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MEDIZINREPORT CHARCOT-FUSS Auf die frühe Diagnose kommt es an Das Endstadium traumatischer Skelettverletzungen bei Diabetikern mit Polyneuropathie und fehlender Schmerzreaktion lässt sich vermeiden. E ine schwere Komplikation des Diabetes mellitus ist der Charcot-Fuß – ein Krankheitsbild, das am Ende einer Reihe von akuten und chronischen Veränderungen der Fußgelenke steht und als eine Sonderform des diabetischen Fußsyndroms eingeordnet wird. Das Typ-1- und Typ-2-Diabetiker sind gleichermaßen gefährdet. Am häufigsten sind die Gelenke zwischen Fußwurzel und Mittelfußknochen betroffen (60 Prozent). Danach folgen die Gelenke zwischen Zehen und Mittelfußknochen (20 Prozent) und die Sprunggelenke (10 Prozent). Fatale ist, dass die Zerstörungen des Fußskeletts, die auch als Neuroosteoarthropathie bezeichnet werden (2, 10), infolge verminderter beziehungsweise erloschener Sensibilität weitgehend schmerzarm verlaufen. Auch wenn die Ursachen dieser Erkrankung noch nicht vollständig bekannt sind, wurden in den letzten Jahren Therapien entwickelt, mit denen die Prognose entscheidend verbessert werden konnte. Besonders wichtig aber ist das frühzeitige Erkennen der Erkrankung. Circa eine Million Diabetiker leiden hierzulande an Polyneuropathie, und davon weisen etwa 0,5 bis ein Prozent (5 000 bis 10 000 Patienten) einen Charcot-Fuß auf. Der verheerende Zerstörungsprozess beginnt mit einem relativ schmerzarmen, belastungsabhängigen entzündlichen Ödem, das – ohne dass es dem Patienten bewußt geworden sein muss – auf ein Ermüdungstrauma des Skeletts zurückgeht. Als Folge davon bricht das Fußskelett regelrecht ein, und es entstehen groteske Fehlstellungen des Fußes, ausgedehnte Druckschäden der Haut und Infektionen, an deren Ende die Amputation droht. A 272 Foto: Kirchheim-Verlag Der Charcot-Fuß im fortgeschrittenen Stadium ist gekennzeichnet durch stark deformierende Veränderungen mit eingeschränkter Belastbarkeit. Fuß. Das Röntgenbild kann unauffällig sein. Der Destruktionsprozess kommt – anscheinend schicksalhaft – erst zum Stillstand, nachdem ruinöse Deformierungen und Gelenkversteifungen eingetreten sind. Der Fuß kann dann trotz aufwendiger schuhtechnischer Versorgung nur noch als Stelze benutzt werden, neigt zu Hautulzerationen und daraus fortgeleiteten Osteomyelitiden, und ist mit einer hohen Amputationsrate behaftet. Eine medikamentöse Therapie existiert nicht (4). Die Pathogenese dieser außerordentlich schweren Skelettdestruktionen der Füße ist seit mehr als 100 Jahren umstritten. Während Charcot 1883 von einer neurogenen Knochendystrophie (neurotrophische Theorie) überzeugt war, hielt Virchow unbemerkte Frakturen für wahrscheinlich (neurotraumatische Theorie) (2): Beweisen konnten beide ihre Theorien jedoch nicht. Nach Entdeckung der Röntgenstrahlen war es zwar möglich, die knöcherne Zerstörungen des Charcot-Fußes in drei Stadien einzuteilen (3): ● Stadium I: Knochenauflösung („dissolution“) ● Stadium II: Knochenzusammenwachsung („coalescence“) ● Stadium III: Knochenkonsolidierung und -umbau („remodeling“). Zur Aufklärung der Pathogenese trug die Röntgendiagnostik jedoch nicht bei. Im Gegenteil, sie lenkte ab von dem auffälligen