Das Knochenhaueramtshaus in Hildesheim

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Das Knochenhaueramtshaus in Hildesheim
Jürgen Paul
Das Knochenhaueramtshaus in Hildesheim – post mortem. Vom Nachleben
einer Architektur als Bedeutungsträger
aus: Ferdinand Stuttmann und Gert von der Osten (Hrsg.): Niederdeutsche Beiträge zur Kunstgeschichte Bd. 18. München Berlin 1979, S. 129–
148
Dem Gedenken an Günter Bandmann gewidmet*
Am 22. März 1945 wurde das alte Hildesheim mit seinen romanischen Kirchen und seinem
einzigartigen geschlossenen Stadtbild reich dekorierter Fachwerkhäuser durch Bomben zerstört. Die einst bedeutende Bischofs- und Bürgerstadt, die seit dem 19. Jahrhundert in den
hannoverschen und preußischen Provinzschatten gesunken war, verlor damals ihre Identität
als "Nürnberg" oder "Rothenburg des Nordens". So stark wie kaum in einer anderen deutschen Stadt stand die Frage des Wiederaufbaus unter dem Zeichen des historischen Identitätsverlustes. Das geradezu qualvolle Ringen um dieses Problem konzentrierte sich auf die
Auseinandersetzungen um die Gestaltung des Altstadtmarktes, einst Kern und städtebaulicher Höhepunkt des historischen Hildesheim. Sofort nach Kriegsende erhoben sich die
Stimmen, die eine rekonstruierende Wiederherstellung des historischen Marktplatzes, insbesondere aber und unter allen Umständen den Wiederaufbau des Knochenhaueramtshauses
forderten. Während sich die Wiederherstellung der Kirchen unangefochten und lautlos vollzog, begann um die Frage von Marktplatz und Knochenhaueramtshaus ein erbitterter
Kampf, der fast 15 Jahre mit weltanschaulicher Vehemenz geführt wurde und die Öffentlichkeit der Stadt in zerstrittene Lager teilte. Der Hildesheimer Altstadtmarkt ist längst wieder
zugebaut. Er stellt sich als ein eher lebloser großer Platz dar, doppelt so groß wie vor der
Zerstörung. Die neugewonnene Fläche wird als Parkplatz genutzt. Das etwas verändert und
vereinfacht wiederhergestellte gotische Rathaus und die alte Fassade des Tempelhauses
erinnern an die Geschichte. An der Stelle des Knochenhaueramtshauses steht nun der hochaufgerichtete Kubus eines Hotelbaus, auf den unbefangenen Besucher eher unauffälligalltäglich, um nicht zu sagen banal wirkend, so daß man ihm in seiner städtebaulichen und
architektonischen Umgebung kaum das gestalterische Bemühen ansieht, als Nachfolger
eines versunkenen berühmten Baudenkmals etwas Besonderes sein zu wollen.
Der Wiederaufbau des Knochenhaueramtshauses ist trotz der populären Emotionen, die ihn
sich wünschten, verhindert worden. Die Kräfte, die an ihm nicht interessiert oder mit aller
Überzeugung dagegen waren, hatten die größere Macht. Doch der augenscheinliche Pragmatismus, der damals gesiegt hatte, war nur eine Facette eines verworrenen Geflechts von
widerstreitenden ideologischen, kultur- und realpolitischen Kräften, Vorurteilen, Konventionen und Emotionen, stadtbautheoretischen, architekturästhetischen und denkmalpflegerischen Argumenten, das ein scharfes Licht auf den tiefen historischen Bewußtseinszwiespalt
im (nicht nur Städte) wiederaufbauenden Nachkriegsdeutschland wirft.
Aus heutiger Distanz, angesichts der fast wieder zu "Originalen" gewordenen rekonstruierten Innenräume barocker Schlösser und Kirchen zwischen München, Bruchsal und Berlin,
angesichts des längst historisch und sogar denkmalpflege-theoretisch legitimierten polnischen Wiederaufbaus und mannigfacher unbekümmerter Rekonstruktionsprojekte wie an
Frankfurts Römerberg oder für einen neuen Leibnizhausgiebel in Hannover, fragt man sich,
warum die Hildesheimer ihr Knochenhaueramtshaus nicht wiederhaben durften, wo es ihnen
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doch so viel wert war. Wie stark die Symbolbedeutung des Knochenhaueramtshauses als
Wahrzeichen dieser Stadt noch heute weiter wirkt, läßt sich in Hildesheim vor den vielen
Darstellungen, denen man auf Schritt und Tritt begegnet, nacherleben. Dennoch ist diese
offensichtlich so tief verwurzelte Popularität gar nicht sehr alt. Sie hat bis zur Zerstörung
nur etwa 50 Jahre gedauert. Im 19. Jahrhundert wäre das Haus noch um ein Haar abgebrochen worden.
