gerade weil das Un vorbehaltlos, was sich auf geborene ein Unsichtbares Bildern zeigt! Wer Bildern ist, eignet es sich in beson sein ganzes Vertrauen derer Weise zur Inszenie schenkt, übersieht, aus rung. Will man seine Karriere welchen Kulturen sie hervor als Geschichte seiner Bilder gehen und von welchen Ge erzählen, muss ebenso von sellschaften, Situationen, den Umständen berichtet Handlungen und Interessen werden, durch die diese Bil sie eingefasst sind. Rasch der an Größe und Prominenz vergisst man, dass sich das gewinnen und durch die sie Werden des Menschen immer wieder zerfallen und in Ver in Gemeinschaften vollzieht, gessenheit geraten können. die dem Ungeborenen ein Was als Unsichtbares sicht bestimmtes Image zuweisen bar gemacht wird, hat seine und es in ihre Vorstellung von Quelle weniger im Uterus Schwangerschaft, Frucht als in den Gedanken, Ideen barkeit, Zukunft, Attrak und Weltsichten derer, die tivität und Lebensqualität Ungeborene zur Aufführung einbetten. bringen wollen. Kein Essen So kann das Thema dieses tialismus, Kontextsensibi Buchs auch als ein Lehrstück lität ist gefragt! Druckdaten Hornuff. Pränatalismus (F5700).indd 28 10.07.14 15:11 Statuengleich »Damien Hirst ist als Künstler nicht mehr ernst zu nehmen«. Mit diesem Urteil schloss der Kunstkritiker Alexander Menden im Jahr 2012 seine Besprechung der jüngsten Hirst-Arbeit. Mit dem Aufstellen einer Bronzestatue von rund zwanzig Metern Höhe an der Hafeneinfahrt des britischen Küstenstädtchens Ilfracombe habe Hirst »endgültig den Schritt zum Staatskünstler« vollzogen. Das Monstrum erinnere doch zu aufdringlich »an stalinistische Siegesstatuen«.1 Tatsächlich wird ihr kolossales Erscheinungsbild durch einen Sockel aus gestapelter Rechtsliteratur visuell und sinnfällig gesteigert (»Verity stands on a base of scattered legal books.«2). Jeanne d’Arc-gleich, mit emporgestrecktem Arm stößt sie ein Schwert in die Höhe, in der linken, leicht hinter den Rücken versteckten Hand hält sie eine Waage. Die rechte Körperhälfte 28 ist größtenteils ihrer Hautschicht entpellt. Muskel- und Gewebestränge zeichnen sich ab, das Gesicht nimmt nicht nur in den freigelegten Zahn-29 reihen Ähnlichkeit zu einem fratzenhaften Totenschädel auf. Der gewölbte Bauch ist nochmals tiefer, breit-klaffend geöffnet, so dass die Figur des Ungeborenen in Schädellage deutlich erkennbar wird. Offenkundig sollte sich Grundlegendes in dieser Statue verbinden – Hirst betitelte sie mit Verity, was zwar umfassend und elementar wirken mag, jedoch ungeklärt lässt, worauf sich ›Wahrheit‹ konkret beziehen soll. Entsprechend beliebig fallen denn auch die Assoziationsmöglichkeiten zu dieser Arbeit aus: Erinnerungen an die bildgewaltige Ästhetik des Memento mori werden wach; ebenso ließe sich aber auch ein Bezug zur Künstleranatomie der Renaissance und ihren Illustrationen von enthäutet-geöffneten, selbstdemonstrierenden Körpern3 herstellen. Gleichsam scheinen Verfall und Beginn, schleichender Tod und aufkeimendes Leben in grotesk übersteigerten Dimensionen zusammengefügt. Die Attribuierung weist die Figur zudem als gravide Variante der personalisierten Gerechtigkeit, als Spielform der Justitia aus. Hirst stellt sie gar als »Sinnbild für Wahrheit und Gerechtigkeit« vor (»Verity is an allegory for truth and justice«4). Auch ihre forsche Schrittstellung in Kombination mit dem stolzen Blick, hinausgerichtet auf den Horizont des Meeres, vermittelt den Eindruck unerschütterlicher Stärke. Diese mehrfache Codierung gliedert sich reibungslos in unsere heutige, westliche Pränatalkultur ein. Auch in ihr dienen Schwangere und Bilder ihrer Ungeborenen als Projektionsflächen, auf die sich Wünsche nach Festschreibung, Gewissheit und Autorität richten lassen. Zu beobachten Druckdaten Hornuff. Pränatalismus (F5700).indd 29 10.07.14 15:11 Sichtbarmachung Abb. 4 Detail der Statue Verity von Damien Hirst, 2012. ist, wie sich in Debatten um juristische, ästhetische, ethische und historische Aspekte der Schwangerschaft das Bedürfnis nach Faktizität besonders lautstark artikuliert; vielleicht, weil sich selbst in modernsten Gesellschaften, die den technologischen Fortschritt zu ihrem Wesenskern zählen, Schwangerschaften noch immer gänzlicher Berechenbarkeit entziehen. Zwar mag eine Schwangerschaft inzwischen zweifelsfrei zu diagnostizieren sein; doch ist sie damit noch lange nicht semantisch determiniert. Anders ausgedrückt: Selbst was objektiv festzustellen ist, bleibt subjektiver Auslegung unterworfen. Druckdaten Hornuff. Pränatalismus (F5700).indd 30 10.07.14 15:11