diotíma schule der liebe

Transcrição

diotíma schule der liebe
DIOT Í MA
__________________
SCHUL E D ER L IE BE
Ursprünglich verlegt
bei Eugen Diederichs / Jena 1930
~
Veränderte Neuausgabe
und Nachwort
Mondrian W. Graf v.Lüttichau
Leipzig 2001
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
© 2009 für bearbeitung und nachwort
VERLAG AUTONOMIE & CHAOS LEIPZIG
Mondrian W. Graf v. Lüttichau
ISBN 978-3-923211-34-0
www.autonomie-und-chaos.de
Diese online-ausgabe kann für den eigengebrauch
kostenfrei heruntergeladen werden.
2
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
Diese Männer, die ich mir manchmal doch noch genehmigt
hatte, sie hatten mich gekippt wie einen Whiskey am Rande,
immer auf dem Weg zu vermeintlich Wichtigerem. Was sollte
das wohl sein? Was glauben sie, wer ich bin? Eine Frau wie ich
bedeutete mehr als alles, was diese Männer interessierte und
woraus ihre Leben bestanden. Wahrer Sex geht um Leben und
Tod, doch sie wollten nichts wissen von dieser strudelnden
Tiefe und Nässe im schwarzen Loch im Zentrum des
Universums und jeder kleinen Sache, vom Nichts. Und hielten
sich damit für gute Liebhaber. Dabei steckte in meinem
kapprigen römischen Vibrator noch mehr Liebe.
Silvia Szymanski: Kein Sex mit Mike (1999)
Sex ist zu einem mechanischen Alptraum degeneriert. Und
diese Einstellung zeugt von versteckter Gewalt – im genauen
Sinne des Wortes. Sex ist nicht mehr die Erfahrung von Liebe.
Sex ist kein Weg mehr, in höhere Dimensionen aufzusteigen.
Sex ist kein Instrument der Heiligung mehr. Sex ist kein
meditativer Akt mehr.
Osho: Vom Sex zum kosmischen Bewußtsein (1968)
Während der Sexus eingegliedert ward, bleibt, was an ihm
nicht sich eingliedern läßt, das eigentlich sexuelle Aroma, der
Gesellschaft verhaßt.
Th. W. Adorno: Sexualtabus und Recht heute (1963)
3
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
..Wellten
wellend,
wellend,
wie
flatterndes
Übereinanderzüngeln sanfter Flammen, sanft wie Federn, liefen
aus in hell leuchtende Spitzen, herrlich, süß und alles in ihr
schmolz, zerfloß. Wie Glocken waren es, die schwangen, immer
höher schwangen, empor zum Gipfel. Sie lag da, war sich der
vielen kleinen Schreie nicht bewußt, die sie am Schluß
ausstieß. (...)
Sie konnte nur warten, warten und stöhnen, als sie spürte, wie
er sich zurückzog, sich aus ihr zog, sich zusammenzog und es
zu dem schrecklichen Augenblick kam, da er ganz aus ihr
gleiten und fort sein würde. Während doch ihr Schoß offen war
und weich und sanft nach ihm schrie – wie eine Seeanemone
unter der Flut, nach ihm schrie, daß er wieder zu ihr komme
und ihr Erfüllung bringe.
Bewußtlos vor Leidenschaft, klammerte sie sich an ihn, und er
glitt nie ganz aus ihr, und sie fühlte, wie seine weiche Knospe
sich in ihr regte und seltsame Rhythmen sie durchspülten, mit
seltsamer, rhythmischer, wachsender Bewegung, schwollen,
schwollen, bis sie ihr ganzes klaffendes Bewußtsein
überfluteten, und dann begann wieder die unsagbare
Bewegung, die keine wirkliche Bewegung war, sondern reiner,
immer tiefer strudelnder Wirbel des Empfindens – tiefer und
immer tiefer trichterten sie sich durch ihr ganzes Gewebe und
ihr Bewußtsein, bis sie ein einziges, sattes, konzentrisches
Fließen des Gefühls war, und dalag und schrie, in unbewußten,
unartikulierten Schreien. Die Stimme aus der tiefsten Nacht,
das Leben!
Fast scheu hörte es der Mann unter sich, als sein Leben in sie
überfloß. Und als es versiegte, versiegte auch er und lag ganz
still, nichts mehr wissend, und langsam löste sie ihre
Umklammerung und ruhte reglos. Und sie lagen da und wußten
nichts mehr, nicht einmal einer vom andern, ganz verloren. Bis
er endlich zu sich kam und seine schutzlose Nacktheit
gewahrte, und sie sich bewußt wurde, daß sein Leib sich der
engen Nähe zu ihr entzog. Er löste sich von ihr; aber tief in
sich spürte sie, daß sie es nicht ertragen könnte, wenn er sie
unbedeckt ließe. Er mußte sie nun für immer bedecken.
D. H. Lawrence: Lady Chatterley (1928)
4
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
Erst es Stü ck
Wo v on di e s Buch ni c ht ha n d el t
In diesem Buch redet eine Kennerin und Deuterin der Liebe, vielleicht –
hoffentlich – auch eine Leiterin im Irrgarten der Liebe, sofern der Mensch, in
der Liebe wie im Tode einzig auf sich selbst und seine allereigensten Kräfte
gestellt, durch solche Erkenntnis, Deutung und An-Leitung näher an die
Liebe heran geleitet zu werden vermag. – Es ist auch das Buch eines
Menschen, der ehrlich sein Lehrgeld bezahlt hat, nicht aber etwa eines
Wissenschaftlers! Dies sei hier gleich laut und deutlich gesagt.
Ihr sollt verschont werden mit jenen Bezeichnungen hochgelahrter und
feierlich-zopfiger Art, die bei diesem Thema ach so wenig geeignet sind, das
eigentlcih Wesentliche sichtbar zu machen! Ich werde weder von "erogenen
Kennzeichen" noch von "subjektivem Geschlechtsideal", noch von
"Sexualkomponenten" oder "Coitus" und anderen, noch unliebenswürdiger
ausgedrückten Intimitäten der Liebe reden, sondern euch mit allen diesen
Worten verschonen, um meinetwillen, um euretwillen und um der Liebe
willen.
Denn je mehr ihr auch nur im innern Bereich eurer Gedanken, die
unweigerlich auf die Gefühlswelt abfärben, solche medizinischen Begriffe
herumdreht und diese kühl abgerückte Betrachtungsweise anwendet oder gar
in schallender Diskussion sie mit andern erörtert, desto mehr treibt ihr von
der Insel der Liebe ab, statt sie zu erreichen und ihr geheimnisvolles Inneres
kennenzulernen. Und desto falscher färben sich, durch diese Brille gesehen,
die Liebestatsachen und alle seelischen und sinnlichen Geschehnisse.
5
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
In solchen kalten, ebenso häßlichen wie am Kern der Sache vorbeigreifenden
Worten reden nur die außerhalb des Reiches der Liebe Stehenden – wenn sie
sie nämlich nackt und bleich auf den Seziertisch legen. Ich möchte sie auf ein
viel passenderes Lager betten, wo man sie zwar auch nackt, aber mit innigem
Vergnügen und verstehender Zärtlichkeit betrachten kann.
Wer innerhalb dieses Liebeskreises steht, der wundert sich oder grault sich vor
solchen frostig-pedantischen, täppischen, begriffsbewehrten Händen –
täppisch und unsäglich pedantisch besonders da, wo nun die subtilste
"beschreibende Anatomie" des zu Tode gespießten Lieblingsschmetterlings
gegeben wird und der zerpatschte Schmelz seiner noch zuckenden Flügel mit
neugierigen Augen betrachtet wird. Es geht in Wahrheit hier nicht um die
Anatomie der toten, sondern um die Physiologie der lebendigen Liebe, um
ihre Lebensbedingungen und Todesbedingungen, seelische wie körperliche.
Denn der Schlüssel der Liebe liegt gerade da, wo noch nicht Sinnen-Erleben
und Seelen-Erleben sich trennten.
Ferner: Nicht von der Ehe, sondern von der Liebe ist in diesem Buch die Rede.
Wie könnte der amoralische Maßstab, der der Liebe als einer Naturgewalt
allein ziemt, die nach ihrem, nicht nach unserem Willen kommt und geht,
auch gegenüber einer Institution angewandt werden, welche notwendig alle
möglichen sonstigen Kreise des Lebens in sich hineinzieht und daher ohne
Zweifel moralische Maßstäbe verlangt?
Oft geht die Ehe an der Liebe kaputt, weit öfter allerdings die Liebe an der
Ehe, da beide ganz verschiedene Gesetze und Ziele haben, die miteinander in
den Haaren liegen.
Es dreht sich also, nochmals eindringlich gesagt, in der folgenden Betrachtung
nur um den Standpunkt der Liebe im Vollbegriff des Wortes, um jene Gewalt,
"höher als alle Vernunft", die zwei Menschen bindet an Leib und Seele.
Weder um Moral noch um Kindererzeugung, noch um legale Treue oder
menschliche Treue und geistige Freundschaft zwischen Mann und Frau, noch
um bürgerliche Verhaltungsmaßregeln, noch also um Ehe in ihrer aus den
6
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
allerverschiedensten Gebieten gemischten Struktur. Höchstens kann es sich
um die Frage handeln, wie man auch in der Ehe, sogar in der Ehe (ich möchte
fast sagen: trotz der Ehe) sich die eigne Liebe und die Liebe des Mannes oder
der Frau bewahren kann, auch gerade im ursprünglichen Sinn einer dauernden
Anziehungskraft und Beglückung sinnlicher und seelischer Art.
Ein Hauch der absoluten Souveränität und inneren Wahrhaftigkeit in allen
Lebenslagen, die sich von nichts in der Welt bestechen läßt und sich vor
nichts beugt, ist es, der sogar noch grandiose Untreue und nackte,
leidenschaftsdurchglühte Triebhaftigkeit einer "Liebe nur aus Liebe" mit dem
Adel der Naturwahrhaftigkeit umkleidet und sie dadurch demjenigen
anziehend macht, dem sie gerade ihre Gunst schenkt – wirklich schenkt , aus
ungebändigter Freiheit heraus.
Und so umwittert die wahre Geliebte und den wahren "Don Juan" oder den
bedingungslos Liebenden überhaupt jener Reiz des Absoluten in der Liebe,
der immer wieder magisch anzieht. Sie gehen lieber zugrunde, als daß sie sich
beugen oder verzichten oder sich von Äußerem etwas abmarkten lassen. Und
wie viele gingen tatsächlich an einer solchen unabweislichen Liebe
"unvernünftig" zugrunde. Und staunend sieht die Welt, wie ein Irrationales,
völlig Unbezähmbares alle ihre Satzungen und Wertungen durchbricht, zur
Lust ebenso bereit wie zum Tode.
7
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
Zwei t es S tück
Is t d e n n di e Li eb e ei n e Ku n st ?
Jawohl, die Liebe ist ein Kunstwerk; wer nicht daran arbeitet, dem bleibt ein
roher Block in Händen. Wer sie nicht meistert, der soll sich nicht wundern,
wenn Pfuscherei dabei herauskommt. Wie jedes Kunstwerk ist sie zwar das
Geschenk unbewußter Gnadenkräfte, aber ebensosehr bewußter, sorgsam
abwägender Bemühung.
Jeder und jede Liebende hat, um diese schöne Einheit und den wachsenden
Einklang von zweien zu schaffen und zu erhalten, sich in tausend Dingen
beherrscht, abgeschliffen, eingefügt und in Einzelheiten verzichtet – um
tausendfältig diese kleinen oder größeren Opfer vergolten zu sehen durch die
Wonnen und die Reichtümer des Geliebtwerdens und des Liebens.
Daß auch die sinnliche Liebe (denn um diese geht es uns hier) in mählichem
Aufbau feiner Erspürung des andern, in beglückender Vollendung und zartem
Abklang ein Kunstwerk sein kann und sein muß, erscheint den meisten
erstaunlich. Denn da geht's ja um "das Natürliche". Ach, GÖTTIN – erstens ist
das Natürliche meist so verhunzt und verklausuliert in Hemmungen des
Intellekts, enger Moral, der Konvention und Zivilisation, daß man schon froh
wäre, wenn dies "Natürliche" sich auch nur zeigen würde. Und zweitens ist
gerade die unfreie, unterdrückte Natur, wenn sie losgelassen, oft so roh und
plump, so wenig der Liebesaufgabe wahrer Zweisamkeit gewachsen – denn der
Trieb an sich ist blind und taub -, daß da erst recht eine Liebeskunst nottut.
So ist es bereits eine Kunst, bis zu solcher verschütteten und verklebten Natur
vorzudringen, und alsdann ist es abermals eine Kunst, diese verschüttete, auch
die offen zutage liegende Natur in die Bedürfnisse und Erfordernisse der Liebe
als tiefster Gemeinschaft hineinzubringen. (Denn es ist doch nicht schon mit
der brutalen Tatsache des Besitzens getan, nicht wahr?)
8
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
Die Liebe ist oder sollte doch immer sein die Insel der Seligen im Meer des
Lebens, wo die Wunderblumen gedeihen, die anderwärts nicht wachsen
können. Du mußt aber auch dem Boden etwas nachhelfen, die Blumen
begießen, stützen oder die überwuchernden eindämmen. Zum mindesten
aber darfst du sie nicht mutwillig zertreten oder unbesonnen vor der Zeit
abreißen oder "ernten wollen". Es ist eine Vorstellung der Ahnungslosen, daß
dieses Liebesreich ein bloßer Naturgarten ist: Es ist ein Kunstwerk wie jeder
wirkliche Garten.
Stelle feste Zäune und wachsame Hunde um diesen Garten; es darf nicht alles
dort hineinbrechen – es darf aber auch aus dir selbst nicht jedes
herausbrechen. Denn das Durchschnittsleben ist mit viel Staub und Kram
behaftet, der da nicht hingehört. Laß all das dahinten, angefangen von
Geschäftsärger, Hausärger, Zahnschmerzberichten, Gekränktheiten und
anderem Dreck des Lebens. Reise immer ohne Gepäck ins Land der Liebe;
schütte dich nicht vor deiner Geliebten oder deinem Liebesgefährten wie ein
Mehlsack aus, mit allem, was gerade in dir stecken mag, - du verschüttest dir
vielleicht deine köstlichste Liebesstunde! Man nennt es dann wohl fünf
Minuten lang noch "vertraute Lebensgemeinschaft". Aber schließlich sitzen
beide Liebende entzaubert unter den Siebensachen ihrer Sorgen und Plagen.
Sie bleiben blind verstrickt in die sogenannten "Interessen des Lebens".
Verwechsle nicht, bitte, die Geliebte mit der Hausfrau – sogar wenn beide in
Personalunion stehen!
Es ist ein Zeichen von Talentlosigkeit und Unfreiheit, die verschiedenen
Welten untereinander zu mischen. Deine Seele sei wirklich ganz nur in der
Zweisamkeit und auch in deinen Sinnen. Jede geteilte Aufmerksamkeit rächt
sich. – Was ist etwa ruchloser als die zerstreute Lässigkeit, die aus dem
Liebesrausch des einen vielleicht mit der kühlen Frage heraussticht: "Was ist
die Uhr?" oder "Übrigens wollte ich dich fragen.."
Die Liebe ist ein Fest – es muß nicht nur vorbereitet, sondern auch gefeiert
werden!
9
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
Dri tt es S tüc k
Vo n d er Li e b e al s G e rich t ü be r dich
Die Liebe ist das große Weltgericht für jeden Menschen, seelisch und leiblich.
Nackt werden wir alle vor ihr gewogen. Nicht eine schöne, beschönigende,
aufputzende Hülle kann sich vor ihrem Angesicht halten, keine Künstlichkeit
und Zurechtmachung, weder an Leib noch an Seele. Es kommt dort alles an
den Tag (oder an die Nacht, die Liebesnacht).
Dort erkennt man sie wie sie sind, die Menschen – auch in ihren unbewußten,
ihren verborgenen Regungen -, so wie man sich in der Todesnot gegenseitig
kennenlernt. Dort platzt das Vieh heraus ebenso wie der Meister und Liebling
des Lebens sich zeigt und die Göttin erstrahlt.
Da zappeln sie denn alle nackt auf der Wagschale, die Menschlein, und wollen
ihr Beiwerk so gerne mitgewogen haben: ihre Verdienste, ihre Taten, ihre
Leistungen, ihre soziale Stellung oder gar ihren Reichtum; auch etwa ihre
sonstige, ganz abgetrennte "Geisteskultur", ihren Charakter oder ihre
politische und bürgerliche gute Gesinnung möchten sie gelten sehen – ja
sogar ihr besonderes Talent und natürlich auch gerade ihre Schönheit. Aber
das alles nützt und hilft ihnen nichts, garnichts, wo das wirkliche Gericht der
Liebe spricht – jenes Gericht, das sich als unwiderstehliche Leidenschaft, als
ein Begehren und Vergöttern, als leiblicher und seelischer Bann in der Liebe
vollzieht und den einen erhöht und den andern verwirft – scheinbar ganz
10
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
ohne Grund, Sinn und Vernunft. Da triumphiert der Unscheinbare über den
Strahlenden, der Niedergestellte über den Höhergestellten; es triumphiert der
Arme über den Reichen (aber nicht etwa wegen Armut und Reichtum oder
hoch und nieder).
Nur das was ist, wirklich ist und auch voll gegenwärtig ist in deiner Liebe an
leiblichen wie an seelischen Kräften, gilt und triumphiert in der Liebeswahl
und in der Liebesstunde. Keine verjährten Verdienste, auch sogar nicht
"Verdienste" in der Liebe selber, keine verblasenen Phantasien über eine
romantische, prächtig ersonnene Liebeshaltung, keine nur angemaßten
schönen Eigenschaften und pompösen Allüren halten hier stand. Nur was du
wirklich bist, bleibt bestehen. Hic Rhodos hic salta – und nackt mußt du den
Sprung wagen!
Denn die Liebe entkleidet bis aufs letzte, bis auf die verborgenste
unkontrollierte Regung und Bewegung. Sie entkleidet deine Seele ebenso wie
den kleinen Zeh deines Fußes und die edle oder unschöne Bewegung deiner
Schenkel im Empfangen der Liebe. Auch noch der Klang deines Lachens im
sinnlichen Genießen ist verräterisch! Das ist ihre Ehrlichkeit und ihre Ethik:
die Ethik der unwillkürlichen Wahrhaftigkeit, die Ethik der Natur als
Lebensbewegung des ganzen Menschen in seinem Wesen. Die Natur nämlich
streift den Plunder ab, den Bewußtsein, Erziehung, Grundsätze und
Gewohnheiten dir vor dir selber und vor andern umhängen. Nur was schon
wirklich Natur geworden ist von deiner ganzen Kultur, bleibt hier noch
bestehen.
Unbarmherzig wird enthüllt, was du bist und was du nicht bist, oft sehr anders
als es in der Tageswelt sich darstellen mag. Es hat sich "im Bett" schon
mancher Hyperkultivierte als Barbar erwiesen und manche keusch tuende
Jungfrau als Dirnennatur, aber ebenso mancher schlichte Mann als Seelenund Körperadliger und manche der Schamlosigkeit Verdächtigte als keusch bis
in die letzte unbewußte Regung. Es ist und bleibt nun einmal die große Probe
auf die Wesenskraft nd Zauberkraft eines Menschen, ob er die Macht hat, ein
11
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
anderes Wesen wirklich an sich und in sich zu reißen – ob diese zugleich
primitivste und höchte Gewalt und Krone ihm eignet!
"Sage mir, wen du liebst und wie du liebst, und ich will dir sagen, wer du bist."
Denn die Liebe ist der veräterische Grundriß und Aufriß des ganzen Seelenund Leibgebäudes. Horche auf das Lauschen hin, auch auf das Lachen eines
hochgeistigen Menschen, wenn von geschlechtlichen Dingen indirekt oder
direkt die Rede ist, etwa beim beliebten Zotenerzählen im reinen Männeroder manchmal auch im Frauenkreise, oder bei halblauter Extrakonversation
in gemischter Gesellschaft, und du wirst sie alle erkennen: das faunische
Gewieher, das polternd dröhnende, derb sinnliche Lachen, das lüsterne
gicksende Kichern; die helle frivole oder grell zynische Lache und das hämisch
boshafte Grinsen. Selten ist dabei das freie und befreiende Lachen, das
gutmütige oder auch gütig überlegene Lächeln und der übermütig tolle
Frohsinn, der sich überschäumender Stunden und losgebundener Kräfte
erinnert – am seltensten aber das scheue keusche Verstummen. Dem
Kundigen oder der Kundigen verät jede Wendung des Gesprächs ins erotische
Gebiet, auf welches unbewußt von jedem Teilnehmer geantwortet wird, völlig
deutlich und genau das Bild des Betreffenden in der Stunde der Liebe. Oft
fallen dann Masken erstaunlichster Art, sorgfältig und lang gehütete Masken.
Achte darauf! Denn du kannst vielleicht einen Menschen zehn Jahre lang als
geistigen Freund kennen, und doch kann er in der sorgfältig abgeschnürten
Region der Sinne plötzlich als ein Wildfremder und Unerträglicher sich dir
enthüllen.
12
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
Vi ert e s Stü ck
Vo n d er Li e b e al s Zw eis a mk ei t
Bedenke! Die Liebe ist dem Wesen nach Zweisamkeit, die zur vollständigen,
restlosen Einheit an Leib und Seele strebt. Dies ist ihr Gesetz von Anfang,
unter das du dich als Liebender begibst. Hieraus quellen einzig und allein alle
ihre Gebote, ihre Freuden und ihre Leiden.
Nie darfst du also einsam, isoliert sein, solange du in der Liebe bist, weder
einsam in irgendeinem seelischen Tun noch im Liebesspiel. Bedenke der
Zweisamkeit zu jeder Zeit und laß sie lebendig sein in jedem, auch dem
unbewußtesten Augenblick der Liebesstunde, in jedem Moment des Genusses.
Zwar gibt es auch eine Wollust des Wollustbereitens, einen Genuß des
Genießenlassens, und so ist dort, wo nur der eine dem andern die Seligkeit,
Lösung und Erlösung letzter Sehnsucht schafft, alles noch fest im Ring der
Liebe eingeschlossen, ja dies bildet sogar Stufen auf der Leiter zur äußersten,
auch seelisch gesteigerten restlosen Hingabe und Preisgabe der Liebenden
aneinander. Aber ein scharfer Strich läuft da und ein jäher Absturz droht, wo
dieses grundlegende Gefühl der Zweisamkeit in der Liebesvereinigung nicht
lebt, wo du nur deinetwegen, also allein genießen willst und die wahre
13
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
Liebesgesinnung verschwindet. Glaube nicht etwa, daß der andere nicht
merkt, wo diese Grenze liegt, wo er in Wahrheit zum Instrument deiner Lust
erniedrigt wird, statt zur Liebeseinheit mit dir zusammen erhöht; wo du ihn
wie ein Mechanisches und irgendwie Sinnenlust Bereitendes nur noch
"benutzest". Dann spinnt sich kein Band mehr zwischen den beiden und der
große Absturz in die Einsamkeit ist geschehen - schnöde Einsamkeit des
Genießenden, trostlose des Mißbrauchten. Das Geliebte darf nie nur Mittel
sein und als Mittel geliebt werden. Denn es darf nie mitten im Liebesbund sich
einsam fühlen.
Auch schon die gut gemeinte, aber bloß "gewollte" oder erklügelte, nicht mit
eigener, empfundener Lust gebotene Lusterregung wirkt bereits verletzend für
den Feinfühligen und Feinhörigen, weil dann der eine schon außerhalb des
magischen Kreises der Liebe steht.
Darum horche immer hin auf deinen Gefährten, spüre aus, fühle heraus, wie
du ihm nah und immer am nächsten sein kannst, wie du diese Einheit auch
für ihn findest und ihn aus dem verschlossenen, natürlichen Alleinsein in die
selige Gemeinsamkeit hineinlockst mit Sinnen- und Seelensprache.
Es ist die instinktiv begriffene und lebendig gespürte Zweisamkeit, welche die
mystische Einheit von Sinnen und Seele wirklich erst schafft. Diese ist das
Geheimnis, das über den wahrhaft Liebenden schwebt und sie oft durch lange
Jahre aneinander bannt – die unsichtbare Krone der Beglückung, die über
ihren leiblichen Sehnsüchten, ihren verstehenden Blicken, ihren erratenden
Gedanken, ihrem Lächeln, ihrem ganzen gebannten und gebundenen
Verhalten schwebt. – Diese seltsame innere Gebundenheit der Liebenden hat
ihre besondere zarte Schönheit, so wie die kühne Freiheit ihre Schönheit hat.
14
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
Fünf t es S tück
Vo n Glü ck u n d B egl ücku ng
Daß du in der Liebe wirklich ein neues Reich betrittst, merkst du schon daran,
daß andere und neue Gesetze dort gelten: Hier ward das Glück Gesetz. Gesetz
aber nicht etwa in dem Sinne, als ob es dort eitel Glück und Seligkeit umsonst
gäbe. Daß dies nicht der Fall ist, dafür sorgen schon menschliche Torheiten
und Unvollkommenheiten, auch die dramatischen und tragischen
Wendungen in der Liebe selbst.
Wir sprechen hier ja nicht von der rein ethischen Abart der Liebe, die nichts
mehr mit der sinnlich-seelisch entsprossenen zu tun hat, sondern eine
Geisteshaltung ist, die allerdings ergänzend zur Liebe zwischen Zweien
hinzutreten kann. In der eigentlichen Liebe aber ist jeder glücklich, der
beglückt, und jeder beglückend, der glücklich ist. Großer Kummer,
fassungslose Verzweiflung also, wenn der eine Teil irgendwann durch den
andern "unglücklich" ist oder wenigstens behauptet es zu sein, und bei dem
hohen Wellengang der Liebe sind die übertriebensten Versicherungen dieser
Art an der Tagesordnung; rastloses Mühen, bis er oder sie wieder "glücklich"
ist.. Da bei der großen Nähe und dem heftigen, unbedingten Streben nach
völliger Einmütigkeit und Einssein sich immerfort Anstöße und Ärgernisse
melden – denn wir sind nun einmal von Natur verschiedene Wesen und nicht
15
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
von
vornherein
gleichfühlend
und
gleichdenkend
-,
so
sind
die
Liebesstreitigkeiten, raschen Verzankungen und plötzlichen Versöhnungen
der Liebenden schon zu fast klassischer Berühmtheit gelangt. Aus Anlässen,
die wie Mücken erscheinen, für die Liebenden aber leibhaftige, dicke
Elefanten werden, kann hier schon dauernde Trennung entstehen, wenn die
Liebe sie nicht rasch zu schlichten weiß.
Denn so wortkarg Liebende in der Liebe sind – braucht doch das Gefühl keine
breithinströmende Rede, sondern kann im Stammeln und Lallen der ewig
gleichen Worte seinen Zustand viel treuer malen -, so beredt und unendlich
gründlich sind Liebesstreitigkeiten, die sich um jede Nuance im Auf und Ab
der beiderseitigen Gefühlskurve mit Erhitzung und Eifer bewegen. "Du hast
gesagt" - - "aber du hast gesagt" – und endlose Tränenströme und
Wortwogen versperren den geraden und natürlichen Weg zur Versöhnung
und zur Nähe. Wird nun auch der andere hitzig und verstrickt sich in das
Gewebe der Argumente, so reffelt es nach allen Seiten auf, das Loch im
Strumpf wird sozusagen immer größer. Bald stehen beide trauernd am Rande
eines Abgrundes, der immer hoffnungsloser sich zu weiten scheint und den
man nicht zu überbrücken weiß, ohne sich etwas "zu vergeben".
Jetzt hilft nur ein resolutes Zupacken und Wegschaffen aller dieser bürgerlich
gezierten,
logischen
und
"ethischen"
–
das
heißt
aber
hier
nur
rechthaberischen Hindernisse, die allesamt vor der Liebe nichtig und
unwichtig sind. Man "vergibt" sich nichts, wenn man sich gegenseitig vergibt,
und tut am besten und einfachsten, sich selber gleich ganz und gar "zu
vergeben", das heißt sich einfach einander in die Arme zu werfen. Mit einem
Ruck ist das ganze logische, wundervoll aufgebaute und rechthaberische
Gedanken- und Wortgespinst wie Spinnweben weggeblasen. Der Abgrund der
Entzweiung ist verschwunden – ein anderer, tieferer Abgrund tut sich auf und
vereint die Liebenden.
Nachher wischen sie sich die Augen wie nach einem bösen Traum und können
sich kaum mehr darauf besinnen, was eigentlich die Veranlassung zum Streit
16
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
war. Es ist sogar gefährlich, sich daran zu erinnern, da am Ende doch wieder
irgendein Rechthabe- oder Gekränktheitsteufel sich noch lebendig erhebt und
das wenig anmutige Spiel der verbissenen Debatten von neuem losgehen
könnte! Besser also, die beredten Lippen zur Sicherheit noch ein- oder
mehreremal zuzusiegeln mit dem Siegel, das immer gültig ist vor Liebenden:
dem Kuß der Münder wie der Leiber.
Rechthaben ist nichts – denn es gibt keine Rechte in der Liebe. Liebe ist
Gnade und nicht Recht.
Scham ist
nichts – es gibt keine Scham innerhalb und vor der Liebe. Du
kannst von Kopf bis Fuß splitternackt vor dem geliebten Wesen sein und bist
doch eingehüllt: in seine Liebe – sonst aber hüte dich. Du kannst die
"unzüchtigsten" Verrenkungen, Umschlingungen, Zärtlichkeiten und
Stellungen mit ihm haben – wenn er oder sie nur glücklich ist und du ihn
oder sie beglückst, so ist alles in schönster Ordnung und ganz natürlich –
solange ihr euch nämlich liebt. Sonst aber – wehe dir!
Sünde ist nichts – es gibt keine Sünde im Paradies der Liebe, außer der, dich
gegen das Glück der Liebe selbst zu versündigen.
Sogar Schönheit ist nichts. Dein kleines Ladenmädel ist schlichtweg die
Schönste, denn sie ist die Liebste; du liebst sie nicht etwa, weil sie "die
Schönste" ist. Schönheit aber ist ohne Liebe so langweilig wie ein Marmorbild;
du kannst gähnend verzweifeln ihr gegenüber.
Aber siehe, - es entsteht aus der Liebe eine neue und sinnerfüllte Schönheit:
die ganz an den Augenblick gebundene Liebesschönheit, die nur das
Aufglühen und Aufblühen des Leiblichen ist, ein Durchschimmern der Liebe,
der herzhaft derbsten wie der seelisch-erotischen. Es gibt hinreißende
Schönheiten dieser Art, deren Geheimnis mit keinem Verstande zu ergründen
ist.
17
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
Glaubt ihr, daß Carmen * besonders schön sein mußte? Nein, nur das Leben
und die Liebe machten sie schön – das heißt hier: unwiderstehlich.
Auch Tugend ist nichts vor der Liebe. Wenn Tugend Selbstbewahrung in
jedem Sinne sein soll, ein sittliches, auf dem Willen beruhendes Verhalten, so
ist sie sogar das Gegenteil der Liebe, die in allem Selbstaufgabe und
natürliches Verhalten ist. Die Tugend aber etwa als Festhalten am Geliebten ist
gar keine Tugend, wenn du liebst, und es ist gar keine Liebe, wenn du nur
tugendhaft bist. Wo diese Art Treue einsetzt, hat die eigentliche Liebestreue
aufgehört.
Du kannst dich dein lebenlang nach der Liebe vergeblich recken und sie doch
nicht erwerben, und du kannst sie zur treuen Begleiterin deines Lebens haben,
wenn du ihre Gesetze begriffen hast und ihnen unter allen Umständen
gehorsam bist, denn das ist nicht immer einfach oder leicht. Dann aber bist du
glücklich und auch beglückend in der Liebe. Sie lohnt es dir hundertfältig,
selbst wenn sie dich zeitweise an den Haaren am Boden schleifte und du
Wunden davontrugst. Nicht die Treue zu einer Person (die von der Person
zwar in der Regel auch belohnt wird), sondern die Treue zum Wesen der Liebe
schafft ihr Glück und ihre Beglückung, auch wenn diese Treue einmal wie
Untreue ausschauen kann. Gehorche ihr immer, blindlings, ohne zu fragen.
Wo sie dich festhalten heißt, halte fest und wenn dein Leben darüber
zugrunde zu gehen scheint oder zugrunde geht; wenn sie dich fahren lassen
heißt, lasse fahren, selbst wenn dir das Herz blutet und du nur Ruin und
Untergang vor dir siehst. Denn nur mit solcher Gesinnung wirst du wirklich
beglücken können in der Liebe und wirklich glücklich sein können.
Aber die Liebe ist großzügig – auch die Versündigung gegen sie selbst stößt
dich noch nicht hoffnungslos aus dem Paradies, wenn du dich in
Liebesgesinnung wieder unter ihr Gebot stellst..
*
Titelrolle einer Oper von Georges Bizet (1875). – Siehe hierzu auch Th.W.Adorno: 'Fantasia sopra
Carmen', in: GS 16, S. 298 ff. (Anm. M.v.L.)
18
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
"So sieht also das Glück und die Beglückung aus, das Gesetz des Glücklichseins
und Glücklichmachens?" fragt mancher enttäuscht. "Aber das ist ja ein höchst
gemischtes Vergnügen!" –
Ja, glaubt ihr denn, daß Glücklichsein und Beglücken so "von selbst" geht, bei
dem höchst wenig für Glück begabten Menschen? Oder meinst du, daß du,
Egoist von mäßigen Reizen, ohne weiteres auch schon beglückend bist? Dazu
gehört erst ein Zerbrechen des "alten" Lebens von Grund auf, und ein
Gehorsam gegenüber dem neuen. Mancher hängt zähe an diesem alten Leben,
an den Gesetzen der klugen "äußeren Welt", an den schönen Schmucksachen,
die sie uns umhängt, so daß wir uns Wunder was dünken, an dem ganzen
geblähten Stolz, an "Menschenwürde" und hochmütiger zweibeiniger Tugend.
Aber gerade von der Liebe wird die Würde, die Würdigkeit des Menschen grell
beleuchtet und bis aufs letzte geprüft, und die Tugend sieht bisweilen in der
Liebe bedenklich vierbeinig aus – oder beinahe achtbeinig. Und dies bedeutet
letzthin, daß alle menschliche Erscheinung eben nur Schein, Hülle und
Gleichnis ist und trotzdem oder sogar deswegen geliebt werden soll und darf,
mit allen Zärtlichkeiten und Wonnen des Fleisches und aller Leidenschaft.
Der Liebende ist demütig, denn er ist immer "ohn' all Verdienst und
Würdigkeit" beschenkt. Er ist gut, denn er ist unschuldig geworden und
dankbar. Er ist zerknirscht vor der Gnade und reuig vor der Großmut der
Liebe. Er steht allem offen, denn er ist erschüttert und gelöst und empfindet
als Liebender erst, was es bedeutet: Mensch sein, Seele sein, Leib sein,
naturhaftes Glied sein im Ganzen, das ihn überflutet im Rausch der
Liebesumarmung. Er wird bescheiden – das Lächeln der Geliebten wird ihm
schon zum Glück und er fragt nach nichts anderem; der bloße Atem des
geliebten Wesens an seinem Mund wird Wonne und er will nichts anderes von
der Welt. Er ist weise, denn er begreift das größte und wunderbarste Geschenk
des Lebens: Daß sich ein Mensch dem andern schenkt und sich verschenken
darf, aus freien Stücken, ganz, mit Haut und Haaren, mit Innerstem und
Äußerstem, mit Seele, Sinnen und Leib. Denn hier und hier allein, im Land
19
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
der Liebe, kommt der Mensch ganz von sich los und kommt doch erst ganz
zu sich hin.
Bald, allzu bald und bei langem Zusammenleben unvermeidlich, melden sich
wieder die Schranken des Ich, die Enge, die Armut, der seelische Geiz und die
Selbstsucht des "vernünftigen" Menschen, der eben doch außerhalb der Liebe
nur ein kümmerliches Einzelwesen ist und bleibt und dies immer mit sich
herumschleppt.
Und so gibt es Vergänglichkeit und Welken auch dieser schönsten Blüte des
Lebens. Dies ist der große Trauermarsch, der gedämpft immer dort ertönt, wo
die Liebe weilt.
20
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
Sechs tes Stü ck
Vo m B lüh e n u n d W e lke n d er Li e b e
Was geschieht im Erblühen der Liebe? Eine Hand tastet nach dem Schlüssel
deines Wesens und schließt dich leise auf. Verstanden bist du durch liebende
Anziehung, gekannt bis in die heimlichsten Winkel deiner Seele, und
erschrocken blickst du auf den, der erriet, was du selber vielleicht nicht
wußtest. Denn die Liebe macht hellseherisch. Verlangen richtet sich auf dich,
sehnend, fordernd. Plötzlich verspürst du, daß aucn du Leib und Verlangen
hast, daß ein Unnennbares dich wegdrängt von dir ins Andere hinein – weit
weg von dem Kreisen um den eigenen Mittelpunkt. Ausgelöscht alle
sonstigen Lichter im Himmelsraum; nur ein Licht zieht und strahlt. Du starrst
in diese Flamme und glaubst bei lebendigem Leibe die ewige Seligkeit zu
erleben. Du fällst ohne zu wissen, daß du fällst und wohin du fällst – es ist ja
auch so gleichgültig. Denn dein Ich ist ertrunken, verloren, irgendwo in
jenem Weltenraum, oder untergegangen im Flammentod. Du bist König und
Bettler zugleich, erhoben und in tiefste Demut gesunken, in die Demut des
Dankes für die unverdiente Gnade, einem Wesen sein Höchstes, Einziges und
tief Vertrautes zu sein.
21
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
Irgendwann kommt der große Abstieg. "Fugit amor" hat Rodin eine düstere
Schöpfung genannt, wo Mann und Frau, verquält aufeinander gebettet, mit
verzweifeltem Blick an den Brüsten der Liebe zerren, um ihr noch den Rausch
der Seligkeit zu entreißen und dem gemeinsamen Grabe jene Einheit
abzuringen, die die fliehende Liebe bereits mit sich nahm.