1529 wurde es auf der Westseite des Marktes an der Stelle der alten Fleischbänke als
Amts-, d.h. Gildehaus der Knochenhauer gebaut. Der mächtige Fachwerkbau war mit seinem durch figürliche Knaggen und ornamentale Friese reich verzierten Giebel von respektablen 26 m Höhe dem Platz und dem Rathaus zugewandt. Im Erdgeschoß verlief der offene
Durchgang der Fleischbänke; über einem Zwischengeschoß lag der 3,5 m hohe große Saal,
der für Sitzungen und Feste wie zur Rechtsprechung diente; darüber waren Speichergeschosse. 1807, nach Auflösung der Ämter, wurde das Haus Staatseigentum. 1810 aber taten sich 15 Meister der Knochenhauer in altem Gildestolz, jedoch privat, zusammen, um es
vom Staat zu ersteigern. Dennoch begann damals eine Verfallsperiode des Knochenhaueramtshauses, das für alle möglichen Festlichkeiten und an Schausteller frei vermietet wurde
und von dem zu jener Zeit nie als etwas Besonderem die Rede war. 1853 kaufte es die
Stadt, weil sie inzwischen ihre Sparkasse darin eingerichtet hatte. In einem Gutachten stellte der Stadtbaumeister Schütte fest: "Ein etwaiger Ausbau dieses alten, immerhin merkwürdigen Gebäudes für irgendeinen städtischen Zweck ist in jeder Hinsicht zu kostspielig
und nicht rätlich", und plädierte für den Abbruch. Dagegen protestierte erfolgreich der Senator Hermann Römer, der Gründer des Hildesheimer Museums.
Erst damals begann die Berühmtheit des Knochenhaueramtshauses, wobei das technologische Interesse dem historischen vorausging. Es war die Faszination für das vollendete
handwerkliche Können der kühnen Konstruktion, die das "schönste Holzhaus der Welt", wie
es Viollet-le-Duc genannt haben soll, zum Objekt ästhetischer Bewunderung werden ließ
und es zu einem Denkmal lokalgeschichtlichen Bürgerstolzes und zu einem nationalen Monument deutscher Geschichte erhob.
1884 brach im Dachstuhl ein Feuer aus, Dach und Giebel brannten bis auf die Balken des
zweiten Geschosses herunter. Doch der Wiederaufbau war nun schon keine Streitfrage
mehr. Der Giebel wurde bis 1886 als freie Nachschöpfung für 30 0000 Mark neu errichtet,
und dem ganzen Bau eine bunte Farbigkeit aufgrund originaler Befunde gegeben, obwohl
der Hannoversche Baudirektor und Neugotiker Konrad Wilhelm Hase in konservativer Gesinnung heftig gegen diese Zerstörung "des machtvollen Eindruckes" des Bauwerkes protestierte.
Der Ruhm des Knochenhaueramtshauses in Hildesheim ist fest verknüpft mit den erstarkenden patriotischen Gefühlen im Zweiten Kaiserreich, der Besinnung auf die nationale Tradition und der Suche nach einer nationalen deutschen Kultur- und Kunstgeschichte. Neben das
politische Leitbild des hochmittelalterlichen Kaisertums war das gesellschaftliche des spätmittelalterlichen Bürgertums getreten. Alt-Nürnberg war sein Denkmal und Hildesheim wurde zum "Nürnberg des Nordens". Das Knochenhaueramtshaus wuchs in die Rolle eines hisSeite 2
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torischen Nationaldenkmals, das monumentalste unter allen Holzhäusern Deutschlands"
(Georg Dehio)1, das Hauptwerk deutscher Fachwerkbaukunst wurde zu einem Inbegriff
handwerklicher Kultur und gleichwertig mit den kaiserlich-ritterlichen Kunstwerken der romanischen Dome.