klinischen Beginn des Krankheitsbilds. Dieser ist durch ein entzündliches Lymphödem des Fußes gekennzeichnet, das gegebenenfalls bis zum Knie reicht (3, 5), und das – aufgrund Das Röntgenbild kann lange Zeit unauffällig sein Klinisch imponiert das zerstörerische Geschehen zunächst als kaum schmerzhafter, unter Umständen massiv entzündlich geschwollener Deutsches Ärzteblatt | Jg. 107 | Heft 7 | 19. Februar 2010 MEDIZINREPORT Ermüdungstraumata werden häufig übersehen So zeigen Verlaufsuntersuchungen mittels MRT, dass das Osteoödem im Frühstadium des Charcot-Fußes traumatisch bedingt ist. Es geht dem röntgenologisch fassbaren Stadium I der Knochendestruktion voraus, nimmt in dessen Verlauf massiv zu und bildet sich während der Stadien II und III allmählich vollständig zurück, wie jedes gewöhnliche Frakturödem (15, 16). Das Ermüdungstrauma des Skeletts ist im MRT als Knochenmarködem (Osteoödem) nachweisbar (10, 11), je nach Schweregrad auch mit Knochenmarkseinblutungen. Klinisches Leitsymptom ist – außer dem oben genannten Lymphödem – normalerweise eine erhebliche Schmerzhaftigkeit (9), die jedoch bei Gefühllosigkeit der Füße entfällt (2, 6). Daher werden Ermüdungstraumata am Fußskelett bei Sensibilitätsstörungen sehr oft übersehen (4). Die Standardbehandlung des Ermüdungstraumas, ohne dass es bereits zu einer kompletten Fraktur gekommen sein muss, besteht in der Immobilisierung und Entlastung der verletzten Strukturen (6, 10). Gefühllose diabetische Füße sprechen auf diese Behandlung ebenso gut an wie Füße mit gesundem Schmerzempfinden – im günstigsten Fall mit einer restitutio ad integrum (6). Primärer endogener Risikofaktor ist die gestörte Schmerzsensibilität. Nur Personen mit erheblichen Sensibilitätsstörungen können einen Charcot-Fuß entwickeln. Pri- Polyneuropathie ebenso wie bei neurologisch gesunden Patienten (mit vergleichbaren Knochenverletzungen). Heilungsversuche mit Bisphosphonaten und Kalcitonin waren erfolglos (4); die diabetische wie auch die hereditäre Polyneuropathie sind einer Heilung heutzutage (noch) nicht zugänglich. Zusammenfassend muss der Charcot-Fuß (Abbildung) heute als das Endstadium eines extremen Überlastungsschadens des Fußes angesehen werden, mit transartikulären Frakturen, die in diesem Ausmaß nur aufgrund fehlender Schmerzreaktion bei insensiblen Füßen entstehen können. Auslösender Faktor ist eine Skelettverletzung mit Ausbildung eines locus minoris resistentiae (zum Beispiel im Rahmen eines akuten Traumas oder eines Ermüdungsschadens), gefolgt von der (wesentlich länger als physiologisch) ununterbrochen fortgesetzten (Über-)Belastung des verletzten Fußes. märer exogener Risikofaktor ist das mechanische Trauma. Lediglich sensibilitätsgestörte Füße, die täglich in Funktion sind, können sich zum Charcot-Fuß entwickeln, nicht aber die insensiblen Füße querschnittsgelähmter oder permanent bettlägeriger Patienten. Sekundäre Risikofaktoren sind Osteoporose jedweder Genese, Übergewicht und Intensität der Fußaktivität (Gehen, Laufen et cetera). Die Unterbindung der fortgesetzten Traumatisierung eines Ermüdungsschadens, noch ehe eine Fraktur eingetreten ist, verhindert die Ausbildung der EichenholtzStadien I bis III (8). Die rechtzeitige Immobilisation und