Fugit amor! Es kann weiter verbleiben: Dankbarkeit, Treue, Achtung,
Freundschaft, Pflicht – aber jener AMOR, der nicht umsonst Flügel hat und
aus dem Himmelraum ohne Zutun der Menschen sich an ihr Lager setzt, ist
weggeflogen. Macht euch keine Komödie vor, wenn ihr ehrlich bleiben wollt
miteinander. Es ist ein Sakrileg, die Göttin Liebe und ihren Rausch und
Wahnsinn zu mimen! Wagt es zu wissen und es euch zu sagen – wenn auch
mit zartesten Worten menschlicher Vertrautheit – und zieht die Konsequenz:
Hinein in eine andere Form eurer Bindung – oder in andere Bindung
überhaupt.
Vielleicht auch, daß euch die Göttin noch bisweilen besucht, wenn ihr die
Stätte nicht zum Komödienhaus entweiht habt. Oder aber entschlossen hinaus
in ein neues Leben, das demütig wieder des Wunders harrt, welches aber
zwischen euch Beiden kaum zum zweitenmal entstehen wird; es sei denn, daß
ihr dereinst von Grund auf andere und neue geworden wäret. Oder euch
immer wieder wandeln und miteinander andere werden konntet. Dieses stete
"Stirb und werde" in ein- und derselben Beziehung wird aber kaum von der
trägen Durchschnittsnatur erfüllt.
Je komplizierter und reicher die Herstellung seelischer Einheit als Zwilling der
körperlichen sich gestaltet, desto länger mag sich der vereinigende Prozeß
hinziehen. Wird aber diese seelische Einheit schlußendlich empfunden, so ist
jene tiefe Magie der Liebe, die beide zueinander zog, vorbei. Liebe als
dauerndes Fühlen ist nämlich keineswegs Sättigungszustand, ist nicht
ungebrochene Einigkeit und Einheit, sondern ist nur immer das Streben nach
solcher Sättigung!
22
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
Bleibt aber die wirkliche Annäherung und Vereinigung unmöglich, so tauchen
bald die Individualitäten mit allen ihren seelischen Sonderheiten und
Ansprüchen wieder auf, und das bedeutet: Sie entfernen sich wieder
voneinander, bis zur schroffen Abwendung. Oder es bleibt nur die unerlöste
Sehnsucht und Trauer um eine überhaupt nicht vollzogene oder doch nicht
zu Ende gelebte Einswerdung.
Solche ungesättigte Liebe ist noch am ehesten das, was als "ewige" Liebe oder
richtiger "unsterbliche" Liebe bezeichnet werden kann, denn in der Tat stirbt
hier nicht die Sehnsucht der Seele. Sie kann nicht sterben, weil sie sich nicht
zu Ende lebte.
"Ewige Treue" läßt sich schwören – allerdings nicht die Treue der Liebe selber,
sondern die Treue des Willens zur Treue. Ewige Liebe aber ist so wenig zu
schwören wie ewiges gutes Wetter. Und doch ist solcher Schwur oft kein
leichtfertiger; er zeigt dann immerhin den inneren Charakter und auch die
Stärke der Illusionskraft dieser Liebe an. Der Erfahrenere schwört nicht mehr
ewige Liebe – er hofft nur inbrünstig, daß diese Liebe von Ewigkeitscharakter
sei und daß sie auch zeitlich beständig sei oder durch die Willenstreue zu
einer Lebensgemeinschaft wird.
Viele aber, da sie die Ewigkeit der Liebe nicht auch als zeitliche Dauer
erlebten, glauben dann, es wäre gar nicht wirklich Liebe gewesen – weil sie
nicht blieb. "Wenn ich dich nicht mehr so in jedem Moment mit jener
Ausschließlichkeit der ersten Tage und Wochen liebe, so habe ich dich wohl
überhaupt nicht geliebt", argumentieren diese. So wird das natürliche Welken
der Liebe zur seelischen Katastrophe und zum Zusammenbruch des Glaubens
an das Leben: "Wenn dies gewaltige Erleben nicht hielt und sich erhielt – was
soll dann halten in dieser Welt?" –
Manchmal, vornehmlich bei in Liebesgemeinschaft Altgewordenen, kann
noch das Bewußtsein von genossenem Glück und gebrachter Frucht, leiblicher
wie geistiger, trösten, und diejenige Liebeswärme, die nichts mehr mit der
geschlechtlichen Liebe zu tun hat – von der aber immer wieder noch dankbare
23
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
Erinnerung hineinragt in die reine Caritas und Menschenliebe zwischen den
Lebensgefährten. Solche Haltung ist ein wahrhaft schöner Ausklang des
wesenhaft einsamen Menschenlebens.
Allerdings, ihr fehlen doch die erhellenden Durchbrüche und Einblicke, die
unmittelbare visionäre Vertrautheit der leidenschaftlich-leiblichen Liebe, die
auch gerade Seelisches aufschließt unter Liebenden. Seltsamerweise stellen sich
erotisch wenig lebendige Menschen ja immer vor, daß die "Sinnenliebe" eine
Sache apart für sich sei und keinerlei seelische Widerklänge und Aufschlüsse
hervorruft, während doch das Faszinierende jeder starken leiblichen Liebe
gerade ihr intuitives Erspüren des Seelenkerns ist: Du wirst erkannt in mehr als
körperlichem Sinne in solcher Liebe – bis sich der trennende Vorhang wieder
senkt.
24
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
Sie b e nt es Stü ck
Eini g es ü b er Rück sic ht i m Li eb e sl eb e n
Selbstbeherrschung und rein äußerliche Rücksicht, nicht nur der eigentliche,
tiefere
Altruismus,
spielen
im
Liebesleben
wegen
der
ständigen
Berührungsflächen der Beiden eine viel größere Rolle, als man es wahrhaben
möchte. Es mag vielleicht "wahr" sein und aus deiner Ehrlichkeit
herauspoltern wollen, daß du gerade ganz miserabler Laune bist. Aber wenn
du wenigstens deiner Gefährtin gegenüber so tust, als ob du bereits über
dieser Laune stehst und sie möglicherweise gar nicht oder nur noch in
überlegener Feststellung deiner Geliebten oder Gemahlin zum besten gibst,
so hat die Wahrheit nichts dabei verloren, die Liebe und die Erfreulichkeit des
Zusammenlebens aber sehr viel gewonnen.
Hast du gar häßliche oder abstoßende körperliche Gewohnheiten, so lege sie
ab oder beherrsche sie wenigstens, oder tue sie für dich allein ab. Das
schamlose Sichgehenlassen in allen körperlichen und seelischen Stimmungen
oder Entgleisungen ist der sichere Ruin eines erotischen Verhältnisses.
Denn es hat nichts, gar nichts mit der wirklichen seelischen Nähe oder Ferne
und nichts mit der eigentlichen, auch körperlichen Liebeseinheit zu tun, wenn
du dir in manchen Dingen körperlicher Art einige wohltätige Zurückhaltung
25
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
auferlegst und nicht mit all diesem auf den Gefährten drauffällst. Schon der
Wert getrennter Schlafräume ist von erotisch Feinfühligen oder auch seelisch
Schamhaften sehr deutlich empfunden worden, obwohl dabei eine bestimmte
gefühlsmäßige Innigkeit und spontane
Hingabebereitschaft allerdings
gefährdet werden kann – das innige Miterleben und Mitatmen mit jedem
Atemzug und jeder seelischen Regung. Jedoch wird nur in seltensten Fällen
der gemeinsame Schlafraum durch Jahre hindurch ohne Gefahr der erotischen
Abstumpfung (oder des sinnlichen Übermaßes mit nachfolgender
Abstumpfung, was auf dasselbe herauskommt) geteilt werden können. Denn
selbst der innigst Verbundene will und muß zu Zeiten allein sein – auch zu
Nachtzeiten.
Eine weitere wesentliche Gabe bei der Gestaltung der Liebeseinheit, gerade
von dauernder Art, ist das stillschweigende oder abglättende zarte Übergehen
von Schwächen und Eigenheiten beim Gefährten der Liebe oder Ehe. Der Takt
ist mindestens so wichtig im Liebesleben wie das eigentliche erotische
Temperament! Denn gerade das intime körperliche Zusammenleben bietet
genug Situationen, die auch zwischen seelisch Vertrauten ins Allerpeinlichste
und sozusagen Demütigende abrutschen können, wenn nicht eine taktvolle
Hand und ein liebender Sinn – der eigentlich ja schon ein Erraten, Erspüren
der verletzlichen Schwächen im andern bedeutet – diese kleinen Zufälle und
Mißgeschicke glättet. Das gilt auch vom eigentlichen "Versagen" oder
körperlicher Unbehilflichkeit im Liebesakt selbst, sei es aus Mangel an
Erfahrung oder durch andere momentane Hemmnisse. Hier ist das Feld der
hilfreich ausgleichenden Liebe – eine Art "barmherzige Schwester" oder auch
"barmherziger Bruder" sein -, die scheinbar sehr weit von dem abliegt, was
man im allgemeinen darunter versteht, die aber in der Wurzel doch aufs
nächste damit verwandt ist: Nämlich die seelisch-menschliche Zuwendung
auch gerade innerhalb des Erotischen da, wo eine nur sexuelle Zuwendung
einmal nicht am Platze ist. Wer sich in bestimmten mißglückten Situationen
der Liebe nur als "Weibchen" oder "Männchen" darstellt, das sozusagen auf
seinem Recht pocht, und wer gar naiv und offen seiner etwaigen
26
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
Enttäuschung oder seinem Ärger als Sexualwesen Raum gibt, entschleiert sich
aufs bedenklichste als brutales Animal. Ebensowenig aber ist eine nüchternfremde Einstellung, sozusagen als völlige Gleichgültigkeit gegenüber allen
solchen Nöten und der Beschämung des Gefährten angebracht, etwa nach
dem Motto: "Deine Sache, wie du damit zurecht kommst."
Wenn es sich um menschlich und seelisch lang miteinander vertraute
Liebende handelt, so fallen solche körperlichen Unglücksfälle, eingerechnet
den Unglücksfall, das Versagen des eben nicht allbereiten Dieners, weniger
oder gar nicht ins Gewicht und werden mit einem Lächeln oder einer
humorvollen Bemerkung abgetan. Aber dazu gehört schon eine vertrautere,
entspanntere, abgeklärtere, ja vielleicht auch schon etwas entzauberte Liebe..
Wo aber noch jener zarte Schleier der gegenseitigen Unentdecktheit und
Unvertrautheit beide umfängt und wo das erotisch gefärbte und übersteigerte
Bild voneinander noch ganz frisch ist – es sollte ja immer am Leben bleiben! –
das die Vollkommenheit um jeden Preis auch im gemeinsamen
Liebesgeschehen und Liebeserleben will und noch braucht – da sind alle diese
Körperlichkeiten sogar bisweilen katastrophal oder jedenfalls entscheidend
wichtig für den weiteren Verlauf der Liebe; - es sei denn, daß ein dionysisch
unbekümmerter sinnlicher Drang zueinander alles, aber auch alles überrennt
und überwindet, was an Steinen auf dem Weg der Liebe liegt. Meist aber sind
die Menschen nicht so tief entrückt in den fortreißenden Eros.
In der Liebe hat sich keiner über den andern zu erheben; vielmehr will jeder
Liebende den andern über sich erheben – weil er ihn liebt, oder um ihn lieben
zu können. Es ist daher die feinste Rücksicht, die auch bei Nietzsche
ungemein zartfühlend empfunden und formuliert ist ("So dir jemand ein
großes Unrecht tut, so tue du geschwind fünf kleine dazu" – um ihm nämlich
die Beschämung zu ersparen), wenn der Mann oder die Frau geistige Vorzüge
und physische Überlegenheit nach Kräften verschleiert und sich zum
Schwächeren macht. Dies ist von Mannes Seite, aber auch von mancher sonst
hochstehenden Frau oft nicht verstanden worden. Die geistig "hochmütige"
27
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
Frau fand dann keine Liebe oder stieß sie rasch wieder ab, weil sie nicht jene
wahrhafte Demokratie der Liebe herzustellen vermochte. Aber auch mancher
Mann hat das geduckte oder kritiklos-fad ihn anbetende Wesen, das seine
Fehler nur verstärkt und ihm selbst schließlich verächtlich wird, als Gefährtin
sich selber erst geschaffen mit seiner plumpen Selbstherrlichkeit.
Tröste also den Geliebten über etwaige Schwächen oder Mängel, aber tröste
ihn so, daß er nicht merkt, daß du ihn tröstest. Stelle dich blind, wo es
harmlose Schwächen, nicht bös sich auswachsende Charakterfehler sind; stelle
dich blind und taub, wenn ihm körperlich eine Entgleisung, ein Malheur
irgendwelcher Art in der Liebe passiert; stelle dich blind, taub und stumm, das
heißt, beiße dir eher die Zunge ab, als daß du ein Wort über Dinge verlierst,
die ihm in solchen Situationen gerade am tiefsten peinlich sein müssen, und
sei blind, taub, stumm und auch scheinbar gefühllos, wenn er einmal aus
Unachtsamkeit, nicht aus bewußter Brutalität oder gewohnheitsmäßiger
Stumpfheit, dir etwa in der Liebesvereinigung Schmerzen zufügt, und, ohne es
selbst zu ahnen, dich in herzlich unbequemen und im Grunde wenig
genußreichen Lagen im Liebesspiel malträtiert, selbstvergessen und glücklich.
(Auch hier gilt dasselbe für den Mann, seiner Geliebten oder Ehefrau
gegenüber.)
Es ist ganz belanglos, ob du in dem oder jenem Moment in der Liebe
Unangenehmes, auch sogar ästhetisch Widerwärtiges gesehen, erlebt oder
erduldet hast, gegenüber der einzigen Wichtigkeit, ob er (und also auch du,
wenn du eine Liebende bist) beglückt war, ob sich eure Liebe zu einem
vollkommenen Ring zusammenschließt und nichts euren gemeinsamen
Himmel trübte. Kleinliche Wehleidigkeit und ästhetische Zimperlichkeit sind
nirgends schlechter angebracht als im großen Erleben der Liebe, die ja im
eigentlichen, höchsten Rausch tatsächlich blind, taub und gefühllos für
Schmerzen und achtlos für Nebensächlichkeiten macht!
Oder – hast du gesehen, daß ihm wüst das Haar ums Haupt hing und der
Schweiß bei der Liebesarbeit in Strömen floß? Hast du gehört, daß das Bett
28
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
herzzerreißend quietschte, hast du gefühlt, daß deine Haut schmerzhaft
aufgerieben war vom Spiel der Bartstoppeln, oder nur ein Wort darüber
verloren, ja auch nur bemerkt, daß du nur mit äußerster Anstrengung dich
gerade noch schwebend in der Lage halten konntest, die dir im Eifer des
Gefechts zugemutet wurde? – Eigentlich nicht? Nun also - !
Dies insbesondere den Männern ans Herz gelegt, die meist ahnungslos in ihrer
Selbstherrlichkeit als Geschlechtswesen oder hochmütig als monopolisierte
Geistwesen auch in der Liebe ihr eigenes Verhalten in allem sehr schön und
richtig finden, dabei aber oft nur als plumpe Bären von dickem Fell in diesem
Gefilde einherstapfen. Sie haben noch keine Ahnung, daß auch in der Liebe
eine Kultur existiert , die gar nichts mit äußerlichen und sinnlichen
Verführungsmätzchen oder dem sogenannten "Raffinement" innerhalb der
Sphäre der Geschlechtlichkeit zu tun hat. Solche Männer wären auch recht
erstaunt, wenn der Chor der Ehefrauen und sonstiger, besonders auch seelisch
hochstehender Frauen über dieses Kapitel einmal wirklich ihren Mund
aufzutun wagten. Aber das tun sie meist wiederum nicht, weil sie jene
liebende Duldung und Liebeshöflichkeit haben, die schweigend über Rüdes
und Plumpes hinwegsehen will. Gesehn und gespürt haben sie es allesamt. Da viele Frauen die Liebe tatsächlich nie besser erlebten, dulden sie derlei
seufzend, erklären aber dafür die körperliche Seite der Liebe für eine
Brutalität, eine traurige Notwendigkeit, allerdings zu löblichem Zweck, oder
halten sie im Grunde für "Schweinerei", von der unbegreiflicherweise einige
exaltierte oder "sinnliche" Frauen nur zu viel Wesens machen.
Der Mann als großer Schöpfer der Kultur, gerade er, nicht die meist still
duldende oder liebend ausgleichende Frau, würde ungemein verdutzt und
beschämt dastehen, wenn er sich in seiner ganzen erotischen Ungeschlachtheit
und Plumpheit einmal im Spiegel sähe! Schon daß es eine wirkliche Kultur in
diesem Bereich der Liebe geben kann – gerade weil sie nicht aus physischen
Faktoren einerseits und achtungsvoller Seelenliebe andererseits besteht , wobei
ein Mann durchaus auch dieselbe, ansonsten geachtete Frau en canaille
29
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
behandelt, sowie es aufs sinnliche Gleis geht! - , wird von ihm oft nur mit
ungläubigem und etwas verächtlichem Kopfschütteln zur Kenntnis
genommen. Aber es gibt keine wahre Kultur, die nicht bis in die Wurzeln
Kultur ist! Wurzel aber ist das Natürliche; die Kultur im Geschlechtlichen ist
daher das ABC aller anderen, - das denn auch wirkliche oder sogenannte
Naturvölker und naturhaftere Volksschichten nicht selten trefflich
beherrschen, während eine schief und wacklig gebaute bloße "Oberkultur" oft
glänzend versagt, schon in primitiven menschlichen Dingen.
Es ist alles auf einer Linie gelegen, und die schönste Schul-, Universitäts- und
Geistesbildung kann solchen Grundmangel an Sinnenkultur, die ja keineswegs
auf Geschlechtliches beschränkt ist, nicht gut machen. Ich sehe noch den
gedankenvollen, selbstgefälligen Geistesheroen vor mir – unverkennbarer
Typ! -, der im Park von Weimar spazierte, hinter ihm trippelnd seine
grauhaarige, so fein und zerdrückt-vergrämt aussehende Lebensgefährtin. Er
verlor sein Taschentuch, sie hob es auf – brachte es eilig heran -; er hat mit
keinem Blick, geschweige denn Wort gedankt – das heißt, er hat es nicht
einmal empfunden! Solche scheinbaren Kleinigkeiten sind viel tiefer und
weittragender für die Grundlagen einer wahrhaften, auch die seelische
Haltung umfassenden Kultur, als man glaubt. Die seelische Unachtsamkeit in
jedem Sinne und die physische Dickfelligkeit der Wahrnehmung und
Einstellung trug uns Deutschen den Ruf der "Barbaren" ein, trotz bereitwillig
anerkannter geistiger Überlegenheit.
Distanz, Beherrschung, Form: Ohne diese drei Dinge – eben Kulturdinge – ist
ein schönes und wahrhaft erotisches Liebesleben ebensowenig aufzubauen,
wie ohne die drei Naturdinge: innere Nähe, Auflösung der getrennten
Zweiheit in eine Einheit und Aufgehen der starren Individualität in die
Verschmelzung.
Distanziert wird
eben
das,
was
peinlich
und
hemmend
für
solche
Verschmelzung ist; beherrscht wird das, was physisch abstoßend oder seelisch
30
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
verletzend wirken kann; geformt wird das, was "roh" allenfalls eine eher
tierische Vereinigung zuläßt.
Dabei setzt solche Beherrschung, Rücksicht und Zuneigung, als liebende
Barmherzigkeit für den andern, einen klaren Persönlichkeitskern voraus, der
auch die Liebe erst gestaltet, - als Kunst an der Natur. Wem es an solcher
grundlegender innerer Abgegrenztheit und Festigkeit mangelt, für den kann
die unmittelbare Hellsichtigkeit in der sinnlich-leiblichen Vereinigung zu
einer Gefahr werden. Ganz einseitig schwingt dann der Eine mit im
körperlichen, sogar im seelischen Zustand des Liebespartners. Es handelt sich
dabei um eine seelische Tendenz zur allzu unabgegrenzten Anpassung oder
"Gefälligkeit". (Vielleicht in diesem Zusammenhang ist das Mitleiden schon
als "Tugend der Dirnen" bezeichnet worden.)
Ein Kern von Selbsterhaltung und nicht wahllos mitgehendem oder sich
aufgebendem Ich bleibt notwendig auch und gerade für das liebendste Weib
und den verliebtesten Mann.
31
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
Ac ht es S tüc k
"Wi e b le ib e i ch ju ng un d s chö n " – i n de r Li e b e?
Wie man jung und schön bleibt, beschäftigt heutzutage die Menschen mehr,
als
man
glauben
sollte.
Es
ist
ein
Lebensfieber
und
Jugendfieber
ausgebrochen; keiner will alt werden oder alt sein.
Wenn dies irgendwo begreiflich oder berechtigt erscheint, so ist es in der
Liebe. Wer liebt und auf Gegenliebe hofft oder sie bereits beglückt empfängt,
möchte, wenn er kein Asket oder "reiner Kopfmensch" ist und die Liebe nicht
nur als seelische Angelegenheit betrachtet, um keinen Preis häßlich oder
reizlos oder abstoßend sein.
Schon der Wunsch, dem Geliebten und Umworbenen zu gefallen, der in
jedem Menschen lebendig ist, solange er liebt , das heißt, nicht sich als sicherer
"Besitzer" einer Liebe fühlt, sondern als immer wieder Begieriger und
Werbender, verschönt uns. Die Bewegungen werden zugleich weicher und
gebunden-beherrschter; eine seelische Labilität und Fragilität mildert das
selbstsichere Gehaben allzu robuster Naturen. Erregung und Sehnsucht lassen
die Wangen sich röten, den Blick lebhafter und tiefer erscheinen, die Stimme
weicher und den Mund voller. Das unbekümmert Selbstsichere mancher
Menschen, das achtlos-rücksichtslose und kühl-zweckmäßige Benehmen
weicht im Liebenden einer achtsamen Anmut. Dazu kommt die strahlende
Erhöhung der ganzen Lebensstimmung durch das Bewußtsein, geliebt und
begehrt zu werden.
32
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
Gar nicht zu reden erst von der vitalen Anfeuerung und Belebung, die die
eigentlichen Zärtlichkeiten zwischen den Liebenden bewirken, sodaß sie
blühen und glühen; - was Wunder, wenn nun auch alles Körperliche belebt,
gelöst und erwärmt ist, bis in sonst tote Regionen körperlichen Empfindens
hinein. Und erst die oft recht halsbrecherische Gymnastik des eigentlichen
Liebesspiels und die Aufnahme der lebensspendenden geschlechtlichen, die
ganze Vitalität anreizenden Säfte und Kräfte! Denn Liebe ist in jedem Falle
konzentrierteste Lebenskraft. Man kann auch in diesem Sinne wirklich "von
Liebe leben", und insbesondere die Frau wird "satt", wo rechtschaffen geliebt
wird; - der Mann aber hat einen rechten Wolfshunger nach vollbrachten
Heldentaten, der ebenfalls auf eine Belebung und Erhöhung seiner Vitaltät
hinweist, trotz der Kraftverausgabung.
Kurz, die Liebe selbst ist auf dem Gipfel ihrer Erfüllung, nicht schon auf dem
Gipfel ihrer Raserei, wo die seelische Sehnsucht die körperlichen Fähigkeiten
gelegentlich über ihre natürliche Grenze treibt, das
gründlichste und erfreulichste Schönheitsinstitut.
vollkommenste,
Es gibt aber doch eine besondere seelische und erotische Pflege von
Lebendigkeit (oder "Jugend") und Schönheit. Ich will einiges davon hier
zusammenfassen..
~ Sei klug und spare deine Kräfte am rechten Ort; vergeude nichts vom
Kapital der Seele – das heißt, spare deine Kräfte gegenüber Unwesentlichem
und Überflüssigem.
~ Sei nicht faul! Behalte immer die Kraft, deine natürliche Trägheit zu
überwinden, dich zu regen und weder seelisch noch leiblich zu verfetten. "Alt
werden" heißt vor allem, bequem werden, träge, eingerostet, schwerfällig oder
sich gehen lassend. Man sollte täglich "Willensgymnastik" treiben und sich nie
von Gewohnheiten einlullen lassen. Dies gilt schon ganz allegemein, erst recht
aber für Liebende.
33
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
~ Vergiß nie, daß die Liebe als Geschenk einer Seele ein Glück, ein Wunder
und eine Gnade ist. Wer satt auf ihr als Besitz herumstolpert, zertrampelt
dieses Schmetterlingswesen. Wer sie aber noch immer fromm-beglückt
empfindet, trägt den Ausdruck der gläubig-staunenden Jugend dauernd und
unverlierbar im Gesicht. Es ist diese Seelenhaltung der Jugend, die der
abgebrühte und abgekämpfte Erwachsene verliert. Das geht bis in das
Körperlichste des Liebesaktes. Du kannst als Fünfziger und Fünfzigerin sogar
trotz allerlei guter und böser Erfahrungen die Liebe so keusch und entzückt in
der Umarmung empfangen, als ob du Jungfrau wärst oder deine erste
Jugendliebe durchmachtest.
~ Vergeude keine Zärtlichkeiten zur Unzeit! Die Perlen der Liebkosungen
dürfen nicht vor die Säue der Geschäftsgedanken oder anderer gefräßiger
Ungeheuer geworfen werden, die dich unseligen Erdenbürger zumeist
umgrunzen
und betäuben. Eine dann ungeduldig abwehrende
Handbewegung oder auch nur zerstreute Abweisung entfärbt und entwertet
oft mehr als die gegenwärtige Liebkosung – nämlich auch die zukünftige. Da
diese specktragenden Borstenviecher, die ja ansonsten nützliche Dinge
einbringen – ich meine alle Sorten von "Ernst des Lebens" vom Börsenblatt
bis zum Kohlenmann mit der Rechnung (und dem betont-verständnisvollen
Grinsen) – leider zum alltäglichen Leben notwendig sind, so hat derjenige
recht, der eine Zärtlichkeit in solchen präokkupierten Momenten wegweist:
Alles zu seiner Zeit!
Ist es aber nur eine Wolke des Unmuts oder ein Nebel des Mißvergnügens,
der aus der täglichen Plage aufsteigt, so kann ein Blick des geheimen
Liebesverständnisses, eine zarte, zärtliche Berührung Wunder tun an
belebender Beglückung.
~ "Man muß die Kraft haben, von Zeit zu Zeit eine Vergangenheit zu
zerbrechen", sagt Nietzsche, der ewig junge, ewig sich Erneuernde. Man muß
auch die Kraft finden, eine Liebesvergangenheit und Liebesbeziehungen zu
zerbrechen, die keinen innern Sinn mehr haben. Wo zwei Menschen sich
gegenseitig nur noch herabziehen, kleiner machen und in ihrer Lebenskraft
34
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
im engsten Beieinander nur aufreiben, sollen sie Schluß machen, trotz der
höchsten "Idee" von Liebe und Treue. Es tut dir vielleicht selbst bitter weh,
denn Liebe ist, auch wo sie stirbt, noch ein enges Verwachsensein zweier
Wesen; es tut auch dem andern weh, sicher, - aber vieles, was auf lange Sicht
heilsam ist, tut zunächst weh.
~ Tränke dich mit aller Freude und mit allem Schönen, was dir irgend
erreichbar ist! Im allgemeinen haben die Menschen kaum Talent zum
Genießen, obwohl sie sich's einbilden und rastlos auf Zerstreuung unterwegs
sind. Jede Freude und jedes Genießen von dir wird auch in deiner Liebe
widererstrahlen. Ein in sich freudiger Mensch, der sich in seiner Haut wirklich
wohlfühlt, ist wie ein Magnet; und insbesondere wer zur Liebe bereit ist, fühlt
sich von ihm angezogen. Trübseligkeit ist letztlich Mangel an vitaler Kraft –
einer Kraft, die jedoch in der echten Trauer ebenso drinsteckt
echten Freude.
wie in der
Dabei ist es gar nicht immer so einfach, zu genießen und das "Genießbare" in
jeder Lebenslage herauszufinden oder es sich zu erobern, zumal in beengten
sozialen oder beschränkten geldlichen Verhältnissen. Man muß eben dem
allen so oft wie möglich ein Schnippchen schlagen! Macht euch richtige
Liebesfeste, auch als ehrsame Eheleute, wo einmal, ganz bewußt , alles
Laufende und Alltägliche abgetan wird. Es ist erstaunlich, wie solche
losgelöste
Stunden
Verschüttetes
wieder
hervorlocken,
Verstaubtes
auffrischen, Erstorbendes neu beleben.
~ Sitzt euch nicht immerfort gegenseitig auf dem Pelz – seelisch wie
buchstäblich verstanden. Namentlich sensiblere Naturen und tiefer angelegte
Menschen macht nicht selten schon jedes andauernde Zusammensein rasend,
ungerecht und reizbar, und sei es der nächste und liebste Mensch. Trennen die
Geschäfte und Notwendigkeiten des Alltags nicht genügend, so zieht euch
selbst zurück, arrangiert kleinere oder größere Trennungen. Wo man wirklich
"alles" miteinander erlebt, kann man nichts einander erzählen von Erlebtem
und bald ist keiner mehr eine seelische Überraschung für den andern.
35
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
Eine gewisse Distanz ist ein konservierender Spiritus der Liebe! Schon das
glücklicherweise heute nicht mehr moderne stete "Einhaken" der Frau auf der
Straße, womöglich als glücklich strahlende oder handfest unerbittliche
Besitzerin wie ein Klumpen am Arm des Mannes hängend, würde mich
verrückt
machen,
wenn
ich
ein
Mann
wäre.
Solche
Frauen
lesen
merkwürdigerweise nie auf dem Gesicht des "eigenen" Mannes, was jeder
Vorübergehende sieht: die typische Ehemannsverdrießlichkeit des
Festgelegten und Eingefangenen.
~ Verspare dich – in jeder Weise – in der Liebe als dauernder Lebensform.
Zärtlichkeit, Beisammensein, Liebesstunden sollen Geschenk und Freude sein,
nicht Gewohnheit, Last und voneinander geforderte Pflicht.
~ Sei nicht "zu gut", wenn du wirklich als Geliebte oder Geliebter betrachtet
sein willst! Du rutschest nämlich sonst sofort in die Kategorie der bequemen,
stetsbereiten Helfer und in die Rolle der nützlichen "guten Freunde"! Die
Liebe muß stets allem Vorteil zum Trotz oder doch ohne bewußten Hinblick
auf solche Motive (auch feinster Art) leben, sonst wird sie eine
Rentabilitätsberechnung. Das hat nichts mit der selbstverständlichen
Wahrnehmung gemeinsamer Interessen , etwa in der Ehe, zu tun, auch nichts
mit dem ganz andersartig begründeten, unverwischbar egoistischen Charakter
des sinnlichen und seelischen Besitzenwollens in der Liebe, denn dieser
Egoismus liegt nicht außerhalb, sondern innerhalb des Wesens der Liebe
selbst.
Liebe ist zwar auch Caritas, das heißt Barmherzigkeit, aber immerhin keine
Wohltätigkeitsveranstaltung. Es ist traurig, aber wahr, daß die ihrem Wesen
nach amoralische Liebe auch durch edelste, ethisch gemeinte Bemühungen
solcher Art eher abgeschwächt als gesteigert wird! Wer genau beobachtet,
kann bemerken, wie viele Liebesverhältnisse zwischen Menschen, die darin
zuerst beide hoch über sich hinauswuchsen, durch die allzu große, gleichsam
unversiegbare Güte zumindest des einen Teils den Glanz der frischen Jugend
rasch enbüßten. Im Laufe kürzester Zeit sind solche "Liebesdienste"
36
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
abgebraucht und alltäglich-nüchtern dem System des menschlichen Egoismus,
der individuellen Bedürfnisbefriedigung einrangiert.
Es muß immer noch ein Stück Gnade und Begnadung, ein Wunder in dem
ganzen Liebestun stecken, wenn es jung und freudig bleiben und keine
ethische oder moralische Verpflichtung (wie von Eltern zu ihren Kindern)
werden soll.
~ Wache darum über die Scham, die innere Frömmigkeit, das Wunder, die
Freude und die Lebendigkeit des innern Werdens in deiner Liebe.
Abgestumpfte Schamlosigkeit und "Aufgeklärtheit", bequem-lässige Mattheit
der Empfindung, Mangel an seelischer Distanz und Ehrfurcht vor dem Wesen,
das du allzu nahe siehst und daher vielleicht nicht mehr siehst, zerstören die
zarte Pflanze der Liebe wie ein giftiger Hauch.
Wer diese seelischen Zustände und Eigenschaften sich zu bewahren und
immer neu zu empfinden versteht, bleibt "jung und schön" zum mindesten
für seinen Partner – worauf es ja hier allein ankommt.
37
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
N eu nt es Stüc k
Di e L ie b e i st k ei n Ki n d ers pi el
Hüte dich vor der Liebe, wenn du nicht ganz aus dir heraus und in ein anderes
Wesen hineinzugehen verstehst. Du wirst nur halbes Glück und schwere
Enttäuschungen finden. Wer an der Unverrückbarkeit seines Ich festhalten
muß – oft aus tiefen seelischen
Gründen -, wird von der Liebe verletzt
werden, denn sie bedeutet zumindest teilweise Zertrümmerung des Ich.
Hüte dich auch vor ihr, wenn du, aus einem weitverbreiteten Mißverständnis
heraus, eigentlich etwas anderes willst als Liebe. Denn Liebe kann nur sich
selbst geben, nach ihren natureingeborenen Gesetzen. Wenn du als Ziel
ungetrübtes Glück, Wohlstand oder Karriere, unbedingtes persönliches
Behagen, oder auch eher Familiengründung, solide Dauer, Geborgenheit im
Sinne eines Elternhauses oder soziales Ansehen mit dem Partner oder der
Partnerin meinst, wenn du von "Liebe" sprichst – dann bleibe ihr fern. Sie hat
nichts von dem zu verschenken, was du brauchst. Sie schenkt nur sich selbst,
ihr Glück, ihren Reichtum, ihre Ehre, ihr "Fortkommen" (und das heißt: eine
innere Entwicklung und Reifung!), - ihre Freuden, die nur auf dem Grunde
ihrer Leiden möglich sind. Denn was sich liebt, das bereitet sich Leiden durch
Unvollkommenheit, oft als schmerzliche Getrenntheit oder auch als zu Zeiten
38
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
drückend empfundene Nähe. Und sogar ihr "Behagen", das heißt die sinnliche
Lust und Wollust, reicht noch an die Grenzen des Schmerzes und der
Vernichtung, ihr Himmel an ihre Hölle. Sie zerstört Familien und zerreißt sie,
ebenso wie sie sie bindet. Nochmals hier gesagt: Die Liebe als voll ausgelebtes
Erleben ist nicht identisch mit der Ehe, der Freundschaft (auch nicht einer Art
"Freundschaft mit Sex"!), der Treue, der bloßen Sympathie der Seelen,
wenigstens was man so nennt. Natürlich ist eine Liebe ohne jede Sympathie
der Seelen nur als ein furchtbarer Zwang der Wollust möglich, der dich
wegschleift, wohin du mit deinem ganzen Wesen nicht willst.
Zum dritten: Hüte dich vor der Liebe, wenn dein Herz nicht bei diesem Schatz
ist oder es aus bestimmten Gründen nicht sein kann, oder wenn dir die Liebe
nie und nimmer als "wesentlich" erschienen ist, - eben als nicht zu deinem
Wesen gehörig oder letztlich dein Wesen ausdrückend. Du kannst, auch wenn
du ein Lebenswerk anderer Art hast, durch die Liebe hindurchgehen – ja
vielleicht mußt du sogar durch sie hindurch. Aber nur wenn du mit deinem
Herzen wirklich durch ihr Zentrum gingst uind gehen willst, sei es auch nur
einmal im Leben, wird es dir Gewinn sein, indem du einmal wenigstens völlig
vernichtet bist, völlig "außer dir", und völlig verbrannt. Ansonsten bleibt sie
dir nur die lockende Dämonin, die dich immer wieder von deinem
eigentlichen Lebenswerk abzieht.
Habe ich genug gewarnt? Darf ich nun locken und künden, denen, die für die
Liebe geboren sind, selbst wenn sie darin sterben sollten? –
Hüte dich nicht vor der Liebe, wenn du vor allem begehrst zu leben in des
Lebens tiefstem Geheimnis, im Verschmelzen zweier Wesen zu einem, seelisch
und leiblich, im Entspringen des Dritten, der Frucht aus der Berührung, sie
bedeute leibliche oder geistige Zeugung und Fortpflanzung. Du wirst nur in
ihr die große Einheit alles Lebendigen erleben und die letzte Seligkeit.
Hüte dich nicht vor der Liebe, wenn du Mut hast und wenn du Leiden nicht
scheust, wenn du die Welt nicht achtest und das Gesetz der Liebe wie dein
eigenes Gesetz der Entwicklung treulich vollenden willst. Es reift nichts den
39
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
Menschen so sehr und so rasch wie die Liebe. Denn nun siehst du alles von
innen, was du bisher von außen sahst – auch den Menschen und die Kette der
Wesen – und dich selbst.
Hüte dich nicht vor der Liebe, wenn du den Menschen ganz kennen willst, in
seinem Niedersten wie in seinem Höchsten. Du wirst die Herrlichkeit des
Menschen wie seine Erbärmlichkeit kennenlernen, das, wo er Göttin und
Heldin ist – und du selber wirst Gott und Held, oder Heldin werden -, wie
das, wo er ein Tier und ein armseliges Geschlecht ist – und du selber wirst dich
als Tier und als armseliges Geschlecht erfahren. Du wirst die höchste, stolzeste
Erhebung und die vernichtend tiefste Demut erleben. Du wirst weinen: Ich bin
nichts, - nichts wert vor dem Antlitz dieser Gnade.. und du wirst jauchzen:
Göttinnen sind wir gleich an Seligkeit!
