Leseprobe - Wilhelm Fink Verlag

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Leseprobe - Wilhelm Fink Verlag
DANIEL HORNUFF SCHWANGERSCHAFT
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DANIEL HORNUFF
SCHWANGERSCHAFT
Eine Kulturgeschichte
Wilhelm Fink
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Umschlagabbildung:
Fetal ultrasound
© Howard Sochurek/CORBIS
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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
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© 2014 Wilhelm Fink, Paderborn
Wilhelm Fink GmbH & Co. Verlags-KG,
Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn
Internet: www.fink.de
Satz: Martin Mellen, Bielefeld
Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München
Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co KG, Paderborn
ISBN 978-3-7705-5700-4
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Für Melia und Levi
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»Aus dem prinzipiell
unsichtbaren Ungeborenen ist
– auch für die Frau –
ein Fötus geworden.«

(Barbara Duden, 2002)
»Das Accessoire der Saison
ist eine runde Kugel
auf Taillenhöhe.«
(Eltern. Special Schwangerschaft,
Ausgabe 2010/11)
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Inhaltsverzeichnis
Vorwort .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
EINFÜHRUNG .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11
Kontaktaufnahme | Anschluss | Gesichter | Epoche? |
Wandel | Triumph | Alternativen
KAPITEL 1
SICHTBARMACHUNG
Wie erzählen Bildgeschichten? .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27
Statuengleich | Humus | Ernüchterung | Umweg
KAPITEL 2
IDEALGESCHÖNT
Totgeburten auf extraterrestrischer Mission .. . . . . . . . . . . . 37
Brief | Projekt | Fundus | Stilistik | Physiognomik |
Erleichtert | Bio-Plastik | Ebenmaß | Entgrenzung: Lennart
Nilsson | Begegnung? | Zweifachschutz | Lebensbeginn
KAPITEL 3
SCHRÖPFGEFÄSS
Antike Herrengymnastik, barockes Kinderturnen .. . . . 61
Embryonalgeschütze | Seelenerbe | Vergleichen | Eingriff |
Turnübungen | Urzeugung | Werbepause | Geburtshelfer |
Uterusballon | Gewissenssache | Gefäße
KAPITEL 4
POTENZEN
Vom Knaben im Uterus der Kuh .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85
Exportschlager | Massenrecycling? | Leonardo-Fans |
­Abhängigkeit | Bonding | Geheimniskrämerei | Allverbundenheit | Wickelkinder | Entblättern | Botanisierung –
­Theatralisierung | Joker
KAPITEL 5
EINSCHACHTELUNG
Im Nichts ein Ganzes entdecken .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109
Landschaftspflege | Vorbildung? | Sehenmüssen |
Homunculus | Skepsis | An-/abwesend? | Marsmännchen |
Verschwörung | Nabelschnurlasso | Harnschau
KAPITEL 6
PORTRÄTKULTUR
»Wow, das ist mein Kind!« .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. 129
Geschlechtsbestimmung | Wiedererkennung? | Fotografie |
Ahnengalerie | Ultraschallfahndung | Finestra aperta |
Vaterfreude | Der Andere | Dramaturgie | Fetus-to-Go |
Wettbewerb | Unschuldiges Auge?
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KAPITEL 7
PS-FÖTEN
Auf der Überholspur ins Leben .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. 153
Nippesföten | Lebensschutz | Embryonenkontroverse |
­Attribuierung | Testimonial | Autonomiedrang |
­Alfa­betisierung | Mutter-Van | Reizflächen | Reinheits­
versprechen | Postnatalisierung
KAPITEL 8
EINWÄNDE
Von der Transzendenzdrohne zu einem Stück Fleisch . 179
Bauchfenster | Maria gravida | Einflug | Pränatalkon­
versation | Schutzmantel | Feminismus | Entfremdungs­
diagnose | Mutterlos | Kulturkritik | Reproduktion |
­Parasitäres | Doppel-Ich | Gebärmaschine | Eigenwerte
KAPITEL 9
KUGELWESEN
Zur ästhetischen Karriere der Schwangerschaft .. . . . . . . . 205
Mama-Glück | Peinlichkeiten | Schwangerschaftspflege |
Gammel-Stil | Fräuleinwunder | Bauchkopisten | Anti-­
Erotik | Boulevardisierung | Bauchpolitik | Zupfmassage |
Stretching | Idealisierung | Uterusersatz? | Ausgekugelt
KAPITEL 10 PRÄNATALISMUS (2.0)
Bauchgezwitscher. The Pregnant Sublime .. . . . . . . . . . . . . . 239
Twitter-Beweis | Schattenriss | Stresstest | Zügellosigkeiten |
Versehen | Ersatz! | Der Glötus | Konstruktionen | Konkurrenzlos | Bauchgeschichte
Nachwort .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. 257
Anmerkungen .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259
Quellenverzeichnis .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286
Abbildungsverzeichnis .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. 299
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Vorwort
Nein, an Kulturgeschichten herrscht kein Mangel.
Es gibt eine Kulturgeschichte des Zuckers und zwei des Salzes. Es wurde
eine Kulturgeschichte des Tennis, eine des Basketballs, eine weitere des
Schachs und sogar eine des gesamten Sports verfasst. Die Kulturgeschichte
des 20. Jahrhunderts erschien in zehn Bänden, die der Menschheit in zwanzig. Jene der Welt wiederum passte zwischen zwei Buchdeckel.
Das Geld war ebenso wie die Haut, die Sonnenbrille, die Klaviermusik,
der Christbaumständer, die Antike, die Gegenwart, die Lüge, der Wahnsinn,
das Herz, der Kuss, der Mord, die Tankstelle und die deutschen Briefkästen
auf je eine Kleine Kulturgeschichte zu begrenzen.
Methodisches findet sich neben der Allgemeinen Kulturgeschichte in den
Grundfragen der sowie auf den Wegen zur Kulturgeschichte. Und schließ8
lich in der Kulturgeschichte der »Kulturgeschichten«. Wäre also nur noch mit
dem Historiker Peter Burke zu fragen: Was ist Kulturgeschichte?
9
Eine verbindliche Antwort fand sich bis heute nicht. Niemand kann sagen, welche Kriterien ein Buch erfüllen muss, um als Kulturgeschichte firmieren zu können. So ist alles und nichts zur Kulturgeschichte zu erklären.
Inzwischen dürfte der Trend zur Kulturgeschichte an einer eigenen Geschichte innerhalb unserer Buchkultur schreiben.
Das Label Kulturgeschichte suggeriert Lesern, sie bekämen ein kulturelles Phänomen in seiner historischen Breite dargeboten. Doch genau das
leistet dieses Buch nicht. Denn es erzählt weder geordnet in der Chronologie der Geschichte noch analog zum Lauf der Epochen. (Abgesehen davon
bleibt auch bei Büchern zur Kulturgeschichte oft unklar, was unter Kultur
und ihrer Geschichte genau verstanden wird.)
Im Zentrum des Buchs steht die Inszenierung der Schwangerschaft.
