John Stuart Mill 1

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John Stuart Mill 1
Klassiker der praktischen Philosophie
10.1.2012
John Stuart Mill: Utilitarismus 1 (Teil 1)
I. Nützlichkeitsprinzip
Die Auffassung, für die die Nützlichkeit oder das Prinzip des größten Glücks die Grundlage der Moral ist,
besagt, dass Handlungen insoweit und in dem Maße moralisch richtig sind, als sie die Tendenz haben, Glück
zu befördern, und insoweit moralisch falsch, als sie die Tendenz haben, das Gegenteil von Glück zu
bewirken. (U 23)
a) Nützlichkeit als „Maßstab für Recht und Unrecht“ (U 21). b) „Prinzip der Nützlichkeit“ synonym mit
„Prinzip des größten Glücks“. c) Nützlich ist eine Handlung, wenn sie dazu dient, Glück zu erreichen bzw.
Unglück zu verhindern. d) Glück zunächst verstanden als „Lust und […] Freisein von Unlust“; Unglück
hingegen als „Unlust und […] Fehlen von Lust“ (U 25) (Glücksbegriff wird allerdings sukzessive
ausgeweitet). e) Nützlichkeit das Kriterium für die Beurteilung einer Handlung als moralisch richtig bzw.
moralisch falsch. → Hintergrund: ausschließlich „Lust und das Freisein von Unlust“ sind „Endzwecke“,
werden nur um ihrer selbst willen angestrebt:
… Lebensauffassung, auf der diese Theorie der Moral wesentlich beruht: dass Lust und das Freisein von
Unlust die einzigen Dinge sind, die als Endzwecke wünschenswert sind, und dass alle anderen
wünschenswerten Dinge (die nach utilitaristischer Auffassung ebenso vielfältig sind wie nach jeder anderen)
entweder deshalb wünschenswert sind, weil sie selbst lustvoll sind oder weil sie Mittel sind zur Beförderung
von Lust und zur Vermeidung von Unlust.“ (U 25)
II. Glück für wen?
1. „[D]as größte Glück insgesamt“ (U 37): Es geht nie nur um das Glück der eigenen Person, sondern um
„das größte Glück insgesamt“ (U 37). ⇒ Eine Handlung ist dann moralisch richtig, wenn sie das Glück all
jener befördert, die von dieser Handlung betroffen sind (oder zumindest Unglück für alle jene verhindert, die
von dieser Handlung betroffen sind).
2. Kein Vorrang des persönlichen Glücks: Das eigene Glück zählt auch, hat aber nicht Vorrang vor dem
Glück der Anderen, darf keinen höheren Stellenwert einnehmen als das der Anderen.⇒ Standpunkt „strenger
Unparteilichkeit“ (U 53).
3. Aufforderung zu persönlichen Opfern oder zur Vernachlässigung des persönlichen Glücks? Möglich, daß der
Edelmut eines Menschen sein persönliches Glück nicht fördert, vor allem dann, wenn „sehr unvollkommene
Verhältnisse“ herrschen (U 51). Es kann sogar sein, daß angesichts solcher Rahmenbedingungen diese
Opferbereitschaft Basis für die größtmögliche Förderung des Glücks anderer Menschen ist.
← Das Ziel besteht für Mill aber darin, daß wir in einer Gesellschaft leben, in der solche Opfer nicht mehr
notwendig sind. „Der Utilitarismus kann sein Ziel […] nur durch die Ausbildung und Pflege eines edlen
Charakters erreichen, selbst wenn für jeden Einzelnen der eigene Edelmut eine Einbuße an Glück und nur
jeweils der Edelmut der anderen einen Vorteil bedeutete.“ (U 37)
→ Hier entsteht auf den ersten Blick der Eindruck, als ginge es ausschließlich darum, nur an das Glück der
Anderen zu denken und das eigene dabei zu vernachlässigen. Aber: Wenn alle Menschen das Glück der
anderen Menschen berücksichtigen, dann wird auch das eigene Glück berücksichtigt (soziale Utopie).