Entlastung des Initialschadens, zum Beispiel mittels Unterschenkelgehgips, führt zur komplikationslosen Ausheilung (1, 5, 6, 8). Wird die Behandlung zu spät begonnen, kann nur noch eine Defektheilung mit Deformierungen und Gelenkversteifungen erwartet werden (1, 8). Obgleich die Sensibilitätsstörung fortbesteht, ereignen sich die physiologischen Knochenheilungsprozesse bei diabetischer Empfehlungen zur Prävention BEFUNDE IM MRT Das Knochenmarködem als Folge einer Überbelastungsverletzung oder eines Ermüdungsschadens (nach Kiuru et al. 2004): Deutsches Ärzteblatt | Jg. 107 | Heft 7 | 19. Februar 2010 Foto: Ludger Wilhelm Poll relativ geringer Schmerzhaftigkeit – zunächst an eine tiefe Beinvenenthrombose denken lässt. Am Beginn der Erkrankung stehen Skelettverletzungen, die zwar nicht röntgenologisch, wohl aber magnetresonanztomographisch nachweisbar sind. Die Magnetresonanztomographie (MRT) ermöglicht es, bei mechanischen Verletzungen an Knochen- beziehungsweise Gelenken (zum Beispiel Quetschungen, Kontusionen, Distorsionen) pathologische ossäre Befunde zu erheben, die im Röntgenbild nicht darstellbar sind (3, 7, 9, 11–14). ● ● ● ● ● Grad I: endostales Marködem (Röntgen negativ) Grad II: periostales und endostales Ödem (Röntgen negativ) Grad III: Muskelödem, periostales Ödem und endostales Marködem (Röntgen negativ) Grad IV: Frakturlinie (Röntgen negativ/positiv) Grad V: Kallus in der Kortikalis (Röntgen positiv) Aufgrund dieser neuen Erkenntnisse kann zwar nicht die erhoffte Heilung des Charcot-Fußes samt seiner massiv zerstörten, aufgelösten oder zerbrochenen Skelettarchitektur erwartet werden. Diese Situation kann aber vermieden werden, wenn: ● Fußskelettverletzungen ohne röntgenologisches Korrelat bei Personen mit Schmerzunempfindlichkeit unverzüglich (gemäß pathologischem MRT-Befund in Form eines Osteoödems) behandelt werden wie entsprechende Fußverletzungen bei neurologisch Gesunden. ● Personen mit Polyneuropathie auf ihr Risiko hingewiesen werden, einen Charcot-Fuß zu entwickeln. ● Patienten mit Polyneuropathie zu strikter Traumaprävention angehalten werden. ■ Priv.-Doz. Dr. med. Ludger Wilhelm Poll Prof. Dr. med. Ernst Chantelau Anschrift für die Verfasser Priv.-Doz. Dr. med. Ludger Wilhelm Poll Radiologische Gemeinschaftspraxis Dres. Dabir/Hirning/Poll & Kollegen Standort BG-Unfallklinik Duisburg Großenbaumer Allee 250, 47249 Duisburg E-Mail: [email protected] @ Literatur im Internet unter: www.aerzteblatt.de/lit0710 A 273 MEDIZINREPORT LITERATURVERZEICHNIS HEFT 7/2010, ZU: CHARCOT-FUSS Auf die frühe Diagnose kommt es an Das Endstadium traumatischer Skelettverletzungen bei Diabetikern mit Polyneuropathie und fehlender Schmerzreaktion lässt sich vermeiden. LITERATUR 1. Chantelau E: The perils of procrastination: effects of early vs. delayed detection and treatment of incipient Charcot fracture. Diabet Med 2005; 22: 1707–12. 2. Chantelau E, Onvlee GJ: Charcot foot in diabetes: farewell to the neurotrophic theory. Horm Metab Res 2006; 38: 361–7. 3. Chantelau E, Poll LW: Evaluation of the diabetic Charcot foot by MR imaging or plain radiography—an observational study. Exp Clin Endocrinol Diabetes 2006; 114: 428–31. 4. 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