Das heißt, es geht nicht um die Schwangerschaft an sich und demnach
auch nicht um körperliche, emotionale oder biografische Individualerlebnisse. Indem Inszenierung als ein Zur-Aufführung-Bringen von etwas verstanden wird, handelt das Buch von den medialen Repräsentationen der
Schwangerschaft.
Ein deutlicher Schwerpunkt fällt auf die Darstellung des Ungeborenen;
ein weiterer (allerdings knapper ausgeführter) auf den Auftritt schwangerer Frauen. Das Material stellen, neben einigen Bildern, vor allem soziale
Praktiken und Theorien des Vorgeburtlichen aus unterschiedlichen Zeiten
und Bereichen: aus anatomischen Gelehrtentraktaten ebenso wie aus der
BILD-Zeitung, aus Ideen der spätgriechischen Antike wie aus Ideologien
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unserer Gegenwart. Nicht alles ist dabei neu. Vieles lag bereits vor und
wurde nur anders als bisher arrangiert.
Folglich bezieht sich der kulturgeschichtliche Anteil des Buchs weniger
auf seinen Inhalt als auf die Form, in der er entfaltet wird. Einzelne Phänomene – ob historischen oder aktuellen, wissenschaftlichen oder populären
Ursprungs – werden zueinander in Beziehung gesetzt und vergleichend
betrachtet.
Gleichzeitig sollen die Facetten des Themas ihren Kontexten treu bleiben.
Sie werden demnach nicht nur miteinander, sondern auch im Verhältnis
zu ihrer Entstehung und Aneignung beleuchtet. Dies betrifft vor allem die
Bilder, die in das Buch Eingang fanden. Da ein Bild, für sich genommen,
weitgehend aussagelos bleibt, geben vor allem die Bezüge, in die es eingespannt wird, Hinweise auf seine Bedeutung.
Zwei Gestaltelemente mögen helfen, allzu Weitschweifendes wieder einzufangen: So führen zur Orientierung kurze Zusammenfassungen in die
Kapitel ein. Zum anderen gliedern Stichwörter die ausführlich geratenen
Kapitel in kleinere Sinnabschnitte.
Dass man auch beim Schwangergehen mit einem Thema zu mancher
Übertreibung neigt, bleibt mir als Mahnung hängen. Ins Positive gewendet: Sollte das Buch neben ein paar Einsichten auch vergnügliche Momente
bereiten, hätte sich seine Entbindung gelohnt.
Vorwort
Daniel Hornuff
München und Karlsruhe, im April 2014
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EINFÜHRUNG
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Einführung
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Kontaktaufnahme
Als die Schwangere begann, den Bildschirm des Ultraschallgeräts zu streicheln, war die Idee zu diesem Buch geboren. Zu beobachten war eine ähnliche Bewegung, mit der die Frau zuvor ihren Bauch berührt hatte. Doch bei
diesem Vorsorgetermin betastete sie nicht mehr den eigenen Körper. Für
Augenblicke galt ihre Zuneigung einer technischen Apparatur.
Gewiss, sie streichelte flüchtig und intuitiv – aber gerade deshalb in nicht
unauffälliger Weise. Offenbar hatte sich ihr im Monitor ein Wesen gezeigt,
das es nun zu begreifen galt. Aus dem Innendrin wurde ein Gegenüber,
aus der guten Hoffnung eine Person – als sei mit diesem einen Bild zum
­Gesicht geworden, was bisher ein anderer Umstand, ein Gefühl, eine Ahnung gewesen sein mochte.1
Viele Paare zählen Termine bei der Pränataldiagnostik zu den emoti12
onalsten, intensivsten oder einfach nur schönsten Ereignissen ihres Lebens. Sie verlassen die Praxis unter dem Eindruck, einer Erstbegegnung13
beigewohnt zu haben. Noch Jahre nach der Geburt tragen sie ein Ultraschallbild ihres – wie sie es nennen – ›Kindes‹ im Portemonnaie mit sich
herum. Oder aber sie hängen es, feierlich gerahmt, in ihrem Schlafzimmer an die Wand. Sie werten es als Zeugnis des Gezeugten, als erstes Porträt vom Nachwuchs.
Da verwundert es nicht, dass manch werdender Vater dazu neigt, im
Ultraschallbild ein faziales Dokument seiner Potenz zu erkennen. Er folgt
einer simplen Formel: Je fester sein Glaube an das Bild, desto schwächer
die Zweifel an seiner Autorschaft. Denn was sich gesichtsmäßig zeigt, wird
seine wahre Urheberschaft wohl kaum leugnen können. »Es sollen schon
gestandene Kerle einen Kloß im Hals gehabt haben, als sie ihr Baby zum
ersten Mal auf dem Bildschirm sahen«2, raunt es von einer Internet-Ratgeberseite für Schwangere.
Auffallend wenige halten das alles für Quatsch. In westlichen Wohlstandsgesellschaften gehört zur radikalen Ausnahme, wer auf Vorsorgeuntersuchungen verzichtet und sich gegen medizinische Überwachungsmaßnahmen entscheidet. Umso drängender stellt sich die Frage nach der
Angemessenheit: Kann die Uterusschau nicht auch einen anmaßenden Eingriff in das Hoheitsgebiet des Körpers bedeuten? Liegt in bildgebenden Verfahren nicht auch ein Moment der Entfremdung, eine Geste der Fremdkontrolle? Unbestritten: Wer sich als Schwangere heute medizinischen
Systemen entzieht, gerät unter Verdacht, sein Kind bereits vorgeburtlich
zu vernachlässigen. Wenn schon nicht vorgesorgt werde, wie könne dann
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Abb. 1 1985.
Hockt der Fötus im Gerät? Illustration eines Schwangerschaftsratgebers von
Einführung
jemals adäquat versorgt werden? Die Ultraschallfrage ist, selbst wenn sie
nur unterschwellig ausgetragen wird, eine Frage der sozialen Distinktion.
»Die Reduktion der Frauen auf ihre Verantwortung als Mutter fängt mit
dem ersten Tag der Schwangerschaft an«, hält die Literaturwissenschaftlerin Barbara Vinken fest. Gebote des Verzichts würden zum bestimmenden
Paradigma der kommenden neun Monate erhoben: »Kein Tropfen Alkohol,
keine einzige Zigarette, eine rauchfreie Umgebung. Sonst drohen unabsehbaren Folgen für die Gesundheit des Kindes«.3 Schwangerschaft erscheint
als moralisch getränkte Askeseleistung. Nachlässigkeiten und mangelnde
Disziplin führen zur Schädigung des schwächsten aller Wesen – wer will
das schon riskieren? Mit der Befruchtung übernimmt die Sorge um das
Heranwachsende die Regie im Leben der Erwachsenen.
Ungeachtet dessen scheinen erstaunlich viele Frauenärzte über eine Zusatzqualifikation in Bilddramaturgie zu verfügen. Sie wissen um den Effekt,
der mit einem Blick in die Black Box Uterus zu erzeugen ist. Abzulesen ist
dies etwa an der Ausstattung rein kommerziell agierender Ultraschallstudios. Bei ihnen handelt es sich um Einrichtungen, die ohne medizinischen
Diagnoseauftrag ein »Babyfacing« ermöglichen. Wer sie betritt, fühlt sich
an die Szenografie multimedialer Totaltheater erinnert. Und tatsächlich
gelangt an diesen Schauplätzen des Pränatalen die visuelle (und akustische) Premiere des Ungeborenen als synästhetisches Gesamtkunstwerk zur
Aufführung.