4. Kreis der Betroffenen: Es wird nicht von jedem Menschen in jeder Situation verlangt, daß er sein Handeln
„auf so vage Allgemeinheiten wie die Welt oder die Gesellschaft als ganze“ ausrichten soll (U 57). Dies
kann allenfalls von extrem mächtigen oder einflußreichen Menschen verlangt werden.
[D]ie Gelegenheiten, in denen es […] in der Macht einer einzelnen Person steht, dieses in größerem Umfang
zu tun und zu einem öffentlichen Wohltäter zu werden, ergeben sich nur ausnahmsweise; und nur in solchen
Fällen hat er die Pflicht, den öffentlichen Nutzen zu berücksichtigen. (U 57 f.)
In der Regel verlangt der Utilitarismus nicht mehr und nicht weniger als die Berücksichtigung des Wohls der
von einer konkreten Handlung Betroffenen. Und auch damit trägt man zum Wohl der Welt bei, da sich dieses
aus dem „Wohl einzelner Individuen […] zusammensetzt“ (U 57).
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John Stuart Mill: Utilitarianism/Der Utilitarismus. Englisch/Deutsch. Übers. u. hg. v. Dieter Birnbacher. Stuttgart:
Reclam 2006. (Zit.: U + Seite.)
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Klassiker der praktischen Philosophie
10.1.2012
5. Glück nach Möglichkeit der „gesamte[n] fühlende[n] Natur“ (U 39): Norm der utilitaristischen Moral
bedeutet, möglichst vielen Menschen ein Leben zu ermöglichen, „das so weit wie möglich frei von Unlust
und in quantitativer wie qualitativer Hinsicht so reich wie möglich an Lust ist“ (U 37), aber „nicht nur für sie
[die gesamte Menschheit], sondern soweit es die Umstände erlauben, für die gesamte fühlende Natur.“ (U
39) (Relevanz der Empfindungsfähigkeit)
III. Begriff des Glücks
1. Qualitative Unterscheidung verschiedener Freuden: Vorwurf an die Utilitaristen, eine Lebensform des
sinnlichen Genusses zu propagieren. Dagegen Mill: „Die Menschen haben höhere Fähigkeiten als bloß
tierische Gelüste und vermögen, sobald sie sich dieser einmal bewusst geworden sind, nur darin ihr Glück zu
sehen, worin deren Betätigung eingeschlossen ist.“ (U 27)
→ Erster Schritt der Ausweitung von Glück als Lust und Freisein von Unlust: Unterscheidung zwischen
verschiedenen Freuden nicht nur in quantitativer, sondern auch in qualitativer Hinsicht. → Empirisches
Kriterium für die Beurteilung:
Von zwei Freuden ist diejenige wünschenswerter, die von allen oder nahezu allen, die beide erfahren haben –
ungeachtet des Gefühls, eine von beiden aus moralischen Gründen vorziehen zu müssen –, entschieden
bevorzugt wird. Wird die eine von zwei Freuden von denen, die beide kennen und beurteilen können, so weit
über die andere gestellt, dass sie sie auch dann noch vorziehen, wenn sie wissen, dass sie größere
Unzufriedenheit verursacht, und sie gegen noch so viele andere Freuden, die sie erfahren könnten, nicht
eintauschen möchten, sind wir berechtigt, jener Freude eine höhere Qualität zuzuschreiben, die die Quantität so
weit übertrifft, dass diese im Vergleich nur gering ins Gewicht fällt. (U 29)
→ Das Urteil der Erfahrenen über die höhere oder niedrigere Qualität einer Lust ist von Bedeutung.
← Einschränkungen: a) Jene Menschen, deren Urteil Gültigkeit haben soll, müssen nicht nur mit beiden
Freuden bekannt, sondern darüber hinaus „für beide gleichermaßen empfänglich“ (U 29) sein; b) sie müssen
„ihrem Erfahrungshorizont nach – einschließlich Selbsterfahrung und Selbstbeobachtung – über die besten
Vergleichsmöglichkeiten verfügen“ (U 39). ⇒ Kreis der Urteilenden klein.