Ich habe gewarnt! Ich habe gerufen! Denn: Die Liebe ist kein Kinderspiel, aber
das schönste, tiefste und liebste Spiel des Lebens selber.
40
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
Zeh n te s St ück
Vo n d er Z au b er kr aft d er L ei b er
Eine wirkliche und wahrhaftige Zauberin ist die Liebe: Sie verwandelt
Menschen und sie erschafft Tatsachen, die es zuvor nicht gab – und wiederum
nicht mehr gibt, wenn ihre Zeit abgelaufen ist. Deshalb halten Schnellfertige
sie für eine Illusion. Sie ist aber eine Realität.
Die Liebe ist eine Vergeistigung der Sinne. Sie bekommen buchstäblich
Schöpfungskraft: Ideen, Erfindungen – oft sehr liebliche; sie werden aus ihrem
alltäglichen Dämmerschlaf geweckt. Das Sinnenleben, das im allgemeinen nur
den Zwecken der Nützlichkeit, der wachsamen Verhütung von Mißgeschick
und gesundheitlicher Schädigung dient, wird hier frei, wird in gewissem Maße
Selbstzweck. Erst durch dieses freie Tätigwerden blüht es auf und entwickelt
sich zu Lebenskraft und differenziertester Verfeinerung.
Hellhörig, hellsichtig, hellfühlend, ja sozusagen hellriechend und
hellschmeckend wird der Mensch in der Liebe, die den ganzen Körper ergreift.
Es ist, als ob durch diese erotische Steigerung, auch abgesehen von der
eigentlichen Liebesvereinigung, der ganze sinnliche und geistige Mensch über
seine Grenzen hinausbricht und wirklich im Geliebten lebt. Er spürt, er weiß
unmittelbar, was im andern vorgeht; er fühlt, was ihm wehe tut und was ihm
41
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
wohl tut. Dies gilt bis in die körperliche Erdrückung der Liebesumarmung
oder –verschlingung. Wenn du nicht fühlst mit deinem Leib, in deinem Leib,
ob du so wie du liegst oder dich an ihn schmiegst, ihm eine Last oder eine
Lust bist, so bist du eben eine talentlose Geliebte (oder häufiger noch
Geliebter).
Denn die Liebe ist ein wirkliches Zerbrechen von Schranken zwischen den
einzelnen Geschöpfen; dies ermöglicht das Überschreiten von Grenzen
gewöhnlicher Scham und der körperlichen Distanziertheit im Alltag. Sonst
wäre das körperlich sinnliche Tun nicht selten Peinlichkeit, Erniedrigung,
bloße tierische Lust oder läppisches Spiel. Als solches wird es ja auch
betrachtet von vielen, die dieses dionysische Mysterium der Liebe, das den
Körper und unsere Einstellung zu ihm vollständig verwandelt, bisher nicht
erfahren haben. Denn: Was soll ein "vernünftiger" Mensch dazu sagen und
denken, wenn sich zwei andere wie Rasende aufeinander und ineinander
stürzen, ihre Lippen und ihre Zungen ineinander saugen, Augen und Ohren
mit ihnen streicheln und sehnsuchtsvoll aufwühlen, wenn sie überhaupt alles
aufzusaugen und einzuschlingen suchen, Brüste und Brustknospen,
Liebesmuschel und den sich erhebenden Pfahl der Liebe, wenn sie den ganzen
Körper des Geliebten mit Liebkosungen der Hände, der Lippen und der Zunge
bedecken?! –
Sie wollen sich hineinwühlen und sich einbohren in alles was Zugang zum
andern verschafft, und in sich hineinziehen alles was Nähe und Berührung
gibt, vom kleinen Finger bis zum .. großen Finger, vom oberen Mund bis
zum unteren, verborgenen Mund, - von den Halbkugeln der Frau bis zu den
geheimeren Kugeln des Mannes, um so sich sehnend dem Geliebten an- und
einzuschmiegen, anzudringen und einzudringen, bis an die letzte Grenze der
armen körperlichen Möglichkeiten..
Denn ach! – es sind und bleiben immer zwei Wesen, die ihre leibliche Hülle
aufzulösen, ja zu zertrümmern suchen. Auch die tiefste und vollkommenste
Liebesvereinigung bleibt demgegenüber nur ein andeutender symbolischer
Akt. Denn sie können nicht ganz ineinander eingehen, so heftig und
42
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
verzweifelt sie danach streben. Darum ist ja auch noch die Wut der Liebe, die
Raserei, ja die Zerstörungsgier, die in Bissen und wilden rüttelnden Stößen, im
zehrenden Einsaugen bis an die Grenze des Erträglichen und manchmal
darüber
hinaus
geht,
ein
notwendiger
und
sinnvoller
Teil
der
Liebesbezeugungen, aus der unstillbaren Sehnsucht geboren. * – Und nur die
letzte, feinfühligste, hellsehendste Einheit und Innigkeit der Seelen, die mit
den Leibern und ihrer anstürmenden Verzweiflung mitempfinden, ist Trost
und Ersatz für das unabänderliche Bestehenbleiben der körperlichen
Schranken; Lust und Verzweiflung sind hier in großartiger Wildheit vereint.
Dem Außenstehenden, Uneingeweihten aber scheint dies alles ein Rätsel, oder
nur Ekel, Sinnlosigkeit, rein körperliches Tun. Sogar noch derselbe Mensch
kann in späteren Stunden auf diese Dinge so herabblicken, wenn er den Sinn,
die Wahrheit eigenen Tuns und eigner Sehnsucht nur dumpf geahnt, jedoch
nicht voll begriffen hatte.
Die Liebenden aber sind im Zauber und üben ihn gegenseitig aus. Sie
gegreifen das Innere der weltenschaffenden Kräfte – denn sie sind diese Kräfte
selbst. Es ist das Metaphysische der Liebe wie des Weltaufbaus, das hier durch
das Medium des ergriffenen Leibes berührt wird. Die Seele allein kann es nur
ahnen, nicht erleben. Der Seelenrausch ist allerdings Voraussetzung für jene
Verzauberung der Leiber. Wo aber der sinnliche Rausch fehlt, wird die
erotische Verwandlung trotz "technisch" vollzogener Vereinigung sich nicht
leibhaftig entfalten.
Zweierlei Art der Einheit und Verschmelzung wird durch die Liebe bewirkt:
zwischen Leiblichem und Seelischem (Geistigem) im Menschen, und zwischen
den Liebenden. Eine mögliche dritte, gefährlich für die Liebe als
Einzigartigkeits-Empfindung, ist die verbindende Einheit von allen wie auch
immer liebeserregten Wesen zueinander. Es ist eine Tatsache, daß gerade die
sinnlich beglückten Liebenden, Frau oder Mann, durch eben diesen
*
Denken wir an Heinrich von Kleists Darstellung der Penthesilea.. (Anm. M.v.L.)
43
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
"eröffneten" Zustand anderen, die ebenfalls "gelöst" sind oder doch sich
sehnen, es zu sein, geradezu magnetisch anziehen und von jenen angezogen
werden. Denn die Pforte für die Empfindung der großen Gemeinschaft * steht
nun weit offen – und es kann leicht ein Dritter eintreten, falls nicht die
"einmalige", individuelle Seele ganz deutlich als Kern dieser Liebe empfunden
wird.
Was die Einheit von Leib und Seele im Menschen anbetrifft, so ist sie bei der
Frau fast schon Naturgabe und die Liebe vollendet diese natürliche Tendenz.
Nur darum sind Frauen für die Liebe besonders begabt – nicht weil sie
besonders sinnlich, sondern weil sie gerade allgemein sinnlich sind, das heißt,
auch im Sinnlichen eng allem Seelischen verknüpft – völliges Mißverständnis
von seiten ahnungsloser Männer. Man sieht eine deutliche Spur dieser
unlöslichen Verbindung beider Seiten ihres Wesens schon etwa an den
Gedichten ganz junger Frauen. Was sie als Seelenvorgänge von der Liebe und
ihrem Liebeszustand schildern, klingt genau so, als ob sie den Körpervorgang
in der sinnlichen Liebe meinten. Die Übereinstimmung beruht darauf, daß
beide Vorgänge im Kern identisch sind, - etwa das Gefühl des Schmelzens und
Schwachwerdens, des Herabströmens der Kräfte, der Sehnsucht nach VereintSein.
Nach der Verbindung der getrennten Seelenwesen und Körpergestaltungen
geschieht nun endlich auch die letzte Auflösung des Trennenden, diejenige
des Bewußtseins. Diese Hingabe der starren Individualeinheit wird im Rausch
der leiblichen Liebe ebenso erstrebt wie die körperliche Entlastung und
wollüstige Entspannung.
Eine solche Entspannung ist im allgemeinen für die Frau zur Empfindung des
Orgasmus und seines Verströmens notwendig, da sie letztlich empfangend
und sich hingebend ist, während für den Mann Spannung und Konzentration
*
Sula, Oranien-Straßenkommune Berlin (1981): "Weltkommune!" – Siehe auch die Bücher von
Emmanuelle Arsan (Maryat Rollet-Andryane) (Anm. M.v.L.)
44
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
bis zu Ausbruch die eigentliche, "männlich-aktive" Liebe bedeutet – der sich
eine Entladung und Abspannung nur noch als natürlicher Abstieg anschließt.
Deshalb kann auch die irgendwie noch verkrampfte und durch ein Übermaß
an Reizen angespannte Frau so wenig den Liebesakt genießen, wie umgekehrt
ein bereits ganz gelöster und aufgelöst sich hingebender Mann den Liebesakt
nicht vollziehen kann. - Auflösung ist für ihn Vorstufe oder Nachstufe; auch
sie bestehen zu gutem Recht im Liebesspiel, das Beglückung in jeder Weise
will und keineswegs unbedingt immer nur auf den "letzten Akt" losgehen
sollte.
Alle
Aufreizung
und
Anreizung
der
Sinne
durch
die
körperlichen
Liebkosungen hat insgeheim dieses einzige Ziel: Das von keinem wachen
Sonderbewußtsein mehr geschiedene Erleben von Einheit, in der
gemeinsamen Ergießung im Orgasmus oder doch im genauesten und feinsten
Mitfühlen, im Erleben und Bereiten der Wollust, wie in der Auslöschung der
trennenden Einzelbewußtheit. Diese Einheit klingt noch überwältigend nach
in der Frau, wenn sich Same und Saft in ihrem Innersten vereinen, wo der
Mann vielleicht schon aus dieser Einheit herausglitt. Darum der Wunsch der
Frau, den Geliebten auch nach der Ergießung noch weiter bei sich zu behalten
und all das ängstliche, zärtliche Fragen der Liebenden, ob auch der andere
noch so fühle wie er und auch beglückt sei. Denn es soll alles gemeinsam sein
– ein fühlender Körper und eine untrennbare Seele. Zusammengenießen ist
heilig und Sinn der Liebe, denn das Zusammen und nicht das Genießen hat
hier den Akzent.
45
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
Elft es S tück
De r K ö rp er i n d er Li e b e – u n d v o n d er n o twe n di ge n Sch a m
Schon was von der Zauberkraft der Leiber gesagt wurde, zeigte die große
Verwandlung
des
Körpers
an.
Es
ist
wirklich
eine
Art
mystischer
Transsubstanziation, die mit ihm geschieht. Denn die Liebe ist die äußerste,
höchste Sublimierung, derer der Leib fähig ist. Es gibt Menschen, die
überhaupt nur auf diesem Wege ihr Bewußtsein entfalten können. "Les
extrêmes se touchent" *: So wie Bewußtseinsentwicklung über den Weg der
Nichtachtung des Körpers in der äußersten, strengsten Askese zu ereichen ist,
wie auf diese Weise Visionen, feinste Sensibilität und auch Wonnen
übernatürlicher Art sich auftun können, - so ist eine gleichermaßen tiefe
Bewußtseinsentwicklung auch auf dem Wege der "Überbetonung" des Körpers
zu erreichen. Dies geschieht in der Steigerung des leiblichen Empfindens, bis
gar nicht mehr der Körper selbst empfunden wird, sondern die sinnlichseelische Empfindung sich überwältigend und souverän loslöst, bis zur
Zerstörung des gesamten Wachbewußtseins. Dann erreicht auch dieser
Zustand der losgelösten Empfindung Wonnen, Einsichten, Schwebezustände
*
Die Gegensätze berühren einander (Anm. M.v.L.)
46
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
aller Art, die bis zur völligen Empfindungslosigkeit des eigenen Körpergefühls
gehen können, gerade in der höchsten "körperlichen" Lust.
Aber – was ist Körper, was ist Geist?
Mitten in entrückter, scheinbar körperloser Wonne der Vereinigung kann dir
der Ekel kommen. Denn Liebe ist Überfluß, Überströmen, Überfülle, die
verklärend von ihrem Reichtum abgibt, - und plötzlich kommt der graue
Bruder des Überflusses, der Überdruß, und mit ihm dann der nüchterne Geiz,
die seelische Armut, die Erschöpfung durch alle hemmungslose, grenzenlose
Weggabe und Hingabe, und entfärbt und entstellt dir alles, was noch eben
dich entzückte und beglückte. Und der nicht mehr magisch angeglühte und
durchglühte Körper schrumpft sichtbarlich und fühlbarlich in ein trauriges
Häuflein Asche, in einen trägen Fleischklumpen, einen entseelten Erdenkloß
unter solchem Eishauch von Entfremdung. Der Körper, Medium und Gefäß
der Lust, stürzt wieder herab aus der Glutflamme, die ihn trug und ihn
leuchten und tönen ließ. Auf dem zerwühlten Lager sitzen zwei mit tödlich
erschlafften Mienen, mit matten Gliedern und sagen sich vielleicht banalste
oder bitterste Dinge und wissen selbst kaum noch, wo sie waren.
Wenn hier nicht die liebevolle Seele Mittlerin spielt und ein wahrhaft
liebesdurchseelter, nicht nur sinnengepeitschter Leib nicht noch süße und
sanfteste Erinnerungen in sich bewahrt hat – dieses tut der weibliche wohl
leichter als die mehr lokalisierte Erotik des Mannes -, dann ist des Ikarus Sturz
in die Hoffnungslosigkeit besiegelt. Es wage niemand so hoch zu fliegen,
wenn er nicht auch Schwingen der Seele für den Abstieg entfalten kann.
So haßt im geheimen Grunde ein ernüchterter und erschöpfter Mann leicht
die sinnlich-körperlich gesättigte Frau, und wehe ihr, wenn sie – gleichviel ob
aus bloßer noch unberuhigter Körpersehnsucht oder aus zärtlicher
Liebessehnsucht – noch weiteres von ihm verlangt oder gar ihn sinnlich noch
aufzureizen versucht: Er würde sie nur noch als gieriges Tier betrachten und
behandeln. So haßt möglicherweise aber auch eine bereits nachschwingend
47
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
sich treiben lassende Frau den Mann, wenn er – wie es ihr erscheint – nur als
Tier immer weiter von ihr Gewährung und Stillung fordert.
Und so ist auch, wo solche seelische Nähe fehlt, ein erstaunlich gleichgültiges
oder gar angewidertes Sichtrennen nach eben noch zärtlich-intimster
Vereinigung und stürmischem Entzücken oft zu bemerken. – Daß Kuß,
Liebesumarmung und innigste Gemeinschaft überhaupt jemals gelöst und
vergessen werden kann, ersterben kann, ist allerdings eines der größten Rätsel
des rätselvollen Lebens.
Aus dem Gefühl heraus, daß Scheu und Scham, wenn sie erst einmal so weit
durchbrochen wurden, nie zum zweitenmal einem andern preisgegeben
werden können, ist für viele die Monogamie bereits in ihrem Wesentlichen
gerechtfertigt. Es erscheint undenkbar, daß mehr als ein Mensch je solcher
Vertrautheit gewürdigt werden kann. Das Gefühl ist völlig richtig und wäre
entscheidend, wenn sich diese Scham nicht immer wieder erneuern könnte.
Ich werde darauf zurückkommen.
Im jüngeren und unberührten Menschen malt sich die Liebe zunächst vor
allem gefühlsmäßig und rein seelisch. Er ist letztlich ahnungslos, wieweit auch
das Sinnliche zum Wesenhaften der Liebe, nicht nur zum äußern Zubehör
zählt. Erschreckt und verscheucht nicht durch wilden Ausbruch und
schnellfertiges,
ichbefangenes
Tun,
was
euch
von
innen
selbst
entgegenkommen muß. Die Ungeduld weniger Tage und Stunden kann
zerstören, was in langen Jahren blühen und beglücken könnte.
Auch die Sinnlichkeit muß erst reifen und ist bei jungen Menschen mit der
nur intellektuellen "Aufklärung" noch keineswegs tatsächlich bereit . Selbst
harmlosere oder sogar stürmische Zärtlichkeitsbezeugungen sind noch kein
Gradmesser dieser sinnlichen Reife. Es kann keine Stufe übersprungen werden!
Geduld, Geduld, Zartheit, Hinhorchen! Zwar wird der jungfräuliche Mensch
nahezu immer eines letzten irgendwie gewaltsamen Niederreißens der eigenen
Schranken bedürfen, weil sich zunächst jedes unverletzte, in sich geschlossene
Einzelwesen vor dem körperlichen Eindringen in seinen Bereich – oder auch
48
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
vor dem Heraustreten in denjenigen eines andern Wesens – sträubt. Aber
wenn ihr (als Erfahrenere) recht und liebevoll hinhört, so spürt ihr, ob sogar
das äußere Nein schon ein inneres Ja bedeutet, oder ob umgekehrt das äußere
Ja gesprochen wurde aus einer doch noch nicht körperlich wach gewordenen
Liebe – oder gar aus Anpassung an das, was vom andern erwartet (oder
scheinbar erwartet) oder erhofft wird.
Wem die erste Liebesumarmung zerstört und vergällt wird, der trägt eine
vielleicht lebenslänglich unheilbare seelische Wunde oder stumpft völlig ab
gegen diese Seite in der Ehe wie im Leben überhaupt. Wer dagegen mit dem
liebenden Gefährten sacht durch alle Stufen des scheuen Grauens und der
drängenden Seligkeit hindurchgehen konnte bis zu dem Punkt, an dem beide
ohne innere Hemmung in die Liebesumarmung sich hineinwerfen oder doch
zuinnerst hineingezogen sein wollen, der danke dem Schicksal!
Es wird für das weitere Leben entscheidend im Ohr der Frau nachklingen, ob
dereinst nur die wilde Brunst ihr, der Unerfahrenen, die Glieder mit rauhem
oder ungeduldigem Wort zurechtstieß, auch ob etwa ein hilfloser Pedant und
"Reingeistiger" mit unendlich peinlichen und lächerlichen Versuchen sich bei
ihr um die Lösung des Rätsels bemüht hat, wobei sozusagen verzweifelt das
Schlüsselloch gesucht wurde – oder ob der Geist der Liebe selbst ihr
zuflüsterte: "Liebchen, stell die Beinchen auf!"
Der Liebesakt mit allem Drum und Dran sollte so natürlich vonstatten gehen,
wie er es an sich ist, sonst wird er zum widersinnigen, grotesken und
abstoßenden Gequäle, und der Schritt vom Erhabenen zum Lächerlichen ist
hier rasch getan. Jedes "Versagen" wird ja in solcher zugespitzten Situation
fast zum Verbrechen. Es ist eben schlichtweg unerträglich, wenn sich
Liebesspannung und Liebesdrang aus äußeren Gründen nicht im Akt
vollenden können, wenn sie erst zum entsprechenden Punkt gelangt sind –
und beschämt vom Gipfel wieder zu Tale kriechen müssen. Natürlich ist auch
die Nervosität beim nächsten Versuch durch die böse Erfahrung gesteigert
und ergibt oft sogar noch schwerere Hemmungen beim Mann, wenn hier die
49
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
Frau nicht – aus liebendem Herzen und Zartgefühl, falls nicht aus der Reife
der Erfahrung heraus – das Vernichtende und Peinliche seiner Situation völlig
zu verwischen oder doch abzumildern weiß. Es gibt Ehen, in denen ein
derartiges "Versagen" die Ausschaltung des ganzen ehelichen Verkehrs zur
Folge hatte.
Die Natur rächt sich hier im Körperlichen an seinen Verächtern wie auch an
denen, die ihr aus Faulheit oder Unbildung einfach alles zu tun überlassen
wollen. Daß erotisches Wissen und Können auch zur Kultur gehört, wird
allerdings hierzulande kaum wirklich und ernstlich anerkannt..
Gerade das Bestehen der Liebesprobe wird instinktiv als entscheidend für die
eigene Person empfunden. Wer glaubt, daß er in irgendeiner Hinsicht vor
diesem Forum versagt, fühlt sich in solchen Momenten ausgestoßen aus der
Familie der Lebendigen. Erhorcht, erspürt, wie ihr jedes solche Gefühl
verhindern, die Situationen retten, die innere Sicherheit des Partners oder der
Partnerin stärken könnt. Es kann der Keim zu manchem spätern Unheil
vermieden werden – denn das verletzte Selbstgefühl wirkt sich immer aus,
wenn auch nicht sofort und vielleicht auf ganz anderer Ebene.
Häufiger wird es die Frau sein, die dieses Zartgefühl und diese Liebeskraft zu
zeigen haben wird, denn da im Wesentlichen nicht sie die Aktion trägt, hat
sie es darin leichter. Darüberhinaus ist der Mann, als der in der Regel mit
dickerm Fell Bespannte, oft von ahnungsloser Unfähigkeit, sich in die
Gefühlssituation des andern zu versetzen und wird vielleicht noch mit
verständnislosen Scherzen eine Seelenwunde vergrößern.
Nur für den kalten Beobachter ist irgendwas , was im Zusammenhang mit dem
Liebesakt vor sich geht – oder auch gerade nicht vor sich geht -,
möglicherweise lächerlich.
Jedoch gibt es auch innerhalb der Liebesgemeinschaft eine Form von
zerstörerischer Selbstverständlichkeit oder Nichtachtung. Diese besteht
50
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
wesentlich in der neugierig-abgerückten oder kühl-abgestumpften Lässigkeit
gegenüber dem Wunder der Liebe, des Begehrtwerdens und im Fehlen jener
wahrhaftigen Sehnsucht nach tiefster Vereinigung. Wenn das Empfinden
unter der gefährlichen Macht der Gewohnheit oder eines hemmungslosen
Immergewährens ohne inneren Drang oder Lust sich abstumpft, wenn im
andern nurmehr ein "Besitz" gesehen wird, ein alltägliches Ding, zu dem er
(oder sie!) nur zu greifen braucht, wann es ihm (oder ihr!) paßt, ist das
Frevel. Auch wer sich daran gewöhnt, gedankenlos, gefühllos und ohne
wirkliche Aufmerksamkeit, sozusagen aus oberflächlicher Vertrautheit, an der
Frau oder dem Mann herumzufingern und die ihm oder ihr wohlbekannten
Reize wie einen Schluck Wasser bei Gelegenheit sich anzueignen, oder
vertraute Reaktionen beim andern im Alltag wie nebenbei "abzurufen",
versündigt sich an einer tiefen, heiligen Scham, die nie stumpf werden darf,
und an dem bleibenden Wunder der Einswerdung zweier Wesen! So
entsetzlich das Gefühl ist, wenn man plötzlich glaubt, mit einem
"wildfremden Mann" oder einer "wildfremden Frau" im Bett zu liegen, weil
sich tiefe Differenzen, Kulturferne oder situative innere Entfremdung auftun,
- so ist doch die flache Vergnüglichkeit, mit der eine Frau "ihren Alten
rannimmt" oder er "zur Mutter greift" wie zu seinem Bierseidel, noch
entsetzlicher und ein schlimmerer Feind dieser notwendigen Scham und der
Liebe überhaupt.
Wer allerdings nicht mehr im Mysterium der Liebe steht, der kann auch jene
Scham nicht mehr empfinden, welche immer wieder den Anreiz zum Besitz
des nicht einfach zu Besitzenden, sondern frei Gewährenden bildet, welcher
aus seiner Person erst selbst in die Einheit heraustritt.
Eben deshalb kann die Scham einem neuen Liebespartner gegenüber
vollständig und mit allen ursprünglichen Hemmnissen in unversehrter Stärke
wieder erstehen; weshalb unter Umständen durchaus mehr als ein Mensch im
Leben des einzelnen an diesem Mysterium teilhaben darf.
Denn es soll ein erschütterndes und erregendes Erlebnis sein und bleiben, dem
(zumindest in unserer Zivilisation) sonst lebenslang verhüllten Geschlecht
51
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
eines andern sich auch nur zu nähern, es leibhaft und auch im Zustand seiner
Liebeserregung zu erblicken und bis an das Zentrum seiner Intimität (dies
bedeutet aber seine "Innerlichkeit") zu dringen. – Es sollte auch etwa nicht
Effekt
einer
"sexuellen
Aufklärung"
sein,
gegen
Geschlechtliches
abzustumpfen und an Umstände "zu gewöhnen", an die sich der Mensch nicht
gewöhnen darf , wenn er des Erotischen im tiefsten Sinne noch teilhaftig
bleiben will!
Die Scham, so restlos sie im eigentlichen Liebesakt und Liebespiel vergessen
sein kann – und gerade dieses Vergessen ist Zeichen der vollzogenen Einheit , muß das Gefühl der Liebenden immer wieder vor dem Gleichgültigwerden
jener tiefsten leiblichen Erfahrungen hüten. Jede überflüssige oder
"unzeitgemäße" Schamlosigkeit rächt sich an dem sich Verfehlenden: Er wird
aus dem Geheimnis verstoßen, das um die Liebe sich webt.
Es ist nicht zuviel gesagt über die zentrale Stellung dieser geschlechtlichen
Scham im gesamten Lebensgefühl, wenn behauptet wird, daß jemand bei
roher Verletzung seines Schamgefühls eine tödliche seelische Wunde fürs
Leben davontragen kann. *
Im alltäglichen Leben hüllt der Körper die Seele ein – in der Liebe ist es die
Seele, die den Körper einhüllt; dort ist er eigentlich nie nackt und deshalb
auch unschuldig, froh und frei in allem was er tut und wagt. Und er wagt viel
– im Vertrauen auf die Liebe. Dem Außenstehenden könnte es unerhört und
"schamlos" erscheinen, was an körperlichen Stellungen, an Liebkosungen aller
Arten und Orte und an Erfindungen des beseelten Leibes in der Liebe gewagt
wird! Denn alles, was am Geliebten ist, wird zum Entzücken und zum
Gegenstand der Liebkosung; die Maßstäbe von schön und häßlich, rein und
unrein versinken ins Wesenlose.
Es ist das Leben selber, das in den blühenden und glühenden Gliedern sich
preist und sich in seelischer Glut verfeinert und verflüchtigt.
*
Noch schwerwiegender wirken sich derartige Grenzüberschreitungen Kindern und Jugendlichen
gegenüber aus, selbst wo keine Gewalt im engeren Sinne eingesetzt wurde. (Anm. M.v.L.)
52
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
Zwölf t es S tück
Vo n d er Mag ie d e r G eg e ns ät z e
Man hat sich's meist sehr bequem gemacht, indem man ganz einfach die Frau
generell als das "Zarte", zugleich nur Sinnenverhaftete bezeichnete, und den
Mann als das Kräftige, "Geistige", oder indem man umgekehrt mit
merkwürdiger Unlogik ebenso generell seine Sinnlichkeit ihrer seelischen
Potenz gegenüberstellte. Danach werden jedenfalls alle möglichen Gegensätze
irgendwie starr und eindeutig den Geschlechtern zugeordnet. Dies ist letztlich
ein zusammengelogenes und einseitiges Bild, denn die Gegensätze innerhalb
der Geschlechter sind genauso groß wie zwischen ihnen. Der "starke" Mann,
nach der sinnlichen wie der charakterlichen Seite, ist innerhalb einer
Kulturwelt, die gerade ihn besonders gezähmt, geistig verdünnt und
charakterlich abgeschwächt und abgeschliffen hat bis zu peinlicher
Rückgratlosigkeit, schon beinahe eine Sage. Derbere, vom "Fortschritt"
unberührtere Volksschichten mit vorwiegend körperlicher Beschäftigung, und
von der Zivilisation noch weniger beeinflußte Völker mit naturnahen und oft
rauhen, ja grausamen Sitten bewahren fast allein noch diesen "starken" Mann
als Realität. Wo wäre sinnliche Stärke, kräftiges Wollen und charakterliche
Festigkeit bei dem unvitalen, vergrübelten Geistesarbeiter, der noch
womöglich nach der Karriere sich biegt (und er wird sich hüten, sie sich durch
53
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
sinnlich-erotische Extavaganzen oder durch charakterliche Eigenbrödelei zu
verpfuschen) ?
Oder der geschniegelte Referendar und eilfertig sich anpassende Beamte oder
Modeverkäufer,
der
salbungsvolle
Predigtamtskandidat,
der
geschäftszerfressene Kaufmann? Der blasse Ästhet und Stubengelehrte? Der
fast hysterisch wandelbare
launenbeherrschte Maler? –
Schauspieler
und
der
feinsinnige,
aber
Aber auch der rücksichtslose Egoismus von Halbschwächlichen bedeutet
nicht Stärke, obwohl er unter Umständen sie vorzutäuschen vermag.
Dennoch leben viele solcher Männer noch von der gerade auch von Frauen
ehrfürchtig und sorgfältig gehüteten Tradition, die eben den Mann im
allgemeinen als "stark" sehen will. Sie alle tragen in sich das Bild einer
Abstraktion, die aus ganz anderen Lebensverhältnissen erwuchs. Jedoch ist vor
allem der Mann in moderner Zeit das gezähmte, intellektualisierte, verdünnte
Tier. –
Man berief sich, um solche schematischen Zuschreibungen zu untermauern,
auf das Tierreich, auf die Urzeit. Aber die Tiere tun uns keineswegs den
Gefallen, durchweg solche spezifischen Geschlechtsunterschiede zu zeigen,
und auch die Urzeit, als man nur ein stückweit gründlicher grub, zeigte den
Mann als akzessorisches Männchen, als Anhängsel (deshalb konnte er sehr
wohl doch Krieger oder Jäger sein!) und die Frau als Domina, als primitives
oder bereits kulturelles Zentrum, die ihre Kraft ausblühte in der Familie, im
Gemeinwesen und in der Wirtschaft.
In dem Moment, wo man solche Kräfte nicht schon von vornherein auf
"Mann" und "Weib" hin benamset, sondern sie vielmehr nur als elementare
Gegensätze begreift, fällt die ganze verlogene bürgerliche Schiefheit
zusammen, die der einen Urkraft Löckchen brennt, sie in bestimmte
Verhaltensregeln bannt oder doch zu bannen sucht, und der andern einen
Frack baut und sie dadurch für männlich erklärt. Jawohl, im großen und
ganzen hat die eine Art Kraft zu bestimmten Zeiten mehr den Aspekt
54
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
"männlich" gewonnen und die andere den Aspekt "weiblich". Immer und ewig
aber waltete in der Liebe zwischen den Geschlechtern nicht einfach die
Anziehung zweier homogener Prinzipien, sondern diejenige vielfältiger
Kräfte.
Kraft strebt zu Gegenkraft, Spiel weckt Gegenspiel – in einem Maße, daß
sogar schon bei verändertem Gegenspieler jeweils andere Kräfte beim selben
Menschen erregt werden und sich auswirken. Die Frau ist vielleicht bei dem
einen Manne, der stärker aus Vitalität und Geschlechtlichkeit lebt, eine
hingebungsvoll Passive; mit dem nachdenklicheren, in stärkerem Maße
seelisch ausdifferenzierten späteren Partner lebt dieselbe Frau wiederum ihre
dominierenden und mitreißenden Kräfte aus, - und das eine ist ebenso ihre
Realität wie das andere. Der ehrlich und unbefangen "Schwächere" oder auch
"Stärkere" in einer bestimmten Beziehungskonstellation, gleichviel welchen
Geschlechts, sollte sich dieserhalb keine Begriffsgötzen aufrichten, sondern
nur dem Gebot folgen, das seinem Wesen eine ganz bestimmte Ergänzung als
Partner anempfiehlt, und zwar – gerade bei allen entwicklungsbereiten und
reichen Naturen – zu
Ergänzung.
verschiedenen Lebenszeiten eine verschiedene
Bereits an diesem Punkt zeigt sich – entwicklungsgesetzlich betrachtet – für
das Leben gerade eines stärker ausdifferenzierten Menschen die
Untauglichkeit einer und derselben erotischen und sexuellen Ergänzung durch
das ganze Leben hindurch. Es ist, amoralisch betrachtet, aber auch im Sinne
einer tieferen Moral, widersinnig, daß das vielleicht sehr notwendige und
richtige Komplement eines Lebensstadiums – desjenigen, welches nun gerade
zur Ehe geführt hatte – auch das notwendige, wahre und entwicklungsmäßig
wünschenswerte Komplement eines andern Stadiums sein soll.
Das einfache Handeln nach solchen Überlegungen ergibt natürlich sozial,
bürgerlich, ethisch, wirtschaftlich oder auch gegenüber der pädagogischen,
verantwortlichen Sorge für Kinder nichts als Störung, Umsturz,
Zertrümmerung, "Untreue", "Unsittlichkeit" – kurz: Revolution. Es bleibt
aber deshalb sowohl für die individuelle Weiterentwicklung wie für die
55
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
Unverletztheit der tragenden vitalen Kräfte trotz allen Zeterns und aller
Bedenken wahr für die Liebe. Kosmische Kräfte leben in jeder bürgerlichen
Revolution; ihre Anziehungen und Abstoßungen scheren sich den Teufel um
"gesittete" Ordnungen und zivilisatorische Hemmungen oder sonstige Werte,
die dabei zerstört werden.
Sicherlich, wer nach dem Ethischen strebt, wo es nicht aus dem Natürlichen
und
Naturgegebenen
gedacht
wird
(denn
zur
Ethik
gerade
der
ausdifferenzierten Natur gehört: sich vollenden in seinem besonderen Sein
und Schicksal), wer sich dem Naturgeschehen fremd und verständnislos
entgegenstellt, es umbiegt, es unbeachtet verkümmern läßt, der wird eben
auch seine eigne Natur verkürzen, selbst wenn er ethisch Ersatz findet und
bietet. Er wird damit vielleicht ein wertvolles Kunst- und Sittenprodukt, nicht
aber ein vollkommeneres Naturwesen werden. Die Liebe ist eine solche Macht
der Natur, sie meint Selbstvollendung der Wesen. Sie ist eine Zone
elementarer Anziehungs- und Abstoßungskräfte, sie bedeutet Reifung von
natürlichen Entwicklungstendenzen, die als fast einzige noch heute im Leben
des zivilisierten Menschen sich erhalten haben oder wenigstens streckenweise
noch durchschimmern oder sich ins Freie kämpfen. Meist werden sie
zugedeckt im bürgerlichen Alltag, und höchstens noch heimliche
Extravaganzen erwecken die Sehnsucht – gerede die Sehnsucht des Spießers! –
nach der Zone amoralischer Kräfte, nach den inneren Möglichkeiten auch
seiner (verratenen) Natur. In primitive, kulturlose und käufliche Ausbrüche
rettet sich dann eine Kraft, die für ernstere Aufgaben gemeint war..
Aber ob mit Abscheu oder Reue oder mit voller innerer, auch "ethischer"
Bejahung – erfüllt oder erstickt, ausgelebt oder totgeschlagen: die
unverfälschte Magie der körperlichen Liebe hat irgendwann in jedem Leben
und meist auch mehr als einmal gesprochen.
Allerdings haben die meisten Menschen im Grunde weder eine dauernde
seelische Entwicklung noch eine dauernde vitale erotische Entwicklung und
tragen auch nicht immer so stark sprechende Naturkräfte in sich, daß sie
diesem Gesetz folgen müßten. Und was wir in der Liebe nicht "müssen", das
56
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
können wir auch nicht; nichts lächerlicher daher, als bescheidene Lüstchen
oder sentimentale Seitenblicke und Seitensprünge, die sich zu elementaren
Gewalten auffrisieren wollen. Somit besteht, selbst vom Standpunkt einer
solchen "amoralischen" Liebesethik, im großen und ganzen das Netz von
sozialen Regeln, individuellen Hemmungen, "Einhäuselungen", bürgerlichen
Stabilisierungen und ethischen Bindungen zu Recht. Wo die Natur nicht ihre
Form, ihr Gesetz gibt, da soll es die ethischen und bürgerlichen Formen
geben, damit auf irgendeine Weise Form und Gesetz wenigstens sei und gelte.
Die Magie der Gegensätze zeigt sich im Bereich aller Lebens- und
Beziehungskräfte. Der weiche und schwache Mann drängt mit erstaunlichem
Aufwand an Energie und Zähigkeit zur starken und sogar harten Frau, als
Stütze und Panzer seines Wesens. Das zarte Mädchen kämpft mit verzweifelter
Heftigkeit sich zum starken, schützenden Manne durch, der ihr Leben tragen
und füllen soll. Je weniger aber ein Mensch an bezwingender Spannkraft und
überhaupt an Kraft der Überbrückung von Gegensätzen sich zutraut, desto
eher wird an Stelle der Gegensätzlichkeit in der Liebe ein möglichst
verwandter Typus gewählt. Es ist klar, daß der Mensch um so weniger
gezwungen wird, "aus sich heraus zu gehen", um ein Drittes, die Liebeseinheit
zu schaffen, je verwandter von vornherein der Partner oder die Partnerin ist.
Es ist oft eine Art Lebensangst in erotischer Hinsicht, die nicht zu dem
Wagnis einer auf Gegensätzlichkeiten beruhenden Verbindung schreitet.
Manche finden aus dieser Angst oder Scheu noch nicht einmal den Weg zum
Gegengeschlecht, wobei ja immer erst noch ein Fremdheitscharakter seelischer
Art – trotz der geschlechtlichen Anziehung - überwunden werden muß.
