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Das Horror-Journal
Nr. 1
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Omen, das Horror-Journal erscheint unregelmäßig
ein- bis dreimal im Jahr. Aktuelle Informationen und
Redaktionsanschrift sind im Internet zu finden unter:
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1. Auflage August 2003
© dieser Ausgabe 2003 by Festa Verlag, Leipzig
Herausgeber: Frank Festa, Redaktion: Dirk Berger
Die Artikel über Kim Newman und Richard Laymon schrieb
Dirk Berger, der auch die Interviews führte und übersetzte
Titelbild: Philippe Jozelon
Druck und Bindung: Fuldaer Verlagsanstalt, Fulda
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 3-93822-69-3
Liebe Nachtschattengewächse,
mit der Herausgabe dieses Magazins erfülle ich mir einen lang gehegten Traum
– bereits seit meinem zwölften oder dreizehnten Lebensjahr, als ich die Werke
von Howard Phillips Lovecraft und anderen Horrorautoren zum ersten Mal
las, schwärme ich davon, ein deutsches Pendant zum amerikanischen PulpMagazine Weird Tales zu veröffentlichen, das erstmals im Jahr 1923 erschien
– und bis heute, nach manchen Irrwegen, immer noch veröffentlicht wird.
Nun erfülle ich mir meinen Traum, mehr als zwanzig Jahre später ...
Ist jetzt der richtige Zeitpunkt gekommen, einen solchen Versuch zu wagen?
Kann man in unserer Zeit der PC-Games und Internet-Kids genügend Leser
finden? Wir werden es sehen.
Man hat das Weird Tales immer wieder »die Wiege der modernen phantastischen Literatur« genannt, und natürlich zu Recht, denn seit 1923 hat es vielen
jungen und noch unbekannten Schriftstellern eine Heimstätte geboten und sie
gefördert; Autoren, die die Phantastische Literatur des 20. Jahrhunderts geprägt
haben. Um nur einige zu nennen: Abraham Merritt, August Derleth, Clark
Ashton Smith, Fritz Leiber, Ray Bradbury, Robert Bloch, Robert E. Howard,
Edmond Hamilton und so fort ...
Niemand aber hat der modernen Phantastik einen stärkeren Stempel aufgedrückt als H. P. Lovecraft mit seinen Horrorgeschichten und den Mythos vom
großen Cthulhu aus den Tiefen des Alls. Ich erspare mir hier die Aufzählung
der Autoren, die durch den Sonderling aus Providence und dessen CthulhuMythos geprägt wurden. Wer darüber mehr wissen möchte, sollte vielleicht zu
den Titeln der Reihe H. P. Lovecrafts Bibliothek des Schreckens greifen, die
solches Material meist in deutschen Erstveröffentlichungen präsentiert.
Lovecrafts Horror- und Fantasy-Erzählungen stehen für eine ganz spezielle
Tradition der Literatur: Dark Fiction. Dieser Art von Literatur soll in diesem
Magazin Platz geboten werden. Phantastische Stories, welche die Grenzen der
Genres Horror und Science Fiction und Fantasy überschreiten, verbinden oder
erweitern, jedem neuen Einfluss offen gegenüber. Eben jener Literatur, der sich
der Festa Verlag ausschließlich widmet, und dies mit so unterschiedlichen
Reihen wie H. P. Lovecrafts Bibliothek des Schreckens, Nevermore, Nosferatu,
Spektrum der Phantasten, Dark Fantasy, Necroscope und Die bizarre
Bibliothek.
Wie erwähnt, dient das Weird Tales als Vorbild für dieses Journal. Das heißt,
dass auch einige seiner inhaltlichen Elemente übernommen werden, die wir in
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jeder Ausgabe beibehalten möchten. Dies ist vor allem die Förderung junger
Talente. Aber auch die Aufnahme klassischer Texte soll stets erfolgen – beim
Aufbau muss zuerst ein Fundament stehen!
Was ich mit Aufbau meine? Nun, es ist wirklich still geworden um die
deutschen Phantastikautoren. Es gibt zwar einige erfolgreiche Autoren, aber wo
finden die jungen Phantasten heute noch die Möglichkeit, sich über das Genre
zu informieren und erste Texte zu veröffentlichen, um so durch Kritik zu lernen?
OMEN soll diesen Platz bieten. Mir schwebt die Schaffung einer neuen
Fangemeinde phantastischer Literatur vor, die Belebung des »Fandoms«, aus
dem hoffentlich das eine oder andere literarische oder künstlerische Talent
hervortreten wird. Das erscheint mir durchaus möglich, wie es – um hier ein
glänzendes Beispiel anzuführen – Michael Marshall Smith aus dem britischen
Fandom schaffte; vom Fanautor zum Auflagenkönig.
Die Stories in dieser Ausgabe mit dem Schwerpunkt Vampire sind allesamt
Erstveröffentlichungen bzw. deutsche Erstveröffentlichungen. Andreas Gruber,
Hans Dieter Römer und Holger Kutschmann vertreten die junge deutsche
Generation. Die Abteilung Klassiker wird von Ralph Adams Crams
Geschichte ›Schwester Maddelena‹ sowie William Hope Hodgsons ›Die
Insel des Ud‹ ausgefüllt. Moderne Meister Ihres Fachs sind Kim Newman,
Michael Marshall Smith und der erstaunliche Jeffrey Thomas, der uns in
seine unheimliche Stadt Punktown entführt.
Zur »Belebung des Fandoms« soll ab der zweiten Ausgabe auch eine Seite mit
Leserbriefen beitragen – schreibt fleißig (welche Geschichte war die beliebteste
dieser Ausgabe?), unterstützt diesen Versuch. Vielleicht sogar durch ein Abonnement. Das gibt es portofrei über unsere Homepage www.Festa-Verlag.de.