→ Ein solcher Mensch wird, so Mill, „der Lebensweise entschieden den Vorzug geben, an der auch [seine]
höheren Fähigkeiten beteiligt sind“ (U 29). Denn:
Kein intelligenter Mensch möchte ein Narr, kein gebildeter Mensch ein Dummkopf, keiner, der feinfühlig und
gewissenhaft ist, selbstsüchtig und niederträchtig sein – auch wenn sie überzeugt wären, daß der Narr, der
Dummkopf oder der Schurke mit seinem Schicksal zufriedener ist als sie mit dem ihren. (U 29)
→ Ein „höher begabtes Wesen“ will auf keinen Fall „in jene Daseinsweise absinken […], die es als niedriger
empfindet“ (U 31)
2. Glück versus Zufriedenheit
Es ist unbestreitbar, dass ein Wesen mit geringerer Fähigkeit zum Genuss die besten Aussichten hat, voll
zufrieden gestellt zu werden; während ein Wesen von höheren Fähigkeiten stets das Gefühl haben wird, dass
alles Glück, das es von der Welt, so wie sie beschaffen ist, erwarten kann, unvollkommen ist.“ (U 31 f.)
1) Zufriedenheit verwendet im Sinne von ‚sich zu schnell zufrieden geben‘. 2) Wenn Mill davon schreibt,
daß geringe Fähigkeiten zum Genuß die besten Aussichten auf Zufriedenheit gewährleisten, wird nochmals
klar, daß Genuß eben nicht in rein sinnlichem Sinne gemeint ist. 3) Zu dieser stärker ausgeprägten,
„höheren“ Genußfähigkeit gehört anscheinend eine gewisse Unzufriedenheit dazu (Bewußtsein der
Unvollkommenheit des erwartbaren Glücks ). 4) Damit ist neben der Einführung der qualitativen
Unterscheidung von verschiedenen Arten der Freude eine weitere Ausweitung des Glücksbegriffs gegeben:
Glück im Millschen Sinne ist nicht auf plattes Wohlbefinden reduziert, im Gegenteil: „Es ist besser, ein
unzufriedener Mensch zu sein als ein zufriedenes Schwein.“ (U 33) 5) Mill geht über momenthafte
Empfindungen der Lust oder Unlust weit hinaus und zielt auf Präferenzen, also auf wohlinformierte
Interessen ab. 6) Zu berücksichtigen, „daß Mill mit diesem Begriff […] sehr starke Anforderungen verbindet,
so daß eigentlich nur das Glück der ‚Gebildeten‘ zählt, während das Glück eines einfachen, ungebildeten
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Menschen der falschen Zufriedenheit eines Narren assimiliert wird.“ 2 Allerdings Ziel einer Gesellschaft, in
der jede/r Zugang zu Bildung hat …
3. Glück und Gefühl der Würde (Selbstachtung): Mögliche Ursache für diese höheren Anforderungen an das
Glück: „ein Gefühl der Würde“ (U 31), welches Mill so beschreibt, daß es
allen Menschen in der einen oder anderen Weise und im ungefähren Verhältnis zu ihren höheren Anlagen zu
eigen ist und das für die, bei denen es besonders stark ausgeprägt ist, einen so entscheidenden Teil ihres
Glücks ausmacht, dass sie nichts, was mit ihm unvereinbar ist, länger als nur einen Augenblick lang zu
begehren imstande sind, (U 31).