..Die Menschen wirbeln zueinander, stoßen sich ab, ziehen sich an,
verschmelzen, zertrümmern auf dem Wege zueinander unaufhaltsam alle
Entgegenstehenden oder sich selbst und einander! Hier ist Schöpfungschaos,
denn hier ist Schöpfung, leibliche und seelische.
57
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
In eine bereits geschaffene und streng geordnete Kulturwelt bricht immer
wieder diese Naturmacht ein. Was Wunder, daß man sich vor ihr wie vor
Feuersbrunst und Wassersnot zu schützen sucht, daß man sie knebelt,
verfemt, beschwört, einlullt, verbergend schmückt, sie auf jede Weise
"einhäuselt". Aber sie bleibt wie sie ist – Zauberkraft der Leiber, Schwerkraft
der Seelen, ein Seelenreich auch noch im Physischen entdeckend und einen
Naturbereich noch im Seelischen entblößend. Die Magie der sexuellen
Anziehung schafft Neues , sie reißt den eingeordneten und ichgefangenen
Menschen aus seinen Lebensverhältnissen und aus sich selbst heraus und über
sich hinweg, trägt neue Elemente zu ihm dazu. Was sich jedoch nur im
wesenhaft Verwandten herumdreht, oder ohne innere Notwendigkeit im von
außen her zufällig Dargebotenen und von der Konvention Vorgegebenen,
bleibt "konservativ", erhaltend; dies führt den Menschen nirgendwo hin, es
erweitert nicht den Horizont.
Solche Magie ist es denn auch, die eine Frau, einen Mann als "einzigartig"
erhöht, ihn auszeichnet und mit voller Wucht der Ausschließlichkeit begehrt.
Plötzlich ist es, als ob dieses Haar, diese Wange, diese Brüste, diese ganze
Gestalt noch nie in der Welt da waren; nur an ihr oder ihm hängt dann Glück
und Seligkeit! Das gleiche gilt im Seelischen: Das banalste Verhalten erscheint
dem Liebenden noch originell, die typischste Äußerung entzückt, als ob sie
ein unerhört Neues besagte und besondere Tiefe verriete. Der Vokabelschatz
von Liebenden und ihr ganzes Gehaben ist in der Regel monoton; nur die
Einzigartigkeitsbeziehung und die Intensität des Fühlens läßt jedes dieser
Worte zum gefühlsmäßig und sinnenmäßig lang nachhallenden Ereignis
werden – für den, den es angeht. Für alle andern ist es zum Sterben
langweilig. "Ich liebe dich" – abgegriffenstes
erschütterndste Neueröffnung in einem Leben!
Allerweltswort
und
Und doch liegt in dieser Magie, die jedem Liebenden sein Du verzaubert,
tiefste erkennende Weisheit: Daß kein lebendes Wesen wirklich dem andern
gleich ist, so wenig wie ein lebendiges Blatt dem benachbarten – nämlich für
58
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
denjenigen, der näher zusieht. Die Liebe aber sieht nicht nur näher, sondern
am nächsten zu; deshalb erlebt sie Wunder über Wunder.
Die Magie der leiblichen Anziehung steht noch als einziger uralter Dämon in
unserer durchrationalisierten Welt. Darum ist sie noch immer Entsetzen wie
Entzücken der Menschen. Jedoch sind die meisten Menschen keineswegs
wirklich zu "sittsam", sondern nur zu träge oder zu feige, die Schranken
niederzureißen, gegen die ihre Liebe sehnend anrennt. Wäre es gefahrlos oder
als neue Mode von der Sitte geboten – drei Viertel der Eiferer für die
traditionellen Normen täten selber mit größtem Vergnügen das bislang
"Unsittliche" – wenn auch ohne innere Notwendigkeit. Eine derartige
Propagierung der "freien Liebe" bringt daher allenfalls die wahrhaft freie Liebe
in Mißkredit.
Hier ist der Punkt, wo das scheinbar ganz Physische der Individuen ohne
Zweifel ins Metaphysische mündet. Scharen von Liebenden haben den Tod
wirklich nicht gescheut und so Zeugnis abgelegt von der Gewalt, die sie trieb. *
Allerdings ist der romantische Zauber des "Helden- bzw. Liebestodes"
wiederum verlockend für unreife Geister. Literarische Romantik hat
ebensowenig wie bürgerliche Ethik dort etwas zu suchen, wohl aber die Tragik
– da der Mensch eben nicht nur Naturwesen ist und nicht nur als solches
handeln kann , und da er oft genug – gerade aus seelischer und ethischer
Zartheit
–
über
dieser
seiner
unerbittlichen
Rolle
als
verheerendes
Naturelement seelisch zerbricht, - oder noch daran zerbricht, daß die
bedingungslose Sehnsucht nach ihrer Erfüllung sich spurlos verflüchtigen
kann..
*
"Denn gewaltsam wie der Tod ist die Liebe", übersetzt Martin Buber die bekannte Stelle aus dem
Hohelied. (Anm. M.v.L.)
59
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
Dr ei z eh nt e s Stü ck
Vo n Lus t u n d W ollu st
Die Zauberkräfte des Leibes offenbaren sich nirgends deutlicher als in dem,
was als Lust und Wollust in der Liebe in mehr oder weniger umfassender
Weise erfahren wird. Denn dort gibt es Zustände, die so völlig vom
gewöhnlichen Lebens- und Körpergefühl verschieden sind, daß wirklich ein
neues Land sich auftut.
Aber es ist keineswegs immer so einfach, vereint dieses Land zu betreten; auch
der Weg dorthin ist lang: Es geht durch die erregte, drängende Lust als
Vorbedingung und ankündigendes Vorspiel, die Steigerung dieser Lust als
erhöhte Wollust im eigentlichen Liebesspiel – die immer noch irgendeine
Hemmung oder Spannung in sich trägt, einen starken dauernden Reiz als
Stachel, der nach "mehr!" verlangt – bis zur höchsten, "erlösten" Lust, als
Erfüllung, die sozusagen abspringt ins Meer der reinen, wie körperlosen Lust
und langsam wieder abklingt. Besonders langsam und allmählich abklingt bei
der Frau – was der Mann oft entweder nicht weiß oder wieder vergißt – oder
einfach nicht beachtet.
60
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
Auch der Anstieg der Frau zur eigentlichen Lusthöhe ist in der Regel
langsamer, weil allgemeiner und tiefer bedingt – es müssen sozusagen dort
größere Massen in Bewegung gesetzt und fernerliegende Stationen des
Körpers benachrichtigt werden. Schnell fertig ist der Mann mit der Liebe –
wenigstens wo sie rein körperlich bedingt ist. Er sucht seine Befriedigung und
Entspannung als Sinnenwesen auf möglichst raschem Wege.
Noch andere Verschiedenheit meldet sich bisweilen zu Beginn, da die Liebe
physiologisch betrachtet im feuchten Element lebt. Ist die Frau aber sinnlich
noch nicht soweit gereift oder durch die Erregung des Moments soweit
gelöst, daß sie jene gewisse Feuchtigkeit absondert, die erste Vorbotin der
eigentlichen Wollust ist, und die sie als "Strömen" sehr genau selbst
empfindet, so gestaltet sich die Sache wegen erschwertem Eintritt und
unvermeidlichen Zerrungen keineswegs genußreich und ermutigend. Die
Frau, die "trocken bleibt", weil ihr eigentliches Wollustzentrum von der
Erregung noch gar nicht ergriffen wurde, wird keinen Genuß fühlen, auch
nicht beim Vorspiel. Der erfahrene Mann findet hier Mittel und Wege der
Abhilfe; sogar der unerfahrene, bei Wink und leiser Hinweisung – die ja nicht
der Worte bedarf bei begabten Schülern und Schülerinnen der Liebe. Denn der
bescheidene Umfang des Fingers kann eher durchschlüpfen und durch zart
anreizendes Spiel das ausbleibende feuchte Element rasch bei der Frau
herbeirufen – vielleicht auch in seiner stufenweisen Verdopplung oder
Verdreifachung, bis das Volumen des abwartenden Herrn der Aktion durch
diese Knechte erreicht ist. (Aber nicht mit Raubtierkrallen in dieser zarten
Behausung vorgehen!) Für manche Liebespaare ist dies sogar das ständige
zärtliche Vorspiel ihrer eigentlichen Vereinigung, das am raschesten die
Liebenden auf die gleiche Stufe der Empfindung versetzt.
Nur bei großer Vertrautheit oder sehr stürmischer Sinnlichkeit wird ein
anderer feuchter Helfer, die Zunge und der küssende und saugende Mund, die
Bahn bereiten wollen. Kennt die Frau schon diese Liebesbezeugung des
Partners, so muß sie ihrerseits in der Toilettenvorbereitung dem Rechnung
61
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
tragen – denn dein Geliebter will dich und dein eigenes Parfum, nicht
irgendwelche noch so schön duftenden Fremdstoffe schmecken und trinken.
Solche allerintimsten Liebesbeweise und Lusterweckungen sind – weil ja
immer die Gefühle beider berücksichtigt werden müssen! – nur mit
allergrößter seelischer Vorsicht zu wagen und anzunehmen oder anzudeuten.
Denn das, was der reifere oder auch der bereits vertrauter gewordene selbst
stürmisch begehrt, ist besonders für den jungen oder dem Körperlichen
überhaupt noch fremd gegenüberstehenden Menschen möglicherweise ein
Ekel oder völllige Zerstörung seines Bildes vom geliebten Du . –
Entsprechendes gilt immer auch für die besonderen Möglichkeiten, dem
männlichen Körper intim nahe zu sein. Falls nicht die Sehnsucht beider in
solche Bereiche führt, ist seelische Abwehr und physischer Ekel die erste
natürliche Reaktion auf das Ansinnen oder Angebot. Hier muß – was nicht
oft genug wiederholt werden kann – das seelische Zusammenklingen und die
Achtsamkeit der Liebenden so genau und so fein sein, daß beide mit einiger
Sicherheit einschätzen können, was sie miteinander wagen dürfen oder in
welche Gefilde sie sich erst nur versuchsweise gemeinsam begeben wollen.
Oft führen diese Spiele der Vorbereitung bereits zum höchsten Orgasmus bei
der Frau, meist aber wird die Wirkung solcher Präludien bis zu jener
Unerträglichkeit gesteigert, die zum Liebesakt drängt. Wo der Eintritt des
Liebespfahls selbst von Anbeginn diese Lustkurve bestimmt, sucht die
langsam ansteigende Intensität und Schnelligkeit der rhythmischen Stöße den
Genuß der innigen Berührung zu steigern. Dies verhütet auch Schäden, die
leicht durch ein unbedachtes Zustoßen entstehen, ehe die richtige Fühlung
gewonnen ist, bei der erst – weil es nun wirklich ein ineinandergepaßter
Körper ist – "alles erlaubt ist" und alles auch genußreich wird, selbst das
blindeste Ausrasen des Begehrens und die erschütterndsten gewaltsamen
Stöße. Es kommt eben alles darauf an, schrittweise der Liebe die Stätte zu
bereiten wie auch die Lust, von innen, sich steigern zu lassen.
62
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
Selbst Schmerzen von naturbedingter Art, die auf Dehnung oder ungewohnter
Berührung und gewaltiger Erschütterung beruhen, werden hier – insbesondere
bei der Frau – ebenso als Lust, ja als Wollust empfunden, als eine Belebung
bisher
"unbewußter",
unfühliger
Körperstellen
und
als
Übermaß
an
Empfindung bis zu Überempfindlichkeit, welche auf dem Wege zum
Umschlagen in Unempfindlichkeit, oder richtiger: in ein Nicht-stärkerempfinden-Können, jenes eigentümlich schwebende "gläserne" Gefühl
verleiht, das in jedem Moment zu zerbrechen scheint. Hier wird in der Tat
alles Körperliche in die reine Empfindung immaterialisiert. Und so gleitet
auch der seelische Zustand in ein tranceartiges Bewußtsein, in dem "die
stehende und kreisende Seligkeit" alle Bedingungen der sonstigen Bewußtheit
verändert. Hier ist es, wo höchster Schmerz mit der höchsten Lust untrennbar
zu einem verschmelzen kann. Der unvollständige, in Lust und Schmerz
geteilte Kreis des Fühlens hat sich dann zum vollkommenen Kreis
geschlossen. Es ist nur ein anderer Anstieg zum selben Punkt, wenn die
höchste Lustempfindung zum unerträglich schmerzhaften Übermaß wird oder
der aufwühlende Schmerzanteil zur höchsten Wollust sich verklärt.
Der "mechanische", nicht aus den Bedingungen der Wollust sich ergebende
Schmerz dagegen bleibt nur einfach Schmerz: Störung, nicht Förderung des
Empfindungsanstiegs. Er muß auf den leisesten Wink hin seiner Verursachung
nach aufgehoben werden, insbesondere weil er auch ein warnendes Signal für
ernstliche Schäden ist, die durch blindes und rücksichtsloses Einstürmen oder
Handhaben zugefügt werden können. Die Unkenntnis über diese beiden ganz
verschiedenen Arten des Schmerzes mag manchen Biedermann dazu verleiten,
ernstzunehmende Signale als unnützes Getue zu betrachten, wie andererseits
eine allzu zimperliche und unbeherzte Partnerin, die sich schon vor den
naturgemäßen Schmerzen fürchtet, weil sie deren Fortgang zur Wollust nicht
kennt oder einfach vor allem stärkeren Empfinden Angst hat, ihm dazu
scheinbar das Recht geben kann.
Das bißchen "mechanischer" Schmerz aber, das bei der ersten Durchbrechung
des Eingangs zur weiblichen Liebesgrotte von ihr erduldet werden muß, hat
63
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
wenig zu bedeuten; eher schon jene darauffolgende erste Dehnung und innere
Erweiterung schmerzhafter Art bis zur Zurechtlagerung der Organe. Aber
obwohl jede Frau im allerersten Wirbelsturm der Liebe wirklich glauben mag,
innerlich in zwei Hälften zerrissen zu werden und sterben zu müssen – schon
weil die erleichternde Feuchtigkeit, der innere Liebessaft, selten schon beim
erstenmal ihr zur Hilfe kommt-, so ist dieses "Sterben" doch zugleich als
Erwachen in ein neues Leben ungeahnter Art auch für sie dunkler oder
deutlicher spürbar und in der Regel nicht allzu ernst zu nehmen – trotz der
unleugbaren seelischen und ebenso physiologischen Erschütterung ihres
ganzen Wesens. *
Auch die tiefe Überschattung des sonstigen wachen Bewußtseins durch diese
ganz eigenen Kräfte und Empfindungen ergibt schon ein Gefühl des Sterbens
und hat sogar in der Atmung und im gebrochenen Blick, auch in der
Veränderung der Sprache, ein Äquivalent zum wirklichen Tod. Die langen,
lustbetonten Atemzüge der Frau – seltener auch des Mannes, dessen
Bewußtheit schwerer stirbt – sind wie ein Röcheln in der Todesstunde; nun
weiß der Kundige, daß die erste große Stufe zum Gipfel der Lust betreten ist.
Störe diesen Zustand so wenig durch wache Fragen, irgendwelche
Beanspruchung der verstandesmäßigen Kräfte oder laute Stimme, wie ein
Sterbender im Abgleiten in die Bewußtlosigkeit nicht gestört oder
aufgeschreckt werden darf.
Hier beginnt der große, langsame gemeinsame Aufstieg der Wollust für die
jetzt nicht mehr durch zweierlei Bewußtsein Geschiedenen und die immer
tiefere Vereinigung auch im körperlichen Sinne. Aus dieser raum- und
zeitlosen Fläche des Erlebens steigt der ein- oder mehrmalige Orgasmus - für die Frau als Erlösung bis zum völligen, mattfriedlichen Eins-sein-mitallem, durch Lösen des Begehrenskrampfes und –drängens, im erlösenden
Herabströmen der Säfte; - für den Mann als Erlösung von der schmerzhaften
Spannung des Liebesgliedes und dem Drängen zur Vereinigung mit dem
*
Solche Momente mögen mitschwingen in der Aussage des DIONYSOS-Mysteriums, wie es dargestellt
wurde in Pompeji, der Villa dei misteri. (Anm. M.v.L.)
64
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
lebendig verspürten Innern der Geliebten (obwohl solche Vereinigung
keineswegs nur an diese eine Form gebunden ist), durch das Ausströmen oder
vielmehr Ausspritzen, das sich bei kräftigen Naturen mehrfach erneuert und
wiederholt.
Der Drang sehnsüchtiger Liebe ist so gewaltig, daß die innigste Umschlingung
sich oft kaum lösen kann. Wo kraftvolle, naturstarke Körper die Liebe
erleben, ist die natürliche Grenze physischer Erschöpfung erstaunlich weit
gerückt. Das Rasen der Liebe in dauernder engster Verbundenheit kann sich
über Stunden erstrecken, in immer neuem Heranrollen und Aufbäumen der
gewaltigen Liebeswellen, bis beide besinnungsgelöst in diesem Meer ertrinken.
Davon ist in unserem Kulturleben mit dem überreizten und überhäuften
Mißbrauch und der Erschöpfung der Körperkräfte in sexueller wie auch in
anderer Hinsicht, etwa durch übermäßige oder einseitige Arbeit, kaum noch
eine Ahnung lebendig.
Wenn beide wieder langsam in die Außenwelt erwachen, kehrt auch das
Einzelbewußtsein zurück. Anders ist es möglicherweise beim Fühlen. Es kann
sich in diesem Erleben ein wirklicher gemeinsamer "Gefühlsleib" bilden, der
nun noch weiterbesteht und zur lebendigen Brücke wird – sodaß auch in der
körperlichern Ablösung, wie erst recht in der räumlichen Trennung, das
deutliche Gefühl des Zerreißens eines bestehenden Wirklichen gespürt wird.
Wo solcher Sturm der Liebe gewütet hat, wirst du dich zwar erschüttert,
zerschmettert und zerrissen, aber um Ungeheures und Beseligendes bereichert
als Erwachter oder Erwachte wiederfinden an der Küste des täglichen Lebens..
Jeder und jede von uns hat besondere, physiologisch wie seelisch bedingte
höchste Lustmöglichkeiten und Vereinigungswünsche. Diese zu kennen oder
herauszufinden, ja auch herauszulocken, wird inniges Bestreben des
Liebesgefährten sein, um dem Geliebten oder der Geliebten Lust zu bereiten,
Wollust zu erschließen und so ihm seine Liebe zu erweisen. So werden denn
65
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
in der Liebe die merkwürdigsten, vergnüglichsten und törichtesten Spiele
zwischen sonst "ganz vernünftigen" Menschen gespielt. Und seltsam: Hier
vegibt sich keiner etwas von seiner Würde, selbst wenn er auf allen Vieren
liegt und von der Schönen geritten wird. Auch die übliche Rangordnung von
Oben und Unten des menschlichen Körpers ist völlig aufgehoben, erst recht
eine "Überlegenheit" oder "Unterlegenheit" von Mann oder Weib. Ja, die
Liebe ist ein Spiel, das alles auf den Kopf stellen kann. Hier wird der Mann
wieder zum Säugling und die Frau zu seiner Mutter – oder auch umgekehrt -,
bisweilen ein Säugling eigener Art. Denn süß ist Liebessaft, wann und wo er
auch rinnen mag. Hier löst sich letztlich alles auf. Im Schoß des Urgeschehens
"bei den Müttern" rinnen ja alle Säfte durcheinander, gibt es noch
nicht
Mann und Weib; dort geschah Schöpfung aus Chaos. Wer diese selige
Rückkehr zum Grunde mit der Aufhebung aller Unterschiede
zumindest
zeitweise erleben darf, erlebte die Liebe.
Alles aber, auch das scheinbar Törichteste, dem Außenstehenden ein
sinnloses, lächerliches oder schamloses Werk, ist gut, wenn es die Beteiligten
zu solchem Urgrund gelangen läßt, um seelisch und leiblich neu zu erstehen.
Es ist dann gerechtfertigt und geheiligt, wie das Leben, dem es dient,
gerechtfertigt ist durch sich selbst – als die endlose, ungeteilte und
unerschöpfliche Weltenkraft.
Nun aber noch einige kleine praktische Hnweise:
~ Für die Frau: Sieh zu, wie du dich dem Geliebten "am tiefsten" vereinen
kannst. Verschmähe auch nicht freundlich stützende Kissen, die vielleicht
deine Zauberhöhle ihm leichter und vollständiger betretbar machen und
durch die sanft abschüssige Lage deiner sonst (im zweibeinigen Gang) so
verkehrt aufrecht "auf dem Stengel stehende Birne", der allerinnersten Höhle,
eine wohltuende Entspannung gönnen. Auch aus diesem Grunde kannst du
ihm in der Liebe getrost mal den Rücken kehren oder ihn – warum nicht? –
auf dem Tisch empfangen. Denn Frauen sind unzweifelbar ursprünglich für
66
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
den Gang des Vierfüßlers geschaffen; dies ist unsere natürliche Stellung, den
inneren Organen nach.
Auch für den Mann ist es im Grunde eine unnatürliche Statik, wenn das
Liebesglied entgegen aller Schwerkraft aufragen muß. Darum wirft er sich über
die Frau in der Liebe. Und je mehr und auf welche Weise immer du ihm eine
ungezwungene, natürliche Richtung seiner Kräfte ermöglichen kannst, desto
mehr wird er es genießen – und du mit ihm.
~ Für den Mann: Sieh zu, daß die Frau, die sich für die Wollust entspannen
und lösen muß , auch die körperliche Stützung für solche Entspannung findet,
damit sie sich wirklich dir "hingeben" kann und nicht sich irgendwie künstlich
mit Anspannung selbst aufrecht erhalten muß. In diesem Sinne muß die Liebe
"bequem" sein. – Sie muß auch sonst fürsorglich sein. Denn es ist sehr
störend, wenn mitten in der Liebesschlacht erst noch praktische
Vorkehrungen getroffen oder Überlegungen angestellt werden müssen.
~ Um aus dem Tagesbewußtsein und aller Verkrampftheit und Überwachheit
des modernen Menschen in das Liebesreich zu gleiten, ist oft das zarte,
langsame, lange Streicheln über den ganzen Körper mit den äußersten
Fingerspitzen ein Weg zur "Versenkung" – eine Art Nervenmassage, die
wunderbar beruhigen kann und das Fühlen nach innen wendet.
~ Man sollte immer ein Gefühl für die Möglichkeiten des menschlichen
Körpers
nach
Stellungen,
"Spannungsgraden"
und
Vebindungsweisen
instinktiv behalten. Liebeswünsche, die in diesem Sinne widernatürlich sind,
enden nur in Beschämung. Dann ist es nämlich ein "ausgedachter" Wunsch,
nicht einer, der in natürlichem Zusammenhang mit dem leiblichen
Empfinden steht – und zwar bei beiden! Alle überlegten, ausgedachten
Formen der Lusterzeugung aber werden peinlich und sie desillusionieren. Die
Wollust stumpft sogar sehr bedenklich ab, wenn erst der Körper in diesem
Snne zum "gehandhabten" Instrument gemacht wird.
~ Insgesamt ist es nie weise, aus allem Vergnügen den letzten Tropfen zu
pressen und bis an die Grenze zu gehen, wo schon das allergeringste Zuviel
zum Ekel, zur Entfremdung beider voneinander führen kann.
67
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
~ Der Sitz von Lustgefühlen außerhalb des Geschlechts ist ganz verschieden
gelegt und sehr verschiedenartig entwickelt bei jedem Menschen. Also bloß
nicht dumm, mechanisch drauf los knutschen, küssen, reiben, saugen,
zwicken usw.! Bis zu gewissem Grad kann zwar jeder Körperteil in der Liebe
erotisiert werden. Jedoch was dem einen höchste Lust bedeutet, ist dem
andern vielleicht unerträgliche Überreizung oder sinnloses Tun.
Letzte höchste und tiefste Erlebnisse, Wonnen und Erkenntnisse schuf dir
dein Körper, der sonst verachtete oder doch "materiell" gescholtene; in der
Wollust wird er zum Organ von Einsichten und Erlebnissen, die dir keine
isolierte Seelenliebe geben kann (und schon garnicht intellektuelle Reflexion
– auch diese Zeilen nicht! ). Wo auch Seelisches und Gedankliches Einsichten
solcher Art zu schaffen scheinen, da ist hintergründig eben doch wieder das
ganze leiblich-seelische Medium in Schwingung geraten, in welcher Weise
auch immer!
Willst du deinen LEIB nicht ehren und lieben, in der ihm eigenen Weisheit,
als Gefäß der Liebe? Er ist nicht nur der behagliche und nützliche Bürger oder
arme geplagte Knecht der wachen Tageswelt, ist nicht nur "Körper". Willst du
ihn so beseelen, verfeinern, seine ihm eigene Bewußtheit wecken – durch die
Liebe?
Und ahnst du nun, daß die Wollust vom Behagen des gesättigten Tieres bis
zur durchsichtigen Seligkeit der blendenden Göttin reicht? Es sind nur
verschiedene Färbungen derselben Kraft - -
68
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
Vi er z eh nt e s Stü ck
Wo di e Li e be aufh ö r t un d di e G eilh ei t ü b rig bl ei bt
Du bist etwa mit dem vertrauten Freund oder der Geliebten vereint. Ihr
durchwandert sozusagen Arm in Arm die Auen der sinnlichen Wollust, in
innigem Austausch. Plötzlich merkst du, daß der Gefährte (oder die
Gefährtin) dich allein ließ und für sich – nicht mehr für dich und sich –
genießen will. Mit einem Male gleitest du jäh herab, - bist für sie (oder ihn)
offenbar zum bloßen Instrument der Wollust geworden, wo dein ganz
eigenes Wollen und Empfinden gar nichts mehr bedeutet! Mit einem Schlag
wird der frei gewährte Liebesdienst, der auch noch in den ansonsten
seltsamsten Wünschen und Formen euer beider Freude und Lust war, für dich
zu unerträglicher, schamvoller Entfremdung. Warum? Weil das Reich der
Gemeinsamkeit verlassen wurde.
Solche Momente von Schwäche der Liebe und Ausbrechen einer isolierten
Geilheit können bei sehr sinnlichen Menschen bisweilen vorkommen, aber
auch bei solchen, die ihre unsichere oder schwache Sinnlichkeit "mit Gewalt"
übersteigern wollen, - selbst in dem schönsten und reinsten Liebesverhältnis.
Wehre dich aus Leibeskräften gegen diesen Feind eurer Innigkeit; bäume dich
auf gegen diese Zumutung; - wer sich nicht sofort und instinktiv dagegen
wehrt, wird fast unweigerlich mehr und mehr Mittel zum Zweck; die Liebe
geht verloren.
Gerade der "geistig gebildete" Mann kann auf dem Felde der Wollust, das er
oft nicht der näheren Beachtung wert hält, die Frau zutiefst verletzen. Denn
ihm ist die Begierde nicht selten ein ganz Abgetrenntes, und so begreift er
nicht, daß seelische Zweisamkeit Grundlage tiefer Hingabe in der Liebe ist.
Wird dagegen die Frau so stark in den Strudel ihrer Wollust gerissen, daß sie
69
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
nicht bemerkt, wenn er nicht mehr innerlich
mitgeht,
liegt dies meist
begründet in der tiefer und umfassender in ihrem ganzen Sein verwurzelten
Sinnlichkeit, die, einmal in Bewegung geraten, in noch stärkerem Maße als
beim Mann ihre Eigengesetzlichkeit entfaltet.
Es kann also auch dem wohlvertrauten, wirklich Liebenden einmal aus
Mattheit, aus seelischer Zerstreutheit oder geplagt von irgendeinem bösen
Dämon passieren, daß er in diese Bahn der seelenlosen, egoistisch
ausgerichteten Geilheit gleitet. Vielleicht wird einmal das zärtliche Spiel
deines Geliebten mit deinen Brüsten aus einer unpersönlichen sinnlichen
Erhitztheit heraus zu bloßem geilem Befingern und distanziert-lüsternem
Betrachten, oder gar das Spiel mit der Liebesmuschel oder der Liebesrute. –
Duldet es nicht einen Augenblick, sobald ihr es bemerkt habt, wenn nicht das
ganze Gesicht eurer Liebe verzerrt werden soll, wenn nicht alles Liebestun
"unernst" werden soll! Brich ab, zeige, daß du feinhörig die veränderte
Empfindung deines Gefährten oder deiner Gefährtin verspürt hast, widersteh
solcher gewiß ungewollter Herabziehung eurer Liebe. Es ist beledigend, wenn
dein liebster, nächster und vertrautester Freund plötzlich wie ein Wildfremder
an dir lässig oder gedankenlos herumfingert – nachdem er aus dem Gefühl
inniger Gemeinsamkeit heraustrat. Die Liebe darf nicht blöde ohne wirkliches
Empfinden vertätschelt und verfingert werden (typisches Vergnügen des
Spießbürgers!), dazu ist sie zu tiefgreifend und heilig – auch gerade die
sinnliche Liebe als leibliche Intimität.
Es ist nicht belanglos, ob du dir dies gefallen läßt und duldest oder gar selber
darauf eingehst, oder ob du zeigst, daß du diese vielleicht ahnungslose
Herbdrückung eures Verhältnisses empfunden hast und ihr widersprichst. Es
geht um viel Größeres, als um die Gewährung dieses einen kleinen
halbherzigen Gefühls oder um diese Berührung deiner Haut (die an sich
tatsächlich völlig gleichgültig wäre). Es geht darum, ob ihr noch zwei
Liebesleute seid, die sich miteinander alles gestatten dürfen, oder aber zwei
einsame Spieler ihrer höchsteigenen wollüstigen Bedürfnisse, die irgendeinen
passenden Partner suchen und finden. Es verschlimmert auf lange Sicht nur
70
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
die Situation, wenn dann auch der andere Teil seine private Wollust zu
befriedigen beginnt: Jeder wird von nun an im Zweifelsfall den andern ganz
selbstverständlich "benutzen" zur eigenen Befriedigung; nichts kommt mehr
zusammen.
Einseitig "geil" verhält sich leicht derjenige, den seine seelische Bedingtheit zu
karg mit Liebeskraft begabt, oder auch jüngere Menschen, die vom Trieb zwar
bereits die sehnsüchtige Lust, aber noch nicht die Kraft besitzen. Übersteigt
die sehnsuchtsvolle Phantasie das physische Vermögen, also die reale Lust, in
der die Natur selber zur Liebe drängt, so peitscht leicht ein losgelöster
Wunsch das geschlechtliche Verhalten über seine individuellen Möglichkeiten
auf. Statt sich in ihren Grenzen ehrlich und harmonisch den wahrhaften
Gefühlen hinzugeben, wobei sich Sinne und Seele, Trieb und Wunsch nicht zu
spalten brauchten, führt bei solchen Menschen oft ein falscher erotischer
Ehrgeiz – oder auch nur die ganz natürliche seelisch bedingte Sehnsucht,
Zutritt zum Land der Liebe zu finden – auf manchmal unheilvollste Weise
den sinnlichen Trieb auf Abwege. Hier kann freundschaftliche oder auch
fachliche Hilfe nötig werden!
Auch das Schwinden der physischen Kräfte, die Alterserschöpfung, bringt die
Gefahr einer dominierenden Geilheit mit sich; dabei wird das Entschwindende
im Wunschbild überbewertet.
Sicher vor solchen Verzerrungen ist allein derjenige, der immer ehrlich nur
der Stimme seines Innern folgt und nicht Vorstellungen seiner begehrlichen
Phantasie zu wirklichem Drang und leiblichem Bedürfnis aufzublähen sucht.
Wehre allen Formen von Geilheit aus Schwäche, wo sie dich berühren wollen,
- aber fliehe vor allem jene unpersönliche Geilheit, die dich bewußt nur als
beliebiges Objekt der Lust mißbrauchen will. Sie ist "Liebe für sich allein" –
also gar keine Liebe, welche immer und in all ihren Formen eine Brücke
schlägt von Wesen zu Wesen! Die Geilheit allein findet niemals den Weg zum
Du.
71
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
Fünf z eh n te s St ück
Vo n d er V ers chi e d e n hei t d e r G esc hl ech te r
Getrenntheit besteht schon durch den Umstand, daß es sich um Mann und
Frau handelt – wenigstens innerhalb dieser Ausführungen, die auf meinen
Erfahrungen
und
Geschlechtswesen
Kenntnissen
–
auch
als
beruhen.
Die
Verschiedenheit
geschlechtsbedingt
als
unterschiedlicher
Zusammenklang von Leib und Seele – wird in gewissen Aspekten zu einem
Hemmnis der Liebeseinheit, wenn sie auch zugleich einen Grund
gegenseitiger Anziehung bildet.
Der wesentliche Unterschied der sinnlich-seelischen Struktur liegt schon in
der allermeist scharf lokalisierten Sinnlichkeit beim Manne und einer breit
gestreuten allgemeineren Sinnlichkeit bei der Frau. Bereits die Organe
konzentrieren, isolieren und "veräußerlichen" das geschlechtliche Geschehen
im einen Fall beziehungsweise verbreitern, verknüpfen und "verinnerlichen" es
im andern Fall. Es läßt sich also voraussehen, daß die Kraft des Mannes heftig
und aktiv auftritt in der Liebe, daß diese ihm – gewissermaßen "von Natur" –
leicht ein isoliertes und äußeres Geschehen bleibt, das rasch abklingt,
wohingegen bei der Frau ein mählicheres und dem sonstigen Empfinden
enger verbundenes mehr innerliches Geschehen vorliegt, welches langsam
anklingt,
langsam abklingt und sehr vieles mit sich verknüpft; ihre
Sinnlichkeit ist also in der Regel seelenbeladener.
72
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
Mit diesen Verschiedenheiten scheint die Stellung der Liebe im Leben von
Frau und Mann zu korrespondieren. Sie steht ohne Zweifel seelisch wie auch
körperlich bei der Frau zumeist im Mittelpunkt und beim Mann in der Regel
an der Peripherie – womit noch nicht gesagt ist, daß dies im Sinne eines
entwickelten Menschseins auch ideal wäre. Obendrein hat man diese
verschiedene Einstellung noch, und zwar von der Perspektive des Mannes her,
zu einem Wertunterschied gemacht – mit der Deutung, daß die Frau "in
subjektiven Gefühlen" lebe, der Mann in den (höhergeschätzten) "objektiven
oder geistigen Realitäten". Eine sehr kurzsichtige Logik, denn es ist nicht
einzusehen, daß die Liebe, schon als Medium des Fortbestands der Menscheit
und als Erweckerin wichtiger schöpferischer Kräfte in jedem Sinne, etwa nicht
eine objektive Macht ist.. Umgekehrt schützt die angebliche objektive
Realität, von der der Mann erfüllt sein soll, keineswegs davor, daß gerade er
meist in schlimmste Subjektivitäten verstrickt ist – von privatem Egoismus
und höchst persönlichem Strebertum in der sozialen Welt bis hin zur
Parteinahme für kriegerische Unternehmungen abstrusester Art. Der ganze
Gegensatz ist also schief – und tatsächlich höchst subjektiv gesehen, nämlich
vom einseitig männlichen Standpunkt.
Wahr bleibt nur daran, daß die Liebesregion bei der Frau ins Zentrum des
Lebens gerückt ist, beim Manne – zunächst, "von Natur" – an die Peripherie.
Schon aus diesem Grunde ist eine Gefühlserziehung des Mannes, mit der sich
sein Wesen erst für die Liebe erschließt, ebenso ein möglicher Beitrag zur
erotischen Kultur, wie es eine Bewußtseinserziehung als Gegenstück von
seiten der Frau bedeuten könnte.
Der heftige "Sex-appeal" deckt oft Diskrepanzen und Abgründe der
Wesensverschiedenheit zu und macht sie teilweise und zeitweise vergessen.
Aber wehe, wenn sie sich in Erinnerung bringen! Etwa wenn aus der
"demokratischen" Liebesstimmung heraus plötzlich jäh und roh die
kulturgezüchtete männliche Geschlechtsüberheblichkeit herausschlägt, als
Geschlechtsprotzentum. Die "Königin der
bedeutungslosen Geschlechtsgans gestempelt;
73
Liebe" wird nun zur
der demütige Liebhaber
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
enthüllt sich als hochmütiger Vertreter einer sich bereits vermöge seines
Geschlechtsappendix in den Adelsstand erhoben fühlenden Kaste, die auf das
Weib als Sinnentier und letztlich doch inferiores Wesen herabblickt, auch
wenn der betreffende Vertreter der Hohen Männlichkeit in nichts seine
geistige Superiorität belegen kann. Solches jähe Herausschlagen aus einer eben
nur scheinbaren Einheit in der Liebe ist gerade für die Frau, der es ernst um
eine wirkliche Verbundenheit war, eine furchtbare Seelenkatastrophe.
Der Frage der physiologischen Unterschiedlichkeit zwischen Frau und Mann
näherten wir uns bereits an anderer Stelle: Schnell ist der Mann bereit zur
Liebe und in der Liebe – schon die kürzere und lokalisiertere Bahn der
Sinnesreize bringt dies mit sich. Langsam, sacht und süß entfaltet die Frau ihre
allgemeinere, unbestimmtere Sinnlichkeit zur besonderen geschlechtlichen
Sinnlichkeit, die auch viel tiefer ihren gesamten Organismus erregen wird. Ein
kurzer, heftiger körperlicher Empfindungsrhythmus soll also mit einem in
langen Wellen atmenden konform gehen – kein Wunder, wenn die Beiden
dabei oft aus dem Takt geraten und einander nicht verstehen. Meist sucht der
Mann, als der Führende in der Liebe, seinen Rhythmus dem Liebesempfinden
der Frau aufzudrängen und es gehört schon eine starke und in sich sichere
Persönlichkeit der Frau dazu, um sich da nicht überrumpeln und
vergewaltigen zu lassen in der eigenen, ursprünglichen Empfindung.
Die Beschleunigung durch den drängenden Willen des Mannes, unter der
Peitsche seiner lokalisierten, vom sonstigen Wesen abgesonderten
Sinnlichkeit, und die Retardierung , gerade auch durch seelische Hemmnisse
und Wesensmomente, bei der Frau, dies bewirkt im erotischen
Zusammenprall schon einen gewissen Ausgleich der Empfindungsweisen da,
wo überhaupt Verständnis aufdämmert und also eine gemeinsame erotische
Entwicklung – Fremdwort für die landläufige Auffassung der Liebe! – möglich
wird.