In dunkler Verbundenheit
Euer
Frank Festa
Der Herr der Schrecken: Kim Newman
Sie glauben alles zu wissen. Wirklich? Dann ist Ihnen auch bekannt,
dass Jack the Ripper eigentlich Silver Knife genannt wurde, deutsche
Truppen Ende des Ersten Weltkriegs neuartige Wunderwaffen einsetzten und die sozialistische Revolution nicht in Russland, sondern in den
Vereinigten Staaten stattfand. Menschliche Grausamkeit ist Ihnen kein
Fremdwort und Sie kennen die Gründe für das spurlose Verschwinden
Clive Barkers und die Andersartigkeit Andy Warhols?
Wie, das ist Ihnen alles neu? Dann hören Sie besser auf einen, der es
weiß ...
Der Autor
... wenn Sie an die Mode der 1970er denken, werden
Sie sich erinnern, dass im Winter die Jungen
Anoraks, Mäntel oder Parkas trugen. Kim trug
ein Operncape.
Eugene Byrne
Noch immer erfreut sich
Dracula und seine blutrünstige
Gefolgschaft ungetrübter Beliebtheit und untrennbar mit
dem modernen Vampirroman
verbunden ist in jedem Fall
Kim Newman, auch wenn sein
Oeuvre tatsächlich vom Cyberpunk bis zur Fantasy reicht.
Nach einer relativ ruhigen
Kindheit studierte er Englisch
an der Universität von Wessex.
1980 zog er nach London, gehörte aber in Folge verschiedenen Theatergruppen
und Kabaretts außerhalb an,
so zum Beispiel der Sheep
Worrying Theatre Group in
Bridgwater oder der Band Club
Whoopee, in der er das Kazoo
spielte. Diese Beschäftigungen
waren zwar ungemein unterhaltsam, doch leben konnte er
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davon nicht. Mitte der achtziger Jahre
erweiterte Kim Newman seine
Bemühungen auf dem literarischen
Gebiet und erntete erste Lorbeeren als
Filmkritiker für verschiedene Magazine,
darunter Interzone. Zwei Sachbücher
runden diese Arbeit ab, Ghastly
Beyond Belief: The Science Fiction
and Fantasy Book of Quotations
(1985, mit Neil Gaiman) und Nightmare Movies: A Critical History of the
Horror Film since 1968.
Mittlerweile ist Kim Newman nicht
mehr aus der englischen Phantastikund Filmszene wegzudenken und ein
gern gesehener Gast auf Veranstaltungen, nicht zuletzt aufgrund
seiner überragenden Intelligenz und
seines trockenen Humors.
Die frühen Werke
Er öffnete seine Augen. Das erste Bild war grüne Finsternis,
Schatten sickerten hindurch. Vor dieser Finsternis gab es
nichts. Er war neu erschaffen. Schon war sein Verstand gefüllt:
er hatte Sprache, Wissen, Ziel. Er hatte einen Namen: Leech.
The Quorum
Sein erster veröffentlichter Roman wurde The Night Mayor, eine düstere
Hommage an den Film Noir. Zwei Ermittler müssen in die von einem
verbrecherischen Genie kreierte Traumwelt eindringen, in der sie völlig
seinen Regeln unterworfen sind. Ständige Nacht, Dauerregen, verhüllte
Gestalten in den nassen Straßen der trostlosen Stadt sorgen für das
passende Ambiente. Die spannende Geschichte wurde ein Achtungserfolg und schürte eine berechtigte Erwartungshaltung, die der Autor
seitdem erfüllen konnte. So folgte ein Jahr später Bad Dreams und kurz
darauf Jago, die beide in der unheimlichen Phantastik anzusiedeln sind,
obwohl eine Vielzahl Dekors anderer Genres eingesetzt werden.
Herausragendes Werk dieser Phase ist unbestritten The Quorum, ein
deprimierendes Garn über einen faustschen Pakt, menschliches Vormachtsstreben und Rücksichtslosigkeit. Verbunden mit der auch in
mehreren seiner Kurzgeschichten anklingenden Kritik an sozialen
Missständen in Großbritannien entstand eines der beeindruckendsten
Bücher des Autors.
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Anno Dracula
Also, diese bleichgesichtige Kreatur war der Hexenmeister von
New York. Johnny hatte Andy Warhol schon zuvor gesehen,
hier und im Mudd-Club und er wusste wer er war, der Mann der
Suppendosen malte und schmutzige Filme drehte. Nicht
gewusst hatte er, dass er ein Vampir war. Aber nachdem er es
nun herausgefunden hatte, schien es offensichtlich. Was sonst
könnte so eine Person sein?
Andy Warhol‘s Dracula
Der internationale Durchbruch folgte 1992 mit der Veröffentlichung des
Romans Anno Dracula, einer Erweiterung seiner Erzählung ›Red
Reign‹. In ihr geht Newman von der Prämisse aus, dass van Helsing
versagt habe und Dracula über Königin Victoria als Prinzgemahl die
Macht im Vereinigten Königreich an sich reißt. Ergebnis ist ein seltsamer
Status Quo zwischen Mensch und Vampir, bis das scheinbare Gleichgewicht durch die brutalen Morde an Vampirprostituierten empfindlich
gestört wird. Scottland Yard, seiner fähigsten
Köpfe aufgrund politischer
Entscheidungen
beraubt (Sherlock
Holmes ist nur einer
der
prominenten
Insassen in den
zahlreichen Konzentrationslagern),
ist
nicht in der Lage, dem
Täter Einhalt zu gebieten. So nehmen sich
die
jahrhundertealte
Geneviève Dieudonné
und der mysteriöse
Charles Beauregard des
brisanten Falls an.
Das Potential dieser Konstellation
ausnutzend,
setzt der Verfasser die
Chronik dieser alternativen
Historie in mehreren Romanen und Novellen fort.