»Gerade auch für Väter« sei der »Blick auf das Baby […] ein Ereignis«,
heißt es auch dort wieder. Schließlich werde Männern mit dem Screening
die Schwangerschaft »ein bisschen greifbarer und realer«. Überhaupt sei
durch »Ultraschallbilder das Bonding zwischen Eltern und Kind« zu fördern.4 Es ist also nur konsequent, wenn Markus Heckemann, Firmenchef
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von babyfacing.de, von einem »Ultraschall-Babyfernsehen« spricht: »Das
Glücksgefühl […] ist bei allen gleich: Wenn sie ihr Kind auf dem Bildschirm sehen, fließen oft Freudentränen«.5
Angesichts solcher Emphasen muss erstaunen, warum sich bisher nur
vereinzelt Geisteswissenschaftler – fast nur Medizinhistoriker6 – gefunden haben, denen es ein Anliegen war, die Bildpraxis der Vorsorgekultur
genauer unter die Lupe zu nehmen. »Noch bevor« der Fötus »als Mensch
das Licht der Welt« erblickt, treffen ihn die Wellen des Ultraschalls und
werfen das Licht der Welt auf ihn, lautet eine der wenigen Beobachtungen. Sie stammt von Verena Krieger, die sich als bisher einzige Kunsthistorikerin mit Phänomenen der Pränatalvisualisierung eingehend auseinandergesetzt hat.7 Pointiert hat sie herausgearbeitet, wie in der klinischen
Praxis die Sichtbarmachung des Ungeborenen an ein Unsichtbarwerden
des schwangeren Körpers gebunden ist – mit durchaus defizitären Auswirkungen: »Feten überhaupt darzustellen bedeutet, eine neue Ästhetik der
Schwangerschaft zu schaffen, eine Schwangerschaftsästhetik ohne schwangeren Bauch«.8
Ihre Diagnose ist insofern erhellend, als heute tatsächlich die Überzeugung vertreten wird, wonach der Geburt in das Leben eine Geburt in das
Bild vorausgehe. »Der Mensch entsteht im Bild«, ist sich beispielsweise die
Wissenschaftshistorikerin Barbara Orland sicher.9 Die Körperhistorikerin
Barbara Duden führt diesen Punkt differenzierter und nicht ohne kriti14
schen Unterton aus: »Sie schaut in einen stockdunklen, technisch konstruierten ›Raum‹ hinein und ihr ›Gesicht‹ wird dazu veranlaßt, dort ihr kom-15
mendes Kind zu ›sehen‹«.10
Anschluss
Über weite Strecken schließt sich das Buch Barbara Dudens Skepsis an.
Denn sie vertritt einen Zweifel, der die Selbstgewissheit medizinischer Bil­
der­welten und ihren oft autoritären Einsatz in Frage stellt. Ihre Arbeiten
zum Thema gehören nicht nur zu den seltenen geisteswissenschaftlichen
Beiträgen zu pränatalen Bildformen. Sie liefern überdies Grundlagen zu
einer Wahrnehmungsgeschichte des weiblichen Körpers.
»So etwas wie der ›öffentliche Fötus‹, also jenes Gebilde, das jetzt durch
die Medien spukt, ist bis vor zwei Jahrzehnten dem körperlichen Erlebnis
der Frauen in anderen Umständen gänzlich fremd gewesen«, bemerkte Duden im Jahr 2001, um zugespitzt zu schließen: »Der Frauenleib wird zum
öffentlichen Ort, der Embryo zur öffentlichen Sache und die Schwangere
zum uterinen Feld für ein Leben«. Auch wenn man Duden nicht in allen
kulturkritischen Untertönen folgen mag, so bietet ihr Denken über Ungeborenes, Schwangerschaft und Geburt bis heute wichtige, aus Perspektive
mancher Frauenforschung vielleicht sogar verbindliche Konturen.11
Hinzu treten die Studien der Medizinhistorikerin Eva Labouvie12, die in
ihrer empirischen Tiefe wertvollste, fesselnd erzählte Einblicke in die Erfahrungswelten von Schwangeren liefern. In ihre Untersuchungen bezieht
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Einführung
Labouvie den großen Personenkreis mit ein, der an einer Schwangerschaft
teilnimmt, der sie begleitet, reguliert oder aber normiert: Familienangehörige, Hebammen, Ärzte, Juristen und Geistliche kommen bei ihr zu Wort.
Aus deren Reden über Schwangergehen und Ungeborenes schöpft Labouvie
umfassende Mentalitätsgeschichten der anderen Umstände, wobei sie sich
vor allem auf vor- und frühmoderne Zeiten konzentriert. Was also wäre
mit einem Konkurrenzbuch zu Dudens und Labouvies Studien gewonnen?
Außer einer hochmütigen Geste – nichts! Zu offenkundig demonstrieren
ihre Arbeiten, wie breit vor allem die historische Dimension der Schwangerschaftskultur aufgearbeitet und theoretisch durchdrungen wurde. Das
vorliegende Buch verfolgt bescheidenere Ziele.
Beispielsweise dieses: Es möchte an ein wissenschaftliches Ungleichgewicht erinnern. Denn trotz der geleisteten Arbeit hat sich eine Einseitigkeit in die bisherige Themenbehandlung eingeschlichen. So fällt auf, dass
die Medizingeschichte dazu neigt, Status und Rolle des Ungeborenen auf
ärztliche und klinische Kontexte zu beschränken. Eine Tendenz zur system­
immanenten Argumentation ist die Folge. Aus dem Fokus geraten (neben
überlieferten Erfahrungsberichten schwangerer Frauen) die enormen Designanstrengungen, die das Schwangerschaftsthema ebenso prägen und es
teilweise sogar dominieren.
Feministische Positionen wiederum behalten zwar genau diesen Aspekt
im Auge, empfinden ihn dort aber als schmerzenden Dorn. Denn gerade
die Inszenierungen medizinischer Für- und Vorsorgeleistungen sind es, die
als Bedrängnis und angewandter Systemzwang gedeutet werden. Häufig
findet sich eine parteipolitische Eintrübung ihrer so wichtigen, weil sozial brisanten Diagnosen. Freilich bleibt davon unberührt, dass es zuvorderst feministische Impulse waren, die der scientific community überhaupt
erst die Notwendigkeit einer Frauen- und Geschlechterforschung dargelegt haben.