Schon damals war die Funktion des Knochenhaueramtshauses nur noch eine museale. 1910
wurde die zuletzt darin befindliche Volksbücherei und Pfandleihe ausgesiedelt und das Gebäude bis 1912 als Kunstgewerbemuseum eingerichtet. Wie stark sich die Denkmalbedeutung auf das Äußere konzentrierte, zeigt sich daran, daß man ohne Bedenken wesentliche
Veränderungen im Inneren vornahm. Der Ausbau war eine Gemeinschaftsarbeit der Stadt
und – darauf wurde großer Wert gelegt – der Handwerkerschaft und des neugegründeten
Vereins für Kunst und Kunstgewerbe2. Seine Ruhmeshymnen hat das Knochenhaueramtshaus naturgemäß mehr im populären als im wissenschaftlichen Bereich erhalten. Sie ließen
sich in großer Zahl zitieren. Doch darauf sei hier verzichtet.
Diese Aura schwebte nun sozusagen über dem flachen Aschenhaufen, der 1945 von dem
Wahrzeichen Alt-Hildesheims übriggeblieben war, und belastete alle Fragen einer neuen
Zukunft mit einer ungeheuren emotionalen Hypothek von Anfang an. Die städtische Bauverwaltung unter ihrem Leiter Bernhard Haagen versuchte, sich dieser mit einer auf technische und wirtschaftliche Argumente gegründeten, oft prononciert pragmatischen städtebaulichen Planungsstrategie zu entziehen; doch dem riesigen Schatten des Knochenhaueramtshauses konnte sie nicht entweichen.
Bereits 1947 war als Gegengewicht zur städtischen Bauverwaltung eine unabhängige Baudeputation von Bürgern gegründet und vom Rat der Stadt anerkannt worden. Sie hatte anfangs einen großen öffentlichen Einfluß, wurde aber später von der Bauverwaltung praktisch
ausgeschaltet. Ihre Wortführer Joseph Bohland und der Mediziner Otto Beyse forderten von
Anbeginn an den Wiederaufbau des Knochenhaueramtshauses. "Der Aufbau unserer Innenstadt ist kein Bauvorhaben, sondern eine Kulturtat", hielten sie der Baubehörde entgegen3.
Der Hildesheimer Marktplatz war etwas Besonderes, Einmaliges. Er mußte wieder etwas
Besonderes, Einmaliges werden. Das stand als Verpflichtung fest. Doch sollte dies dadurch
geschehen, daß man den alten Markt in seiner historischen Form "wiederauferstehen" läßt
oder mit dem Ziel, "ein Kunstwerk aus neuem Geiste" zu schaffen, daß man "das Alte wieder zum Leben erweckt" oder "im Stile unserer Zeit neu baut"? Von der Forderung nach
einer vollständigen Rekonstruktion der zerstörten Bauten um den Platz bis zu dem Bedauern, daß die Ruinen des Rathauses und des Tempelhauses stehen geblieben waren (kurz
nach Kriegsende wurde angeblich auf Befehl der amerikanischen Besatzung die stehengebliebene Rokoko-Fassade des Lüntzelhauses niedergelegt) und damit einer konsequent
modernen Lösung im Wege standen, reichten die Extreme; dazwischen das breite Spektrum
des Wunsches nach einem Kompromiß zwischen Alt und Neu mit der Beschwörung schemenhafter Formeln von "Geist", "Atmosphäre", "Charakter" und "Rhythmus". Doch die Trennungslinie zwischen den Fronten bildete die Frage einer Rekonstruktion des Knochenhaueramtshauses, ob das "einstmals weit über Hildesheim hinaus bekannte schönste Gebäude
des Marktplatzes (das als Umschlagbild des amerikanischen Bildbandes "Lost treasures of
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European art" ausgewählt war) als einziges Fachwerkhaus neu erstehen sollte", wie Joseph
Bohland forderte4.
Das erste wichtige Ereignis in der Wiederaufbaugeschichte des Hildesheimer Marktplatzes
bildete der städtebauliche Wettbewerb im Jahre 1949, von dem man sich konkrete Lösungsvorschläge als Ausweg aus dem aufgebrochenen Streit erhoffte. Das Preisgericht des
Wettbewerbs übernahm die Grundsätze der Baudeputation: die Wahrung der alten Fluchtlinien und eine "besondere räumliche Durchbildung"; die heikle Frage der Rekonstruktion
des Knochenhaueramtshauses wurde dabei jedoch ausgespart.