Scheint bereits durch diese wechselseitige unfreiwillige Beschleunigung bzw.
Retardierung ein gewisser Einheitsrhythmus des Empfindens erreicht, so droht
74
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
aus der tieferen inneren Bewegtheit der Frau, nachdem sie erst sinnlichgeschlechtlich gelöst wurde, eine weitere störende Unterschiedlichkeit. Denn
gerade die Frau wird nun zur restlos und schrankenlos Hingegebenen. Sie
hängt mit verstärkter Innigkeit am Manne als einem Teil des verwandelten,
neuen Ich, als Teil der erlebten Liebeseinheit, schutzlos, sozusagen hautlos
und höchst gefühlsverletzlich. Sie ist nun ganz gelöst im Meer des Sinnlichen..
– Der Mann hingegen, rasch erregt und rasch befriedigt, steht bald schon
wieder nüchtern am Ufer des wachen Alltags und reißt sich ohne allzu große
Mühe aus dem Liebeserleben los, in dem die Frau noch verwurzelt ist. Verrat
und Herzlosigkeit scheint es ihr nun, daß er sie und das gemeinsame Erleben
so rasch und kühl beiseite tut, nachdem er sie erst so tief zu sich hinriß. Der
Durchschnitt der Männer aber ist "hinterher" entweder schlechter oder aber
souverän befreiter, nüchtern abgerückter Laune – und die Frau wird ihnen
nun etwa zur übergefühlvollen "sentimentalen, albernen Gans", die so
unbegreiflich leicht sich durch irgendeinen "harmlosen" Umstand oder das
"normale" Wegwenden zu andern Dingen gekränkt fühlt. Da erfolgen dann
"sachliche, vernünftige" Belehrungen über den "Ernst des Lebens" und seine
angeblichen momentanen Erfordernisse, und die vom großen Erleben
mitgerissene Frauenseele und der nachzitternde Frauenleib, in langen Wellen
noch ausklingend und ausschwingend, lernen vielleicht jetzt beschämt und
gedemütigt, sich nur als ein Instrument der sporadischen Lust oder der
"Ehepflicht" zu betrachten, als ein Werkzeug, das zwar stets parat zu sein hat,
nachher aber nichts mehr empfinden soll. Hier klafft die beiderseitige
Sinnlichkeit zu einem seelischen Abgrund auseinander!
Wenn man vom Himmel der Liebe spricht, so soll man die Höllen der Liebe
nicht vergessen und gerade auch der bereits "glücklich vollzogenen Liebe", wenn hinterher ein "fremder Mann" pfeifend an sein Tagewerk geht und die
im Wechsel der Gefühle Hin- und Hergezerrte, von ihm erst mitgerissene und
dann wieder beiseite Getane in Verwirrung des Fühlens und Empfindens
zurückläßt.
75
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
Hier hilft nur die ernstliche, geduldige und feinfühlige Vertiefung in die
grundverschiedenen seelischen und leiblichen Bedingungen der Liebe bei den
beiden Geschlechtern. Noch immer hört man als maßgeblich meist vom
Mann und seinen Bedürfnissen und Wünschen in der sinnlichen Liebe. Erst
seitdem die Frau selber in freiem Liebeserleben auch ihre eigenen
körperlichen und seelischen Bedingungen, Bedürfnisse und Wünsche
überhaupt erfahren und erkennen konnte, begreift sie, was man ihr in der
Liebe gewohnheitsmäßig antut, wieviel man ihr aus brutalem Egoismus oder
tölpelhafter Ahnungslosigkeit zerstörte und verdarb, dies auch durch die
seelische und soziale Einstellung vieler Männer zur Frau.
Das tiefere Wissen um die Liebe beginnt langsam, zumindest von der
physiologischen Seite her, aufzudämmern. Zu einer Kultur der leiblichen
Weisheit und Liebe sind das erste Schritte.
76
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
Se ch z eh nt es Stüc k
W i e ? W o ? W i e of t ? – E i ni ge F r ag e n zu de n U m st ä nd e n d er Li e b e
Eine Frau ist nicht aus Holz – allerdings auch kein rohes Ei. Jedenfalls kannst
du als Mann nicht einfach drauflos wirtschaften, ohne die Beschaffenheit
deiner Partnerin in Betracht zu ziehen. Ihre sich dir freundlich öffnende
Wundertüte ist aus Fleisch und Blut, dehnbar mit Sanftmut und Milde, leicht
verletzlich – und sogar gefährlich verletzlich, wenn du wie ein Bock mit
Hörnern stößt. Vergewissere dich also, wie die Partnerin dein Eindringen
empfindet, - bedenke, sogar wenn du dieses Feld schon öfters betratest, daß
aus sehr natürlichen Gründen, besonders auch nach einer längeren Pause, sich
dort erst alles für dich zurechtlegen muß.
Gehe also nicht gleich wie ein Rasender los, sondern schmeichle dich hinein;
bist du erst ganz drin und fest im Sattel, so wird sich alles finden und du
kannst dich dort ausleben und austoben – immer aber doch mit dem Gefühl,
daß du ein lebendiges Gehäuse um dich hast. Denn es gibt zwar
physiologische Dehnunges- und Reizungsschmerzen, die zur Wollust noch
mitgehören und sie steigern; es gibt aber auch hart mechanische Schmerzen
durch stumpfsinnige Gewaltbewegung, wo der ganze natürliche Fortgang des
Lustgefühls gestört wird.
Frauen sind im allgemeinen viel zartere Wesen, als es sich der Mann vorstellt,
trotzdem er immerfort vom "zarten" oder "schwachen Geschlecht" redet, wo
es nicht nötig ist. Wenn sie auch "männliche Kraft" und sogar Gewalttätigkeit
verspüren wollen, so geht doch der Erfahrenere zunächst den zarteren Weg.
Bist du mit einem starken und großen Liebespfahl gesegnet, so sieh dich
doppelt vor, besonders wenn deine Gastgeberin ein schmales Häuschen hat.
77
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
"Man" wünscht sich nun in der Regel ein enges Haus und einen kräftigen Gast
– aber dies ist ebenso richtig wie falsch. Vielmehr zerstört diese Kombination
in manchen Fällen alle feineren Liebesempfindungen und ist sogar kaum zu
ertragen. Es ist wohl kein Zufall, daß Frauen oft die Liebe des Mannes voll
genießen erst, wenn er seine imposante Größe durch den Erguß schon
einzubüßen beginnt. Die stärkste, straffste Dehnung elastischer lebendiger
Gewebe setzt nämlich deren feinere Empfindungsfähigkeit herab. Sie besitzen
bei mittlerer Dehnung oder fast ungedehnt die größte Sensibilität.Eine rein
mechanische Überdehnung vertreibt sogar umgehend alles Empfinden!
Der physiologische Prozeß der Frau zur endlichen Lustergießung ist
schließlich viel mehr Lösung als Spannung. Wer sie nur "spannt" oder ihr eine
innere "Schutzspannung" gegen plötzliche mechanisch brutale Stöße zur
Notwendigkeit macht, wird ihr die sich hingebende, schmelzende Wollust
erschweren oder unmöglich machen.
Hat die Frau aber bereits Fühlung genommen mit dem ganzen "Wie" des
Partners, so wird sie auch eine solche Schutzspannung vertrauensvoll lösen
und sich ganz seiner Führung anheimgeben; erst dann wird sie selbst zu
Aktivität getrieben sein, nicht von widerstrebender, sondern sich verstärkend
ihm einfügender Weise. Dann mag er ihr ganzes Haus gewaltig erschüttern
und berennen und sie wird ihm nur noch umso liebender sich hingeben.
Außer der Dynamik von forte und piano gibt es in der Liebe wie in der Musik
auch noch allegro bis furioso und adagio bis lento. Das "stark und langsam"
ermöglicht in der Liebe, weil es sozusagen die Besinnung der Empfindung
wieder freigibt, auch gerade mitten im furioso eine unerhörte Intensität des
Erfühlens und Erlebens. Es ist auch der Weg, auf dem viele Frauen erst in
jenen letzten "Trance"-Zustand gewiegt werden, wo sich Atmung, Blick und
Stimme verändern und die wirbelnde Wonne in das stehende Kreisen der
Seligkeit übergeht.
Zum "Wo?" der Liebe an dieser Stelle nur zwei Hinweise. –
78
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
Wer irgendwo einen wirklich verborgenen und geborgenen Winkel der Natur
als Rahmen des Liebesspiel entdeckte, wird diese natürliche und insofern
schönste Form der Liebe dankbar genießen. Denn sofern es nicht auf
irgendein besonders ausgesponnenes Spiel hinauslaufen soll, so rückt eine
herzhafte und naturhafte Liebe hier in ihre richtige Umgebung, wenn sich
auch meist durch die Umstände Grenzen der Betätigung ergeben und die
Natur auch etwa unbekümmert ihre Boten dazusendet (Ameisen!) oder die
Erde verdammt hart sich fühlt. Es ist aber ein anderes Gesicht der Liebe, wenn
die Helligkeit von Sonne oder Mond im stillen Waldwinkel oder hohen
Ährenfeld herrührt statt von der Lampe im Zimmer, - wie überhaupt alles
Alltägliche unter solchen Umständen aus dem Blickfeld gerückt ist. Auch
bedeutet es irgendwie eine Probe auf "Echtheit" der Liebesbezauberung und
der Reize, so wie etwa ein Theater im Freien körperliche Qualitäten der
Schauspieler und das Zubehör besonders deutlich offenlegt. Zwar sind
Zuschauer bei der Liebe in der Regel unerwünscht, allein die Bewußtheit um
das grundsätzlich Offenbare des Tuns in der freien Natur erfordert und
ermöglicht eine ganz eigene "innere Nacktheit". Die bergende Hülle des
Lebens, zu dem wir alle gehören, kann von den Liebenden besonders deutlich
empfunden werden in der Sonnenwärme, in der Wahrnehmung der bewegten
Luft, aber auch einmal im warmen Sommerregen.
Meist jedoch bleibt die Nacht, sei's drinnen oder draußen, eigentliche
Partnerin der Liebe, gerade für ihre seelische Entfaltung: unabgelenkt von
Äußerem, nur ganz dem inneren Fühlen hingegeben.
Jede in der örtlichen Umgebung begründete Unsicherheit lähmt nämlich
insbesondere die Frau, weil sie sich ganz und ohne bestehenbleibendes
Kontrollieren in der Liebe verlieren will, wenn sie erst so weit ist.
Zur Frage des "Wie oft?" oder "Wieviel?" muß zunächst angemerkt werden,
daß die traditionsgemäß fest an den Haushalt gebundene (Ehe-)Frau oft mit
geschlechtlichen Ansprüchen des nach Hause kommenden Mannes überlastet
ist. Sie kann gar nicht so oft und in so wahllosen Zufallsmomenten die
79
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
sinnliche und seelische Bereitschaft haben, die für sie immer dazu gehört, und
stumpft daher notwendig in ihrem Erleben der körperlichen Liebe ab, auch
gerade, wenn sie aus falscher Gutmütigkeit oder "Pflichtgefühl", aus Mitleid
oder "um des lieben Friedens willen" ohne wahre körperliche Lust sich ihm
hingibt. Der Grund für dieses so oft zu beobachtende Nicht-Zusammenpassen
des Augenblicks liegt wohl in einem allzu weit voneinander entfernten
Alltagsleben beider. * Allgemein gilt: Wo auch nur einmal bei Mann oder Frau des Gefühl der
Verpflichtung gegenüber einem Drängen, einem versteckten oder deutlichen,
gar
vorwurfsvollen Fordern sich ins Bewußtsein schlich und die Hingabe
bestimmte, da ist schon der Schmelz von den Flügeln der Liebe abgestreift.
Der Begriff der "ehelichen Pflicht" für die körperliche Hingabe sollte aus den
Gesetzbüchern einer Kulturmenschheit getilgt werden. Aber sogar die
quantitative Festsetzung eines zu fordernden Minimums – pfui Teufel! Dies
alles hat ehepsychologisch viel Schaden angerichtet, und hat die Ehe gerade
für die meist feiner und sicher darin empfindende Frau von dieser Seite her
zum Zwangsinstrument gemacht, das unter Umständen – natürlich in
verschleierter Form und unter moralisch-seelischem Druck der
Zusamengesperrten – sich keineswegs von der Prostitution unterscheidet. Es
sind vielleicht die allerbittersten und allerdemütigendsten Momente in der
von Bitterkeiten und Demütigungen ohnehin für die Frau als Liebeswesen wie
als Menschwesen nicht freien Ehe – wo sie dieses letzte Preisgegebensein,
sogar gegenüber einem von ihr geliebten Manne, ertragen muß. Denn jede
Hingabe, die irgendwann einmal nicht aus Liebe, gerade auch aus dem
körperlichen Liebesgefühl geschah, ist Prostitution. Es kann ja auch keiner
mehr unbefangen wirklich "wollen", aus sich heraus, aus reiner Freude an der
Hingabe, wenn er von vornherein "soll" oder "muß"!
*
Jedoch gibt es auch den von beruflicher Überlastung erschöpften Mann, der nach Feierabend
liebevoll-sehnsüchtig von seiner Frau erwartet wird, die jetzt ganz für ihn da sein möchte..
(Anm. M.v.L.)
80
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
Wenn nun durch das bewährte, totsicher wirkende Mittel einer bereitwillig
lächelnden Hingabe alle möglichen häuslichen Unwetter auf allersimpelste
Weise vermieden und abgebogen werden können – wer sollte es einer Frau
verdenken, wenn sie fast automatisch danach greift; zudem wird sie auf diese
Methode oft noch von schlau-erfahrenen Müttern gedrillt.
Niemals also die Pflicht, allenfalls die verstehende und mitgehende seelische
Liebe kann gelegentlich ihr Wollen statt des Wollens einer ungeteilten
sinnlich-seelischen Lust einbringen. Sie genießt dann diese körperliche
Hingabe des andern immerhin seelisch – als Freude, den Drängenden oder
trübe unruhig Leidenden zu beglücken, zu befreien. Nur darf solche
Ersatzeinstellung nicht zur Gewohnheit werden, sonst wird die Frau letztlich
als zwar sehr barmherzige Schwester, aber nicht mehr als lustvolles und
lustgewährendes Weib empfunden.
*
Die moderne Ehe sollte schon prinzipiell auf eine seelische und sinnliche
Grundlage gestellt werden, statt daß sie eine Art Kontrakt auf Nutznießung
körperlicher Hingabe und wirtschaftlicher Sicherung darstellt, mit leichter
moralischer Verbrämung durch übrigens völlig einseitige, staatspolitisch
begründete Moral.
Das "Wie oft?" ist für die Liebe wie Ehe eine der schwierigsten und
folgenreichsten Fragen. Wird nämlich ganz einseitig nicht ein "zuviel",
sondern nur ein "zu wenig" von der Sitte angeprangert, so ist klar, daß damit
der oder die gröber Organisierte triumphiert, und der oder die seelisch
Ausdifferenziertere, sensibler Empfindende in der Liebe den kürzeren zieht.
Ekel oder ein Gesamtwiderwille unnatürlichster Art gegen die sinnliche Seite
der Liebe, selbst bei erotisch lebhaft und gesund Veranlagten, kann Folge
solcher Zustände und Auffassungen sein.
*
Aber auch der Mann kann sich – vielleicht häufiger als man glauben sollte! – in einer entsprechenden
Situation finden. (Anm. M.v.L.)
81
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
Wer sich auf das "Wievielmal?" innerhalb der einzelnen Liebesbegegnungen
versteift, wird vielleicht Wesentlicheres darüber versäumen. Denn es gibt
gewisse sehr zärtliche Liebesspiele, die keineswegs auf den Endeffekt losgehen,
sondern auf die möglichst ausgekostete Dauer mannigfacher wollustreicher
Zustände. Die Nacht mit "sieben Malen" braucht durchaus nicht die
beseligendste Nacht gewesen zu sein. Ein Irgendetwas, eine besonders innig
oder stark empfundene Berührung, irgendein besonders ergreifendes,
halbunbewußtes Wort des andern oder ein beglückter Laut in der Vereinigung
bleibt vielleicht tiefer im Herzen als die Zahl der Heldentaten, wo oft nur
keuchend und knapp noch das Ziel erreicht wurde. Nein, Liebe ist kein Sport
und somit auch nicht orientiert an Rekorden.
Im Gegenteil, der geliebte Mann wird es dir danken – vielleicht nicht gerade
im Augenblick selbst, aber am nächsten Tag -, wenn du etwa den Maßlosen
zu seinem eigenen Besten hemmst, ihn sanft abwiegelnd und beruhigend mit
Zärtlichkeit seelischer Art, damit er nicht seine notwendigen Reservekräfte
verausgabt und am nächsten Tag mit leerem Kopf oder schmerzendem
Rücken dasteht. Eine fein mitfühlende Frau bemerkt, wann der strotzende
Überfluß oder das wirkliche Bedürfnis drängender Säfte bei ihrem
Liebesgefährten abreagiert ist, und wann dagegen nur der Nachklang der
Erregung und Aufpeitschung, das bloße Nicht-mehr-aufhören-Können zu
weiterem Begehren anstachelt. Wer hier noch den leisesten sinnlichen Anreiz
durch Berührung, Gebärde oder Wort gibt, begeht eine Sünde am Geliebten.
Jede Frau weiß ja ohnehin aus anderen Situationen ihres Lebens, wie sie
solche heilsame Ernüchterung oder "den Eimer kalten Wassers" allzu Hitzigen
verabfolgen kann; oft ist sie allerdings zu eitel dazu, ihn selber zu entzaubern.
Das
"Wieviel?"
im
Sinne
zeitlicher
Ausdehnung
und
grundsätzlicher
Ausspinnung der Liebesstunden macht der Frau deutlich weniger Beschwer als
dem Mann. Denn bekanntlich: Wenn eine Frau erst ganz dabei ist, so ist sie,
durch ihr langsameres Anbrennen und ihre stets wachsende Steigerung, von
Natur aus eher unersättlicher als er. Sie beginnt voll zu genießen erst, wo er
82
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
bereits beinahe erschöpft ist. Selbst wenn – was bei unverbrauchten und
erotisch stark veranlagten Naturen nicht unmöglich ist – das Feuer seiner
Liebestätigkeit sich nahezu ununterbrochen durch die ganze Nacht hindurch
bemerkbar macht, so empfindet die Frau dies wohl nur selten als Last,
wenngleich auch ihre Kräfte und Säfte schließlich eine Grenze haben. –
Jedenfalls entspricht der Natur einer Frau eine Liebe von fünf Stunden eher
als eine von fünf Minuten, wie es beim Manne ja durchaus nicht ganz selten
vorkommt. Liebeskultur leiblicher Art besteht nun gerade darin, daß ein
Ausgleich und Angleich in der Sinnlichkeit beider Geschlechter stattfindet,
daß also etwa auch beim Manne die gesamte Körperlichkeit belebt wird , statt
der rein sexuellen, lokalisierten Erregung, - etwa die Empfindungsfähigkeit
der Brustwarzen, die in jungen Jahren zumeist tatsächlich "nicht mitspielen"
und erst im Verlauf eines Liebeslebens erwachen. Wie denn überhaupt, statt
des handgreiflichen, derben Genusses, differenziertere Freuden erweiternd
und auch ablenkend sich dazugesellen können als leibliche LebensErfahrungen. – Die unbestimmtere und oft zunächst ganz ins Seelenhafte
versetzte oder verfließende Sinnlichkeit der Frau wird dagegen durch das
Erleben erst im Laufe der Zeit langsam in den entscheidenden Körperregionen
lokalisiert, konzentriert und gesteigert.
*
Diese sehr verschiedenen Verhältnisse sind natürlich eine Quelle dauernder
Mißverständnisse über Frau und Mann. "Die sinnliche Frau" bedeutet
tatsächlich etwas ganz anderes als "der sinnliche Mann". Sigmund Freud stellt
vielleicht einen Gipfel dieser typisch männlichen Verwechslung dar: Sinnlich
ist für ihn bereits sexuell.
Ohne Zweifel beeutet eine Erotisierung des ganzen Körpers für den Mann
Verfeinerung und ablenkende Verteilung der empfindenden Liebeskräfte,
durch die er nicht mehr nur der Begierde, sondern auch der Zärtlichkeit, der
*
Auch so ist zu verstehen, wenn viele junge Frauen nach ihren ersten Erfahrungen mit der
körperlichen Liebe enttäuscht fragen: "Und das soll es nun gewesen sein? Darauf kann ich auch
verzichten!" (Anm. M.v.L.)
83
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
gebenden wie der empfangenden, erst fähig wird. Dies stellt für den Mann
eine Abschwächung des rohen Triebes dar, der nur direkt und unverhüllt aufs
Ziel losgeht. – Andererseits bedeutet für die Frau das lokalisierte
Bewußtwerden der Sinnlichkeit als Wollust eine Verstärkung der sinnlichen
Empfindung. Mancher Mann, der dies nicht wußte oder bei der Erweckung
einer jungen Frau zu sinnlichem Genuß nicht bedachte, hat sich schon als
Zauberlehrling wiedergefunden, der die Geister, die er rief, nicht mehr
loswerden kann, und konstatierte dann befremdet die "Unersättlichkeit" der
bislang so zart, vielleicht sogar zurückhaltend empfindenden jungen
Freundin.
Hier gilt grundsätzlich: Hüte dich als Mann vor der Frau, wenn du ihr nicht
gewachsen bist! Je mehr "Gewicht" in einen Sturz hineingerissen wird, desto
heftiger der Aufprall. Die Liebeswucht einer ganz und gar in das
Geschlechtliche hineingerissenen weiblichen Leiblichkeit kann mit dem noch
so hitzigen und häufigen Begehren des ihr gegenüber doch "gewichtslosen"
männlichen "Amor" und seiner näheren Umgebung nicht gleichgesetzt
werden! Darum gilt die Frau mit gewissem Recht in der sinnlichen Liebe als
unergründlich und rätselhaft, dämonisch, dionysisch und maßlos: Ihr ganzes
Wesen wird ja mit in dieses Feuer hineingerissen..
Auch als letztlich Empfangende kann die Frau, einmal erst
gebracht,
endlos
und
"unersättlich"
lieben;
ihrer
in Schwung
Sättigung
ist
im
handgreiflich-physiologischen Sinne eigentlich nur mit der Schwangerschaft
errreicht – weshalb es fast widernatürlich anmuten kann, wenn auch noch die
Schwangere vom Begehren des Mannes bestürmt wird oder es selber verlangt.
Eine solche völlige und restlose Aufwühlung ihrer sinnlichen Empfindungen,
durch den seelischen Resonanzboden verstärkt, klingt noch Tage, ja Wochen
in der Frau nach – das aufgewühlte Meer kann sich nicht beruhigen, auch
wenn der Wirbelsturm, der es erregte, schon lange in andre Regionen
gewandert ist; das schmale Flüßchen wird dagegen nur für Stunden vom
Unwetter in seinem Lauf gestört.
84
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
Also – du kannst zwar eine Frau, so du Lust hast und sie Lust hat, lieben
soviel du magst. Aber sei dir klar darüber, daß du mit der einfachen Tatsache
langwährender und immer wiederholter Erregung ihrer Sinnlichkeit eine Kraft
erweckst, die sich sogar zu ernstlichem Schaden gegen eure Liebesbindung
kehren kann. Denn auch die kühlste Frau hat ihre sinnliche Tiefe, und wehe,
wenn ihre Wünsche über dich und was du ihr in der Liebe bieten kannst, weit
hinauswachsen und hinausstürmen! Ein Abgleiten in die wildeste Brunst, nun
auch etwa "ohne Ansehen der Person" (trotz ihrer Seelenhaftigkeit, die dann
vielleicht jedes bereitwillige Gegenüber zumindest momentan auch seelischerotisch umfängt), ist jetzt bei ihr möglich und auch oft schon Tatsache
geworden.
Es gibt hier nur eine grundlegende Gegenkraft in der Frau, die zur vollen
Sinnlichkeit reifte: ihre umfassende Bewußtseinsentwicklung, in Verbindung
mit dem seelischen Anteil ihres Wesens. In der Vergangenheit gönnte man
der Frau jedoch meist nur zwei Entwicklungsmöglichkeiten: Entweder sie
erwachte sinnlich gar nicht, nur seelisch (dies meist auf der Grundlage
mütterlicher Fürsorglichkeit) oder sie wurde intellektuell herangezüchtet. Im
andern Fall wurde sie einseitig sinnlich beansprucht, geradezu dressiert und
angereizt durch die Gesamtgestaltung ihres Lebens, und auf diesen Aspekt
beschränkt, auch dies etwa mit einigen dumpfen Ausklängen in die Region
der Mütterlichkeit. Die Typen der Dirne, des Weibchens (oder auch des
Muttertiers) oder der Emancipierten als instinktloser, leidenschaftsloser
Akademikerin oder Beamtin – das waren Folgen, wenigstens auf die Masse,
nicht auf die lebensvolleren Einzelnen hin betrachtet. Die sinnlich wie
bewußtseinsmäßig erwachte und reife Frau ist ein Produkt der letzten und
mehr wohl der künftigen Zeit; sie tastet heute noch erst nach haltbaren und
lebensmöglichen Formen.
Man hüte sich, einen der natürlichen Bereiche des Menschenwesens
verkümmern zu lassen – es rächt sich immer, wie sich jede Einseitigkeit rächt.
Das geistig-sinnliche Gegengewicht zum "Naturwesen" – denn die sinnlich
85
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
sehr herzhafte und intakte "Bauernnatur", das "Naturkind" überhaupt, ist alles
andere als auf den Kopf gefallen – muß auch auf der Stufe des
ausdifferenzierteren Kulturwesens sein Gegenbild finden. Jeder Mensch ist
von Natur aus im Gleichgewicht seiner Kräfte. Nur eine Kulturverzerrung
konnte die Frau zeitweise entstellen zum bloßen Sinnenwesen, wie auch zum
bloßen Seelen- oder Intellektwesen. *
Einige Worte noch zu den "anderen" Umständen der Liebe. Ein Ur-Instinkt
der leiblich-sinnlichen Vereinigung bleibt immer die organische Entwicklung
zu Schwangerschaft und Geburt. Je weniger diese natürliche Fortsetzung auch
bei der ledigen Frau geächtet wird und von ihr gefürchtet zu werden braucht,
je mehr sie sozial gestützt wird, je mehr die Schwangerschaft also auch von der
ledigen Frau begrüßt werden kann, desto wenigerr ist den unehelichen
Kindern ein schlimmes Prognostikum zu stellen. Sonst hätte ja in Kriegszeiten
und bei den Völkern, wo rüstige und tüchtige Mütter die Familien oder
vielmehr die "Sippe" ausschlaggebend bestimmten – die "Familie" ist schon
eine verengte mannesrechtliche Ausgestaltung -, alles vaterlos Geborene oder
Erzogene leiblich und sittlich zugrunde gehen müssen. Selbst die Zeit der
väterlichen (patriarchalen) Familiengewalt kennt aber noch die unbefangene
Einstellung zum unehelichen Kind, das vollwertig heranwächst – wo nämlich
der Vater es zu schützen und anzuerkennen weiß. Die alten Mythen und
Sagen tönen wider von den Heldentaten der "vaterlosen" Söhne berühmter
Mütter, und auch noch ein Colleoni leistet sich wie andere große Herren den
Luxus voll anerkannter und mit besten Familien vermählter unehelicher
Töchter. ** Es kommt nur immer auf die Einstellung der Menschen zu seinen
Taten an!
*
Die womöglich noch kompliziertere Verzerrung des natürlichen Gleichgewichts beim Mann wird an
anderen Stellen dieser Ausführungen thematisiert. (Anm. M.v.L.)
**
Hier dürfte andererseits ein Hinweis angebracht sein auf die Komponistin und Sängerin Barbara
Strozzi (1619 - nach 1664), unehelich geboren, Mutter von vier unehelichen Kindern, für die sie mit
ihren eigenen Einkünften sorgte. (vgl. D.Roster: Die großen Komponistinnen) (Anm. M.v.L.)
86
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
Sie b z eh nt e s Stü ck
Eini g e G ru n dt ats ac h e n de r Si n nli chk ei t
Die Sinne oder die Sinnlichkeit in geschlechtlicher Bedeutung haben
tatsächlich eigene "Intelligenz" und eine Art Gedächtnis, das auf seine Weise
Eindrücke sammelt, sie anhäuft bis zur Reifung der Empfindung und zum
Gipfel der Lust, aber auch bis zur Abstumpfung und völligen Reizlosigkeit.
Das Gedächtnis der Sinne * zeigt sich nicht zuletzt darin, daß sie einen lange
vertrauten Partner noch nach Jahren sozusagen wiedererkennen und auf ihre
Weise begrüßen. Es kann sogar so stark sein, daß es selbst die seelische
Fremdheit – etwa nach langjähriger Trennung oder nach dem Ausklingen der
eigentlichen Liebesbeziehung – mit elementarer Wucht überwindet und zur
vertrauten, wohlbekannten Ergänzung hinstrebt. Manche Liebesleute, die sich
nach Jahren wieder trafen, haben nicht eigentlich sich wiedergefunden – nur
das Gedächtnis ihrer Sinne, wohleingespielt aufeinander, überrumpelte sie,
und nur die Sinne fanden sich wieder. Ist der seelisch zusammenhaltende
Faktor aber wirklich erloschen, so bleibt dies ein fruchtloses Spiel. Auch im
seelisch bereits leeren, jedoch weitergeführten Liebesleben spielt das
Gedächtnis der Sinne eine Rolle; es ist der trügerische Kitt, der die längst
*
Mittlerweile ist das "implizite Gedächtnis" neurophysiologisch belegt – und es hat eine wesentliche
Funktion natürlich auch bei traumatischen und allen anderen unangenehmen leiblich-seelischen
Erfahrungen. (Anm. M.v.L.)
87
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
füreinander schon erstorbenen Wesen noch zusammenhält. Allerdings liegt
etwas Trostloses über einer solchen nur noch auf dem Sinnenfaktor
beruhenden Nähe, deren letzte Bedeutung verlorenging: nämlich die Seelen
zusammenzuführen.
Der Sinnlichkeit eigentümlich ist, daß sie voller, ungeteilter Konzentration
bedarf. Alles Ablenkende, Störende, Beunruhigende muß daher ferngehalten
werden, wenn nicht nur ein toter Akt, sondern eine lebendig empfundene
Gemeinsamkeit stattfinden soll. Sie bedarf – so seltsam das dem hochmütigen
Intellektualisten erscheinen mag – ebensosehr der Vertiefung und Sammlung,
der "Versenkung", wie die rational-intellektuelle Bewußtseinstätigkeit. Die
ganze Seele muß in das sinnlich-leibliche Geschehen hineinverlegt werden
können!
Eine weitere Eigentümlichkeit ist, daß die Sinnlichkeit ein völlig eignes
Zeitmaß in sich trägt. Was, intellektuell verstanden, ermüdender Stumpfsinn
wäre – sowohl die zärtliche Wiederholung gleicher Worte wie die
wiederkehrenden Liebkosungen in ihrer süßen Monotonie -, das bedeutet
hier eine notwendige Intensivierung des Fühlens. Denn das eigentliche Gefühl
"steht", es kreist in sich und vertieft sich sozusagen in einer eigenen
Dimension des Bewußtseins. Es kennt keine Langweile; nur der Intellekt ist
"schnell fertig mit dem Wort" und auch mit dem sinnlichen Reiz, der von ihm
aber nur "wahrgenommen" wird. Für die Sinne gibt es zunächst ein Erwachen,
ein langsam sich vollziehendes "Begreifen". Wer dies "Maß der Sinne" noch
nicht in sich trägt, wer mit dem wachen Tagesbewußtsein die Zeitmaße in der
Liebe und ihren sinnlichen Wirkungen abschätzt, wird diesem Erleben
letztlich hilflos gegenüberstehen. Wenn im Liebesrausch immer die gleichen
Worte lallend wiederholt werden, getreu die verstärkte oder absinkende
Intensität spiegelnd, entsprechend den innigen Empfindungen, ohne daß dies
als belanglos erlebt wird (denn nochmals: das Gefühl steht, es läuft nicht eilig
weiter wie der regsame Verstand), so wird gerade diese Monotonie das Gefühl
88
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
bis zu einer Art Trance steigern und voll ausschwingen lassen. Man braucht
bloß an die Musik ekstatischer Zustände, auch religiöser Gefühlssteigerungen
zu denken, deren stetes Wiederholen – wie bei dem klassischen OM (im
tibetischen Buddhismus) – solche Vertiefung und Ekstase hervorrufen kann –
kurz, man braucht nur die für den Intellekt kaum nachvollziehbare
Monotonie aller ektatischer und tief gefühlsmäßiger Zustände zu beobachten,
um zu wissen, daß auch in der sinnlichen Liebe eine Grundregel der
nichtintellektuellen Welt zutage tritt. Man schreitet gleichsam nicht vorwärts,
sondern inwärts oder aufwärts in eine neue Dimension..
Die sanft gesteigerte Monotonie ist der schnellste Schlüssel zum Eintritt in
diese ganz irrationale Sphäre. Daß sie nicht "sinnlos" sein kann, zeigt die bis
zum Zerbrechen empfundene gewaltige Aufstaffelung und Aufstauung des
Gefühlserlebnisses, das ja schließlich zum Orgasmus führt – einer von innen,
nicht von außen sich sammelnden und entladenden Erregung, die nur auf
diesem inneren Geburtswege möglich ist und durch keinerlei Mittel der
Beschleunigung äußerlicher Art zustande gebracht werden, höchstens nur
zerstört und verfrüht abgebrochen werden kann.
Es glauben ja viele, die Sinnlichkeit zu kennen, die doch nur an den
Gittertüren des Vorhofs rüttelten und die Materie auf diejenige Weise
erlebten, wie sie allerdings zumeist in der Alltagwelt auftritt: dumm, stumpf,
unbeseelt, ein bißchen vergnügliches flaches Wohlbefinden verschaffend.
Wenn von "Sinnenkitzel" geschwätzt wird, ist es das sichere Zeichen, daß die
Schwelle zum eigentlichen sinnlichen Liebeserlebnis noch gar nicht
überschritten wurde, geschweige denn, daß es seine Tiefen hergab. Das
Mysterium ist tatsächlich darin beschlossen, daß langsam, aber vollständig alle
Bewußtseinstiefe im Leiblichen entfaltet ist, durch das Gegenteil von Askese,
nämlich das vorbehaltlose, tabulose Hineingehen in das Sinnliche als solches.
Wird jedoch die vertiefende Wiederholung als seelenlose Mechanik benutzt,
und horcht der Liebende nicht mehr auf das Geschehen im andern, so kann
der fürchterlichste Gipfelsturz stattfinden. Dann verwandelt sich plötzlich die
89
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
höchste Ekstase in ein scheinbar sinnloses, rein fleischliches und fast
ekelerregendes Tun.
Da der Mensch nur ein bestimmtes Maß von Lust und von Schmerz ertragen
kann, ohne daran zu zerbrechen, liegen an diesen Grenzen die Wächter der
Fühllosigkeit oder der Ohnmacht. Aus diesem Grund ist es angeraten und
auch üblich, beim Liebesspiel nicht mit starken Reizen anzufangen. Denn
abgesehen davon, daß damit die Grenze sehr rasch erreicht wird, kann sogar
eine solche plötzlich einsetzende Reizhöhe schon Fühllosigkeit hervorrufen.
Hohe Reize müssen zudem wechseln, um empfindungsmäßig erträglich zu
sein. Insofern kann zwar der Anstieg eine lange Dauer seiner Schritte haben,
nicht aber die Gipfelempfindung. Eine ständige Überreizung der Sinne hat
jenen häßlichen Stumpfsinn zur Folge, der dann nur noch mit künstlichen
Mitteln sich überhaupt wieder zu irgendeiner Empfindung aufstacheln läßt.
Überreizte Sinne als aufgestachelte Dauergier, die immerfort auf der Lauer
liegt, spielen sowohl im Liebesleben wie im Alltag ihrem Träger (oder ihrer
Trägerin) böse Streiche.
90
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
Ac ht z eh nt es Stüc k
Vo n d er Z e rs pal t en h eit i m L ie b es le b e n
Unbeseelte Sinne und sinnenferne, ja sinnenverächtliche Seelen – damit ist
eine klägliche und beschämende Zerspaltenheit vieler Menschen schon auf
den Punkt gebracht. Diese Eigentümlichkeit hat unter männlicher
Kulturherrschaft die allertiefgreifendsten Folgen gehabt: die Prostitution oder
das "leicht" zu nehmende Verhältnis einerseits, die enterotisierte Seelenliebe
oder die Pflichtliebe in der Ehe andererseits; die "anständige" Frau (manchmal
hat sie fast den Status einer Heiligen), bei der man sich aber erotisch langweilt
(zumal sie oft eher als "Mutter" gefühlt wird) – und andererseits die "süße
Person", die aber, falls sie etwa seelische Ansprüche zeigt, leicht nur zur
"Person" wird, "die sich ja selbst weggeworfen hat" – und daneben ganz
allgemein: "die Weiber" und "Dirnen".
Als Konsequenz einer weitgehend vom Mann abhängigen Versorgung läßt
sich bei Frauen mit ausdifferenzierterer seelischer Entwicklung nicht selten
eine vergleichbare Zerspaltenheit in anderer Weise beobachten. Hier ist dann
die Beziehung zum Ehemann "zuständig" für den Alltag, für materielle und
sexuelle Vesorgung – und auf der anderen Seite gibt es den einen oder andern
"guten Freund", mit dem die Frau jenen tieferen seelischen Austausch pflegt,
der zumindest auch zur Liebesbeziehung gehören müßte; aber ist dann eine
solche Ehe noch Liebesbeziehung? *
Ungeheuer pathetisch-tragisch gebärdet sich oft diese simple Unkultur der
Sinne, als ob gerade sie aus höheren Regionen stammte und untrügliches
*
Der Absatz ab "Als Konsequenz.." ist ein Einschub von mir. (M.v.L.)