Einen Anstoß, die Kultur der Schwangerschaft einem Beleuchtungswechsel zu unterziehen, verdankt das Buch dem französischen Soziologen
Luc Boltanski. Frei von Dogmatik war er daran gegangen, den technisch
erzeugten Blick auf das Ungeborene besser zu verstehen. Boltanski fiel auf,
dass Debatten um den Schwangerschaftsabbruch die gesellschaftlich unentschiedene Stellung des Fötus besonders klar vor Augen führen. So stellt er
eine recht simple Frage – allerdings eine, die zum »Knotenpunkt des Widerspruchs« führt, in den die Rolle des Ungeborenen »eingeklemmt« scheint:
Handelt es sich beim Ungeborenen, fragt Boltanski, um »ein Wesen
durch das Fleisch«? Ist das Ungeborene demnach animiert allein durch
sich selbst, durch seine bloße physische Existenz? Oder verhält es sich anders: Sind wir es, die dem Ungeborenen durch unser Reden ein Wesen verleihen? Machen erst wir es zu einem »Wesen durch das Wort«? Und welche Bewertungsfolgen ergeben sich aus dieser ungeklärten Zuschreibung?
Immerhin »können die Föten vom Standpunkt des Zeugenden […] aus als
›austauschbar‹ (wenn sie abgelehnt werden) betrachtet werden, da sie andere machen können, oder im Gegenteil als absolut einzigartig behandelte
Wesen, die mit einem unendlichen Wert ausgestattet werden, wenn sie sie
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adoptiert haben«. Die Frage nach dem (Lebens)Wert des Ungeborenen ist
wohl nur als »Frage der Ungleichheit der Behandlungen«, die ihm widerfahren, gesellschaftlich auszuhandeln.13
Gesichter
In einer Passage seiner Soziologie der Abtreibung zitiert Boltanski einen
Auszug aus einer Studie über Schwangerschaftsdiagnosen. Seine Fachkollegin Bénédicte Champenois-Rousseau hatte mehr als dreihundert
Pränatalberatungen beobachtet und die Besprechungen einiger Routine-­
Ultraschallaufnahmen teilweise wörtlich dokumentiert. Einer ihrer Berichte erschien Boltanski als besonders beispielhaft. Indem er hier wiedergebeben wird, möge er illustrieren, was Barbara Duden mit dem Begriff des
›veranlassten Sehens‹ gemeint haben könnte:
»Der Arzt (legt die Sonde auf den Bauch der Frau und blickt auf den
Bildschirm vor ihm): ›Also, das Baby liegt quer, da ist der Kopf, der Rücken quer.‹ / Die Patientin: ›Ja, das sieht man gut!‹ (auf dem Bildschirm
sieht man ein kleines Etwas, das sich bewegt, sich ausweitet und sich
dann schnell wieder zusammenzieht.) […] Der Arzt: ›Das ist das Blut,
das durch sein Herz fließt.‹ / Die Patientin (zu ihrem Mann, der neben
ihr sitzt): ›Schau, da ist der Mund, siehst Du?‹ […] Der Arzt: ›Möchten
16
Sie das Geschlecht wissen?‹ / Die Patientin: ›Ja‹ / Der Arzt (bewegt die
Sonde): ›Es ist ein Mädchen.‹ / Die Patientin: ›Ah!‹ / Der Arzt: ›Gut, das17
ist in Ordnung, bestens‹«.14
Nun mag man diese Szene für eine weitere Banalität aus der täglichen Praxis halten. Und doch veranschaulicht sie, in Ergänzung zum eingangs geschilderten Geschehen, Entscheidendes: Denn offenkundig ist es weniger
das Bild allein als dessen Einbettung in eine Situation, die seine Wirkung
bestimmt. Der Arzt, durch Wissens- und Deutungsvorsprung legitimiert,
tritt als eine Art Kryptologe, als Enträtseler des Bildes auf. Er entschlüsselt
das scheinbar Unentwirrbare, jenes ›kleine Etwas‹, indem er Schattenverläufe als die körperlichen Merkmale des Ungeborenen identifiziert. In der
Folge scheint sich aus den abstrakten Einzelelementen – wohl »kaum mehr
als ein harter zerfranster Schatten«15 – ein anschauliches Gesamtbild zu ergeben. An seiner Vollkommenheit bestehen keine Zweifel. Wie selbstverständlich bezeichnet der Arzt die Darstellung als ›Baby‹. Er bestimmt den
aktuellen Zustand, indem er ihn in ein zukünftiges Entwicklungsstadium
projiziert. Erst damit hat sich für die werdenden Eltern ihr ›Kind‹ gezeigt.
In routinierter Beiläufigkeit wird die Diagnose durch den Hinweis beschlossen, wonach kein auffälliger Befund festzustellen sei. Der Arzt setzt
eine rhetorische Signatur, mit der sich Normalzustände zertifizieren lassen. Solange Abweichungen ausbleiben, sind die inneren Wunschbilder der
werdenden Eltern recht mühelos in Übereinstimmung mit dem äußeren
Diagnosebild zu bringen. Es kommt zu einer Vermählung zwischen der
geschürten guten Hoffnung (auf Gesundheit) und einer vermeintlich objektiven Einsicht (in die Gesundheit). Boltanski erkennt in der Szene sogar
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einen Akt familienbildender Aneignung: »Das Fleisch gewordene Wesen
wird als ›Ihr Baby‹ bezeichnet; […] deshalb ist dieser Augenblick heute
eine wichtige Etappe bei der Adoptionsarbeit, die die Mutter für das in ihr
wachsende Wesen leistet«.16
Es ist das Gefühl einer Einlösung des Erwarteten, mit dem erst Vertrauen in das Bild und dann Vertrautheit mit dem darin gezeigten Wesen
hergestellt wird. Fortan herrscht eine Form der Gewissheit, für die es nicht
mehr nur ›harte zerfranste Schatten‹ oder ein ›kleines Etwas‹ gibt. Von
Stund an hat es das Paar mit einem Subjekt zu tun. Für dieses wird nun
ein Name gesucht, es soll Schutz erfahren und in den Genuss weiterer Vorsorge kommen. Es hat die Mitgliedschaft im Leben erworben, ohne geboren worden zu sein.
Epoche?
Einführung
Es überrascht also nicht, dass pränataldiagnostische Untersuchungen
Brutstätten eines schier unerschütterlichen Bildglaubens sind. In ihnen
verdichtet sich das Vertrauen auf die Unbestechlichkeit medizinischer Einsichten mit der Aussicht auf gewünschtes Leben. Das Versprechen, den ersten medial verwertbaren Signalen eines Menschen beiwohnen zu können,
garantiert vorgeburtlichen Bilderwelten eine herausgehobene Stellung auf
dem Feld bildgebender Technologien.
Kartografien von Gehirnaktivitäten, Fotos, die im Weltraum geschossen
wurden oder Darstellungen von Viren gehören aktuell zwar ebenfalls zu
gängigen wissenschaftlichen Bildformeln. Und doch fehlt ihnen das sugges­
tive Moment, Wesenhaftes erstmalig erfassen und durch technologische
Transformation visuell konservieren zu können. Das faziale Potenzial pränataler Bilderwelten öffnet einen ungleich breiteren Inszenierungsraum. Er
lässt sich mit Figuren bespielen, denen neben einem eigenständigen Körper ebenso eine zu prägende Emotionalität und, glaubt man gewieften Ratgebern, sogar ein Wille zur Geistes- und Seelenbildung anzuhängen sind.