In den aus Anlaß dieses Wettbewerbs gefallenen programmatischen Zitaten kommt das
ganze kulturphilosophische Dilemma zwischen dem Bedürfnis, die "Geschichtlichkeit" des
Stadtbildes wiedererstehen zu lassen, und der geschichtsethischen Ablehnung der reinen
Kopie zum Ausdruck. Auch das neue Hildesheim müsse den "Charakter der alten kunstsinnigen Handwerkerstadt tragen", empfahl z. B. der Landeskonservator Hans Deckert, doch
gleichzeitig warnte er vor "falscher Romantik"5. Für eine Lösung "zwischen den Extremen"
wollte sich das Preisgericht entscheiden; das "neue Hildesheim müsse von dem Geiste zumindest angeweht sein, der die Eigenart der alten Stadt erstehen ließ".
Etwa 60 lokale Architekten beteiligten sich an dem Wettbewerb. Doch ein erster Preis wurde
nicht vergeben. Das Ergebnis wurde zum Ausdruck der allgemeinen Ratlosigkeit und der
Entscheidungsprobleme aller Beteiligten. Dabei tauchte in einem eingereichten Projekt auch
zum erstenmal der Vorschlag auf, den Platz nicht in seinen alten Maßen aufzubauen, sondern an seiner Nordseite zu erweitern und damit in der Fläche zu verdoppeln. Dieser Plan
verließ nicht nur die alten Platzfluchtlinien, sondern durchbrach darüber hinaus quer die
parallelen Zeilen des regelmäßigen historischen Stadtgrundrisses. Der Vorschlag der Platzerweiterung wurde von nun an zur Hauptstreitfrage, in der das heiße Eisen des Knochenhaueramtshauses verpackt wurde. Das Argumente, die alte Platzgröße reiche für die modernen Bedürfnisse, insbesondere des Verkehrs nicht aus, die Platzerweiterung müsse daher
also Priorität haben, schaffe aber eine völlig neue städtebauliche Situation, in der sich der
Streitpunkt der Rekonstruktion des Knochenhaueramtshauses von selbst erledige, wurde als
Gretchenfrage für oder gegen eine ernstzunehmende zeitgemäße Gesinnung denen vorgehalten, die die alte historische Räumlichkeit und das alte Fachwerkhaus wiederherzustellen wünschten. Von nun an wurde die Frage der Platzerweiterung zum willkommenen Sachzwang erhoben. Daß sie aus verkehrstechnischen Gründen notwendig sei, und daß diese ein
besonderes Gewicht hätten, wagten nicht einmal ihre Gegner zu bestreiten; sie bestritten
nur, daß sie Priorität vor den Verpflichtungen für die Wiederherstellung der historischen
Platzform haben müsse. Eine Probeabstimmung im Rat ergab eine Mehrheit für die Platzvergrößerung. Das Preisgericht des Wettbewerbs sprach sie schließlich als Empfehlung aus.
Ohne Rücksicht auf die noch offenen städtebaulichen und gestalterischen Fragen, deren Lösung vergeblich von dem Wettbewerb erwartet worden war, begann die städtische Sparkasse 1949 an der Stelle des abgebrannten Wedekindhauses einen Neubau zu errichten. Wegen
der Empörung über die damit geschaffene vollendete Tatsache wurde nachträglich der Göttinger Architekt Diez Brandi, zweiter Preisträger des städtebaulichen Wettbewerbs, hinzugeSeite 4
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zogen, der der Platzfront des Gebäudes zwei Ausluchten in Anspielung an das zerstörte Wedekindhaus hinzufügte und der Fassade mit dekorativen Details und einem geraden oberen
Abschluß einen künstlerischen Anspruch gab, der wiederum heftige Kritik hervorrief. In den
folgenden Jahren erhielt auch dieser Bau eine entscheidende Rolle in der Frage nach einer
der historischen Verpflichtung bzw. den Forderungen der Gegenwart angemessenen gestalterischen Lösung der Platzarchitektur. In seiner Beurteilung schieden sich die Geister: den
einen war er zu modern und fremd, den anderen zu romantisch und unehrlich, den dritten
erschien er als geradezu programmatisch vorbildliche baukünstlerische Form zwischen den
Extremen.