1995 erschien The Bloody
Red Baron, in dem Vampire
als spezielle »Jagdflieger«
auf deutscher Seite in die
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Geschehnisse des Ersten Weltkriegs eingreifen. Erneut wird eine Vielzahl zeitgenössischer Persönlichkeiten in das neue Szenario eingesetzt,
spannende und anspruchsvolle Unterhaltung garantiert.
Fellinis faszinierendes Rom des Jahres 1959 wird dann zum Schauplatz
grausamer Ereignisse in Dracula Cha Cha Cha (in England als Judgement of Tears). Draculas Bemühungen, zu alter Glorie zurückzukehren,
scheinen von Erfolg gekrönt. Zu
seiner bevorstehenden Hochzeit mit einer moldawischen
Prinzessin werden die Alten
und Berühmten erwartet. Und
gerade jene werden schnell
das Opfer eines mysteriösen
Serienmörders, so dass
erneut Newmans erprobtes Ermittlergespann tätig
werden muss. Leichter im
Ton als die düsteren
Vorgänger ist das Buch
dennoch ein uneingeschränkter Lesegenuss.
Weitere Ereignisse des
20. Jahrhunderts werden in bislang vier
Novellen beschrieben, die überwiegend online oder
als
signierte
Sammlerausgaben in
Kleinverlagen erschienen: ›Andy
Warhol‘s Dracula‹ und ›Francis Ford Coppola‘s
Dracula‹ gestalten Geschehnisse im Umfeld der Titelprotagonisten, während ›The Other Side of Midnight‹ und das in dieser Ausgabe
erstmals auf Deutsch abgedruckte ›Castle in the Desert‹ Episoden der
siebziger und achtziger Jahre darstellen.
Weitere Veröffentlichungen
Nun, diese Ausgabe ist also in die Haut eines Blutsverwandten
des Autors gebunden. Gedruckt auf ein beschriebenes
Pergament, das noch einmal bedruckt wurde: das Buch eines
schwarzen Magiers mit Zauberformeln und Beschwörungen.
Es ist mit roter Tinte signiert, auf der Titelseite finden Sie ein
Aquarell-Selbstporträt des Autors, das ihn als verwesenden
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Zombie darstellt ... Die Kapitalbändchen wurden aus den
Resten des Henkerseils gewebt, das sich einst bei seiner
Hinrichtung um den Hals von Dr. Crippen schlang.
›The Man Who Collected Barker‹
Neben seinen Vampirromanen schrieb Kim Newman eine Vielzahl an
Romanen und Erzählungen, die teilweise einen gemeinsamen Hintergrund bzw. dieselben handelnden Personen teilen. So taucht eine
Geneviève Dieudonné, später verändert als Hauptperson in Anno
Dracula, erstmals in dem Warhammer- Roman Drachenfels auf. Diese
und seine Dark Future-Bücher erschienen unter Newmans Pseudonym
Jack Yeovil. Doch noch interessanter sind viele seiner Kurzgeschichten.
Bittere Abrechnungen mit dem Zeitgeist wie ›The Original Dr. Shade‹
oder das gruselige ›The Man Who Collected Barker‹ (mit dem er sogar
seinen Freund und Autorenkollegen Clive Barker ernsthaft zu schocken
vermochte) sind wahre Meisterwerke, die oftmals publiziert wurden und
ebenso wie andere Anthologiebeiträge in mehreren Büchern gesammelt
vorliegen.
Zusammen mit seinem Jugendfreund Eugene Byrne verfasste er zudem
eine unterhaltsame Sammlung Kurzgeschichten vom Sieg des Sozialismus unter dem Vorsitzenden Al Capone in Nordamerika: Back in the
USSA.
Ein anderer Themenkreis wird mit dem ›Where the Bodies Are Buried‹Zyklus erschlossen, einer Serie aus vier Novellen: Filmbösewicht Rob
Hawkwill ist ein Mörder und Erpresser, getötet von seinen korrupten
Opfern. Er kehrt aus dem Grab zurück, um Rache zu üben, doch dieses
Mal nicht nur in den Sequels.
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Gegenwart und Zukunft
In der Nachbarstadt von Sedgwater war der sechzigjährige
Kommissionär des Palace Picture House mit einem irgendwo
entwendeten Armeegewehr in voller Uniform auf das Dach des
Kinos geklettert und hatte aus dem Hinterhalt die Amtseinführungszeremonie des neuen Stadtrates beschossen. Henry
Hembrow, der britische Faschist und selbst ernannte Bürgermeister, wurde zusammen mit zwei seiner Kumpane getötet.
Das hätte niemanden weiter gestört, aber ein bei der
Zeremonie anwesender deutscher Offizier wurde verwundet.
Am folgenden Tag, so ging die Geschichte, kamen mehrere
Wagenladungen deutscher Soldaten an, die nicht nur den
Pförtner exekutierten, sondern unter der Annahme einer Verschwörung, auch den Kino-Manager und den Filmvorführer.
›A Matter of Britain‹
Bisher letztes umfangreiches Werk außerhalb
des Anno DraculaZyklus ist Life‘s Lottery,
ein in Episodenform verfasstes Buch, bei dem
der Leser selbst über
den Fortgang der Handlung bestimmt.
Weiterhin schrieb Kim
Newman die umfangreiche Novelle ›Dr. Who:
Time and Relative‹, ein
Originalabenteuer des
wohl britischsten SFSerienhelden, das von
den Fans mit Begeisterung aufgenommen wurde.
Mit Eugene Byrne übte
er sich erneut in alternativer Geschichte, dieses
Mal über das Leben auf
der Insel nach der erfolgreichen Invasion durch deutsche Truppen 1940. Hintergrund,
Chronologie, Karten und erste Geschichten von ›A Matter of Britain‹
sind erstellt, einzig ein Verleger hat sich bislang nicht gefunden.