→ Bei jenen Menschen, bei denen das Gefühl der Würde „besonders stark ausgeprägt ist“ (U 31), macht genau
diese Selbstachtung einen „entscheidenden Teil ihres Glücks“ aus (U 31). „Kein Glück ohne Unabhängigkeit,
keine echte Zufriedenheit ohne begründete (nicht bloß wahnhafte) Selbstachtung, keine Erfüllung in Abhängigkeit
und Erniedrigung. Dieser Begriff vom Glück hat Sprengkraft […]. Die Antizipation ‚höherer Freuden‘ dient so
nicht der Denunziation der Tiere und Narren, sondern der Rebellion.“ (Wolf 1992, 65)
Mögliche Ursachen, die das Erreichen von Glück verhindern: a) Wenn der Mensch „ein leidlich günstiges
äußeres Schicksal“ hat (U 43) und trotzdem nicht glücklich ist, dann liegt die Ursache für Mill häufig im
Egoismus: „Wem jede Gefühlsbindung – sei es an die Gemeinschaft, sei es an einzelne Menschen – abgeht,
dem sind die Reize des Lebens erheblich beschnitten“ (U 43). b) „Mangel an geistiger Bildung“ (U 45):
Nach Mills Bildungsbegriff geht mit Bildung Interesse einher, vielfältigstes Interesse an allen Dingen der
Umgebung. Und dieses Interesse – in Entgegensetzung zur Gleichgültigkeit – ist auch dem Glück förderlich:
„In einer Welt, in der es so viel gibt, das Interesse erregt, so viel, das Freude macht, so viel auch, das es
richtigzustellen und zu verbessern gilt, ist jeder, der die bescheidenen charakterlichen und intellektuellen
Anforderungen erfüllt, eines Daseins fähig, das beneidenswert genannt darf.“ (U 45) ⇒ Hoher Stellenwert
der Erziehung: Mill geht davon aus, daß „[d]ie Fähigkeit, edlere Gefühle zu empfinden“ „eine äußerst zarte
Pflanze (ist), die nicht nur an widrigen Einflüssen, sondern schon an mangelnder Pflege zugrunde gehen
kann“ (U 33 f.) → Ist diese Pflege nicht vorhanden, werden sich die Menschen nur noch sogenannten
„niedrigen Vergnügungen“ widmen, und zwar „nicht deshalb“, „weil sie sie bewusst vorziehen, sondern weil
diese die einzigen sind, die ihnen erreichbar und zu deren Genuss sie noch fähig sind.“ (U 35). → Aber:
„Erbteil“ von Menschen „in einem zivilisierten Land“, eine „gewisse geistige Kultur“ zu haben (U 45):
Etwas Höheres als dies ist selbst jetzt schon verbreitet genug, um einen Vorgeschmack davon zu geben,
wohin die menschliche Gattung geführt werden könnte. Persönliche Gefühlsbindungen und ein aufrichtiges
Interesse am Gemeinwohl sind – wenn auch in unterschiedlichem Maße – jedem rechterzogenen Menschen
möglich. (U 45)
c) Betroffensein „von den größten Übeln des Lebens“, die die „Hauptursachen körperlichen und seelischen
Leids“ ausmachen („Not, Krankheit, und [die] Herzlosigkeit, Unwürdigkeit und de[r] vorzeitige Verlust
derer, die wir lieben“; U 47). → Überzeugung, daß alle diese „wirklich großen Übel in der Welt“ (wenn auch
nicht leicht oder schnell) beseitigt werden könnten – durch den Forschritt der Wissenschaften, durch die
Besserung der gesellschaftlichen Verhältnisse sowie verantwortungsvollen Umgang auch mit der eigenen
Person.
⇒ Bestimmung eines glücklichen Lebens: „nicht ein Leben überschwenglicher Verzückung“, sondern ein
glückliches Leben beinhaltet
einzelne Augenblicke des Überschwangs inmitten eines Daseins, das wenige und schnell vorübergehende
Phasen der Unlust, viele und vielfältige Freuden enthält (mit einem deutlichen Übergewicht der aktiven
über die passiven) und dessen Grundhaltung es ist, nicht mehr vom Leben zu erwarten, als es geben kann.
Jedem, dem ein derartiges Leben vergönnt war, erschien die Bezeichnung Glückseligkeit als angemessen.
(U 41)
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Jean-Claude Wolf: John Stuart Mills „Utilitarismus“. Ein kritischer Kommentar. Freiburg i. Breisgau u. München:
Alber 1992, 62 (Fn. 26).
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