91
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
Zeichen
besonders
ausgeprägter
Persönlichkeitsentwicklung
sei.
Dieser
angebliche Konflikt eines "hohen Bewußtseins", das sich losgelöst von der
"niederen Sinnlichkeit" bzw. dem "profanen Alltag" entfalten möchte, ist aber
nur der Konflikt einer tatsächlich niederen Sinnlichkeit, die für eine erotische
Beseelung und die Integration in das ganze Leben zu träge ist.
Die Zerrissenheit speziell des männlichen Liebeslebens ist gesellschaftlicher Stil
geworden, stillschweigend anerkannte Sitte. Sie wird als "doppelte Moral"
erbittert, aber vielleicht psychologisch etwas zu schlicht, geradlinig und bieder
von Frauen breitester Kreise bekämpft. Man muß aber auch da die
ursprünglichen seelischen Gründe und Wertungen betrachten! Der Mann will
sozusagen mit seiner eigenen Sinnlichkeit nichts zu tun haben, obwohl er sehr
viel und Schwerwiegendes mit ihr tut. Ihn geht sie "persönlich" gleichsam
nichts an, nur die Frau als einseitig "sinnliches" Wesen – als die sie nach
Bedarf hingemalt wird im Gegensatz zur ebenso einseitig gesehenen
Seelengöttin und Seelengattin. Die Sinnlichkeit steht einem solchen Mann
sozusagen ganz außerhalb seiner Person, wie sie auch nur als Anhängsel seines
Körpers empfunden wird. Seine "Affäre" war, wie er dann eifrig versichert,
nichts Seelisches, nichts Tieferes war dabei, nur ein flüchtiger Rausch der
Stunde. So spaltet er sich nochmals ausdrücklich als Bewußtseinswesen von
seiner Sinnlichkeit ab!
Zerspaltenheit im Liebesleben, in welcher Weise auch immer sie arrangiert
und begründet wird, ist kein Zeichen besonders ausdifferenzierter
Persönlichkeit, sondern Mangel. Hinter der sorgfältigen Abgrenzung einer
"geistigen" oder "seelischen" Person von ihrer eignen Sinnlichkeit (und
ebenso der entwürdigenden Abgrenzung des "Alltags" von "höheren"
Bereichen des Lebens) steht nur armselige Halbheit und Schwäche. Denn die
wirkliche Liebe, das wirkliche Leben ergreift den ganzen Menschen und
verknüpft zwei Wesen möglichst weitgehend in ihrer Ganzheit miteinander.
Unkultur! Unkultur!
92
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
N eu n z eh nt es S tüc k
Vo n d e n Blu m e n a m We ge sr a nd
Du magst ein alter verstaubter, eingerosteter, eingedickter Gewohnheitssklave
geworden sein oder ein durch Leiden bis auf die letzte Lebenslust
ausgemergelter Weltschmerzler, der sich selbst tiefste Resignation predigt und
sie auch bereits virtuos übt - : Berührt dich eine neue Liebe, so ist die Welt
wieder jung wie am ersten Tag, und du selbst bist jung. Mit ungläubig
staunenden, dankbaren Kinderaugen wirst du das Leben anblicken und sagen:
So also kannst du noch aussehen! Und wirst eben diesen staunenden
Kinderblick an dir wahrnehmen, das neue unendliche, glückliche Vertrauen
zum Leben, zu dir selbst, zu den Menschen im allgemeinen und zum
Geliebten im besonderen.
Das macht, daß die Liebe den Menschen radikal, also: an der Wurzel umgräbt.
Er muß ein neues Leben anfangen, denn in ihm hat neues Leben angefangen.
Und dies reicht von der erneuten Achtsamkeit deinem Körper und deinem
Äußeren gegenüber – bis zu der verrosteten Innerlichkeit, die blankgeputzt
und um und um gekehrt wird.
Es geht mir an dieser Stelle nicht vor allem um die großen, tiefgreifenden
Revolutionen und entscheidenden Lebensstufen, die von der Liebe ausgehen
können. Auch derjenige, der das Zentrum seines Lebens in eine ganz andere
93
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
Region verlegte, dort "verankert" ist und dies Lebenszentrum auch
beibehalten will oder muß, atmet auf, sieht sich mit frischerem Blick um und
kehrt mit verjüngten Kräften zurück zu seiner alltäglichen Aufgabe, wenn
ihm plötzlich die Liebe über den Weg lief. Denn sie kann eben auch die
leichtherzige, helläugige Vagantin sein, die mit Schwung in deine Arme stürzt
und bald mit leisem Lachen wieder verschwindet. Oder der frische Wind
deines Großhändlers, den du jeden Donnerstag mit sehr gutem Grund
sehnlich erwartest in deinem Blumenladen!
Ja, dies ist jetzt eine psychologische, physiologische, objektive, ja sogar
"geistige" Rechtfertigung der kleinen Abenteuer und der erfrischenden
Liebeleien. Einzige Regel des "fair play", das in der Liebe eben stets ein Spiel
zu zweien bleiben muß: daß auch der Andere nur diese flüchtige Blume meint
und von dir erhofft. Ist's was Ernsteres, so wird schon das Ernstere daraus
werden – da brauchst du nicht zu sorgen.
Dafür sorgt die Liebe selbst.
Es kann nicht immer und zu jeder Zeit das Gewicht eines ganzen Lebens
gerade in die Liebesbeziehung gesteckt werden. Wer die Blume am Weg
pflückt, die sich ihm oder ihr lachend und verlockend öffnet, ist deshalb
weder ein Lebemann noch ein Flittchen. Eine gewisse säuerliche Art, mit
einem ungeheuren Aufwand an Entrüstung die flüchtigeren Liebesfreuden
auch hochgestellter Menschen zu verdammen ("Goethe – - leider!!"),
Begegnungen also, die sich nicht schon gleich zu sozialen Konsequenzen und
ehelichen Banden auswachsen, zeugt von einer ahnungslosen, einer
scheinheiligen – oder einer neidischen Einstellung. Selbst wenn einer oder
eine der beiden mit diesem Feuer sich die Flügel verbrennt: Es gibt Flügel, die
unendlich viel wesentlicher sind, und die nicht in jedem Augenblick des
Lebens mit der gesamten moralischen, bürgerlichen, sozialen und
biologischen Last einer dauernden Beziehung beschwert werden müssen, wenn
sie sich einmal rastend auf eine lebenserfrischende Blume senkten!
Es ist irrig, daß eine derartige Erfahrung an sich schon "Sünde" sei. Vielmehr
ist es Sünde gegen das sich selbstentwickelnde Leben, nicht die
94
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
Erneuerungskräfte dort zu empfangen, wo ein freundliches Geschick sie
bietet. Und fragt ruhig bei Gelegenheit "gefallene" Mädchen und Frauen, ob
sie etwa ihr Erleben missen wollen, vorausgesetzt, daß es nicht zu Ruin für
Körper und weiteren Lebensweg wurde. Bekämen die strengen Frager ehrliche
Antworten – was aber schon Sünde genannt wurde, will natürlich keiner gern
getan haben -, so würden sie diese Antworten oft recht überraschend finden.
Denn für viele war eine solche Begegnung schönste, vielleicht gar einzige und
jedenfalls wichtigste Erfahrung gewesen, die sie erst zur Erwachtheit, zu
tieferem Lebensverständnis und eigener Lebensverantwortung führte! Es hat
eben alles seine zwei Seiten.
Für jedes lebenskräftige Wesen ist die leibliche Liebe, in welcher Form auch
immer – außer der aus Not oder andern Gründen freudlos erzwungenen! ein Lebensstimulans und bedeutet Seelen- und Körperentwicklung.
Kurz, der Mensch ist nicht eine gar so zarte Pflanze, eher schon eine zärtliche
Pflanze. Und darum – nämlich wegen der Zärtlichkeit – gibt es auf dem Wege
durchs Menschenleben manche Verschlingungen und Verwicklungen, wo Frau
und Mann einander begegnen.
95
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
Z w a n zi g st es S tü c k
Se el e n oh ne L ei d e ns c haft
Wer kennt sie nicht, die Virtuosen unglücklicher Liebe, denen alles auf
diesem Gebiet schief gerät, mit einer Hartnäckigkeit, die schon geradezu ein
besonderes Talent verrät für Liebesverhältnisse, die sowohl innerlich wie
äußerlich fehlgehen, unerwidert bleiben, sofort einschneidend zerstört oder
gestört werden und nie über einige kümmerliche Ansätze hinaus gedeihen?
Es sind oft sehr feine, liebe und wertvolle Menschen; sie brauchen auch weder
unbegabt noch häßlich zu sein. Aber es fehlt ihnen irgendeine vitale Kraft,
eine Spur jener elementaren Anziehungskraft, und auch die Kraft des
Festhaltens, wenigstens bis zu dem Punkt, wo eine tiefere und fruchtbare
seelische Berührung zweier Menschen
Liebeserleben gar nicht erst zu reden.
erfolgt
–
vom
eigentlichen
Sind es Männer, so sind sie die geborenen treuen, immer im Schatten
stehenden "guten Freunde" einer Frau (oder mehrerer Frauen), hoffnungslos
und bisweilen sogar lebenslänglich in sie verliebt oder vielmehr auf ihr Weise
sie liebend – so ergreifend oft in ihrer Treue und Selbstlosigkeit, daß man
meint, diese müßte doch endlich vom Schicksal belohnt werden. Aber – sie
können nicht bannen und nicht verzaubern! Der höchste Glücksfall, der ihnen
passiert, ist, daß sie eine Resignationsliebe mit der Dame ihres Herzens
erleben, nachdem deren sonstige Chancen geschwunden sind oder wenn die
Betreffende, vom Leben arg ramponiert, schließlich in irgendeinen
schützenden männlichen Hafen flüchtet. Aber meist lieben die
Leidenschaftslosen und Reizlosen, die unscheinbaren und immerbereiten
96
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
guten Freunde, ja gerade sieghafte und glückhafte Vollblutfrauen, die solche
Unglücksvögel der Liebe aber nur ein wenig mitleidig behandeln und im
Grunde nicht für voll nehmen können.
Es sind die geborenen Vertrauten fremder Liebesabenteuer, weil man sie gern
für neutral und ohne eigene diesbezügliche Bedürfnisse hält. – Irgendein
Manko von unersetzlicher vitaler Art scheint jeden ihrer Schritte auf dem
eigentlichen Liebesweg selbst für Außenstehende fast von vornherein als
hoffnungslos und verfehlt zu kennzeichnen. Die Göttin Leben hat ihnen eine
entscheidende Gabe versagt, jenen magnetischen Strom, der von Mann zu
Frau und von Frau zu Mann fließen muß, damit gemeinsame Sehnsucht den
Weg zur sinnlichen Liebesvereinigung antreten läßt. Ihre Liebe im physischen
Sinne könnten sie nur dorthin tragen, wo geschlechtliche Anziehung und
Sympathie beim Liebesakt keine Rolle spielen. Dieser Lösung steht oft aber
ihre seelische Sensibilität entgegen. Gibt ihnen eine Frau, sei es aus
Unkenntnis ihrer Natur oder Mitleid, wenigstens die Erlaubnis, sie zu lieben –
mehr als das kann es nicht sein, wo keine aktiven Ströme fließen, die auch in
der Frau den wirklichen Drang zu intimer Gemeinschaft erwecken -, so sind
solche Männer meist grenzenlos in ihrer Aufopferung und ihrer Liebe, soweit
sie nur das rein Seelische betrifft, ohne doch in erotischer Hinsicht etwas
anderes als das peinliche Gefühl des "Versuchs am untauglichen Objekt" zu
hinterlassen. Sie bleiben in dieser Liebesregion einsam, eingeschnürt, so zarte
Brücken sie auch im Seelischen zu schlagen wissen..
Manche von ihnen sind allerdings robuste kalte Vestandesmenschen; sie
werden unter ihrer Isoliertheit im Geschlechtlichen eventuell gar nicht – oder
nicht mehr - leiden. Ihnen sind oft sogar noch ganz kräftige und herzhafte
Impulse einer allerdings abgeschnürten Sinnlichkeit möglich, die sich zu
Zeiten ihr Teil holt, so wenig auch das sonstige Seelenleben dieses Tun
durchwärmt. Mit sensibler entwickelter Seele ist eine solche abgeschnürte,
mehr oder weniger mechanische Geschlechtlichkeit jedoch nicht "zu machen";
solche Virtuosen der unglücklichen Liebe kreisen mit ihrer seelischen
Empfindungsfähigkeit sehnsüchtig um die für sie unerreichbare Sinnlichkeit,
97
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
wie die Toten im Schattenreiche. Aus diesem Grund finden wir solche Männer
nicht selten gerade im Bann animalisch-lebensvoller Frauen, denen sie meist
nicht unwert sind als ein Stück feinerer Seelenhaftigkeit, in dem jene sich in
besonderer Weise spiegeln können. Aber nie werden sie als Mann von ihnen
wahrgenommen.
Noch
betrüblicher,
weil
meist
nicht
wenigstens
in
besonderer
Bewußtseinsentwicklung lebendig – wohin sich die entsprechenden Männer
eher retten können und wo sie oft ein sehr reiches inneres und auch nach
außen produktives Leben führen -, ist die weibliche Variante der chronisch
unglücklich Liebenden. Hier ergeben sich vor allem zweierlei Lebensformen:
Zum einen die unbefriedigt sentimentale, manchmal wehleidige, oft auch in
sozialen Berufen aufopfernd tätige, meist schon alternde Frau – nachdem
einige ungeschickt-zaghafte Versuche der ernstlichen Liebesfesselung
gescheitert sind – nicht selten im Zusammenhang mit Übergriffen eines
Herrn der Schöpfung. Sodann die rein dekorative Gesellschaftspflanze, mit
billigen äußeren Triumphen, bei denen sie selbst letztlich leer ausgeht,
obwohl sie dies mit im Laufe der Jahre zunehmender Perfektion verbergen
kann.
Bei allen diesen auf tragische Weise unerfüllt bleibenden Menschen liegen
seelische Verwundungen, schlimme Erfahrungen verschiedenster Art – oft im
Kindesalter – am Grund ihres Unvermögens, ihres Zurückscheuens vor der
gelebten Sinnlichkeit. Sie sind unglückliche Brüder und Schwestern von uns
anderen, denen das Geschenk der sinnlich-leiblichen Liebe nicht versagt
geblieben ist.
*
*
Ab "Bei allen.." Ergänzung des Bearbeiters 2001. (Anm. M.v.L.)
98
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
E i nu n d zw a n zi gs t es S t ü ck
L ei d en sch af t oh n e S e el e
Nicht immer ist die leiblich-sinnliche Liebe mit tiefgreifenden seelischen
Ereignissen verknüpft. Das meiste im Alltag sexueller Begegnungen bleibt
einfach behagliches und ergötzliches Spiel animalischer Wärme, ein
physisches, seelisch und ästhetisch nur leicht verbrämtes Bedürfnis und seine
Befriedigung. Es ist die natürliche und selbstverständliche Vertrautheit
geschlechtlich reifer Lebewesen untereinander, als Geschöpfe mit ach so
durchsichtigem gleichen Begehren und ziemlich gleichen Wünschen.
Leidenschaft und Seele bleiben dabei jedoch im letzten Grunde fein säuberlich
getrennt. Nicht, daß die Seele etwa künstlich ferngehalten wird – das wären
schon die zwiespältig Reflektierten -; sie rührt sich nur einfach nicht
sonderlich aus ihren Gewohnheitsfalten heraus, während das vergnügte und
beglückte Animal beiderseits seinen feineren oder gröberen Tribut erhält.
Solche Verhältnisse und Situationen erweisen sich als ein Gemisch von
gesunder Animalität, Anlehnungsbedürfnis im wörtlichsten und schon auch
im übertragenen Sinne, Wärmebedürfnis, sentimentalen oder wirklich
99
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
gefühlvollen Anwandlungen und einer instinktiven, lebenserhaltenden,
unverstörten Vernünftigkeit praktischer Art. – Ist die Leidenschaft aber nicht
einmal mit diesen billigen Ingredienzien abgeschmeckt, so handelt sich's um
den einfachen tierischen Trieb, der dann nicht einmal mehr "Liebelei" heißen
kann, sondern eben nur Befriedigung, Geilheit oder gar Notzucht.
Indes: Das schlichte Ineinandersinken lebendiger Geschöpfe, die sich mit
Wärme anstrahlen und mit gesättgter Dankbarkeit sich wieder trennen – ohne
auch seelisch in besonderer Weise sich einander angenähert zu haben -, ist
doch
schöner,
weil
naturhafter
und
ehrlicher,
als
flaue
und
fade
Verbrämungen,
als
verlogene
Liebesrhetorik
und
irgendwelche
Anstandsfetzen, wie sie sich in den sogenannten gebildeteren Kreisen oft um
dieses an sich natürlich-schuldlose, wenn auch in sozialer Hinsicht nicht
immer verantwortungsvolle Ereignis herumdrapieren! – Auch solch
schlichtestes Erleben der Zugehörigkeit zur großen Gemeinschaft der
einander suchenden Leidenschaften, das ganz undifferenziert in jedem den
Gleichge-sinn -ten, von derselben Sinnensehnsucht Ergriffenen zu spüren
vermag, kann durchaus individuell ein bedeutsames Erlebnis sein und würde
insofern schließlich
ausgemünzt.
doch
irgendwie
seelenhaft
aufgenommen
und
Die "Liebelei" als Liebesniveau, wenn auch nicht als alltägliche Lebensform, ist
wohl die natürliche Empfindungsweise der großen Menge der Menschen, der
sie noch viel mehr nachgehen und nachgeben würden, wenn sich das mit
sonstiger bürgerlicher Reputiertheit oder den vernünftigen Zwecken ihres
Lebens besser vereinbaren ließe.
100
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
Z w ei u n d zw a n zi g st es Stü ck
Di e Ä sth e tik i n d er L ie b e
Wenigstens für die Liebe ist der Körper kein lästiger Erdengast, sondern er ist
ihr Medium und Gefäß, an dem und in dem sich das Wunder der
Liebesverzauberung vollziehen soll. Laß dieses Medium nicht in
Gleichgültigkeit verkommen; der Nagel deiner kleinen Zehe kann dort
wichtiger sein als sämtliche bürgerlichen Verdienste, und der Glanz deines
Haars kann mehr künden und bewirken als die schönsten moralischen
Prinzipien und poetischen Gefühle. Dies ist nicht "Materialismus", sondern
nur höchstes Streben nach einheitlicher Vollkommenheit. Es gibt Körper,
scheinbar reizlose Körper, die im begnadeten Augenblick aufblühen und
schön werden und auch den Jahren auf eine unbegreifliche Weise zu trotzen
wissen – aber diese Magie kann sich nur in einem vom Ich selbst geliebten
und geehrten Körper vollziehen! Und die Sehnsucht nach Geliebtwerden oder
auch die Demut vor dem großen Liebesgeschenk äußert sich nicht selten in
plötzlicher Verzweiflung über alles - wirklich oder vermeintlich Unvollkommene oder Unzulängliche des eigenen Körpers, der eigenen
leiblichen Erscheinung. So ist letztlich (jenseits der modischen Orientiertheit
auf "Jugend") die nagende bange Frage absinkender Jahre zu verstehen, wenn
101
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
sie noch vor die Liebe treten. Ebenso richtig ist, daß diese innere Haltung der
Demut und das Bemühen, der Liebe zu genügen und vor ihr auch körperlich
zu bestehen, jenen zarten Reiz verleiht, den der selbstzufrieden und
ahnungslos Einherstapfende nicht haben kann – gerade auch nicht der seiner
sportlichen Trainiertheit allzu Selbstgewisse.
Aber es gibt auch jenes herrliche Trumphgefühl des jungen oder vollreifen
Körpers, der sich zu Recht selbst als schön, begehrenswert und reizvoll
empfindet, jenes unpersönliche Aufjauchzen der Lebenskraft selber in ihrem
Brennpunkte, dem Liebesspiel der Geschlechter.
Man darf nur nicht pedantisch werden. Denn all dieses Schönsein bleibt immer
Mittel, niemals ist es Zweck im Liebesbezirk – oder gar Vorbedingung. Das
Wesentliche ist doch jener Zauber, der die Liebenden ohne wenn und aber
zusammenreißt, und er hat unter Umständen keinen ärgeren Feind als
zimperlichen Ästhetizismus oder armselige Eitelkeit.
Es gibt unverbesserliche Ich-Seelen, die letztlich
ihr
bürgerliches
Ordnungsbewußtsein über das leidenschaftliche Erlebnis der Liebe auch dort
noch stellen, wo solche Ordnung und äußerliche Ästhetik dem fruchtbaren
Überschwemmen aller Ufer durch den Liebestrom zu weichen hätte. Die vom
Gott DIONYSOS erfüllte Mänade dachte sicher nicht an ihre "Frisur" und ihr
Gewand, nicht einmal, ob sie zerrissenen Schoß, blutende Lippen oder
zerschundene Haut davontrug, die braunen Flecken der Saugmale und die
Pantherzahnspuren wütender Liebe..
Es gibt eine mehr moralisch gefärbte Abart solch zimperlicher Ästhetik, für
die gerade der redliche Schweiß und die wilde Sorglosigkeit der Glieder in den
Liebesmühen, die ganze körperliche Atmosphäre ihrer Verwirklichung schon
Ablehnung hervorruft. Es ist eine prüde Ästhetik, die alles sanft, wohlerzogen
und die ganze Liebe eigentlich nur körperlos, nur seelisch erleben will und die
ebenso eigensinnig auf ihren kleinen und engen Maßstäben beharrt wie die
eitlen Ziervögel (beiderlei Geschlechts). Ihr geht es bei der Liebe von Frau
102
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
und Mann im Grunde nicht anständig genug zu; handelt es sich für solche
"Seelchen" dabei doch "nur um fleischliche Lust" oder "schamlose sinnliche
Gier" und was derlei Formulierungen noch sind. Von solcher
Lebensstimmung und Lebensgesinnung führt keine Brücke zu Jenen hinüber,
die im Kreise der Liebe stehen, was in beiderseitigen Beurteilungen auch
immer wieder drastisch zum Ausdruck gebracht wird.
Der Weisheit Schluß bleibt hier: Alles in dir, auch das ästhetische Bemühen,
diene der Liebe, die dich über dein Selbst erhebt – und dem Du näher bringt.
103
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
Dr ei u n d zw an z i gs te s S tü ck
De r Zu sa m m e np r all un d d er Zu sa m m e nh alt
Wenn im Himmelsraum einherirrende Körper in den Bereich eines andern
gelangen, so werden sie aus ihrer Bahn gezogen, auch wohl durch den Anprall
zertrümmert, und beide Bahnen vereinen sich, - oder es beide setzen nach
heftigem Zusammenstoß und Selbstverlust oder –gewinn wieder einsam ihre
Bahn fort, mag sein, daß es dann auch eine etwas andere ist.
Dieses in mehr als einer Hinsicht hinkende astronomische Gleichnis mag eine
ungefähre Vorstellung davon geben, was eigentlich bei der Begegnung von
Menschen geschieht, die mit der stärksten und unwiderstehlichsten Kraft, der
Liebe, zusammenstürzen in die dauernde oder vorübergehende Einswerdung.
Denn unzweifelbar ist die Liebe die Schwerkraft der Seelen, wobei, da ja
Seelisches und Körperliches nicht wirklich getrennt werden können, mit
gleichem Recht von einer Schwerkraft der Leiber gesprochen werden kann. Da,
wo die Seele durch den Leib redet, wie in der Liebe der Geschlechter, und wo
als einziges, einmaliges und größtes Wunder der Leib selber zu beseelter Rede
wird, ist solcher Unterschied in jedemfall nur ein gradueller. Andere Liebe
104
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
bedarf eines körperlicen Mediums nicht, und dies zieht einen deutlichen,
unverwischbaren
Liebesverhältnis.
Strich
zwischen
geschlechtlichem
und
sonstigem
Wo keinerlei wirkliche Schwerkraft waltet bei einer solchen Begegnung, da ist
es nur, wie wenn die Flocke im Bach am Grashalm vorüberschwimmt, einen
Augenblick zögert, sich festhakt und alsbald wieder fortgesogen wird. Dies
sind im tiefsten Sinne unnotwendige Lieben (was übrigens noch nichts über
ihre Dauer besagt), die auf irgendwelchen Zufallsmomenten beruhen mögen,
- auch nicht etwa auf jener Schwerkraft der bewußtseinsmäßigen, "geistigen"
Nähe, die mit genau
zusammenschleudern kann.
derselben
Die
Umwandlung
Liebe
als
wirkliche
Wucht
und
die
Seelen
Neuschaffung
scicksalhaft
wird
zur
Lebenswende. Schon weil das Du , mit dem ein Mensch nun verschmelzen
muß, ein neues, anderes Ich bei ihm hervorlockt – falls er oder sie ein
entsprechendes Entwicklungspotenzial in sich trägt! -, ist eine Umgewichtung
aller Wesensbestandteile unvermeidbare Folge. Forderte ein bisheriger Partner
etwa die bindenden Kräfte heraus, so der neue möglicherweise die lösenden.
Ist "Sie" dem einen gegenüber ganz Lebensfreude, so bedeutet sie dem andern
vielleicht Lebensernst. –
Man wird seiner selbst über die Lebenszeit auch müde in immer derselben
Rolle; solche seelische Ermüdung ist ein tieferer Grund von "Untreue" oder
Wechsel der Partnerschaft überhaupt. Freilich, den meisten Menschen, die ja
schon im Stillstand das Sittliche sehen, als eine Art seelischer Verläßlichkeit,
und im Wechsel nur "die Sinnenlust" argwöhnen – weil sie selber ein
seelisches Fortschreiten nicht kennen -, erscheinen die Motive eines Wechsels
dann entsprechend. Die Sinne aber sind sogar viel weniger wechselgierig als die
Seele, einfach weil, wie wohl zugegeben werden dürfte, im allgemeinen das
Seelische des Menschen schon differenzierter ist als das Sinnliche.
105
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
Wo
Schicksal
waltet
in
der
neuen
Liebe,
ist
sogar
noch
in
Alltagszertrümmerung und zeitweiser Verzweiflung ein Stück Seligkeit, denn
es ist das notwendige, das eigene Schicksalserleben. - Im andern Fall gibt es
noch in der höchsten Freude des Einander-gefunden-Habens Raum für die
Möglichkeit eines anderen Verlaufs. Und hinter der spezifisch menschlichen
Herrschaft über das eigene Gefühl und den eignen Lebensgang regt sich dann
leise doch die Bewußtheit über das Beliebige, das irgendwie "nur
Selbstgemachte" und darum nicht ganz und gar Erhebende des Geschehens..
Irgendein
Schicksalszug
treibt
schließlich
immer
zur
Eröffnung
des
geschlossenen Menschenwesens gegenüber einem anderen. Man ermesse nur
die übliche ("normale") feste Verkapselung des Erwachsenen im
Gesellschaftszustande, von Konvention und Sitte verstärkt! Es scheint
unvorstellbar, daß dort eine solche letzte Intimität zwischen Zweien
aufbricht; ein Abgrund liegt zwischen ihnen, so intensiv und herzlich etwa
sonst die Beziehung sei, im Rahmen der Alltagsgepflogenheiten. Springt aber
der Funke über diesen Abgrund, so sind zwei fremde Menschen plötzlich
ohne Hemmung, ohne Scham in die tiefsten seelischen und körperlichen
Gemeinsamkeiten verwühlt! Dies ist das immer neue Wunder der Liebe als
Brücke zwischen den Wesen, gleichviel, ob zunächst Leidenschaft oder
seelische Nähe diese Brücke schlug. Im ersten Fall wird vielleicht schon mit
dem Zusammenprall "das Gesetz erfüllt sein", sodaß kein Zusammenhalt sich
aus diesem Ereignis ergibt.
Bekanntlich gibt es ja glühende Liebe (keineswegs nur "Verliebtheit"), die
ebenso rasch in vollkommene Gleichgültigkeit , in vehemente Abstoßung
oder gar Haß umschlägt, sowie der Durst gelöscht ist. Gerade solche
Katastrophen haben die Liebesleidenschaft in den Augen Unbetroffener
diskreditiert. Aber daß, was mit Blitzschlag und Wunder beginnt, auch mit
Donnerschlag und plötzlicher Entzauberung endet oder doch leicht enden
kann – besonders da, wo das Wunder nicht vor allem auf der seelischen Seite
liegt und dann von dem Wundergläubigen in jeder Weise seelisch noch
106
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
ausgesponnen werden kann -, ist eine nur gerechte Überlegung, die allerdings
wenigen beikommt.
Größer, ja unerhört selten ist das Wunder des Zusammenpralls, das jede echte
Liebe eröffnet, wenn es sich auch zu einem festen Zusammenhalt auswächst.
Und es scheint, daß Hindernisse – vielleicht, weil sie immer wieder die
Anziehungskraft reizen, sich zu bewähren – eher stärkend als schwächend auf
eine einmal entfaltete Kraft des Zusammenhalts einwirken. Wenn man auch
nur einen der Briefe von Heloisa * gelesen hat, die sogar trotz des
schwächlichen inneren Zusammenbruchs von Abaelard nach seinem äußeren
Scheitern in unverwelkbarer Frische und innerer Sieghaftigkeit weiter strahlt,
so ahnt man erst, was für eine unerhörte Gewalt in diesem Zusammenstreben
der beiden gesteckt hat und daß sie nicht zufällig so schwerwiegende
Hindernisse und geheiligte Schranken durchbrach!
Gleichviel, ob die Schwerkraft der Seelen nur zum Zusammenprall und zur
Wandlung führt, ob diese alsdann noch zu einem Zusammenhalt der
Liebenden gelangte oder ob sich die beiden als integre Individuen wieder in
sich selbst zusammenziehen: Es ist ein gewaltiges Erleben, daß so die
Schranken des Ich weitend auseinanderreißt und erschüttert. Ob die Bahn
dann gemeinsam verläuft oder nicht – das ist nur eine Frage zweiter Ordnung
gegenüber dem Geschenk des Lebens an denjenigen, der bereit war zur
Selbstentwicklung.
*
Die Briefe von Heloisa (1101-1164) finden sich in:
Abaelard: Die Leidensgeschichte und der Briefwechsel mit Heloisa (Übertragen und herausgegeben
von Eberhard Brost) (Neuausgabe Heidelberg 1979; Verlag Lambert Schneider) – Jedoch ist auch
Verständnis für Abaelard angebracht, den sie schließlich kastriert haben! (Anm. M.v.L.)
107
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
Vi eru n d zw an z i gs te s S tü ck
Ka m pf i n de r Li e be
Die Liebe erfaßt und bindet zwei Wesen, die bisher getrennte Wege
wandelten: - äußerlich, das heißt der Lebensführung und –gestaltung nach; seelisch, in ihren Ansichten und Empfindungsweisen; - und körperlich, das
heißt in der Verfügung, Wahrung und Beherrschung ihrer Leiblichkeit und
ihrer körperlichen Nähe.
Was kämpft nun dagegen, daß die ursprüngliche Selbstbezogenheit sich
opfert? Erstlich der ganz gemeine Egoismus, den jedes Lebewesen zunächst
hat: Es steht von Natur im Mittelpunkt seines eigenen Interesses, wie wir es
noch ganz naiv und souverän beim Kinde sehen. Ferner aber auch – gerade
bei ausdifferenzierterem Bewußtsein – die seelische Selbstliebe, die das
bewußtseinsmäßig einmal Erfaßte und Gestaltete eigenen seelischen Wesens
nicht so einfach aufgeben kann oder aufgeben sollte. Endlich: die natürliche
Jungfräulichkeit, Keuschheit und Scham jedes Sonderwesens, Mann wie Weib,
die zunächst vor Eingriff und Einbruch in die Bezirke der körperlichen
Vertrautheit zurückschreckt.
Nicht nur der Mann, der etwa durch eine Frau "von seinemWege abkam" oder
doch darin gehemmt wurde, auch die Frau kennt heute bereits diesen Kampf
um die Bewahrung eigener Lebensgestaltung und ihres inneren und äußeren
Weges. Dies Motiv bleibt sogar als kämpferisch trennendes selbst dort noch
108
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
bestehen, wo sowohl die körperliche wie die seelische Hingabe schon vorliegt,
geschweige denn der gemeine Egoismus besiegt wurde. Das Opfer des bereits
selbstgestalteten oder doch immerhin schon ins Auge gefaßten zukünftigen
Lebensweges, das heißt aber des in lebendiges Tun umgesetzten Inneren,
bleibt das größte
und schwerste für Frau wie Mann, wo sie ausgeprägtes
Wesen und innere Ziele haben. Dies ist ein Opfer, welches – und oft mit
Recht – selbst von der Liebe noch verweigert wird. Deshalb, und nicht, wie
oberflächliche Schwarzweiß-Menschen meinen, wegen
irgendwelcher
besonderer Lüste und gewöhnlicher Egoismen, gibt es viele Lieben, die im
äußern Sinne unabhängig bleiben oder sich aus einer völligen Gemeinschaft
wieder losreißen. Denn hier geht es um das Letzte des Menschen und seines
Lebenssinnes und Wesens überhaupt: um Selbstbewahrung und um die
eigentliche
Lebensentwicklung,
Wahrhaftigkeit. *
als
Verwirklichung
der
inneren
Dieser Konflikt wird häufiger vorkommen, je mehr ihrer selbst bewußte
Männer und Frauen es gibt. Namentlich die Frau als bisher an das Schiff des
Mannes angehängtes und von ihm mitgeschlepptes Kähnlein, das zudem
meist mit der Generationslast befrachtet war, hat hier den schwersten und
entscheidenden Verzicht zu leisten. Gibt sie sich in diesem Sinne auf, so
bringt sie das größte freiwillige Opfer, - und erhofft sich Befriedigung und
Freuden, Lebenssinn und Lebensweg völlig anderer Art. Eine noch selten, aber
zunehmend häufiger getroffene Entscheidung ist es für eine Frau,
selbstverantwortlich alle Mutterfreuden und –lasten mit dem eigenen,
selbstgestalteten Weg zu vereinigen. Oft erzwang eine Trennung oder der
frühe Tod des Mannes eine solche Entscheidung bei Frauen, die den eigenen
Weg und die aktive, nur von innen her bedingte Lebensgestaltung bis dahin
nicht gekannt oder schon fast vergessen hatten.
*
Erschütternd deutlich wird das bewußte Opfer einer ursprünglichen eigenen Lebensaufgabe bei der
jungen Alma Schindler im Zusammenhang ihrer Ehe mit Gustav Mahler. (Anm. M.v.L.)
109
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
Neben der offensichtlicheren frisch-fröhlichen Jagd, die das Männchen ein
Weibchen erwischen oder das Weibchen ein Männchen überlisten läßt, gibt es
deswegen jenen oft stummen, blutigen, erbitterten Kampf der Seelen, auch
gerade durch ihre leibliche Verknüpftheit miteinander; ein Kampf, der oft sich
zuspitzt bis zum nackten Selbsterhaltungstrieb des Ich, dem Gefühl: Du oder
ich – nur eines von uns beiden kann weiterbestehen in unserer Gemeinschaft!
Kein Wunder, wenn gerade Liebes- und Eheleute so oft wund voneinander
sind, in einem Maße, wie es kein Außenstehender begreift: "Aber ihr liebt
euch doch?!"
Auch die Kinder, ihre Erziehung, ihre Lebenswege, ihre Einstellung zu den
Eltern können neuen Konfliktstoff geben für die alte Frage: Du oder ich?
Mein Wesen oder deines? Meine Lebensideale oder deine? Kurz: Mein Kind
oder deines?
(Und: Deine Schuld oder meine? – wo sich etwa Beklagenswertes an den
Kindern zeigt.)
Wenn erst das Wunder gelang, eine "Lebenseinheit" innerhalb der leiblichsinnlichen Sphäre zu schaffen, so werden angesichts dieser irrationalen und
sich immer wieder beweisenden und erneuernden tatsächlichen Einheit selbst
ernstliche Diskrepanzen geschlichtet werden, ja sogar verschleiert und völlig
übertönt. Auf dem mystischen Fundament des Leiblichen hält noch manche
Ehe, die sonst keineswegs durch Harmonie und gegenseitiges Verständnis sich
auszeichnet, unbegreiflich und unerschütterlich vor. Die tragende
Argumentation oder Empfindung ist einfach, wenn auch nicht immer
stichhaltig; sie lautet: Wenn wir sogar in diesem tiefsten Punkte unbewußten
Wollens einig sein können, wie sollten sich andere, willensmäßig zu
behebende Differenzen mehr an der Oberfläche des Alltags nicht schlichten
lassen? Wie könnte ich meinen Lebensweg von dem trennen, was so ganz und
unsagbar innig mit mir verschmelzen kann? Es muß also eine Einheit von
wirklicher Liebe und Nähe zwische uns geben; wir müssen sie nur noch auch
auf den anderen Gebieten herstellen!
110
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
Deshalb aber sind Liebes- und Ehezwiste oft von so abgrundtiefer Traurigkeit
und Verzweiflung: Immer werden sie an der ersehnten und bereits erfahrenen
leiblich-sinnlichen Nähe gemessen und stehen zu ihr in hohnvoll
schneidendem Kontrast.
Die seelische Liebeseinheit ist meist viel schwieriger zu erreichen als die
körperliche, die doch wenigstens auf einer allgemein verbreiteten sinnlichen
Veranlagung beruht. Selten aber werden sich zwei Wesen so gleichgestimmt
schon finden, daß der Vollzug dieser seelischen Einheit nicht schmerzvollste
Kämpfe
und
Verzichte
forderte;
wobei
Resignation,
Kompromiß,
Abschleifung und Abschwächung notwendig auch fälscht und verändert. Oft
wird eine solche Einigkeit gewaltsam vollzogen durch die Wucht der vitaleren
Persönlichkeit, wobei der andere Partner (dies ist keineswegs unbedingt die
Frau!) den kürzeren ziehen muß, oder.. das Streiten wird zur alltäglichen
Übung, sei's eher mit schöpferisch um- und neugestaltender Tendenz, sei's im
Sinne eines dann tatsächlich nur zermürbenden Kleinkriegs der Geschlechter.