Wer nach historischen und aktuellen Darstellungsformen sucht, die
Ungeborenen Hauptrollen zuweisen, dem fällt auf, wie irreführend eine
Einschränkung auf das Gebiet der Embryologie wäre. Denn seit der spätgriechischen Antike soll mit pränatalem Bildmaterial immer wieder eine
Grundannahme veranschaulicht werden: dass das Ungeborene ein Selbst,
ein Mensch von Anfang an, ein autonomiefähiges Wesen verkörpere. Ein
Typenmerkmal von Ungeborenenbildern liegt daher in ihrer Rolle als Legitimationsverstärker. Sie sollen in Sichtbarkeit und Präsenz überführen, was
sich über Unsichtbares und Verborgenes erdenken lässt.
Damit aber kann es in diesem Buch nicht mehr nur um das Ungeborene allein gehen. Schließlich ist seine Bildwerdung immer auch in eine
Lebenspraxis der Schwangerschaft eingebettet. Schon einem geringen Interesse an Gegenwartsfragen wird nicht entgehen, dass weite Teile unserer
Gesellschaft soeben begriffen sind, ein ganzes Zeitalter des Pränatalismus
auszugestalten. Nie zuvor interessierten sich Menschen brennender und
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umfassender für das Thema Schwangerschaft. Und nie zuvor investierten
sie mehr Energie in die Inszenierung der anderen Umstände. In einer Gesellschaft, in der die Schwangerschaft eine biografische Ausnahme darstellt,
in der eine Frau im Durchschnitt gerade noch 1,4 Kinder gebärt, liegen
die soziokulturellen Voraussetzungen zur Überhöhung des Pränatalen vor.
Allerdings sei diese Behauptung sogleich relativiert – und daran erinnert,
dass die Ausrufung neuer Ismen zu den beliebtesten (und entsprechend
inflationär angewandten) Übungen von Intellektuellen gehört. Viele sind
schnell und manchmal auch übereifrig zur Stelle, wenn es darum geht, einem Trend den Stempel der eigenen Deutung, das Sigel flotter Wortschöpfung aufzudrücken. Was also veranlasst, unsere Zeit nun plötzlich als eine
des Pränatalismus zu bezeichnen?
Man könnte darauf verweisen, dass das Zeitalter des Pränatalismus über
einen Geburtstermin verfügt. Er fällt auf den 1. August 1991. An jenem Tag
wurde die amerikanische Schauspielerin Demi Moore auf dem Zeitschriftencover der Vanity Fair als nacktschwangerer Tabubruch der Weltöffentlichkeit vorstellig. Seither vergeht keine Woche, in der nicht mindestens
eine neu entdeckte Schwangerschaft aus dem Prominentensektor verkündet
wird. Mittlerweile gibt es sogar Personen, die allein aufgrund ihrer Schwangerschaft die Aufmerksamkeit der Massenmedien auf sich ziehen. Ist die
Karrierekurve erst einmal auf Höhe der Nulllinie eingerostet, verlegen sich
viele auf eine Art Dauerschwangergehen. Als Permanent Celebrignancies
18
wollen sie letzte Kurzauffälligkeiten verbuchen.17
19
Wandel
Die Überlebensfähigkeit der Promi-Schwangeren im Öffentlichkeitsgewerbe unterstreicht: Neben der Visualisierung des Ungeborenen hat sich
die Gravidität im Gesamten zu einer eigenen Kulturpraxis ausgeweitet.
Schwangerschaft ist als Mittel sowohl einer inneren, identitätsorientierten
als auch einer äußeren, inszenatorischen Selbstgestaltung akzeptiert. Mit
ihr lässt sich an das modernistische Ideal einer individuell perfektionierbaren, generell steigerbaren, Einzigartiges schaffenden Lebens- und Körperwelt anschließen. Der lange vorherrschende ästhetische Widerspruch zwischen einer Schwangerschaft und dem Celebrity Design18 wurde aufgelöst.
Inzwischen droht Schwangeren permanente Betatsch-Gefahr, wie die
Autorin Annabal Wahba ausführt. Was ehemals der ordinäre »Busengrapscher« war, ist heute die weit unverdächtiger wirkende »Geste des Handauflegens«, der »Bauchgrapscher«: »Meist sind es Kinderlose, und da vor allem
Männer, die einem an den Bauch fassen. Die Männer fragen üblicherweise
auch nicht, als gäbe es nichts Normaleres, als den Bauch einer Schwangeren
zu berühren«. Für viele scheint es kein Halten mehr zu geben, sie »tragen
ein Leuchten in den Augen, als sei so ein Schwangerenbauch etwas ganz
gar Mystisches«.19
Wie tief dabei ein Mentalitätswandel eingegriffen und der Schwangerschaft einen vollgültigen Eigenwert beigemessen hat, belegt die über Jahr-
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Einführung
zehnte praktizierte Entgravidisierung der Medienkultur. Vor der Geburt
des Pränatalismus aus der Kamera der Annie Leibovitz (Demi Moores damaliger Fotografin) war keine Frau – keine Schauspielerin, kein Model und
schon gar keine Politikerin – öffentlich schwanger. Als zu unkalkulierbar
erschien das Risiko, als Kugelwesen identifiziert und in das Tal der Bedeutungslosigkeit abgerollt zu werden.
Und obwohl schwangere Politikerinnen inzwischen fester Bestandteil einer Ikonographie der Macht sind, werden gerade sie ungebrochen misstrauisch beäugt: »Es kann von Vorteil sein, als Politikerin die Schwangerschaft
öffentlich zu machen«, gesteht Österreichs derzeitiger Gesundheitsminister Alois Stöger gönnerisch zu, »weil es ein Anlass für gesellschaftliche Debatten sein kann. Das ist legitim. Aber dann sollte es auch genug sein«.20
Der antifeministische Reflex empfiehlt nach wie vor, das Endstadium einer
Schwangerschaft unter Ausschluss der Öffentlichkeit, bestenfalls im Refugium des Privaten auszutragen. Offenbar will Stöger Schlimmeres verhindern, will dafür Sorge tragen, dass sich Schwangerschaften nicht auch noch
zur (ästhetischen, sozialen, politischen?) Belastung für die Allgemeinheit
auswachsen.
Schwangerschaft galt über Jahrhunderte als defizitäre Krankheitsform.
Das zumeist entbehrungsvolle Austragen stand nach Meinung der Gelehrtenwelt einem biologischen Funktionalismus nahe. Auch hier hat die feministische Forschung vieles freigelegt – etwa Erkenntnisse darüber, welche
Folgen es hatte, wenn bis zur Geburt nicht sicher war, was aus der Empfindung eines veränderten Zustands erwachsen würde. Frauen wähnten sich
häufig ein bisschen schwanger. Sie spürten das ungewisse Neue, ahnten,
dass sich ein Irgendetwas, ein unbestimmtes Es am Entwickeln war.
Und doch mangelte es ihnen an Instrumenten, die Zeichen des Körpers
auszulesen. Die unentrinnbare Nähe zwischen der Geburt eines neuen Lebens und dem eigenen Tod spielte ärztlichen Autoritäten in die Karten.