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Kim Newman Bibliographie:
Romane:
- The Night Mayor (1989, dt.: Die Nacht in dir)
- Bad Dreams (1990)
- Jago (1990)
- The Quorum (1994, dt.: Das Quorum)
- Life‘s Lottery (1999)
Anno Dracula-Zyklus:
- Red Reign (Novelle, dt. Dracula A. D. 1888)
- Anno Dracula (Roman, 1992, dt. Anno Dracula)
- The Bloody Red Baron (Roman, 1995, dt. Der Rote Baron)
- Judgment of Tears: Anno Dracula 1959 (Roman, 1998)
- Coppola‘s Dracula (Novelle, 1997)
- Andy Warhol‘s Dracula (Novelle, 1999)
- The Other Side of Midnight: Anno Dracula 1981 (Novelle, 1999)
- Castle in the Desert: Anno Dracula 1977 (Novelle, 2000)
Kurzgeschichtensammlungen:
- The Original Dr. Shade and other Stories (1990)
- Famous Monsters (1995)
- Back in the USSA (1997, mit Eugene Byrne)
- Where the Bodies Are Buried (2000)
- Seven Stars (2000, in Vorbereitung dt.: Der Fluch der sieben Sterne)
- Unforgivable Stories (2000)
- A Matter of Britain (unveröffentlicht, mit Eugene Byrne)
Als Jack Yeovil:
- Drachenfels (Warhammer, 1989, dt. Drachenfels)
- Route 666 (Dark Future, 1990)
- Demon Download (Dark Future, 1990, dt. Dämonenjagd)
- Crocodile Tears (Dark Future, 1990, dt. Krokodilsjagd)
- Comeback Tour (Dark Future, 1990, dt. Mutantenjagd)
- Beasts in Velvet (Warhammer, 1991, dt. Bestien in Samt und Seide)
- Geneviève Undead (Warhammer, 1993, dt. Die untote Geneviève)
- Orgy of the Blood Parasites (1994)
- Silver Nails (Warhammer, 2002)
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Kim Newman: Anno Dracula
–
Die Hintergründe
Als ich elf Jahre alt war, erlaubten mir meine Eltern, länger aufzubleiben, um im Fernsehen die Dracula-Verfilmung anzuschauen, die
Tod Browning 1930 mit Bela Lugosi gedreht hatte. Ich kann die Auswirkungen, die das auf den weiteren Verlauf meines Leben hatte,
gar nicht hoch genug einschätzen, denn dieser Film war der Funke,
der mein brennendes Interesse an Horror und Kino entfachte. Ich
war von Dracula gefesselt und anschließend so besessen davon,
wie ein Elfjähriger eben von etwas besessen sein kann. Ich glaube,
meine Eltern erwarteten, dass dieser Fimmel irgendwann vergehen
würde, aber offenkundig kam es nicht dazu.
Unter meinen ersten Schreibversuchen gab es ein Schauspiel, nur
eine Seite lang, das auf dem Lugosi-Film basierte und welches mit
mir in der Hauptrolle und als Regisseur im Rahmen des Theaterkurses der Dr.-Morgan-Grundschule im Herbst 1970 aufgeführt
wurde. Gnädigerweise ist dieses Jugendwerk verschollen.
Kurz danach las ich (immer wieder) Bram Stokers Roman, und
machte mich auf, so viele Draculafilme wie nur möglich zu sehen.
Ich besaß den Modellbausatz von Aurora, der Lugosi als den Grafen
darstellte und im Dunklen leuchtete (›Frightning Lightning Strikes!‹),
und sammelte auch die anderen Romane (wobei es damals wesentlich weniger gab als heutzutage), die diesen Charakter aufgriffen,
kopierten, parodierten oder ganz einfach abzockten.
Als ich 1989 zufällig wieder in das Gebäude kam, das früher einmal
die Aula der Dr.-Morgan-Schule gewesen war, war die Bühne für die
diesjährige Schulaufführung ausgestattet: Dracula. Ich fühlte mich
bestätigt.
Und so entstand Anno Dracula: 1978 besuchte ich an der Universität ein Seminar, das »Spätviktorianischer Aufruhr« hieß und das
von dem Dichter Laurence Lerner und Norman Mackenzie (der
Biograph von H.G. Wells) geleitet wurde. Ich verfasste dafür eine
Arbeit (›Die säkulare Apokalypse: Das Ende der Welt in der Literatur
der Jahrhundertwende‹), welche später als Werk einer der Hauptfiguren meines dritten Romans, Jago, wieder auftauchte. Für die
Arbeit las ich die zeitgenössischen Invasionserzählungen (George
Chesneys The Battle of Dorking, Wells’ The War in the Air, Sakis
When William Came), die vor dem Hintergrund eines von Feinden
(üblicherweise den Deutschen) überrannten Englands spielten. Ich
interessierte mich mittlerweile sehr für Science Fiction mit Alternativwelt-Themen und erkannte in den oben erwähnten, beinahe vergessenen Erzählungen die Vorläufer vieler Geschichten des zwan-
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zigsten Jahrhunderts, die sich um einen anderen Ausgang des
Zweiten Weltkrieges drehten und die Besetzung Britanniens durch
die Nazis thematisierten (Len Deightons SS/GB, Kevin Brownlows
Film It happened here). In dem Abschnitt meiner Arbeit, der sich mit
diesen Invasionen befasste, beschrieb ich Draculas Eroberungskampagne in einer Fußnote, wie sie sich in Stokers 1987 erschienenem Roman darstellt, als »eine Ein-Mann-Invasion«.