Man sollte sich die Furchtbarkeit des Kampfes um seelisches Selbstsein nicht
verschleiern. Es geht hier vom leiblichen bis zum intellektuellen Verzicht an
Lebensstoff, an Wachstumsstoff, an Eigensubstanz im ernstlichsten Sinn. Man
sollte ehrlich diese wirkliche, zeitweise oder dauernde Beschränkung, ja das
notwendige
Taub-,
Blind-
und
Fühlloswerden
gegenüber
sonstigen
Lebensmöglichkeiten zugeben. Wo die Liebe entsteht, wird nicht nur ein
Lebendiges geboren – es wird auch anderes Lebendiges zu Grabe getragen.
Darüber sollte man sich klar sein.
Gerade die Frau wird noch immer in der Regel mit Haut und Haaren in einen
Besitz verwandelt. Eigner innerer Lebensweg, eigne ernstliche Interessen
werden – zumindest in der Ehe – letztlich nur widerwillig oder nur als
"Schmuck" geduldet, - eigne Freundschaften, gar mit Männern,
hingenommen nur, um nicht als Tyrann zu gelten. Die Frau opfert "freiwillig"
und stillschweigend alle diese Interessen und menschlichen Begegnungen dem
Moloch Liebe. Aber sie wird enger und welker dabei. Eines Tages ist sie
111
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
wirklich nahezu totes Besitztum, Möbelstück, allenfalls kleine Fontäne im
Innern des Hauses, die jedoch immer kärglicher sprudelt und deren
Eintönigkeit dem Mann irgendwann auf die Nerven geht.
Daß zu lebendigem Atmen bewußtseinsmäßiger wie auch gefühlsmäßiger Art
tausend Verbindungen mit der Außenwelt gehören, daß
tausend Poren
geöffnet sein müssen, ist eigentlich selbstverständlich. Ein Glück noch, wenn
ein reich belebtes Familienleben, insbesondere mit Kindern, der Armen einige
Seeleninhalte beließ. Aber selbst Tiefe kann Weite und Vielfalt nicht ersetzen.
– Das gleiche gilt grundsätzlich auch von Frau zu Mann, nur daß es kaum zu
so radikalem Ergebnis führen wird, denn der Mann läßt sich schon aufgrund
seines zumeist arbeitsbedingt viel weiter gespannten Lebensrahmens nicht im
selben Maße einkesseln.
Diese Betrachtungsweise wird sicher stärksten Widerspruch erregen, denn alle,
die endgültig auf sich verzichteten oder sich zu dreiviertel totschlugen, wollen
wenigstens den richtigen Weg gewählt haben. Immerhin haben sie oft eine
harmonische Lösung gefunden, die "Freiheit in der Gebundenheit", volkstümlicher gesagt: "Stilles Heim, Glück allein". Aber – wenn sie in sich
hineinhorchen? Die "Freiheit in der Freiheit", das innere Wachstum nur nach
inneren Gesetzen, wenn auch bereichert durch liebendes Sichöffnen, sieht
jedenfalls anders aus! Diese Ehrlichkeit sollte man auch gegenüber der
edelsten Auffassung einer dauernden Liebes- und Lebensgebundenueit nicht
beiseite setzen.
Eine unabweisbare Aufgabe des Menschseins liegt in der Selbstentwicklung,
der Ausgestaltung des individuellen Lebens nach in dir wurzelnden Impulsen,
indem du das dir anvertraute Innere in Gestalt, Tat und Werk auch nach
außen hin umsetzest. Es verzichte darauf, wer darauf verzichten zu können
meint; entscheiden muß jeder für sich. – Denn nicht in Ansichten,
Meinungen, Gefühlen, sondern in ganz bestimmtem, von innen quellendem
Handeln und Schaffen besteht unser Ich als die einmalig gegebene zeitliche
112
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
Ausprägung des Lebens. Wer es weggab, kann wohl die süße Einheit der Liebe
und das Geschenk des tiefsten Dankes und der dauernden Verbundenheit des
Andern erhalten – sein Ich als frei gestaltetes Leben erhält er damit noch
nicht zurück. Darum kämpfen auch sogar viele, die immer wieder gefesselt
werden von dem Wert und dem Reiz eines Andern, zuletzt doch um diese
entscheidende Freiheit und koppeln ihr eigenes Boot nicht einfach an das in
andere Richtung fahrende.
Es wird notwendig sein, daß die Gesellschaft noch einige Varianten legaler
Bindung erfindet, wenn eine solche in Zukunft überhaupt möglich bleiben
soll. So wie die "Ehe" sich darstellt, ist sie für jedes Leben mit eigenem Kurs
entweder mit einer Vergewaltigung des Partners oder mit dauernder Aufgabe
des Eigenen verknüpft.
Hat denn noch niemand diesen fundamentalen Liebeskampf und
Lebenskampf begriffen? Sind bisher wirklich immer nur sinnliche,
wirtschaftliche, staatliche und pädagogische Motive innerhalb von
Liebesgemeinschaften sichtbar geworden? Soll das beidseitig erreichte
individuelle Bewußtseinsniveau regelmäßig mit Gewalt zerstört werden, um
die starre Formel der "Ehe" zu sichern? *
Auch die Liebe selbst zerstört zwar jauchzend dieses Einzelbewußtsein, wenn
auch in Rausch und Taumel und Freude und Verschmelzung; nicht also der
Liebende kann Wortführender für die bewußtseinsmäßige Selbsterhaltung
seiner Person sein. Aber alles, was Weiterentwicklung des individuellen
Bewußtseins für notwendig hält um des Menschseins willen, muß hier den
äußersten Folgen des Liebeskampfes und der Liebesvernichtung durch
entsprechend nachgiebige gesellschaftliche, soziale und sittliche Formen
*
Vgl. die bedeutenden Werke des US-amerikanischen Jugend- und Familienrichters Ben B. Lindsey:
'Die Kameradschaftsehe' und 'Die Revolution der modernen Jugend', auf deutsch in den 20er Jahren
erschienen. Auch diese Arbeiten verdeutlichen, wie durch den NS zwei Generationen fortschrittlicher
Impulse für die Menschen in Deutschland verlorengegangen sind, was nach 1945 zu einem statischen
bzw. massiv rückwärtsorientierten gesellschaftlichen Klima beitrug. – Das problematische Verhältnis
von individueller Entwicklung und ehelicher Bindung wurde in Deutschland allerdings schon z.B. von
Sophie Mereau (1770-1806) in gleichem Sinne dargestellt. (Vgl. K. v.Hammerstein: Sophie MereauBrentano: Freiheit – Liebe – Weiblichkeit; Heidelberg 1994) (Anm. M.v.L.)
113
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
wehren. Auch Sachen und Werte verlangen Liebe, auch geistige Dinge sind
eifersüchtig; auch andere Kräfte als "die schönste Sache der Welt" müssen
unversehrt im Individuum weiterleben können.
Will einer schließlich wirklich nur noch was der andere will, und umgekehrt,
so wollen beide gar nichts mehr; - das Wollen wird leer, die seelisch opfernde
Hingabe wird sinnlos, das Leben und Lieben beliebig und fade. Liebe, die mit
der Auflösung der Zweiheit in Einheit völlig und rigoros ernst gemacht hat,
entschleiert sich als Vernichtung, wenn sie zur Dauer und zur Konsequnz
eigenen Tuns verurteilt wird. Wer diese Konsequenzen deutlicher übersähe,
würde begreifen, daß Liebe Selbstaufhebung in jedem Sinne ist, im Idealfall.
Sie hebt das "Ich und Du" auf; damit aber hebt sie auch sich selbst als Liebe auf
und wird so aus der größten Fülle zur größten Leere. Denn es wollten sich
eben zwei vereinigen. Sind sie in keiner Weise (außer der banal materiellen)
noch zwei – weil sich ihr Für-sich-Sein nicht mehr entfalten darf -, so ist es
auch keine Beziehung, keine Vereinigung mehr, sondern ein form- und
gestaltloser Brei.
So sehen wir, daß eine grundsätzliche Verschiedenheit und Unvereinbarkeit
der
Liebespartner
bestehen
bleiben
muß, und damit ein Rest des
Liebeskampfes, solange die Liebe besteht. Sie ist eben kein Ruhekissen, wenn
auch eine selige Rast in jener großen Einheit, die uns Menschen von der
Natur geboten und zugleich durch die Bedürfnisse unserer Bewußtheit
verboten ist.
Laßt euch nicht beirren – die Liebe ist nicht harmlos, wenn es auch bequemer
wäre, Gewohnheit könnte als Liebe verstanden werden, und Verwurzelung, die
zugleich eine Aufzehrung des einen oder andern ist, würde Liebestreue
bedeuten können. Treue der Liebe jedoch kann sich niemand nehmen oder
geben – sie ist Gnade. Sie kann aber auch zum furchtbaren Gericht werden
über den allzu rastlos und allzu selbstisch Isolierten, der plötzlich der
Verschmelzung mit Haut und Haaren anheimfällt und sein Ich hinschwinden
fühlt. Wer solchem Hinschwinden des Ich mit all seinem Wertlosen und
114
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
Wertvollem ins Auge zu sehen vermag, der möge lieben und dann sehen, wie
es weitergeht. Andere wieder tragen die Last unverstörter Aufrechterhaltung
ihres Ich außerhalb jeder Liebe als einen unabänderlichen Fluch, aus dem sie
sich zu Zeiten in die Selbstvergessenheit und Auflösung der Liebe sehnen,
ohne daß sie dies erlangen können oder dürfen; auch so kann es sein.
Man hat im übrigen die Autonomie der Person dem Mann seit jeher als
selbstverständliches Recht zugebilligt, man forderte sie sogar ausdrücklich von
ihm. Als ein Schwächling, ein Versager gilt der, welcher "wegen einer dummen
Liebessache" seine Aufgabe aus Bewußtsein, Willen und gesellschaftlicher
Funktion hintanstellt. Ungeachtet der Abqualifizierung der Liebe, über die im
Rahmen dieser Ausführungen keine weiteren Worte verloren werden müssen:
Man wird grundsätzlich solche Gesinnung und Gewichtung auch der Frau
zubilligen müssen, wo sie geheiligte Verpflichtung und Lebensaufgabe fühlt!
Das Kämpferische in der Liebe überhaupt ist es, was Widerstände gerade
anreizend und anziehend macht. Ein wenig frivol gesagt: Der Liebende ist
durchaus auch der Dompteur, der die Bestie zähmt, oder der Krieger, der die
Festung berennen und erobern will. Deshalb lockt die Jungfräulichkeit, die
Sprödigkeit der Seele wie des Leibes. Diejenige Liebe, die sich gerade nicht
völlig bändigen und unterwerfen läßt, übt daher erotisch den allergrößten
Anreiz aus – die Beute, der Besitz entgleitet, oder wandelt sich und erscheint
ewig unergründlich und unbezwingbar. Ist der körperlichen Jungfräulichkeit
ein Ziel gesetzt, so ist die seelische Jungfräulichkeit als unendliche möglich.
Denn sie bedeutet nur ein inneres Sich-wieder-Entziehen, ein
Nichtzubändigendes und ein inneres Weiterwachsen. Gerade Frauen, die nicht
nur "auf den Mann dressiert sind", haben diese seelische Reserve oft in hohem
Maße, wie ja auch der Mann gerade dadurch, daß er zeitweise sich immer
wieder der Liebe entzieht, um "wichtigere" Dinge zu tun, den
leidenschaftlichsten Anreiz für Frauen gibt. Säße er ihnen immer bereit und
ergeben zu Füßen, so wäre dieser Reiz bald dahin.
115
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
Als Weisheit letzter Schluß tönt bisweilen klagend, daß der Mensch in seinem
tiefsten seelischen Kern alleine ist und einsam bleibt, ja immer einsamer wird
in unserer Zeit, da nurmehr der freundliche Rausch der Leidenschaft zu Zeiten
dieses wesenhafte Alleinsein des Individuums durchbrechen kann, auf eine
allzu kurze Spanne. –
Augenblicke wirklich restlosen Einklangs zwischen Mensch und Mensch
werden dem isolierten Menschenwesen dann mit Recht als traumhaft selige
Erinnerungen und tiefste Erquickungen erscheinen. Denn unsere tiefste
Sehnsucht kreist um das weltentiefe "All-Einssein" ; ihre momentane
Erfüllung in der Liebe läßt hernach die seelische, immerhin auch von den
Göttern gewollte Zweiheit wie frischgespülte Klippen aus der Flut auftauchen.
116
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
F ü nf u n d zw a n zi g st es u n d l et zt e s Stü ck
Li e b e, T r eu e u n d U n tr eu e i n a m or ali sch e r Bet ra cht un g
Zwei Feinde ihrer Dauer hat die Liebe. Zum einen die natürliche Entfärbung
der Gefühlswelt, das Nachlassen der Anziehungskraft, nachdem Nähe und
Vereinigung einigermaßen stetig erreicht werden. Eines Tages reibt man sich
die Augen: War ich verhext? Warum hat dieser Mann, oder diese Frau, solche
Macht über mich gehabt? Warum schien mir alles an ihm oder ihr reizvoll,
wesentlich und von höchster Bedeutung, sodaß ich mein ganzes Leben darauf
abgestellt habe? Man zählt – schon ein verdächtiges Zeichen – sich vielleicht
sämtliche Vorzüge, Tugenden, Verdienste des andern auf, auch wohl gerade
Verdienste in der Liebe, abgesehen von Dankbarkeit, Vernunft, praktischen
Überlegungen, auch Menschenfurcht und Einsamkeitsfurcht, welche allesamt
möchten , daß die Liebe weiter dauere. Es hilft nichts. Die Liebe bleibt tot.
Zum andern.. erscheint ganz einfach nur eine stärkere Anziehungskraft auf
der Bildfläche – und plötzlich wird dir klar: dieses ist die eigentliche
Gegenkraft, die du ersehntest, der Mensch, der "für dich geboren wurde", und
dies ist auch erst deine eigentliche Höhe des Erlebens, die du bisher nur nicht
erreichtest und deshalb noch nie empfandest. Scheinbar unbegreiflich, ohne
jeden Sinn und Vernunft, ja wider deinen "besseren" Willen, reißt dich eine
neue Gewalt mitten aus der bisherigen Liebesgemeinschaft heraus! (Viel später
wirst du vielleicht ahnen, daß jene erste Liebe dich nur erst aufwecken mußte
in deinen tieferen, umfassenderen Lebenskräften und Bedürfnissen – ohne
diese doch an sich binden zu können.)
117
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
Amoralisch betrachtet ist die Liebe eben nur die vollkommene Anziehungsund Reizkraft, die den für dich besonderen Wert des Geliebten erst erschafft;
Treue ist somit nur die Dauer dieser Anziehungskraft, und Untreue (in diesem
Sinne!) nur ihr Aufhören. Wer wirklich der Liebe gehorcht, ist Spielball dieser
Kräfte und wird möglicherweise weidlich hin- und hergeschleudert. Dies
schließt aber nicht aus, sondern schließt sogar ein, daß wir uns mit Leib und
Seele solcher Liebe verschreiben, vorbehaltlos und ganz. Denn "Seele" ist ja
keineswegs Moral im bürgerlichen Sinne: Auch wer dann etwa "die Ehe
bricht", kann aus voller, leidenschaftlicher Seele lieben – nämlich den Neuen
oder die Neue!
Was tötet ferner die Liebe? Den Liebesgefährten in allen möglichen und
unmöglichen
Situationen
erleben
zu
müssen,
alle körperlichen
Gewohnheiten, Handlungen und Bedürfnisse und sei es das löbliche
Zähneputzen immer um sich haben zu müssen. Es mag reizvoll sein,
gelegentlich seine junge Geliebte beim Sprudeln, Plantschen und Gurgeln zu
beobachten. Es ist aber kaum mehr reizvoll, den Ehemann (oder die Ehefrau)
die gleichen Manipulationen 365mal im Jahr vollziehen zu sehen.
Auch die Weisheit der getrennten Schlafzimmer schützt zu einem Teil vor
solcher Abstumpfung; darauf wurde bereits hingewiesen.
Das Wunder der Liebe als physischer und seelischer Einheit zweier Wesen ist
nur in seltensten Fällen und auch dort nicht ununterbrochen auf Dauer
möglich. Ein solches "Wunder", das vierzig Jahre oder mehr dauerte, scheint
etwa bei Wilhelm v.Humboldt und Caroline v.Dacheröden vorgelegen zu
haben. Jedoch auch da, wie wir wissen, ist die Liebe nicht verschont geblieben
vom Wechsel – physischem oder zumindest seelischem Wechsel. Beider
Briefwechsel läßt ahnen, daß die Einheit dort am Leben erhalten wurde nicht
zuletzt durch das Gefühl der Freiheit zum Wechsel . – Wie überhaupt bei
relativ ruhig und beständig empfindenden Paaren vollkommene Freiheit wohl
118
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
allerbeste Bewahrerin der Liebe sein kann, die dadurch immer freies Geschenk
bleibt!
Momente des "spannenden Wechsels" entfalten sich aber schon (halb)
unbewußt durch Launen und dramatische Umstände aller Art (sehr beliebt
etwa auch Eifersucht – berechtigte wie unberechtigte), und durch die
wechselnden Register des seelischen und sinnlichen Spiels. Es ist ja keineswegs
so, daß etwa die gleichmäßig liebenden und selbstlos sich hingebenden
Frauen und Männer oder gar die opferfreudigsten nun auch erotisch die
besonders hochgeschätzten sind, so sehr bürgerliche Moral das bedauern mag.
Auf höherem Niveau wird schon jene innere Erneuerungsfähigkeit und
Selbstentwicklung den "Reiz des Neuen" selbst in der Ehe auf natürlichem
Wege lebendig erhalten – in der Regel dann auch mit "reizender" Auswirkung
auf die erotische Sphäre. Überschaubarkeit des Wesens, so wert sie aus
anderen Gründen gehalten werden mag, entzaubert , und das immer sich
erneuernde Rätselhafte bezaubert! Es gibt Menschen, die ohne bewußte
Absicht stets solchen Reiz der Neuheit für ihre Gefährten behalten, weil sie
selbst dauernd, bis zur natürlichen Grenze ihrer Entwicklungsfähigkeit, sich
innerlich in lebendigem Fluß befinden und daher tatsächlich stets andere
Perspektiven bieten, - Männer und Frauen, die auch in der Ehe bis zuletzt
noch nicht zu Ende gekannt werden. Als Ehegefährten ebenso wie als Geliebte
sind sie oft vom Hauch des Erotischen umwittert, das sich wesenhaft mit
ihrem seelischen Kern verschmolzen hat. Hier wird EROS in seiner
Doppelbedeutung sichtbar: als stetig dem Leben liebend Zugewandtes, stetig
Lernendes und damit auch Lehrendes! Solche Menschen werden nie zu
gesichertem Besitz, sie gehören letztlich immer nur sich selbst – oder
vielmehr dem Leben insgesamt. Daher sind sie auch keineswegs "bequeme"
Ehehälften.
Solche natürlich dauernde und beinahe zwangsläufige Erotik ist allerdings
ebenso selten, wie die reiche, immer lebendige und entwicklungsbereite
Persönlichkeit überhaupt.
119
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
(Aber auch die sprudelnde Ursprünglichkeit mancher Menschen kann
als
selbstverständliche Erotik erlebt werden.)
In aller Regel verlangt es bewußte Liebeskunst und seelisches Bemühen, die
Liebe noch in der Ehe zu bewahren. Ohne die empfindende Seele bleibt das
Liebesspiel, dessen rein physiologische Seite bei gleichem Partner sehr schnell
abstumpft, doch nur.. eine Friktion der Epidermis, brutal ausgedrückt.
Erotische Spannung können bloße "technische Vorgänge", sowie sie erst ein
Wohlbekanntes geworden sind, nicht auslösen. Schon die Scham stumpft
erschreckend schnell ab, und jene innige Vertrautheit, die sie in gewisser
Weise ersetzt, beruht schon auf mehr als Physiologischem. Da solche rein
physiologisch-technischen "Methoden" ohne eine wirkliche seelische
Verbundenheit notwendig nur zum isolierten Eigengenuß der Ehegatten
führen, ist dann ein Abgleiten in Regionen höchst wahrscheinlich, wo
allenfalls eine Art Tauschhandel das Motiv der gegenseitigen Genußbereitung
ist. Der Ekel des einen oder andern an solchem bloßen "Instrumentsein" stellt
sich als natürliche Reaktion über kurz oder lang ein.
Denn wo das grundlegende Wunder der Einswerdung – der körperlichen als
Ausdruck oder Erweckung der seelischen! – gar nicht mehr als Wunder
gefühlt wird, wo etwa selbst der intime Anblick des (männlichen wie
weiblichen) Geschlechts in seiner Erregung, der dem unabgestumpften
Menschen, zumindet in unserm Kulturkreis, ein erschütternd Geheimnisvolles
ist, zu einer gemächlichen Gewohnheit wird, da können alle Lehrbücher voll
erotischer Vorschriften und ein ganzer Katalog der Liebespositionen nichts
mehr retten – oder gerade sie nicht! Und auch eine Gesamtausstellung der
weiblichen Reize macht dann nicht viel tieferen Eindruck, als die Auslage
eines Fleischerladens. –
Selbstverständlich sollte aber die Vielfalt der erotischen Möglichkeiten auch
dem monogamen Eheleben zugute kommen, und unbedingt tut ein feineres
Verständnis für die seelisch-leiblichen Schwingungen und Bedingungen gerade
auch der Ehe sehr not, um nicht dieses starke Band immer wieder an
120
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
absichtlichen oder ahnungslosen erotischen Brutalitäten oder Tölpeleien
zerreißen zu lassen. Nur muß man sich klar darüber sein, was
Grundbedingung und was nur Hinzutretendes ist, was Ursache und was Folge.
Zurück zum Anfang: Treue und Untreue gibt es im Bereich der Liebe als
Stabilitäts- und Labilitätszustände der natürlichen erotischen Anziehung und
Abstoßung. Sie drücken, amoralisch betrachtet, nichts anderes aus als ein
Kräftespiel. Die sittliche Haltung im tiefsten Sinne beginnt erst innerhalb
dieser beiden Formen, nämlich im konkreten Verhalten von Mensch zu
Mensch, und wird nicht schon von der bloßen Tatsache einer Bindung oder
Lösung bestimmt.
Man kann es nämlich sowohl als ein Zeichen von Lebenskraft betrachten, einund denselben Gegenstand des Gefühls – oder des Lebensinteresses – lange
festzuhalten, oder auch gerade als ein Zeichen vitaler Kräfte, ein Anderes zu
ergreifen, einen andern Menschen, und auch mit ihm eine seelische ebenso
wie physische Gemeinschaft zu erschaffen. Beides sind Kräfte von allerdings
verschiedener Art: die des Festhaltens und die der innigsten Annäherung an
ein zunächst Fremdes. Es ist eben nicht nur das Dauernde, was unsere
Wesenskräfte beansprucht, sondern ebenso gut, ja mehr noch der sich
darbietende neue Lebensstoff – auf jedem Gebiet, nicht nur in der Liebe.
Demgegenüber wird im allgemeinen der Wert und die Tiefe einer Liebe nur
nach ihrer zeitlichen Dauer beurteilt. Auch der Liebende selbst, da er Ewiges
zu fühlen glaubte, wird oft irre an sich, wenn seine Liebe oder die des andern
sich nicht durch die Dauer erweist. Solche Dauer jedoch kann sehr
verschiedene Gründe haben; sie hängt vom Temperament ab, vom sonstigen
allgemeinen Lebenstempo, von retardierenden oder beschleunigenden
Lebensumständen, nicht zuletzt von der Stärke der individuellen Bereitschaft
zur
Selbstentwicklung.
Die
Liebe
–
wenn
wir
ihr
eine
Entwicklungsmöglichkeit und Entwicklungszeit zugestehen, wie wir sie jedem
Vorgang im Lebendigen zuschreiben – kann durch äußere Hemmnisse
entweder sozusagen "gestreckt" werden, oder aber folgerichtig und
121
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
ungehemmt ihren Ablauf nehmen – was aber, zeitlich betrachtet, eine
Verkürzung bedeuten kann gegenüber einer eher gehemmten Entwicklung
bei einem anderen Paar. Es gibt Erkenntnisse und Irrtümer, die dem einen
(aufgrund bestimmter Vorerfahrungen) in drei Wochen einsichtig werden,
dem andern in drei Jahren – weil es für ihn an dieser Stelle "etwas zu lernen
gab". So ist es in allen Aspekten der Selbstentwicklung. Jedoch bietet in der
Tat die Dauer grundsätzlich mehr an Möglichkeiten auch wirklicher seelischer
Durchdringung und Hineinbeziehung des Partners.
Allerdings ist solche Dauer wesentlich für die Liebe nur, sofern wirklich diese
und kein anderer Lebensfaktor sie bestimmt. Im allgemeinen sehen wir jedoch
das "Dauern" von Liebesverbindungen, besonders auch als Ehe, von sehr
anderen Interessen motiviert.
Die Dauer (oder Extensität) der Liebe mit ihrer Intensität zu verwechseln, ist
Grundirrtum all derjenigen, die da meinen, nur in der Hineinbeziehung in die
gesamte Breite ihrer bürgerlichen Existenz ihre Liebe voll erfüllen oder
entfalten zu können. Meist geschieht dies in der Hoffnung, durch möglichst
breites Verwurzeln der Liebesbeziehung mit einem gemeinsamen Alltag eine
höhere "Sicherheit" – der Liebe wie auch der materiellen Situation – zu
erreichen.
Man sollte ehrlich sein, wie im Grunde, im allergeheimsten Grunde wohl jeder
Mensch zumindest sich selbst gegenüber ehrlich ist: Dauer ist ein Wert der
bürgerlich-moralischen Treue als Charaktereigenschaft, welche nicht mit Liebe
verwechselt werden kann, die eben keine "Eigenschaft" ist, sondern ein
Ereignis oder ein Zustand. * Die Liebe selbst bleibt der "oiseau rebelle"
gegenüber jedem Zähmungsversuch, wie Carmen es uns singt: der wilde
Vogel. Wer sich gar auf seine Treue in der Liebe noch etwas einbildet, macht
sich als Liebender verdächtig.
*
"Gefühle wohnen im Menschen; aber der Mensch wohnt in seiner Liebe. Das ist keine Metapher,
(Anm. M.v.L.)
sondern die Wirklichkeit." Martin Buber: 'Ich und Du'
122
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
Der eigentliche, tiefste Reiz jeder neuen Liebe ist jedoch immer die
Entdeckung der Seele, die durch den Leib verführt! Gerade weil die physische
Grundkraft der Anziehung sozusagen anonym und immer die gleiche bleibt,
liegt im Seelischen das individuell Verführende, das wirklich Neue. Oft aber
verspricht nur der neue Körper eine neue, bezaubernde Seele, und wir finden
sie dann doch nicht. Das geschieht gerade demjenigen, der gar nicht tiefer
eindringt – weshalb die höchst oberflächlich verfahrenden Lebemänner dann
behaupten, "die Weiber sind alle gleich!" (Aber auch Frauen äußern sich
gelegentlich entsprechend über Männer; - ist das nun Emancipation?)
Wer empfänglich ist für Schönheit, für Leidenschaft, auch gerade für die
Schönheit der Leidenschaft, die den schlichtesten Menschen in eine lodernde
Flamme verwandelt, für Anmut und reizvolle Eigenarten der menschlichen
Pflänzchen, wer die Sehnsucht nach Erneuerung des Lebens tief in sich
bewahrt, ist natürlich der Untreue ungleich mehr ausgesetzt als der weniger
Sensible, weniger aufgeschlossene. Mannigfaltig und köstlich sind ja die
Gestalten dieser Erde..
Das Gesetz des Wechsels ist dem erotischen Bedürfnis seelischer Art ebenso
wie den Sinnen verhängnisvoll eingeprägt. Soll die Kunst der Liebe hier einen
Rat geben, so kann es allenfalls der sein, daß eben das Bedürfnis zu Wandel
und Erneuerung mit demselben Partner, derselben Partnerin vor sich gehe.
Reichtümer und Mängel des inneren Wesens, Langsamkeit und Schnelligkeit
des Erfassens und Erlebens auf den verschiedensten Gebieten, Begegnungen
mit anderen Menschen, berufliche Veränderungen und andere äußere
Lebensumstände ergeben unzählige Möglichkeiten der achtsamen
Umgestaltung und damit einer wirklich lebendigen, das heißt, sich
entwickelnden Dauer der Liebe.
Im Grund ist es ja mit der Untreue genau so wie mit der Treue: Sie kann
ebenso aus Stärke wie aus Schwäche oder Flachheit des Empfindens
entspringen; aus intensiver Erfassung und ehrlichem, resolutem Akzeptieren
des innerlichen Zu-Ende-gelebt-Seins, oder gerade aus Mangel an Vertiefung
123
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
ins Innere der bisherigen Liebe; aus offener Empfänglichkeit, die sich
hingegeben und unbefangen dem Wert des lebendigen Du! nicht verschließt,
ohne Rücksicht auf praktische Konsequenzen, wie auch trüb jedem "Reiz des
Neuen" hinterherlaufend.
Was fruchtbar ist für Leben und Entwicklung, trägt jedenfalls sein Recht in
sich – und sei es selbst als flüchtigstes Begegnen, ja sogar als einmaliger
Sinnengenuß. Ein Trunk frischen Wassers kann bisweilen den zu Tode
Ermatteten vom Untergang retten. Solcherart kann in kritischen Momenten
des Lebens auch das spontane Erleben, als Hinneigen einer Frau, die Liebe
gewährt, zu entscheidendem Heil werden.
Im übrigen gibt es verschiedene Formen der Treue auch innerhalb der
Liebesbindung. Wo die Liebe wirklich das ganze Wesen Beider ergriff und
entsprechend prägte, wird es bei einem bestimmten Paar vielleicht von
geringerer Bedeutung sein, wenn die Leidenschaft einmal zur körperlichen
Untreue drängt. Andere sind etwa seelisch eher polygam veranlagt, während
das leiblich-sinnliche Erleben mit einem Partner ihnen durch den Verlauf der
Jahre immer reizvoll bleibt. Ist dies dann ein größeres Verdienst, eine
wichtigere Treue als jene seelische des andern Partners? Viele pochen ja am
unbedingtesten und lautesten auf die sinnlich-körperliche Treue des Partners
oder der Partnerin und erachten alles übrige in seltsamer Geringschätzung für
belanglos – womit sie dann sich selbst zum "Bettschatz" oder "Beischläfer"
degradieren. Hinter solcher pauschalen und einseitigen Wertschätzung
verbirgt sich in der Regel keine wirkliche Liebesnähe, sondern einer jener
unseligen "Verträge über gegenseitige Bedürfnisbefriedigung".
Grundsätzlich gilt auch für die Liebesbindung: Was fruchtbar ist, trägt sein
Recht in sich. – Es ist unbestreitbar, daß jemand durch Jahre und Jahrzehnte
hindurch nur eine große Liebe haben kann und dadurch nicht gehemmt wird,
sich "kleineren" Lieben hinzugeben, besonders wenn die große Liebe nicht zur
Erfüllung oder vollen Ausreifung gelangen konnte; es braucht deshalb noch
nicht einmal eine unglückliche Liebe zu sein. Und es gibt sogar
124
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
Liebesverwurzelungen von so umfassendem und unzerstörbarem Charakter,
daß sie wie ein großer Garten viele Blumen und Kräuter zugleich in sich
umfassen. Sie sind dann der Boden, auf dem dies alles wächst, blüht und
welkt..
Erlischt die erotische Anziehungskraft nicht bei beiden Liebenden
gleichzeitig, so ist die Untreue für den durch sie Betroffenen ein Unfaßliches,
manchmal ein Donnerschlag mitten in seliger Ruhe. Allerdings kommt für
gesund empfindende und instinktiv feinfühlige Menschen eine wirkliche
innere Abkehr und Erkaltung der Leidenschaft des andern kaum ganz
unerwartet, - und sie ist dann das Signal zum Erlöschen auch seiner Gefühle.
Denn es gibt keine Liebe ohne Widerpart – Liebe im Vollsinn ist immer
Zweisamkeit, ein Übergreifen eines Gefühls auf zwei Wesen.
Früher war es meist der Mann, der sich rascher und sorgloser von der
Liebesbeziehung ablöste; seit die Chancen der bewußtseinsmäßigen und
äußeren Beweglichkeit gleichmäßiger unter den Geschlechtern verteilt sind,
ist es auch die Frau, die Untreue mit Untreue vergilt oder sogar zuerst bei ihr
landet. Sie ist keineswegs zaghafter als der Mann, den etwaigen Wechsel ihres
Gefühls sich und ihm offen einzugestehen oder zu verwirklichen und auch die
sozialen und wirtschaftlichen Konsequenzen daraus zu ziehen. Auch die
bewußter gewordene, lebendigere und verfeinerte Sinnlichkeit, die auf
Unerträgliches heftiger reagiert, trägt ihr Teil dazu bei.
Erst da aber, wo Gelegenheit und Möglichkeit zur Untreue auf beide
Geschlechter gleichmäßig sich verteilt, wird es möglich, über so etwas wie
"Veranlagungen" für Treue und Untreue nachzudenken. Wenn der Mann sich
auf eine "polygame Anlage" von jeher als Entschuldigung seiner freieren
Form des Geschlechtslebens berufen hat – während er in seltsamer Unlogik
eine offenbar andersartige "polygame Anlage" der Frau als Grund zu schärfster
Einschränkung und Überwachung voraussetzte -, so könnte es die Frau mit
gleichem Recht tun, wenigstens was natürliche Tendenzen und Möglichkeiten
bei ihr betrifft. Man sollte nicht etwa meinen, daß sie die Süßigkeit und
125
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
Versuchung der leiblichen Liebe, die Lebensbereicherung und gerade auch die
seelischen Reize einer neu aufknospenden Liebe oder Verliebtheit, die
plötzlich eine neue Zauberwelt und neues Leben schafft, nicht ebenso stark
und zwingend empfindet wie der Mann!
Die Leiden, welche die von Tradition und Sitte allzu selbstverständlich
legitimierte männliche Untreue unzähligen Frauen auferlegt hat, brechen
heute ebenso als weit verbreitetes Phänomen über den Mann herein. Er lernt
– durch eine ausgleichende Gerechtigkeit des Schicksals, nicht etwa durch
Absicht einzelner – das Leid langsam ermessen, unter dem die "verlassenen"
Frauen alller Jahrhunderte zusammenbrachen, oft doppelt belastet in ihrer
Hilflosigkeit durch geringere Bewußtseinsbildung wie wirtschaftlicher Art.
Sehr viel trägt zu solcher modernen Untreue der Frau, als unruhigem Drang
nach einem Wechsel des Liebes- oder Lebensgefährten, auch die relative
Ahnungslosigkeit des typischen Mannes über das bei, was Frauen von der
Liebe seelisch wie sinnlich sich ersehnen. Es ist begreiflich, wenn die
unbefriedigten Frauen dann ihr Glück anderswo noch suchen, da sie es bisher
nicht fanden und zum Teil wirklich nicht finden konnten beim bisherigen
Partner. –
Tatsächlich fehlt heute noch der wirkliche Gegenspieler der modernen Frau.
Sie hat sich tiefgehend geändert, noch nicht die zur Verfügung stehenden
Partner.
Hier wird noch eine sehr andere Kultur beim Manne einsetzen müssen,
sowohl eine Kultur innerer Achtung, die wirklich zugleich auch Be- achtung
ist (nicht nur eine bequeme Achtung im Prinzip, die sich in der Praxis aus
lauter Nichtachtung und Nichtbeachtung zusammensetzt), wie auch des
seelisch verfeinerten Gefühls, der ästhetischen Sensibilität und der erotischen
Feinfühligkeit. Heute ist die Durchschnittsfrau, wie jede Beobachtung des
Straßenbildes schon zeigt, ohne Zweifel bereits reizvoller und kultivierter als
der Durchschnittsmann, und nur der zahlenmäßige Überschuß an Frauen
macht noch aus kläglichen Exemplaren des männlichen Geschlechts
umworbene Objekte – oft geradezu erschütternde Gestalten, bei denen von
126
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
Erweckung erotischer Gefühle durch sie zu reden grotesk wäre, weshalb es
auch höchstens sexuelle sind.
Die meisten Menschen sind ihrer Anlage nach polygam, so wenig das auch in
jedem einzelnen Fall in Erscheinung zu treten braucht. "Polygam" besagt
letztlich aber nur, ihre Sinnlichkeit und ihre Seelenhaftigkeit sind relativ
undifferenziert und können sich bei fast jedem beliebigen Geschlechtspartner
beruhigen. Andere dagegen werden aufgrund einer sehr speziellen oder aber
stärker ausdifferenzierten Persönlichkeit "das einzige zu ihnen gehörige
Wesen" durch alle möglichen Begegnungen hindurch sehnend suchen – und
oft finden sie es lebenslang nicht. Es entsteht dann etwas Paradoxes: "Von
Natur" eher polygame Menschen verhalten sich in der Praxis monogam: Hat
sich erst einmal eine einigermaßen akzeptable Konstellation gefunden (oder
ist einfach dasjenige Lebensalter erreicht, "in dem man sich normalerweise
bindet"), so treibt keine innere Notwendigkeit sie weiter. – Die aufgrund
ihrer spezielleren Bedürfnisse "von Natur" eher Monogamen dagegen müssen
gegebenenfalls immer weiter suchen.