In den Jahren 1950 bis 1953 erreichte der Streit seinen Höhepunkt. Die Planungsdiskussion
auf offizieller Ebene stand vor dem Hintergrund einer leidenschaftlichen öffentlichen Auseinandersetzung. Umfragen unter der Bevölkerung wurden veröffentlicht, um zu beweisen,
daß eine breite Mehrheit für die Beibehaltung der alten Marktplatzform und den Wiederaufbau des Knochenhaueramtshauses sei. Versammlungen, öffentliche Aussprachen und Vorträge wurden abgehalten, Lesermeinungen und offene Briefe publiziert, Autoritäten für und
wider zitiert und die Volksseele beschworen ("Leute sprechen den Besucher in Hildesheim
auf der Straße an: helft, rettet unseren Marktplatz!")6. Eine Urabstimmung der Bevölkerung
wurde verlangt und vom Rat mit einer Stimme Mehrheit abgelehnt (27.3.1950). Die gesamte deutsche Presse berichtete darüber. Der Tenor reichte vom Belächeln des Provinzialismus
bis zum Beklagen einer nationalen Tragödie.
Dem Stadtbauamt wurde "auffallende Hast, vollendete Tatsachen zu schaffen", "der Bevölkerung eine Gestaltung des Marktplatzes aufzuzwingen", die diese nicht wolle, vorgeworfen7. Das Problem des Knochenhaueramtshauses wurde in den offiziellen Planungsdiskussionen meist ausgespart oder nur indirekt behandelt. Einmal jedoch bot die Stadt in einer
taktischen Flucht nach vorn die Rekonstruktion von sich aus an. Sie erklärte sich bereit, das
Grundstück den Handwerkerinnungen für einen Wiederaufbau des Knochenhaueramtshauses, allerdings auf deren Kosten und ohne öffentliche Gelder, zur Verfügung zu stellen. Die
Auflage war, daß die notwendigen Mittel in einer gesetzten (und sehr kurz bemessenen)
Frist nachzuweisen seien. Sie reagierte damit auf die Beschwörung des berühmten Fachwerkhauses als Denkmal handwerklicher Kunst und als Antibild der Technik. 1949 hatte der
stellvertretende Obermeister der Baugewerbeinnung festgestellt: "Der Wettbewerb hat gezeigt, daß viele Professoren schon an dieser Stelle durchgefallen sind; wenn es darum geht,
eine bodenständige (Architektur) zu schaffen, dann gehört mehr dazu als Tabellenweisheit.
Die Tat muß zeigen, daß das Handwerk noch lebt." Und an anderer Stelle wurde ausgerufen: "Handwerkskameraden, haltet die Front und baut euer Knochenhaueramtshaus wieder
auf!"8 Auf einer großen Kundgebung am 5.1.1950 bekräftigte der Präsident des deutschen
Fleischerhandwerks: "Dieser Wiederaufbau ist der Wunsch des gesamten deutschen Handwerks", und sich gegen die Argumentation von der Priorität wirtschaftlichen Aufbaus wendend forderte er, "das Hohe Lied des Handwerks zu singen, das im Bundesgebiet 6 Millionen
Menschen beschäftigt und einen Umsatz von 20 Milliarden aufweist"9. Das Gutachten des
Zimmerobermeisters verwahrte sich gegen die Behauptung, daß die heutigen Handwerker
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nicht in der Lage seien, ein solches Haus zu bauen. "Ich kann nur wünschen, daß wir hier in
Hildesheim ein einziges Mal Gelegenheit bekommen, in Gemeinschaftsarbeit an einem öffentlichen Gebäude, wie es der Aufbau unseres Knochenhaueramtshauses darstellt, zu zeigen, welche Leistungen wir Nachfahren berühmter Vorfahren erzielen können10 ." Die Gelder
wurden jedoch nicht aufgebracht. Gleichzeitig aber wurde ein Verein zur Förderung des
Wiederaufbaus des Knochenhaueramtshauses gegründet, der sich mit den Vorarbeiten für
die technischen Unterlagen eines Wiederaufbaus beschäftigte und ein Teil-Bildhauerstück
anfertigen ließ.