Ich bin nicht sicher, wann genau all die Verbindungen geknüpft
wurden, aber zu irgendeinem Zeitpunkt in den frühen Achtzigern
wurde mir klar, dass ein Potential für eine Erzählung in dem
alternativen Ende lag – Dracula könnte seine Feinde besiegen und
sein gesetztes Ziel, Britannien zu erobern, erreichen.
Es erscheint mir immer noch als ein wenig enttäuschend, dass
Stokers Bösewicht, nach all seiner gewissenhaften Planung und mit
seinen fünfhundert Jahren Ränke schmiedender Monstrosität unter
dem Umhang, sich selbst, kaum dass er in Britannien angekommen
ist, ein Bein stellt: durch sein unnötiges Nachstellen der Ehefrau
eines Provinzanwaltes bringt er die Saat dafür aus, dass ihm das
Handwerk gelegt wird.
Van Helsing erkennt Draculas Vorhaben in Britannien: jener wolle
»der Vater oder Vorreiter einer neuen Ordnung der Dinge werden,
deren Weg über den Tod, nicht über das Leben führen müsse«.
Doch Stoker allegorisiert Draculas Angriff auf Britannien nur als einen
Angriff auf die viktorianische Familie. Für ihn stellte diese ein Sinnbild all dessen dar, was er hoch schätzte, und er sah sie als sehr zerbrechlich an. Mir selbst schien es interessanter, jenes England, jene
Welt zu erforschen, die sich ergeben hätte, wären Van Helsing und
seine Familie furchtloser Vampirkiller besiegt worden und es Dracula
möglich gewesen, Vater und Vorreiter seiner neuen Ordnung zu
werden.
Ich erinnere mich, diese Idee mit Neil Gaiman und Faith Brooker
(damals Lektorin bei Arrow) um 1984 herum diskutiert zu haben, als
Neil und ich ein Buch namens Ghastly Beyond Belief für Faith
zusammenstellten und versuchten, uns ein paar Romanideen auszudenken, die wir ihr hätten verkaufen können. Unter den vielen
Projekten, die wir besprachen, aber nichts weiter daraus machten,
war die Idee einer Trilogie, basierend auf meiner Idee eines siegreichen Dracula. Diese hätte sich auf die Machenschaften einer
vampirischen Regierung konzentriert, die zwischen 1880 und dem
Ersten Weltkrieg operierte (Neil war ganz wild darauf, die Szenen in
den Schützengräben zu schreiben).
Nichts davon wurde niedergeschrieben, doch im Stillen entwickelte
ich eine Geschichte, die sich auf die heiligsten Hallen konzentrierte:
sie sollte in den Fluren der Macht spielen, mit Dracula als einem der
Hauptdarsteller, und die Handlung würde möglicherweise als
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Hintergrund der Romane dienen: die Machenschaften der Vampirpolitik, den Aufstieg Draculas zur höchsten Macht und die Anstrengungen britischer Revolutionsgruppierungen und ausländischer
Mächte, ihn von seinem Thron zu stoßen.
Die Idee lag danach in meinem Kopf herum und verstaubte, gemeinsam
mit ihrem seltsamen Hauptcharakter, bis Stephen Jones mich bat, etwas
für ein Anthologieprojekt zu verfassen, an dem er 1991 arbeitete: The
Mammoth Book of Vampires. Steves Anfrage veranlasste mich endlich,
die Grundlagen für Anno Dracula niederzuschreiben, da ich spürte,
dass solch ein mammutmäßiges Buch über Vampire doch einen Auftritt
des Königs der Un-Toten beinhalten müsse. Das Ergebnis war die
Geschichte ›Red Reign‹, die zuerst in Steves Buch erschien und das
nackte Skelett von Anno Dracula darstellt.
Inzwischen hatte ich mich sowieso längst den Vampiren zugewandt, im
Rahmen der Arbeiten, die ich unter dem Namen Jack Yeovil für Games
Workshop schrieb: Romane, die in deren Warhammer-FantasyUniversum spielten. Als Jack entwickelte ich nicht nur ein System des
Vampirismus, welches als Kreuzung mit dem von Bram Stoker in den
Anno Dracula-Romane weiterlebt, sondern auch das Geschöpf, das
deren populärster Charakter wurde. Nur der Erwähnung halber: die
Geneviève aus Yeovils Drachenfels und Geneviève Undead ist nicht die
gleiche Person wie die Geneviève aus Anno Dracula, aber immerhin
ihre transkontinentale Kusine.
Ich finde, dass Ideen für Bücher wie Korallenriffe sind – sie bestehen
aus Stücken und Teilen, die über die Jahre miteinander verbunden
wurden. Im Falle von Anno Dracula besaß ich den Hintergrund und zwei
der Hauptcharaktere – Charles Beauregard, der als schneidiger Held
des Viktorianischen Zeitalters geplant war, in der Tradition von Rudolph
Rassendyll aus The Prisoner of Zenda oder Gerald Harper aus der alten
Fernsehserie Adam Adamant Lives! und das Vampirmädchen
Geneviève. Auch besaß ich die Idee (inspiriert durch Philip José
Farmer) für eine lange Liste von Nebendarstellern, die neben reale
Viktorianern (wie Oscar Wilde, Gilbert & Sullivan, Swinburne) auch
berühmte Charaktere aus der zeitgenössischen Literatur (Raffles, Fu
Manchu, Dr. Moreau, Dr. Jeckyll und verschiedene Bekannte von
Sherlock Holmes) beinhaltete.