Schwangerschaften waren trotz ihres alltäglichen Charakters zugleich auch
Überlebensphasen, Zustände des Zitterns und Bangens und hatten mit der
Inszenierung figuraler Sensationen wenig bis nichts gemein.
Umso wichtiger aber ist es, das Schwangergehen und seinen Bedeutungswandel als ideengeschichtliche Hintergrundfolie in Anschlag zu
bringen. Denn erst vor ihr erlangt das Ungeborene als Inszenierungsfigur
Bedeutsamkeit. Die zunehmende fleischliche Präsenz äußerer Schwangerschaftssignale kontrastiert die haptische Absenz des Ungeborenen. Dieses
wird zum Objekt von Bildern, weil sich der blinde Fleck seiner Unsichtbarkeit als Austragungsort von Ideen, Visionen und Imaginationen besonders eignet. Das Ungeborene markiert eine ikonische Nullstelle. Sie lässt
sich als Stimulanz für eine, um mit dem Kunsthistoriker Ulrich Pfisterer
zu sprechen, Zeugung der Idee21 vereinnahmen und als deren Aufführungsfläche einsetzen.
Das Buch führt aus, wie Bilder von Ungeborenen der Figuralisierung
von Weltsichten, Evolutionstheorien, moralischen Bekenntnissen und anatomischen Leistungen dienen sollten. Nahezu durchgängig wurde ihnen die
Aufgabe zugewiesen, mit Mitteln gestalthafter Anmutung augenscheinlich
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zu machen, was sich in Theorien ausbrüten, durch Empfindungen gebären
oder mit Erzählungen überliefern ließ. Gedanklich Gewordenes, so eine
immer wieder anzutreffende Hoffnung, soll im pränatal Werdenden zur
bildlichen Veranschaulichung finden.22
Triumph
Neben die öffentliche Bildfigur des Ungeborenen tritt seit Mitte der 1990er
Jahre die nicht minder öffentliche Schwangere. So lässt sich inzwischen
eine ganze Stilgeschichte der Pregnant Cover Girls erzählen oder aber ein
»Baby-Boom im Bundestag«23 beobachten. Es war demnach nur eine Frage
Zeit, bis ein Modedesigner (Michael Michalsky) ein hochschwangeres Model (Patricia Kaiser) auf der Berliner Fashion Week 2012 erstmals über einen
Laufsteg schickte. In zuverlässiger Regelmäßigkeit findet sich ein Magazin,
das die »schönste Schwangere der Welt«24 kürt und der Siegerin das Titelbild freiräumt. So wurde die Schwangerschaft seit Demi Moores Auftritt
aus der Abschottung des Privat-Verschämten herausgeholt, all ihrer Unpässlichkeit entkleidet, der Ästhetisierung unserer Lebenswelt eingegliedert und damit zum Pop-Ereignis und medialen Karrieremotor stilisiert.
Einen der augenfälligsten Belege liefert die neu interpretierte Aufgabe
der Umstandsmode. Wo ehemals voluminöse Kleidergardinen die Wölbun20
gen wie hässliche Geschwülste kaschierten, ist inzwischen üblich, das pralle
Endstadium nur mit Negationen zu bekleiden. Die so freigelegte Kugel wird21
der Neugier und vielleicht auch dem Neid der Anderen dargeboten; als handele es sich bei Schwangerschaften um körperliche Leistungsnachweise mit
differierender Erfolgsquote.
Wer nur einmal Fußgängerzonen und Einkaufszentren aufmerksam inspiziert hat, wird bemerkt haben, wie sehr die Inszenierungsmuster der Regenbogenpresse auf die Privatkultur durchschlagen. Manche Frauen wirken,
als trügen sie ein mit Fötus und Stolz geschwelltes Bekenntnis spazieren.
Es soll sogar vorkommen, dass Schwangere untereinander ihre Bäuche mit
kontrollierenden Blicken abgleichen – was wohl weniger auf eine Übernahme plumper Männerriten denn auf eine Art innerpränatales Konkurrenzklima deutet.
Gestalt und Volumen entscheiden dann über den Grad der Anerkennung, die einem von anderen entgegengebracht wird. »Jede werdende
Mutter macht den Bauchvergleich«, ist sich ein Schwangerschaftsmagazin
sicher – und zwar »beim Frauenarzt, bei der Hebamme, im Kurs zur Geburtsvorbereitung«.25 Der Babybauch hat sich, despektierlich gesprochen,
zum Frontspoiler des Pränatalismus entwickelt.
Soziale Spannungen zwischen diesen, im Konkurrenzmodus sich über
den Weg laufenden »Parallelschwangeren« sind folglich nicht mehr ausgeschlossen: »Wenn sich zwei Schwangere begegnen, schauen beide Frauen
in die entgegengesetzte Richtung!«, weiß die ELTERN-Autorin Franziska
Groß in einer Glosse »nach Monaten intensiver Beobachtung« – einen
»Subtext« hat sie sich für diesen Moment irritierter Identitätserfahrung
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Abb. 2 Entpellte Ereignisse: Die Kugel als Trophäe erhöht die Schwangerschaft zum
Triumph.
bereits zurechtgelegt: »Ha! Ich lass mich von deinem Bauch nicht blenden! Ich hab ja selbst einen! Ich werde dir auch nicht die Aufmerksamkeit
schenken, mit der dich gerade alle anderen zuschütten«.26
Das Interesse der Popliteratur an Phänomenen unseres Alltags packte
diese neuen Umstände in ironische Wendungen: Die »Attitüde der Prenzlauer-Berg-Mütter« zeige, wie Schwangerschaft und Kinderkriegen zum
»Lebensmittelpunkt« aufgestiegen seien, ja wie der »Glaube« gelebt werde,
»mit Kinderyoga, Bio-Nahrung, Ökostramplern und garantiert weichmacherfreiem Holzspielzeug […] alles richtig zu machen«.27 Doch artikuliert
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Abb. 3 Beim Bauchspoilervergleich
entscheiden Form und Größe
über Sieg und Niederlage.
sich darin wirklich ungetrübte Selbstgewissheit? Oder nicht doch eher der
Versuch, eine Situation des sozialen Drucks und der biografischen Unsicherheit durch Demonstration emsig-eifriger Fürsorgeanstrengungen zu
meistern?
22
Die Umwertung der Schwangerschaft zu einem öffentlichen Ereignis
zeichnet sich besonders grell durch die Masse entsprechender Unterhal-23
tungsangebote ab. In Ratgebern, Pop-Romanen, halbfiktionalen Tagebüchern, Werbe- und Spielfilmen übernehmen Schwangere, meist im innigen
Dialog mit ihren Ungeborenen begriffen, zentrale Rollen. Die Frau wird
zwei mit sich selbst, erscheint als eine Schizophrene mit besten Absichten.
Zusätzlich reagieren viele eigens entwickelte Konsumprodukte – Dusch­
gels, Öls, Cremes, Tees – auf das Bedürfnis, dem Doppelsubjekt aus Frau
und Fötus spezielle Fürsorge und außerordentliche Pflege zukommen zu
lassen.