Jedoch gilt nicht etwa umgekehrt, daß derjenige auch schon "differenziert"
ist, welcher eher wahllos sich verbindet! Der Lebemann ist denn auch zu
unterscheiden von jenem andern, hochdifferenzierten Typ – man könnte ihn
vielleicht "Schwebemann" nennen -, der in Suche nach der wahren Ergänzung
seines Wesens die allerverschiedensten Gestalten berührt - einer Ergänzung,
die in verschiedenen Lebensstadien eine verschiedene sein kann oder sogar
sein muß, jedenfalls sofern derjenige sich erst langsam an der Lebenserfahrung
entwickelt. Das gleiche gilt heute auch schon von der Frau. Da aber im
allgemeinen der Mann bis vor kurzem nicht so sehr individuelle
Wesenseinheiten bei der Frau suchte oder gar sich wünschte, vielmehr nur das
"Ewig-Weibliche" möglichst simplen Inhalts und auch seelisch von bekannter
Art, ist dieser grundlegende Unterschied seiner Einsicht meist entgangen. Zur
Erklärung der seltsam neuen Untreue bei Frauen flüchtet er sich mit einem
127
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
Salto mortale in das "Dämonische" oder das "unweiblich Überspannte"
respektive "Emancipierte". Aber gerade auch solche Tatsachen müssen
begriffen werden als notwendige Folge der Bewußtseinsentwicklung der Frau
– auf dem Weg zu einer eigenen, selbstgültigen Lebensform.
Sollte aber nicht gerade die Frau durch die Liebe, die sie so stark und ganz
ergreift, auch mehr und Wesentlicheres an bewußtseinsmäßiger Erschließung
hinzulernen als der Mann, den sie meist nur peripher berührt? Es ist
wünschenswert, daß die heutige Frau endlich "entdeckt" und mit allen
Konsequenzen ihrer Wandlung auch begriffen wird; - begriffen, nicht einfach
"verstanden". Die frühere "unverstandene" Frau forderte klagend "seine"
helfende, "verstehende" Teilnahme; die moderne Frau verlangt nichts
Derartiges mehr, weil sie in sich selbst gegründeter dasteht.
Es gibt Liebesuntreue und Lebensuntreue. Erstere wird von Frauen – gerade
von solchen, die die inneren Kämpfe, Versuchungen und erotischen Reize für
offene Seelen und empfängliche Sinne kennen – wohl meist verziehen,
letztere nicht, denn sie liegt nicht mehr im impulsiv Leidenschaftlichen,
sondern in dem, was wirklich dem Charakter und dem Willen untersteht. Die
Lebensuntreue, das Versagen, Preisgeben, Imstichlassen oder Alleinlassen in
schweren Zeiten, seelischer und äußerlicher Art, hat Frauen von ihren
Männern
weggetrieben.
Umgekehrt
legte
der
Mann
bisher
fast
ausschließlichen Wert auf die Liebestreue im körperlichen Sinne. Die
Lebenstreue (der Frau!) ergab sich in seinen Augen schon ganz von selbst
aufgrund ihrer wirtschaftlichen Abhängigkeit von ihm. Eine Ehe wie etwa die
von Wilhelm v.Humboldt und seiner leicht entflammbaren und seelisch weit
ausschwingenden Caroline v.Dacheröden wird wohl selten erreicht. Eine
Gesinnung, wie von ihm ausgesprochen:
"Wenn man Ursache werden kann, daß ein Wesen wie du sich nicht binden zu
lassen, nicht herabzusteigen braucht, dann gibt es keine schönere Anwendung
für ein menschliches Leben" –
128
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
ist noch so selten Direktive des Mannes in seinem Verhältnis zur eigenen
Frau, daß diese Worte wie ein Wunder anmutern, wie eine Vergangenheit, die
erst weit in der Zukunft zu liegen scheint:
"Wenn du also nicht ganz frei mit mir wärest, wenn du entbehrtest, was du
gerne hättest, wenn du tätest, was dir nicht läge – so störtest du mein ganz
inneres und äußeres Leben. Denn du mußt ganz frei und ganz dein eigener
Herr und so glücklich sein, als ich dich innerlich und äußerlich machen kann."
Solche Worte an Caroline waren nicht nur billiger Überschwang, wie er
mancher gehobenen Stunde zwischen Liebenden entfließt und wo die Praxis
dann ungefähr zum Gegenteil wird, sondern sie haben sich durch ein langes
Leben für diese beiden Gatten, die stets Liebende blieben, bewähren müssen –
in oft harten Proben. Aus völliger Freiheit heraus wurde die Untreue als
Leibes- und Lebenszerstörerin von ihnen überwunden. Denn für diese beiden
sinnlich wie seelisch gleich stark und frei empfindenden Naturen war die
vollkommene seelische Liebesfreiheit bis an die Grenze der körperlichen
Hingabe und darüber hinaus das einzige Mittel, Liebes- und Lebenstreue auf
die Dauer für einander zu retten.
Nur in Freiheit wird Vollkommenheit möglich; alles andere ist Schein. –
Manchmal wurde behauptet, daß die vollkommene Liebe durch Ergänzung
zweier Wesen bereits eine lebenslängliche Ehe zur Folge habe (so Rosa
Mayreder *). Es wäre schön, wenn es so wäre. Das aber würde voraussetzen, daß
die Partner nur eine stark hervortretende, ergänzungsbedürftige Wesensseite
besitzen. Gerade der reicher begabte und reicher empfindende Mensch kennt
aber nicht nur ein Komplement, weil er mehr als eine Wesensseite besitzt.
Wenn sich tatsächlich Fähigkeiten und Seinsweisen durch und an der
ergänzenden Beziehung entwickeln, so ist ohne weiteres klar, daß dann
unübersehbare individuelle Möglichkeiten, die einer anderen Ergänzung –
besonders im anderen Lebensstadium – bedürften, ungelebt bleiben müssen.
*
Bedeutende feministische Kulturphilosophin (1858-1938) (Anm. M.v.L.)
129
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
Faßt man Liebe auf als herausformende Macht für das individuelle Wesen des
Menschen, so wird die Lebenslänglichkeit einer Liebe keineswegs als
Kennzeichen menschlicher "Vollkommenheit" erscheinen können, wenigstens
nicht für jede ausdifferenziertere Natur.
"Vollkommene Liebe" jedoch ist etwas anderes, nämlich gerade die, welche
immer und durchweg, um jeden Preis und unter allen Umständen nur sich
selbst gehorcht, mit allen ihren Wendungen, Wünschen, Gelüsten. Carmen
stellt eine zwar ganz primitive, aber auf ihrer Stufe vollkommene Liebe dar –
gehorsam gegenüber der Leidenschaft, solange sie sie wahrhaft empfindet.. Es
gibt für sie in keinem Augenblick eine Wahl, weil es für die Liebe jeweils nur
eine Wahrheit gibt!
In meinen Ausführungen wurde immer wieder ersichtlich, daß eine
Liebeskunst in höherem Sinne bis in die tiefsten und verwickeltsten
Lebensprobleme hineinreicht.
Die amoralische Beleuchtung von Liebe, Treue und Untreue als Naturkräften,
vor denen gerade der stark empfindende und hochstrebende Mensch sich
beugt, kommt zuletzt – aber auf sehr anderm Wege und mit andern Worten
– auf dasselbe heraus, was auch eine bürgerlich moralische Betrachtung von
der Liebe fordert, ohne jedoch für sie einen gangbaren Weg zu zeigen – weil
sie die natürlichen Kräfte vergewaltigt oder sie ignoriert: Nämlich, daß
letztlich auch all dieses Natürliche der Liebe von dem Bemühen um
menschenwürdige Weiterentwicklung der Individuum getragen werde.
So wächst die Mahnung aus der Liebeskunst empor: Das Natürliche zu
beachten, beseelend zu formen und es in Freiheit weiter zu entwickeln.
Finis
130
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
Auch am 11. September 2001 habe ich
an dieser Neufassung gearbeitet.
Ich möchte die Erinnerung bewahren
an jene Menschen, die im Flug UA 93
für das Leben gekämpft haben –
im Wissen, daß sie selbst nicht überleben werden.
Mondrian
131
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
Nachwort
Dieses Buch ist ein Wunder! Es ist vermutlich das tiefste, liebevollste und weiseste,
das in deutscher Sprache je zum Thema LEIBLICHE LIEBE geschrieben wurde.
Diotímas Haltung ist radikal in jeder Weise: Liebe sieht sie als schrankenlose,
tabulose sexuelle Leidenschaft und Hingabe und zugleich unbedingte und
kompromißlose innigste Nähe zweier Menschen in ihrer Individualität. Liebe ist für sie
etwas durchaus Eigengesetzliches; dies allein gibt ihren Überlegungen eine bei
diesem Thema nur selten zu findende Tiefe. Die biologistisch-physiologische
Konzeption eines ebenso naturnotwendigen wie unmodifiziert sich Bahn brechenden
sexuellen "Triebs" wird solcher im Menschen angelegten vielschichtigen
Entwicklungslebendigkeit hingegen nicht gerecht. Sexualität als Moment der
menschlichen Leiblichkeit ist sowohl mehr als "ein Trieb" als auch weniger; zwischen
den teilweise ideologischen Auffassungen hindurch versucht die 'Schule der Liebe'
uns zu lotsen.
In keinem Aspekt von Liebe akzeptiert Diotíma ein soziales "wenn und aber";
gleichwohl ignoriert sie nicht die Notwendigkeit gesellschaftlicher Regelsysteme.
Obwohl die Autorin sexuelle Leidenschaft und Individualität als voneinander
untrennbare Elemente der Liebe versteht, betont sie deren ebenso grundlegende
Interessenkollision, - eben diejenige zwischen Hingabe und Autonomie! Auf dieses
radikale (d.h., aus der Wurzel kommende) Verständnis für Liebe kommt Diotíma
immer wieder zurück, wenn sie verschiedenste Formen von Liebesverbindungen oder
sexuellen Kontakten in ihren jeweiligen Schwerpunkten, ihren besonderen
Erfahrungsmöglichkeiten und ihren Schwachstellen und Gefahren darstellt.
Diotíma träumt nicht, sie erfindet nichts; sie hält nur fest, was möglich ist (auf der
Grundlage unserer zivilisatorischen Normalität) an leiblichem, seelischem und
metaphysischem Erleben in der Liebesvereinigung, und sie stellt es dar auf einem
Reflexions- und Sprachniveau, das dem von Goethe, Schleiermacher, Caroline und
Wilhelm v.Humboldt oder Rahel Levin (Varnhagen) – ohne Zweifel ihre Tradition! –
nahekommt. Diese Schülerin von SOPHIA, der Weisheitsgöttin, und DIONYSOS, dem
Gott der ungebändigten Leidenschaften, gibt uns eine jener bedeutenden sozial- und
kulturgeschichtlichen Arbeiten zur menschlichen Sexualität, von denen – bei aller
Unterschiedlichkeit – das Kama Sutra und die Überlieferungen des Tantra am
bekanntesten sein dürften. Gerade der "tantrische Sex" genießt heutzutage – in
unterschiedlichen Aufbereitungen – allgemeines Interesse. Der Zen-Mystiker Osho
legte in seinen Interpretationen der tantrischen Lehre den Schwerpunkt auf die
fließende Entwicklungsfähigkeit des Menschen, jenseits von "kopfgesteuerten"
Tantra-Techniken und dualistischer Bewertung von Empfindungen. Aus Achtsamkeit
und Menschenliebe erwachsende bewußte Spontaneität und Gegenwärtigkeit sei
höchster Wert des Tantra, - mit der Natur zu fließen, unserer natürlichen
132
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
Bestimmung zu folgen, unser eigenes Leben zu leben. Nicht zuletzt sah der frühere
"Bhagwan Shree Rajneesh" in Tantra die einzige religiöse Tradition, die niemals unter
die Herrschaft der Männer geraten sei. Um in Tantra eingeweiht zu werden, brauche
man die Hilfe einer weisen Frau (sagte er am 23. April 1977); - Diotíma und Osho
waren einander wohl in großer Tiefe verwandt.
Jede Form von willensorientierter Kontrolle leiblich-seelischer Erfahrungen steht
diametral zu Diotímas Auffassung von Liebeskunst. Ihr geht es um sinnliche wie
seelische Entwicklung aus der Freiheit ihrer Eigengesetzlichkeit, wenn auch im
Rahmen natürlicher Bedingungen. Diotíma vermittelt uns das einfache Wachsen –
ohne definierte Entwicklungsziele, die mit spezifischen Übungen erreicht werden
müßten. Ihre 'Schule der Liebe' ist alles andere als ein "Training" (worin eine gewisse
Auffassung von Tantra, oder auch Hatha-Yoga, und westliche Leistungs- und
Zielorientiertheit in fataler Weise zusammenzupassen scheinen!); sie sensibilisiert für
so etwas wie leibliche Weisheit. Ohne Zweifel repräsentativ für die westliche
Bewußtseinstradition ist Diotímas Begriff von Liebe durch seine andere grundlegende
Dimension: die individuelle Selbstentwicklung, eine Vorstellung vom – in gewisser
Weise – autonomen Ich, von "Persönlichkeit".
Die von Diotíma zur Beschreibung von natürlichen Erfahrungen, Prozessen und
Zuständen, aber auch von kulturellen Momenten gewählten Formulierungen bleiben
bei aller Nuanciertheit der Darstellung weitgehend metaphorisch. An keiner Stelle
versucht die Autorin, sinnliche und emotionale Eindrücke konkret zu beschreiben;
dies erlaubt uns, höchsteigene Erfahrungen und Empfindungen wiederzufinden –
ohne uns fragen zu müssen: Ist das jetzt genau dieser Zustand? Oder vielleicht erst
jener?
Diotíma versteht sich ausdrücklich als nicht "materialistisch" orientiert; auf spirituelle
Momente der Erfahrung weist sie mehrfach unmißverständlich hin, ohne allerdings
explizit Ausagen dazu zu machen. Ihre Aufmerksamkeit gilt dem "Grob- und
Feinstofflichen" der leiblich-seelischen Sinnlichkeit. Indem sie diesen Bereich in
seinem Wesen auslotet, schafft Diotíma jedoch implizit Voraussetzungen für den
Schritt darüberhinaus – ganz so, wie dies in der tantrischen Tradition offenbar
gemeint war. Demgegenüber orientieren sich andere westliche Ansätze zu
Selbsterfahrung und Bewußtseinsentwicklung, so verschieden sie ansonsten sein
mögen, bis ins 20. Jahrhundert hinein an Erfahrungsmöglichkeiten des kognitivrationalen sogenannten "Geistigen" – weit ab von der Weisheit des Leibes; Zufall ist
dies kaum. (Siehe hierzu 'Sophias Leib' von Annegret Stopczyk.)
Immerhin läßt sich ein Zusammenhang herstellen zwischen der unvermittelten IchDu-Beziehung als Medium von Selbsterfahrung bei Diotíma und Martin Bubers
dialogischer Sozial- und Religionsphilosophie. (Auch ein Hinweis auf seine
bedeutende Sammlung 'Ekstatische Konfessionen' wird an dieser Stelle nicht verkehrt
sein.)
133
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
DIE LIEBE.. haben wir Menschen erfunden; es gab sie nicht vorher, und doch ist sie
ein Wunder wie Blumen und Stoffwechsel und Planetenbewegungen und
Schneekristalle und Ameisenvölker: Das Wunder des Lebens, das immer neu
erschüttert, wenn wir uns drauf einlassen. Leibliche Liebe wird von Diotíma ernstgenommen so, wie wir alle sie (mehr oder
weniger stark) erfahren: als ganzheitliches Erleben, das uns in allen Bereichen
unseres Selbst- und Lebensgefühls zugleich verunsichern/ beglücken/ verletzen/
verwandeln
kann.
Dieses
Herausgerissenwerden
aus
der
alltäglichen
Selbstverständlichkeit wird heutzutage meist nur als Störfaktor empfunden. Jedoch
liegt darin ein kreatives, ja: revolutionäres Moment der Liebe! – Demgegenüber
finden wir die leiblich-sinnliche Liebe abgehandelt in säuberlich voneinander
getrennten Schubladen: als sexuelles Verhalten, als psychisches Problem, als
Unterhaltungswert, als Pornografie, im feuilletonistischen Raisonnement und als
Thema von messender, zählender und dokumentierender Wissenschaft: Wir haben
alles im Griff! – Oder etwa nicht?
So etwas wie "Liebeskunst" kommt als kulturelle Tradition innerhalb der industriellen
Zivilisation nicht vor; worauf hinzuweisen sie damals, 1930, nicht müde wird.
Mittlerweile gibt es immerhin ein paar Schritte in diese Richtung. (Wilhelm Reichs
revolutionäre Arbeiten zu diesem Thema erschienen seit 1927; - schade, daß die
beide offenkundig keine Notiz genommen haben voneinander!) Andererseits haben
sich Entfremdungstendenzen, vor denen Diotíma warnt, heute massiv verstärkt, und "Frauenversteher!" ist im derzeit modischen small talk eine gängige verächtliche
Zuschreibung für Männer, die sich um Sensibilität bemühen..
Immer wieder bei der Arbeit an dieser Neufassung bin ich erschrocken, wie aktuell
Diotímas Kritik an sozialen und psycho-sozialen Umständen noch immer ist, - 70
Jahre später; auch wenn die gängige Sprachregelung manches Ungute heute
eleganter kaschiert. Andererseits hat mich noch kein sachlich-fachlicher Text über
Sexualität so tief berührt und bestätigt in meinen geheimsten Ahnungen, was Erotik
und Leidenschaft und Liebe eigentlich sein kann und sein wollte, auch in mir! Und
kaum ein anderes Buch ('Lady Chatterley' fällt mir noch ein und 'Malena' von
Almudena Grandes) hat mich je so stark motiviert, als Mann die Frauen gerade auch
in ihrem fundamentalen Anderssein zu lieben und meine männliche Leiblichkeit als
Aspekt solcher Bewußtheit anzunehmen und weiterzuentwickeln. –
'Diotíma' ist ein nur für dieses Buch gewähltes Pseudonym der Schriftstellerin,
politischen Publizistin, Philosophin und Komponistin Le(o)nore Frobenius-Kühn
(1878-1955). Sie wuchs auf in Riga, studierte zunächst Musik, später Philosophie
('Das Problem der ästhetischen Autonomie' lautet der Titel ihrer Dissertation von
1907). In den Zwanziger Jahren war sie publizistisch, aber auch organisatorisch
134
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
maßgeblich beteiligt an unterschiedlichen nationalistischen Vereinigungen. 1931 warb
sie für die NSDAP (angeblich ohne Mitglied zu sein); sie zog gegen Einsteins
Relativitätstheorie ins Feld und war Aktivistin der 'Deutschen Glaubensbewegung'
(J.W.Hauer). – 'Das Buch Eros', 'Kant contra Einstein', Die Autonomie der Werte',
Schöpferisches Leben' 'Deutschtum und Glaube' sind Titel von Büchern, die sie
(teilweise unter dem Namen Leonore Ripke-Kühn) bis 1936 veröffentlichte; danach
verzeichnet das 'Deutsche Literaturlexikon' (Kosch/Lang/Feilchenfeldt) nur noch zwei
Essaybände 1948 (einer davon wurde auch ins Englische übersetzt: 'Das Individuum
im Weltbild Goethes und Nietzsches'), dann 1953 eine Studie zur "europäischen und
asiatischen Mentalität". Posthum kamen 1983 'Erinnerungen an livländsches
Landleben'.
Das klingt nicht sehr sympathisch; allerdings belegen mittlerweile etliche
Veröffentlichungen die vielfältig schillernde Grauzone zwischen "nationalistisch" und
"nazistisch" in den Zwanziger Jahren. Kaum nachvollziehbare Unvereinbarkeiten
finden sich bei vielen Menschen (auch heute), wenngleich sie meist nicht im
Rampenlicht eines moralischen Konsens stehen. –
Die 'Schule der Liebe' von Leonore Frobenius-Kühn ist neben allem andern ein
Dokument des fortschrittlichsten Bewußtseins jener Jahre, das durch die zeitgleiche
Entwicklung hin zum Nationalsozialismus abgebrochen und zerstört wurde; - hier gibt
es noch immer manches wiederzuentdecken (in unserem Zusammenhang z.B. den
Pädagogen Heinrich Jacoby). "Kultur" – ein Begriff, den ich nie mochte, weil viel
Mißbrauch damit getrieben wurde und wird: tote Bildungsbürgertümelei, elaborierte
Entfremdung, versteckter Chauvinismus, sentimentale Vergangenheitsorientiertheit,
billige Parteipolitik oder Selbstbespiegelung des Bestehenden. Aber es gibt eben doch
Kultur als ein über Generationen Gewachsenes, das wertvoll bleiben kann, falls
dieses Ältere eine gegenwärtige Gesellschaft kritisch hinterfragt gerade durch seine
Differenz von ihr. Auch Lebenskunst, wie Diotíma sie uns vermittelt: als Liebeskunst,
verstehe ich als Kultur in diesem Sinne. Wo wäre ein Buch, das ihre 'Schule der
Liebe' für die heutige Zeit überflüssig machte? Wie sieht es aus mit unserer
Sexualität?
Um noch einmal Osho zu erwähnen: Er hat oft hingewiesen auf die untergründige
Korrespondenz zwischen einer marktschreierischen Orientierung auf Sexualität und
ihrem Verteufeln. Es sind zwei Seiten derselben Sache, nämlich der Angst vor
wirklicher sexueller Hingabe – die ins Offene führt; die keine Sicherheiten mehr
bietet; - dies meint, einzustehen für unsere individuell gewordene Leiblichkeit. Es ist
nicht damit getan, genormte sexuelle Handlungen zu vollziehen.
Die Liebe also.. sei ein zunächst leiblich-sinnliches Erleben? Ich mußte fast 50 Jahre
alt werden, um das in mir drin zu spüren, leider. Es gibt solche Menschen, deren
Leiblichkeit
jahrzehntelang
eingesperrt
war
aufgrund
ungünstiger
135
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
Sozialisationsbedingungen und mancher unglücklicher Umstände im Verlauf des
Lebens – und die's zuletzt vielleicht doch noch schaffen, sich als Körper zu finden
und auch so, leiblich, mit anderen in Kontakt zu kommen.
Dieses Buch, ein originales Exemplar der Erstausgabe, habe ich am 25.12.1988 in
Westberlin auf dem legendären Flohmarkt am Potsdamer Platz gefunden (damals
noch eine Sandwüste über Hitlers Reichskanzlei-Bunker). Mir war bewußt, das ist was
ganz besonderes; aber noch lange nicht konnte ich es verdauen. Erst jetzt –
nachdem mein Leben sich geändert hat. Und ich ahne, daß ich wohl gerade aufgrund
der bitter notwendigen Bewußtheit, mit der ich seit vielen Jahren auf der Suche war
nach meiner authentischen Sexualität, meiner leiblichen Wahrheit, mit seltsam klarer,
fast schlafwandlerischer Gewißheit mich daran machen konnte, die 'Schule der Liebe'
von ihren zeitbedingten Schlacken zu befreien und als das menschliche Wunderwerk
wieder ans Tageslicht zu holen, das dieses Buch noch immer ist.
Thomas Mann hatte sich über die ‚Schule der Liebe’ achtungsvoll ausgesprochen,
Kurt Tucholsky einen zynischen, giftigen Verriß geschrieben. Neuauflagen beim
Originalverlag gab es noch nach 1945. Im Jahr 1950 wurde eine vom holländischen
Drucker kommende Auflage des Buchs wegen „unzüchtigen Inhalts“ vom
westdeutschen Zoll beschlagnahmt (SPIEGEL 21.März 2951). Zumindest die wohl
letzte Auflage (1961) wurde an etlichen Stellen redaktionell gekürzt und verändert ohne irgendeinen Hinweis darauf!
"Hier geht es um das Letzte des Menschen und seines Lebenssinnes und Wesens
überhaupt: um Selbstbewahrung und um die eigentliche Lebensentwicklung, als
Verwirklichung der inneren Wahrhaftigkeit", heißt es an einer Stelle bei Diotíma von
dem, was jenseits der Liebe noch zählt beim Menschen, wie sie ihn versteht. Da stellt
sich die Frage, inwieweit so ein Menschenbild heutzutage überhaupt noch relevant
ist. Lebenssinn? Selbstbewahrung? – In den Massenmedien kommt so etwas nicht
vor. Aber es gibt auch heute jenen zu allen Zeiten leiseren, aber in jeder Generation
neu ans Licht kommenden Impuls derer, die sich um Wahrhaftigkeit ihres Lebens
und um individuelle Selbstentwicklung bemühen – und es gibt ihre Zeugnisse, sogar
in den Medien. Diotímas Buch ist bei mir angekommen wie eine Flaschenpost von
Menschen aus jener Zeit, die mir nah gewesen wären – möglicherweise nicht nur
mir.
In der Substanz ihrer Überlegungen – wie ich sie verstehe – ist Diotíma
atemberaubend aktuell bis heute; aber sie ist auch Kind ihrer Zeit. Wie wir alle, hat
sie ihre sozialisationsbedingte Brille auf, trägt – typisch für jene Zeit in Deutschland –
unhinterfragt mechanistische, vulgär-darwinistische, anthropologische (selbst
rassistische!) Klischeevorstellungen mit sich herum. Stellenweise argumentiert sie
136
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
breit ausgewalzt und eher banal in die soziale und gesellschaftliche Situation hinein,
für die ihr Buch geschrieben war. Hier hatte ich zu streichen. –
All das, was ich eliminiert habe (rund 70 % des originalen Textes), würde eine
lebendige Lektüre, bei der wir stetig in uns hineinhorchen und das Gelesene
korrespondieren lassen mit unseren eigenen Erfahrungen, Bedürfnissen,
Empfindungen, für uns heutzutage erschweren oder unmöglich machen. So aber, als
Buch für die Lebens- und Liebespraxis, ist Diotímas 'Schule der Liebe' noch heute –
oder vielleicht gerade heute! – kostbar und durch keine mir bekannte Arbeit zu
ersetzen. Was ja im übrigen auch zu denken gibt – bei all den Büchern zum Thema
Sexualität und Beziehungen!
Für einige wenige Stellen muß ich in besonderer Weise Verantwortung übernehmen;
dort nämlich, wo ich Diotímas Auffassungen widerspreche und – nun ja:
selbstherrlich etwas anderes formuliert habe. Exemplare des ursprünglichen Buches
sind zumindest in den Nationalbibliotheken einzusehen; dies hier ist nun eben eines,
das 70 Jahre später erscheint – als Ausdruck auch der heutigen Zeit, für die zu
stehen ich mich erdreiste. (Vielleicht würde Diotíma ja mein Vorgehen sogar
akzeptieren in ihrer tiefen Achtung vor dem steten Wandel auch des sozialen
Lebens?)
Ich bin mir wohl der Verantwortung für dieses im Kern ganz und gar einmalige und
wunderbare Buch bewußt gewesen bei allen Veränderungen. Leichtgemacht habe ich
es mir nicht und nichts ist da entschieden worden, ohne daß ich tief in mir drin – im
Seelischen wie im Leiblichen – ein klares Ja gespürt hätte. Das alles jedoch im
einzelnen zu begründen, hätte bedeutet, Diotímas Arbeit rechthaberisch zu
zerfleddern Satz für Satz. Oder aber, sie in einer Art Pietät einfach ruhen zu lassen.
Aber ich wollte ihr Buch nochmal zum Leben erwecken und habe nun eben diesen
Weg gewählt, - so ist das Leben!
In aller Deutlichkeit: Dies ist Diotímas Buch geblieben; es ist in allem Wesenhaften
ihre ganz unmißverständliche Haltung, ihre Tiefe und Weite, ihre Lebensliebe und
Menschenliebe und auch ihre Sprache; es sind ihre Sätze.
Nach welchen Kriterien habe ich aus Diotímas Buch herausgestrichen?
Im wesentlichen sind es:
~ allzu ausufernde philologisch-weltanschauliche Erörterungen, in denen ich keine
Originalität fand;
~ rhetorische oder didaktische Redundanz sowie ausgewalzte Darstellungen nach Art
von Predigten;
~
leider
auch
einige
rassistische
Vorurteile,
Zuschreibungen
oder
Verallgemeinerungen;
~ manche z.T. seitenlange Passagen, die offenbar nur den Umfang des Buchs
aufblähen sollen; - aber wer weiß: Vielleicht wollte Diotíma auf diese Weise den nach
137
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
"gewissen Stellen" suchenden LeserInnen (oder einer Zensurbehörde?) die Sache
erschweren?
~ soziale und literarische Bezüge, die kaum Aussagekraft mehr haben (sei es auch
nur, weil eine Allgemeinbildung nicht mehr vorausgesetzt werden kann, wie
LeserInnen des Buches 1930 sie wohl hatten).
Was habe ich dezidiert verändert?
~ Einige wenige Stellen – es sind jeweils nur einzelne Sätze -, wo ich anderer
Meinung bin; wie weiter oben ausgeführt.
~ Einzelne Passagen oder Formulierungen, die ich aus (sozial-) psychologischer
Kenntnis für unangemessen halte, zumindest für die heutige Situation. Dazu gehören
auch allzu rigide Behauptungen im Sinne von: "So und nicht anders ist es!" Jedoch
handelt es sich immer um höchstindividuelle Beziehungsmomente auf vielfältigem
psychodynamischem Hintergrund. Ich wollte das Dargestellte als modellhaft, als
bloße Annäherung an die Vielfalt des Lebens kenntlich machen; hierzu genügte
manchmal schon das Einfügen von Wörtern wie "oft", "nicht selten", "in der Regel",
"meist", "manchmal".
~ Wo der etwas zwiespältige (und ideologisch besetzte) "Geist" allzu heftig spukte,
habe ich ihn behutsam ersetzt, meist auf der Grundlage von "Bewußtsein".
~ Durchgängig eliminiert habe ich den Begriff "Blut", der nun wirklich nicht mehr zu
halten ist. Fast durchgängig hätte ich ihn mit "Libido" übersetzen können, was aber
nicht zum Stil des Buches passen würde. Zumeist habe ich auf die Wörter
"Leidenschaft", "Wollust", "sexuelle Liebe", "Verlangen" zurückgreifen können, mit
entsprechenden Abwandlungen.
~ An einigen Stellen erschien mir Diotímas Formulierung rein handwerklichsprachlich nicht gelungen. Dies betrifft auch eine zeittypische Neigung der Autorin zu
Metaphern und Vergleichen aus dem natrwissenschaftlich-technischen Milieu.
~ Außerdem habe ich einige Ergänzungen als ausgewiesene Fußnoten eingefügt.
In Orthographie und Interpunktion orientiert sich meine Version zumeist am
Originaltext; aber auch ich schreibe nicht nach Maßgabe des Duden (in welcher
Reform-Phase auch immer!), sondern erlaube mir handwerkliche Freiheiten. Auch
geschriebene Sprache kann Ausdruck individueller Lebendigkeit sein und von daher
eine sinnliche Dimension haben.
Meine arbeit widme ich in erster Linie Diotíma, der geheimnisvollen Autorin dieses
unbegreiflich liebevollen, weisen, wahrhaftigen Buches, - und dann jenen Menschen,
die mir zu verschiedenen Zeiten des Lebens und in ganz unterschiedlicher Weise
geholfen
haben,
meine
leiblich-sinnliche
Lebendigkeit
wahrzunehmen,
ernstzunehmen und zumindest ansatzweise zu befreien, - Weisheit des Leibes in mir
zu entfalten:
138
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
~ Coni, patrizia und anderen gassenkindern ~ Jim ~
~ Jo Imog (für ihr Buch 'Die Wurliblume') ~ Jochem ~ Clemens ~
~ der Jazz-Rock-Gruppe COLOSSEUM (1968-1971) ~
~ Maita Alleslieb ~ Elvis Presley ~
~ Jeanette Lander (mit ihrem Buch 'Ein Sommer in der Woche der Itke K.') ~
~ Inga Rumpf ( mit ihren Gruppen FRUMPY
und ATLANTIS aus den 70er Jahren) ~ Inge ~
~ Manitas de Plata (dem Flamenco-Gitarristen, und seiner Gruppe) ~
~ Rosemarie Heinikel (die 'ROSY ROSY' geschrieben hat
und 'Ulysses box die Kerle raus') ~ Georges Bizet (für die 'Carmen') ~
~ Karin Struck (für ihre Bücher 'Klassenliebe' und 'Lieben') ~
~ Janis Joplin (für alles!) ~ Ulla ~
~ Maryat Rollet-Andryane (genannt Emmanuelle Arsan, mit ihrer beharrlichen
Annäherung an die Weisheit der leiblichen Liebe in ihren allgemein bekannten
Büchern, insbesondere in: 'Von Kopf bis Fuß Emmanuelle') ~
~ Christiane Rochefort (für alle ihre Bücher, insbesondere 'Zum Glück geht’s
dem Sommer entgegen') ~ Andrea Anna ~
~ Nina Elisabeth S. (mit deiner Flöte und deinen Liedern) ~
~ Osho (der frühere Bhagwan Shree Rajneesh) ~
~Roberta d'Angelo (für ihre offenbar enzige Platte 'Abitare in cinecittà') ~
~ Otto Muehl (für seine Autobiographie 'Weg aus dem Sumpf') ~
~ Renate (die nach Berlin kam) ~ Helga Sophia (Goetze) (in ihrem Beharren
auf dem von ihr als wahr Empfundenen: "Ficken ist heilen!") ~
~ Rudi Bahro (Wie gern hätte ich dir dies noch geschickt!) ~
~ Tina, Geliebte ~
~ Colette (ich hoffe, alle wissen, wer Colette ist!) ~
~ Christina und andere kognitiv beeinträchtigte Menschen ("Geistigbehindete")
~ Bettine Brentano (verehelichte v.Arnim, mit allem was sie gelebt
und geschrieben hat) ~ Franziska Annabée ~ Maria Callas ~
~ Shire Hite (für ihre bekannten Arbeiten zur Sexualität) ~
~ Iris Galey (mit ihrem Bericht: 'Die Seelenvergewaltiger') ~
~ Renate Daimler (mit ihrer Dokumentation 'Verschwiegene Lust – Frauen über
60 erzählen von Liebe und Sexualität') ~
~ Cecil Taylor (für seine Musik und alles, was er ist) ~
~ D.H. Lawrence & Frieda v.Richthofen (für ihr Buch 'Lady Chatterley') ~
139
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
~ Wilhelm Reich (für die bei aller Einseitigkeit bis heute relevanten Arbeiten
'Die Funktion des Orgasmus' und 'Die Sexualität im Kulturkampf') ~
~ Alexander Lowen (für sein grundlegendes Energie- und Körperkonzept sowie
die Darstellung zur Leiblichkeit heterosexueller Männer in seinem Buch 'Liebe
und Orgasmus') ~ Tani Mara (so oder so!) ~
~ Toumaní Diabaté, Néba Solo, Rokia Traoré
(und anderen westafrikanischen MusikerInnen) ~
~ der afrikanischen Musik-Kneipe KALOMI in Berlin 61, Gneisenaustraße 58 ~
~ Wendy Maltz (für 'Sexual Healing', ihr kluges, tröstendes und
mutmachendes Buch zumThema sexueller Mißbrauch) ~
~ Almudena Grandes (für alle ihre Bücher, "Streitschriften für die Leidenschaft") ~
~ Alma Schindler (-Mahler-Werfel, mit ihren 16 überlieferten Liedern,
vornehmlich in der Interpretation von Isabel Lippitz und Barbara Heller) ~
~ Annegret Stopczyk (für ihr Konzept einer Leibphilosophie) ~
~ Sajeela K. Apitz (deren Sensibilität als Masseurin
mir wesentlich geholfen hat) ~ Petra-Eva (schade!) ~
~ Audre Lorde (für ihre Autobiographie: 'Zami – Ein Leben unter Frauen') ~
der Tanztherapeutin Gabrielle Roth (mit ihren Büchern und CDs) ~
~ Eugene T. Gendlin (für seine Entdeckung des Focusing) ~
~ Karin (auch falls ES einseitig nur mein Empfinden war!) ~
~ Shakti Gawain (für ihr Buch: 'Leben im Licht') ~ Marie ~
und Petra Täubchen.
Mondrian v. Lüttichau
140
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
INHALT
Erstes Stück
Wovon dies Buch nicht handelt
5
Zweites Stück
Ist denn die Liebe eine Kunst?
8
Drittes Stück
Von der Liebe als Gericht über dich
10
Viertes Stück
Von der Liebe als Zweisamkeit
13
Fünftes Stück
Von Glück und Beglückung
15
Sechstes Stück
Vom Blühen und Welken der Liebe
21
Siebentes Stück
Einiges über Rücksicht im Liebesleben
25
Achtes Stück
"Wie bleibe ich jung und schön" – in der Liebe? 32
Neuntes Stück
Die Liebe ist kein Kinderspiel 38
Zehntes Stück
Von der Zauberkraft der Leiber
41
Elftes Stück
Der Körper in der Liebe - und von der notwendigen Scham
Zwölftes Stück
Von der Magie der Gegensätze
53
141
46
Diotíma
-
SCHULE DER LIEBE
(1930)
(Veränderte neuausgabe mondrian graf v. lüttichau)
www.autonomie-und-chaos.de
Dreizehntes Stück
Von Lust und Wollust
60
Vierzehntes Stück
Wo die Liebe aufhört und die Geilheit übrigbleibt
69
Fünfzehntes Stück
Von der Verschiedenheit der Geschlechter
72
Sechzehntes Stück
Wie? Wo? Wie oft? – Einige Fragen zu den Umständen der Liebe
Siebzehntes Stück
Einige Grundtatsachen der Sinnlichkeit
87
Achtzehntes Stück
Von der Zerspaltenheit im Liebesleben
91
Neunzehntes Stück
Von den Blumen am Wegesrand
93
Zwanzigstes Stück
Seelen ohne Leidenschaft
96
Einundzwanzigstes Stück
Leidenschaft ohne Seele
99
Zweiundzwanzigstes Stück
Die Ästhetik in der Liebe
101
Dreiundzwanzigstes Stück
Der Zusammenprall und der Zusammenhalt
104
Vierundzwanzigstes Stück
Kampf in der Liebe
108
Fünfundzwanzigstes und letztes Stück
Liebe, Treue und Untreue in amoralischer Betrachtung
Nachwort 132
Inhalt
141
142
117
77