In The Night Mayor, meinem ersten Roman, verfolgte ich die Idee einer
Welt der übereinstimmenden Genres, insofern, dass all die Gesichter
und Gestalten des film noir aus den 1940ern in derselben Stadt herumhingen, und es war ein nahe liegender Schritt, das London von Anno
Dracula zu einem ähnlichen Schauplatz zu machen, in dem gleichermaßen mit Kreuzverweisen auf all die großen spätviktorianischen
Horror-, Kriminal- und Sozialmelodramen angespielt würde. Dies trug
beim Leser zu dem Gefühl bei, jede der Anspielungen entdecken zu
müssen, das manche als störend empfanden, andere jedoch sehr
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genossen – und ich gebe zu, dass selbst ich ein bisschen Erregung
verspüre, wenn ich einen Charakter von E. M. Forster ausborge (Henry
Wilcox aus Howard’s End) oder eine so vergessene Figur wie Guy
Boothbys an Professor Moriarty angelehnten Meisterkriminellen Dr.
Nikola wieder zum Leben erwecke. Außerdem ermöglichte mir all dies,
den Roman sowohl zum Spielplatz als auch zum Minenfeld zu machen,
und ich konnte mich jenseits aller historischen Korrektheit bewegen, um
all die vom Gaslicht erhellten und vom Nebel umspielten Londoner
Geschichten heraufzubeschwören.
Eine Zutat, die mein Plot noch brauchte, war ein regelrechter Blutstau
von Vampiren, da Dracula ja eine ganze Menge der Einwohner
Britanniens zu seinesgleichen gemacht hätte, beginnend mit einem Teil
von Stokers Gestalten (Arthur Holmwood, Mina Harker). Dies hätte er
dann auf eine Anzahl realer Personen ausgeweitet, von Königin Viktoria
bis zu einer Schar von Straßendirnen und Polizisten. Ich entschied,
dass mit einem Mal alle Vampire der Literatur aus ihren Verstecken
kämen, wenn Dracula anstatt Prinz Albert der Gemahl Victorias sei und
sie alle sich, auf Vergünstigungen hoffend, an seinem Hof zusammenscharen würden. Nach Dracula ist der bekannteste Vampir in der
Literatur wohl Dr. Polidoris an Byron angelehnter Lord Ruthven, und so
war er ideal, den Part von Draculas Premierminister einzunehmen und
auch weiterhin in der Serie aufzutauchen (in The Bloody Red Baron,
dem zweiten Anno Dracula-Roman, sehe ich Ruthven als John Mayor,
während der Graf Maggie Thatcher darstellt)
Für meine vampirischen Hauptcharaktere, die Karpatische Garde, bediente ich mich etwas weniger bekannter Namen, die ich bei Alexandre
Dumas (The Pale-Faced Lady), Eric Count Stenbock (›The True Story
of a Vampire‹), George A. Romero (Martin) und dem stets verlässlichen
Anonymus (The Mysterious Stranger) ausborgte und zu den ehrwürdigen Herren Kostaki, Vardalek, Martin Cuda und von Klatka machte.
Ich entschied, Le Fanus Carmilla bei den Toten zu belassen, aber dennoch auf sie hinzuweisen, und hielt es für unabdinglich, mir meinen
Spaß auf Kosten der wirklich existiert habenden Elizabeth Bathory zu
machen (wenn auch meine Version mehr der Delphine Seyrig aus Le
Rouge aux levres als der historischen Person verdankt), sowie auch
Anne Rices Lestat (dem Modepapst des auf Garderobe achtenden
Vampirs).
Ich genoss es, so viele bekannte Vampire wie nur möglich in die Geschichte zu quetschen – das ging so weit, dass ich eine Rede schrieb,
in der Lord Ruthven hinterhältigerweise all seine Mit-Adeligen beim
Namen nennt und über sie herzieht. In den nachfolgenden Romanen
hatte ich auch viel Spaß daran, ein wenig mehr mit Les Daniels’ Don
Sebastian de Villanueva und Barbara Steeles Prinzessin Asa Vajda zu
arbeiten, aber ich versuche dennoch vorsichtig zu sein, nicht allzu viel
mit anderer Leute Figuren anzustellen, wenn die eigentlichen Schöpfer
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vielleicht noch nicht ganz mit diesen abgeschlossen haben. Das letzte
Teilstück, das sich schließlich einfügte und mir ermöglichte, sehr rasch
eine erste Fassung von Red Reign zu schreiben, war die eigentliche
Handlung. Ich brauchte ein eigenständiges Rückgrat für die Geschichte, das es mir ermöglichte, die Welt zu erforschen, die ich erschaffen
hatte. Außerdem wollte ich auch etwas, das die Leser auf eine Führung
durch mein London mitnahm, die auch die Slums und die Paläste mit
einschloss.
Auf die Sache mit Jack the Ripper hätte man in Anno Dracula nur
schwerlich verzichten können, doch die Idee, dass der unbekannte
Serienmörder ein Vampir war (ein Thema, das Robert Bloch sich in
Yours truly, Jack the Ripper zu eigen gemacht hatte und die seitdem
einige Male wieder aufgegriffen wurde), erschien mir nicht nur als alter
Hut, sondern auch nicht geeignet für eine Erzählung, in der die Vampire
sich offen bewegten, anstatt sich in den Nebel zu ducken. Nun, da die
reale Welt schon einmal auf den Kopf gestellt war, wurde mir schnell
klar, dass Jack the Ripper ein Vampirkiller sein müsste. Und Stoker
hatte zuvorkommenderweise bereits einen von Van Helsings Anhängern
Jack genannt, ihn mit einem Doktortitel versehen und zudem angedeutet, dass die innerhalb des Romans gemachten Erfahrungen ihn an den
Rand des Wahnsinns gebracht hatten. Somit wurde Stokers Dr. Seward
mein Jack the Ripper, der wegen des Pfählens der von ihm geliebten
Lucy Westenra verrückt geworden war und nun Vampirdirnen in Whitechapel nachstellte (um diese Situation komplexer zu gestalten ließ ich
Mary Kelly, die das letzte Opfer des Rippers war, sowie die Abkömmlinge der Vampirin Lucy und auch sie selbst, nahezu gleich aussehen).