Der Pränatalismus ist somit auch durch sein Einsickern in unterschiedlichste Lebensbereiche gekennzeichnet. Für- und Vorsorge wird zur
überspannenden Leitinstanz einer Schwangerschaftsmentalität, die den
körperlichen und psychischen Ausnahmezustand feiert und ihm gleichzeitig möglichst jede Ungewissheit nehmen will. »Die Verherrlichung von
Schwangerschaft und Geburt«, kommentierte die Journalistin Sylvia Margret Steinitz, »lässt Frauen nur wenig Raum, darüber nachzudenken, ob sie
das Schwangersein wirklich brauchen«. Das biografische Singularereignis
Schwangerschaft wird zum Must-have eines gelingenden Frauenlebens. Nur
noch hinter vorgehaltener Hand sei eine Schwangerschaft als Fehler einzustufen: »Ich kenne Mütter, die mir im Vertrauen steckten, sie hätten ›auf
das alles‹ liebend gern verzichtet«.28
Hier schließt sich Kreis. Denn es ist die Frauenarztpraxis in Funktion
einer Überwachungsbasis, die ultimativen Schutz in Form einer Risiko­
elimination im Angebot trägt. Was sich Diagnose nennt, soll »maximale
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Sicherheit für Mutter und Kind«29 garantieren. Gynäkologiezentren koalieren auf raffinerte Weise eine wissenschaftliche Überwachungsbeteuerung
mit einem gesamtästhetischen Inszenierungsaufwand.
Alternativen
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Freilich können auch alternative Zugänge zum Thema gefunden werden.
Denkbar ist etwa, weniger den Facetten des Ungeborenen als vielmehr seinen Umwandungen auf die Schliche zu kommen. Man hätte sich also auch
allein auf den Uterus berufen und ihn als einen »›Raum‹, ein[en] ›Ort‹, ein
›Haus des Seins« vorstellen können. Und tatsächlich ging der Philosoph
Peter Sloterdijk in seiner Deutung der Gebärmutterfunktion (und in Anlehnung an Martin Heidegger) sogar noch einen Schritt weiter in Richtung
anthropologischer Gewissheit, als er formulierte: »Der erste Aufenthalt des
Menschen ist der Uterus; hier wird er zum Menschen«. Zu ergänzen wäre,
dass die Idee einer menschenbildenden Initialzündungskraft, die von den
inwendigen Gliedern der Frau ausgehen soll, in massiver Weise durch die
Bild- und Mediengeschichte des Ungeborenen flankiert wurde. Erst durch
sie kam es tatsächlich zu so etwas wie einer »Uterodizee«, zu einer moralisch aufgeladenen »Verteidigung des weiblichen Unterleibs«.30
Das Ungeborene und seine Behausung erweisen sich damit nicht nur
als physisch unsichtbar und entsprechend geheimnisvoll. Ebenso lassen sie
sich zur Verhandlung ideologischer Grundsätze heranziehen. Offen bleibt
dennoch, warum gerade Embryonen und Föten als besonders wirkmächtige Werbeträger weltanschaulicher Interessen fungieren sollen. Jedenfalls
erscheint die heute geläufige Rede von einem ›Babybauch‹ nicht länger als
hohle Redensart. Vielmehr wird einsichtig, dass sie den Hauptbegriff einer
oftmals übersteigerten Fokussierung auf alles – irgendwie – Vorgeburtliche stellt.
Somit wäre naheliegend gewesen, den Darstellungen der christlichen
Ikonographie einen noch größeren Platz einzuräumen. Dass dies hier nicht
geschehen ist, hat mit der herausragenden Publikation des Kunsthistorikers
Gregor Martin Lechner zu tun. Seine 1981 erschienene Studie Maria gravida.
Zum Schwangerschaftsmotiv in der bildenden Kunst31 liefert eine faszinierende, zudem beeindruckend umfassende und detailreich schildernde Typologie der schwangeren Maria in ihren bildlichen Repräsentationen. Lechners Ergebnisse werden im Verlauf des Buchs aufgegriffen, um die Frage
zu diskutieren, inwiefern christliche Inszenierungsweisen in anderen, etwa
populären Kontexten wiederauftauchen.
Besondere Beachtung verdient dabei die Kategorie des sogenannten foe­
tus type, die äußerlich einsehbare Figur des Ungeborenen im Körper der
Schwangeren. Ein Desiderat bleibt die jüngere künstlerische Verhandlung
des Ungeborenen und der schwangeren Frau. Neueste Arbeiten32 beginnen jedoch, diese Lücke mit Blick auf die Klassische Moderne zu schließen.
Und nicht zuletzt braucht es mehr als eine einzelne Untersuchung (vor
allem aber die Gelassenheit einer historischen Distanz!), um die kürzlich
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massiv entflammte Debatte um den Lebensbeginn des Menschen aus kulturwissenschaftlicher Sicht einordnen und in ihren zugrunde liegenden
Motivationen gewichten zu können. Dies betrifft vor allem Diskussionen
um das Embryonenschutzgesetz und um In-vitro-Fertilisationen, Bewertungen der Präimplantationsdiagnostik und allgemein humangenetischer
Möglichkeiten, Kontroversen um den (Hollywood-)Trend zur Leihmutterschaft33 sowie die Auslegung des Abtreibungsparagraphen.34
Diese Auseinandersetzungen sind von einer oft emotionalisierten, zudem komplex verschachtelten Durchkreuzung medizinethischer, juristischer, politischer und theologischer Einwürfe gekennzeichnet. Sie zu entwirren kommt einer fachübergreifenden Herkulesaufgabe gleich – will man
nicht, wie jüngst die Schriftstellerin Sybille Lewitscharoff, in platte Weltanschauungsbekenntnisse verfallen, als sie gestand, »im Übrigen auch froh«
zu sein, »nicht der Onanie und darauf folgenden komplexen medizinischen
Machinationen [ihre] Existenz zu verdanken, sondern auf herkömmlichen
Vereinigungswegen gezeugt worden zu sein«.35 Das Buch konnte einige dieser Meinungsreflexe dort berücksichtigen, wo ihre visuellen Argumenta­
tionshilfen bedeutsam schienen.36
Die Bildfiguren des Ungeborenen sind von den Denkfiguren, die vom
werdenden Leben entworfen werden, nicht zu entbinden. Wer sich auf die
Suche nach Bildern begibt, die vorgeben, das Körperinnere der anderen
Umstände aufzuweisen, sollte nicht den Fehler begehen, die Andersartig24
keit jener Umstände absolut zu setzen und aus allen Bezügen freizustellen.
Von solchen Beziehungen und ihren ästhetischen Umsetzungen handelt25
dieses Buch. Das nun folgende, ein wenig theoretischer angelegte Kapitel
ist der Methode gewidmeten. Es behandelt die Frage nach dem angemessenen Umgang mit Bildern, die, wie etwa in der Geschichte der Embryologie,
Gebrauchsfunktionen übernehmen sollen.
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KAPITEL 1
SICHTBARMACHUNG
Wie erzählen Bildgeschichten?