Im April 1950 beschloß der Rat der Stadt, vier Architekten bzw. -gruppen aus Hildesheim
und Hannover zu Planungsgutachten aufzufordern. Der prominenteste unter ihnen war der
Paul-Bonatz-Schüler Gerhard Graubner, Professor an der Technischen Hochschule Hannover, der später die städtischen Verwaltungsgebäude am erweiterten Marktplatz baute. Diese
Gutachterkommission kam zu dem Ergebnis, daß die Marktplatzvergrößerung zu begrüßen
und ein Wiederaufbau des Knochenhaueramtshauses damit von selbst erledigt sei. Graubner
empfahl, an der alten Stelle "aus neuem Geist ein Gebäude zu errichten, das der früheren
Bedeutung dieses Hauses, seiner Gestaltung und seinem Inhalt nach entspricht, trotzdem
aber auf die vollkommen veränderte städtebauliche Situation eingeht und diese in einer anerkennenswerten Weise zum Ausdruck bringt"11 .
Da der Streit sich in der Öffentlichkeit immer weiter erhitzte, beschloß der Rat 1951 eine
neue, sog. Oberkommission zur Beurteilung der Marktplatzfrage zu berufen. Ihr sollten vor
allem acht "namhafte Sachverständige" angehören. Unter den Hinzugezogenen waren nun
Paul Bonatz selbst, Werner March, der Erbauer des Berliner Olympia-Stadions, damals mit
dem Wiederaufbau von Dom und Rathaus in Minden beschäftigt, Friedrich Tamms, vor 1945
Entwerfer monumentaler Autobahnbrücken, damals Stadtbaudirektor in Düsseldorf, wo er
großzügige Verkehrslösungen mit Stadtautobahnen und neuen Rheinbrücken verwirklichte12 ,
der Stadtbaudirektor Herbert Böhm aus Frankfurt sowie der Oberbaurat Hans Speckter aus
Hamburg, Verfasser einer Dissertation über die "raumkünstlerische Entwicklung der Stadt
Paris"13 . Dazu kamen als Vertreter der Denkmalpflege der ehemalige Konservator der
Kunstdenkmäler in Preußen Robert Hiecke und der neue niedersächsische Landeskonservator Oskar Karpa. Dezidiert für die alte Platzform und den Wiederaufbau des Knochenhaueramtshauses sprach sich von den Architekten nur Speckter aus. Doch über die Frage der
Platzerweiterung erhob sich eine heftige Kontroverse zwischen Bonatz und March14 . Jener
befürwortete die Erweiterung aus Verkehrsgründen, dieser wandte sich aus denkmalpflegerischen Gründen gegen den Eingriff in die historische Struktur und aus stadtbaufunktionalen
Gründen gegen die Öffnung der Innenstadt für den Verkehr. Bonatz schwärmte für Graubners Entwurf mit der "starken Betonung der historischen Stelle des Knochenhaueramtshauses durch einen stark überhöhten einfachen Kubus" und meinte, der Blick über den erweiterten Markt "kann eines der schönsten Platzbilder Deutschlands werden"15 .
Auf der allgemeinen Ebene lagen die Fronten viel weiter auseinander als zwischen den Architekten. Für beide Seiten in diesem Streit war die Rechtfertigung oder die Ablehnung der
Kopie eines völlig zerstörten Baudenkmals ein Prüfstein in der Frage des Verhältnisses zur
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Geschichte und Gegenwart, in die alle geistigen, kulturellen, politischen und sozialen Werte
eingeschlossen wurden. Die Auseinandersetzung wurde geführt als ein moralischer Kampf,
der auf beiden Seiten von der Kunstgeschichte bis zur Philosophie, von der Gesellschaftstheorie bis zur Politik die ganze Wahrheit, das wahre Verständnis für die Geschichte, die
geistige Bildung, die echten Gefühle, die soziale Einstellung als Teil der eigenen Weltanschauung für sich in Anspruch nahm und folglich den anderen absprach. Die einen beriefen
sich auf das rationale Urteil von Wissenschaft und Sachverstand, die anderen auf die spontanen Emotiόnen und Wünsche der Bevölkerung. Das Urteil höchster Instanz beanspruchten