Die Geschichte des Rippers ist unter den Verschwörungstheoretikern
heutzutage fast genauso beliebt wie die Ermordung Kennedys und so
war es recht nahe liegend, die tieferen Auswirkungen einer Reihe von
Sexualmorden auf eine an sich flatterhafte Gesellschaft zu beschreiben.
Was den frei herumlaufenden Killer selbst anging, so hatten meine
anderen Charaktere alle möglichen Beweggründe – ob nun selbstgefällig oder edel – herauszufinden, wer dieser war, ihn bei seinen Verbrechen zu behindern oder zu unterstützen oder propagandistischen
Nutzen aus ihm zu ziehen.
Ich versuchte, ohne dabei zu steif zu wirken, auch einige Dinge, die
mich an den 1980ern berührten – als die britische Regierung die
»viktorianischen Werte« zu ihrem Slogan machte – mit den authentischen und den erdachten 1880er Jahren zu vermischen, in denen das
Blut im Nebel strömte und es weit gefächerte soziale Unruhen gab. Die
Morde des Rippers gaben dem Roman zudem eine Struktur: die
tatsächlichen Daten der Tötungen – ich konnte nicht widerstehen, auch
das berühmteste fiktive Opfer des Rippers, Wedekinds Lulu, auf seine
Liste zu setzen – wurden zu Aufhängern der Handlung, und andere
tatsächliche Ereignisse, wie eine Rede Bernard Shaws, die gefälschten
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Ripperbriefe, die der Presse zugespielt wurden oder gerichtliche Untersuchungen, fügten sich überraschend gut in das Erdachte ein.
Das Ripper-Thema gab der Handlung ein bestimmtes Datum vor, den
Herbst des Jahres 1888. Es wird oft angenommen, dass die Ereignisse
in Stokers Roman im Jahr 1893 stattfinden (die Tagesangaben darin
stimmen mit diesem überein), allerdings klafft in dieser Argumentation
eine Lücke: Der Roman erschien 1897 und endet mit einem Kapitel, das
in der Gegenwart spielt und den Großteil der Handlung sieben Jahre in
der Vergangenheit ansiedelt, doch zahlreiche kleine Details – wie etwa
die Redewendung »neue Frau«, die 1892 geprägt wurde, oder etwa der
vergleichsweise hoch entwickelte Phonograph Dr. Sewards – widersprechen dem. Ich tippte – wie auch Jimmy Sangster, Terence Fisher
und die Hammer-Filmproduktion in ihrem 1958 entstandenen Dracula
(Horror of Dracula für die barbarischen Amerikaner) – auf das Jahr 1885
und optierte darauf, mich auf eine alternative Zeitlinie zu begeben, und
zwar in der Mitte von Stokers 21stem Kapitel, genauer: Seite 249 in der
von Leonard Wolf kommentierten Ausgabe.
Allerdings ist Stokers Dracula ja selbst bereits eine Alternativweltgeschichte, angesiedelt auf einer Zeitlinie, in der soziale und technische
Entwicklungen etwas rascher voranschritten als in unserer eigenen, und
in der gewisse örtliche Gegebenheiten Londons verändert sind (Stokers
London rühmt sich eines Kingstead Cemetery in der Nähe von
Hampstead Heath, der dem tatsächlichen Highgate Cemetery entsprechen mag). In meiner Umarbeitung der Historie ging ich mehr von
Stokers imaginären Welt aus, als von unserer eigenen, wobei ich es so
weit trieb, der Öffentlichkeit schließlich Kate Reed zu präsentieren, eine
Figur, die Stoker für Dracula entwickelt, aber schließlich aus dem
Roman gestrichen hatte (und die in meinen Fortsetzungen von Anno
Dracula noch wichtiger wurde). Obwohl ich zu diesem Zeitpunkt nicht
länger vorhatte, die Geschichte in einer Trilogie herauszubringen,
erkannte ich doch recht früh, dass es in jener Welt genug Dinge gab, die
einen erneuten Besuch verdienten. Ich wollte nicht unbedingt bei einer
Fortsetzung Regie führen, da das letzte Kapitel von Anno Dracula mehr
oder minder deutlich darauf hinweist, was in jenem Land geschehen
wird und wie unsere Hauptfiguren darin eingebunden sind.
Allerdings leben Vampire ein sehr langes Leben und es war klar, dass
die Ereignisse in Anno Dracula ihren Nachklang im 20. Jahrhundert
finden würden, weshalb ich wieder einmal über den Ersten Weltkrieg
nachdachte. Meine eigentliche Vorstellung von der Geschichte war, den
weltverändernden Höhepunkt mittels einer fantastischen Version dieses
Krieges zu erreichen. Beeinflusst wurde ich dabei von den bereits
erwähnten viktorianischen Erzählungen über imaginäre Kriege, und
auch von den herrlichen Erinnerungen, die ich an die Jugendbücher von
W. E. Johns hatte, der über den Kampfpiloten Biggles schrieb (und
dessen glühender Anhänger ich als Junge war). Wenn also der erste
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Roman sich um die Verbrechen Jack the Rippers gedreht hatte, so
würde sich der zweite an die berühmte Mordreihe eines von offizieller
Seite beauftragten Serienkillers anlehnen – an Baron von Richthofen.
The Bloody Red Baron wurde ein grimmigeres Buch als Anno Dracula,
da sich auch der Hintergrund schrecklicher anließ. Geneviève, die zu
einem stärkeren Charakter geworden war, als ihr selbst gut tat, wurde
flugs weggepackt und ich entwarf die gewandtere, weniger übermenschliche, neugeborene Vampirin Kate als ihre Vertretung. Die Tatsache, dass sie wohl weiß, Geneviève nie erreichen zu können, stattet
sie mit einem interessanten Charakterzug aus und verdeutlicht zudem,
wie schwierig es für eine Fortsetzung ist, einer populären Vorlage nachzueifern und gleichzeitig ihre Eigenständigkeit zu behaupten.