26
Eine Figur hockt im Zentrum
dieses Buchs: Nennen wir sie
schlicht und aus Mangel an
neutralen Bezeichnungen –
das Ungeborene. Sein auf­
fälligstes Merkmal ist seine
Unsichtbarkeit. Denn kaum
jemandem bietet sich in sei­
nem Leben auch nur einmal
Gelegenheit, ein Ungebore­
nes leibhaftig zu sehen oder
gar zu berühren. Dennoch
­geben viele ihrem Ungebore­
nen einen Namen, spielen
ihm Stücke von Mozart oder
Bach vor und sprechen mit
ihm, als handele es sich um
ein Mitglied der Familie.
Offenbar erkennen wir im
Ungeborenen mehr als nur
ein Stück Fleisch. Es ist uns
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als Mensch vertraut, weil wir 27
seinen Bildern den Status von
Porträts zuweisen. Tatsäch­
lich scheinen vor allem Ultra­
schallaufnahmen jemanden
abzubilden, der nicht nur in
einem anderen Menschen,
sondern bereits – irgendwie –
unter uns lebt. Geschaffen
wurde diese Figur in den Ni­
schen der Medizin und Ana­
tomie. Unter Gelehrten kur­
sierten über Jahrhunderte
hinweg Bilder von Ungebo­
renen. Nicht selten erwiesen
sie sich als derart raffiniert
inszeniert, dass sie ganze
Evolutionstheorien zu bele­
gen schienen.
Doch bei aller Euphorie
möchte das erste Kapitel
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Sichtbarmachung
Misstrauen schüren. Folgen
über die Macht und Ohn­
wir nicht blindlings unserem
macht von Bildern gelesen
Blick, und glauben wir nicht
werden. Gerade weil das Un­
vorbehaltlos, was sich auf
geborene ein Unsichtbares
Bildern zeigt! Wer Bildern
ist, eignet es sich in beson­
sein ganzes Vertrauen
derer Weise zur Inszenie­
schenkt, übersieht, aus
rung. Will man seine Karriere
­welchen Kulturen sie hervor­
als Geschichte seiner Bilder
gehen und von welchen Ge­
erzählen, muss ebenso von
sellschaften, Situationen,
den Umständen berichtet
Handlungen und Interessen
werden, durch die diese Bil­
sie eingefasst sind. Rasch
der an Größe und Prominenz
vergisst man, dass sich das
gewinnen und durch die sie
Werden des Menschen immer wieder zerfallen und in Ver­
in Gemeinschaften vollzieht,
gessenheit geraten können.
die dem Ungeborenen ein
Was als Unsichtbares sicht­
­bestimmtes Image zuweisen
bar ­gemacht wird, hat seine
und es in ihre Vorstellung von Quelle weniger im Uterus
Schwangerschaft, Frucht­
als in den Gedanken, Ideen
barkeit, Zukunft, Attrak­
und Weltsichten derer, die
tivität und Lebensqualität
Un­geborene zur Aufführung
einbetten.
bringen wollen. Kein Essen­
So kann das Thema dieses
tialismus, Kontextsensi­bi­
Buchs auch als ein Lehrstück lität ist gefragt!
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Statuengleich
»Damien Hirst ist als Künstler nicht mehr ernst zu nehmen«. Mit diesem
Urteil schloss der Kunstkritiker Alexander Menden im Jahr 2012 seine Besprechung der jüngsten Hirst-Arbeit. Mit dem Aufstellen einer Bronzestatue von rund zwanzig Metern Höhe an der Hafeneinfahrt des britischen
Küstenstädtchens Ilfracombe habe Hirst »endgültig den Schritt zum Staatskünstler« vollzogen. Das Monstrum erinnere doch zu aufdringlich »an stalinistische Siegesstatuen«.1
Tatsächlich wird ihr kolossales Erscheinungsbild durch einen Sockel aus
gestapelter Rechtsliteratur visuell und sinnfällig gesteigert (»Verity stands
on a base of scattered legal books.«2). Jeanne d’Arc-gleich, mit emporgestrecktem Arm stößt sie ein Schwert in die Höhe, in der linken, leicht hinter
den Rücken versteckten Hand hält sie eine Waage. Die rechte Körperhälfte
28
ist größtenteils ihrer Hautschicht entpellt. Muskel- und Gewebestränge
zeichnen sich ab, das Gesicht nimmt nicht nur in den freigelegten Zahn-29
reihen Ähnlichkeit zu einem fratzenhaften Totenschädel auf. Der gewölbte
Bauch ist nochmals tiefer, breit-klaffend geöffnet, so dass die Figur des Ungeborenen in Schädellage deutlich erkennbar wird.
Offenkundig sollte sich Grundlegendes in dieser Statue verbinden –
Hirst betitelte sie mit Verity, was zwar umfassend und elementar wirken
mag, jedoch ungeklärt lässt, worauf sich ›Wahrheit‹ konkret beziehen soll.
Entsprechend beliebig fallen denn auch die Assoziationsmöglichkeiten zu
dieser Arbeit aus: Erinnerungen an die bildgewaltige Ästhetik des Memento
mori werden wach; ebenso ließe sich aber auch ein Bezug zur Künstleranatomie der Renaissance und ihren Illustrationen von enthäutet-geöffneten,
selbstdemonstrierenden Körpern3 herstellen. Gleichsam scheinen Verfall
und Beginn, schleichender Tod und aufkeimendes Leben in grotesk übersteigerten Dimensionen zusammengefügt. Die Attribuierung weist die Figur zudem als gravide Variante der personalisierten Gerechtigkeit, als Spielform der Justitia aus. Hirst stellt sie gar als »Sinnbild für Wahrheit und
Gerechtigkeit« vor (»Verity is an allegory for truth and justice«4). Auch
ihre forsche Schrittstellung in Kombination mit dem stolzen Blick, hinausgerichtet auf den Horizont des Meeres, vermittelt den Eindruck unerschütterlicher Stärke.
Diese mehrfache Codierung gliedert sich reibungslos in unsere heutige, westliche Pränatalkultur ein. Auch in ihr dienen Schwangere und Bilder ihrer Ungeborenen als Projektionsflächen, auf die sich Wünsche nach
Festschreibung, Gewissheit und Autorität richten lassen. Zu beobachten
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Sichtbarmachung
Abb. 4 Detail der Statue Verity von Damien Hirst, 2012.
ist, wie sich in Debatten um juristische, ästhetische, ethische und historische Aspekte der Schwangerschaft das Bedürfnis nach Faktizität besonders lautstark artikuliert; vielleicht, weil sich selbst in modernsten Gesellschaften, die den technologischen Fortschritt zu ihrem Wesenskern zählen,
Schwangerschaften noch immer gänzlicher Berechenbarkeit entziehen.
Zwar mag eine Schwangerschaft inzwischen zweifelsfrei zu diagnostizieren sein; doch ist sie damit noch lange nicht semantisch determiniert. Anders ausgedrückt: Selbst was objektiv festzustellen ist, bleibt subjektiver
Auslegung unterworfen.
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