Ein Sprung von dreißig Jahren führt uns von der Welt Sherlock Holmes’
zum Blutbad an der Westfront. Im ersten Buch gab es heitere Momente,
etwa wenn der Held und die Heldin ganz im Geiste von Nick und Nora
Charles oder John Steed und Emma Peel versuchen, die diversen
Verbrechen aufzuklären, aber die romantischen Beziehungen des
zweiten Bandes sind verzweifelter und weniger leicht zu bewältigen.
Erneut hatte ich versucht, mich der tragischen Züge eines Charakters
(erst Dr. Seward, dann der Rote Baron) anzunehmen, der sich vorsätzlich zu einem Killer entwickelt, aber dennoch Mitgefühl für seine vielen
Opfer verspürt. Meine Schwäche für Romanheftcharaktere wie The
Shadow, Herbert West, Fantomas, Captain Midnight, The Saint und
Bulldog Drummond versah das Ganze mit einem starken Abenteuercharakter, und einige Anklänge von Modernismus und Ernsthaftigkeit
zogen Personen wie Clifford Chatterley, den braven Soldaten Schwejk,
Jake Barnes, sowie Jules und Jim nach sich.
Dracula Cha Cha Cha ist der dritte Anno Dracula-Roman. Da ich nach
den Kriegswirren des Buches um den Roten Baron ein wenig Ruhe
brauchte, entschied ich mich, den sich anbietenden Hintergrund des
Zweiten Weltkriegs auszulassen und mich zu entspannen, indem ich la
dolce vita genoss und den Roman im Rom des Juli 1959 spielen ließ
(eine Hauptfigur stirbt an dem Tag, an dem ich geboren wurde,
allerdings werde ich im Buch nicht erwähnt). Abgesehen von Fellinis
Meisterwerk habe ich auch Elemente aus Three Coins in the Fountain
verwendet (die drei weiblichen Hauptcharaktere aus Anno Dracula
treten wieder auf und jede spricht einen Wunsch aus), aus Two Weeks
in another Town (Vincente Minellis Film verdankt seinem Titel dem darin
gesungenen, gleichnamigem Lied), aus den in Rom spielenden Horrorund Mysteryfilmen Mario Bavas und Dario Argentos (wieder mal treibt
ein Vampirkiller sein Unwesen), aus den Thrillern Ian Flemings (nachdem ich schon Vampire aus Inspektor Lestrade und Biggles gemacht
hatte, präsentiere ich hier einen Geheimagenten mit der Lizenz zum
Bluttrinken) sowie aus den Werken von Patricia Highsmith (als ich den
Roman schrieb, wusste ich nicht, dass Anthony Minghella einen Film
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aus The Talented Mr. Ripley machen würde, und zudem gibt es
interessante Unterschiede zwischen seiner Art, mit Highsmiths
soziopathischem Killer umzugehen und der meinen). Und schlussendlich versuchte ich auch für Graf Dracula selbst eine Rolle innerhalb
der modernen Welt zu finden.
Ich schaffe es nur deshalb, diese Arbeit zu bewältigen – die Romane
verlangen eine Heidenarbeit was pingelige Nachforschungen und das
Sammeln von Details angeht – weil meine Begeisterung für Dracula ungedämpft ist. Die Bücher wären ohne Stokers literarische Erfindungen
nicht möglich, was sie möglicherweise in wörtlichem Sinne zu Vampirromanen macht, die sich von anderen Büchern und Geschichten
nähren, sie aussaugen und in etwas anderes verwandeln.
Natürlich endet die gesamte Geschichte nicht mit diesen drei Romanen.
Ich bin darauf bedacht, dieser Serie nicht zu viel Zeit meines Lebens zu
widmen, und ich habe auch Angst davor, mich selbst in Bezug auf diese
Idee zu erschöpfen oder das Publikum zu ermüden, indem ich einmal
zu oft zum Brunnen gehe. Aber ich habe bereits an einem vierten Buch
gearbeitet, das die Geschichte bis in die 1970er und 80er Jahre
vorantreibt. Teilstücke sind schon fertig gestellt, sie tragen Titel wie
›Coppolas Dracula‹, ›Andy Warhols Dracula‹ und ›The Other Side of
Midnight‹ und sie verfolgen die Entwicklung eines Vampirs, der vielleicht
oder vielleicht auch nicht ein Abkömmling Draculas ist und der mit
verschiedenen filmischen Unternehmungen in Berührung kommt, die
allesamt verschiedene Ansätze in der Behandlung der klassischen
Dracula-Geschichte bieten, seien sie nun von Francis Coppola, Andy
Warhol, Orson Welles oder anderen. Weiterhin treten Sid Vicious, Travis
Bickle, Tony Manero aus Saturday Night Fever, Leutnant Columbo,
Kenneth Anger und »Barbie the Vampire Slayer« auf. Am Ende werden
all diese Geschichten sich zu einem Roman mit dem Titel Johnny
Alucard zusammenfügen.
Wie die Dinge momentan stehen, habe ich keine weiteren Ideen dafür,
die Serie über diesen Punkt hinaus auszuweiten – auch wenn ich sehr
gern einen Vampir-Western mit Edgar Allan Poe schreiben würde, der
sich auf die Spur eines Blut trinkenden Billy the Kid setzt (letzterer ist
eine Randfigur in Anno Dracula).
Wie auch immer, ich weiß aus Erfahrung, dass sich Dracula nur
schwierig abschütteln lässt und man ihn nicht leicht zurücklassen kann.
Vielleicht gibt es ja doch noch mehr zu berichten.
© 2003 by Kim Newman. Deutsche Erstveröffentlichung.
Mit freundlicher Genehmigung des Autors.
Übersetzt von Alexander Röder.
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