die Architekten für sich, nicht nur als Techniker und Planer, sondern mehr noch in ihrer Rolle als Künstler. Und insbesondere Männer wie Bonatz und Schmitthenner haben diesen universalen Anspruch der historischen und kulturellen Zuständigkeit des Architekten stark betont. So wurden in einer Umfrage, die die Zeitschrift "Merian" in einem Hildesheim gewidmeten Heft (Februar 1952) veranstaltete, mit Ausnahme des Heimatforschers Otto Beyse,
nur Architekten und Städtebauer angesprochen16 . Zusätzlich zu den Sachverständigen der
Kommission von 1951 – Bonatz war nicht mehr dabei – antworteten auf die Frage "Soll man
das Knochenhaueramtshaus wieder aufbauen?": Richard Riemerschmidt, Walter Gropius,
Paul Schmitthenner, Rudolf Schwarz (der damals in Köln den Wiederaufbau der romanischen Kirchen vorantrieb), Hans Bernhard Reichow (der Theoretiker der verkehrsgerechten
Stadt17 , damals Generalplaner von Wolfsburg) und Johannes Göderitz (einst Mitarbeiter von
Bruno Taut in Magdeburg, damals Stadtbaurat von Braunschweig). So verschieden, ja antagonistisch diese Architekten zueinander standen, alle waren sich einig, daß eine Rekonstruktion des zerstörten Knochenhaueramtshauses aus moralischer Verantwortung vor der Geschichte nicht erlaubt sein könne. Es ist die kunstgeschichtliche Ethik von der alleinigen Gültigkeit des Originären, des schöpferischen Originals, deren unerbittliches Postulat in diesen
Äußerungen beschworen wurde und – dabei immer dem Gegner die Argumente aus den
Händen schlagend – von der Bildungsfrage des guten Geschmacks (Göderitz: "schlechte
Theaterdekoration"), der geschichtlichen Moral (Schmitthenner: "... keine Ehrfurcht sondern
eine Respektlosigkeit") bis zum höchsten lebensphilosophischen Pathos (Tamms: "Untergegangenes in alter Form wiederherzustellen, hieße Tote erwecken") und dem Appell an die
Ehrlichkeit der Gefühle reichte (Herbert Böhm: "Kultur des Herzens erweist sich nicht zuletzt
in der Fähigkeit, mit Anstand von einem geliebten Wesen – Mensch, Haus, Gegenstand –
Abschied nehmen zu können; hier in Hildesheim muß Abschied genommen werden, denn:
Stil ist die unverwechselbar-einmalige und daher unwiederholbare Ausprägung einer bestimmten kulturellen, weltanschaulichen und gesellschaftlichen Zeitlage").
Stattdessen wurde an das vitale kulturelle Selbstvertrauen als wahre Verantwortung vor der
Geschichte und gesellschaftliche, ja, nationale Aufgabe appelliert. "Es wird notwendig sein,
bei den Aufbauarbeiten unserer Zeit nicht Jahrhunderte zurückzuschauen, sondern vorausschauend das zu schaffen, was wir und die heranwachsende Jugend heute und in Zukunft
benötigen" (Tamms). Statt "sich aus einer harten und großen Verlegenheit mit einer kleinen
Verlogenheit herauszuhelfen" (Riemerschmid), solle man "einen neuen Phoenix aus der
Asche wachsen lassen, einen kühnen modernen Bau als zukunftsweisendes Zeichen eines
modernen Deutschtums" (Gropius). "Hier muß ein Bau... geplant und errichtet werden, der
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durch die hervorragende Lösung bis in die baulichen Einzelheiten seinen besonderen künstlerischen Wert und seine städtebauliche Bedeutung erhalten kann" (Graubner). Paul
Schmitthenner fand bereits den Ansatz der "rechten Baugesinnung": "Ein treffliches Beispiel
für das Rechte an seinem Platz ist die neue Sparkasse von Prof. Brandi. Diese zeigt ein Fortschreiten im Respekt vor dem Alten, ohne 'fortschrittlich' zu sein. Man folge diesem Beispiel". Dagegen meinte Rudolf Schwarz: "Ich kenne einen Neubau in Hildesheim, der versucht, eine alte Form in mißverstandener Weise zu interpretieren, und dieser Bau ist ohne
Zweifel völlig mißlungen... Es gibt nur die Möglichkeit, von allerbesten neuzeitlichen Baukünstlern neue Häuser errichten zu lassen. Wenn man aber, wie offenbar in Hildesheim geschehen, minderwertige und mißverstandene Dinge hinbaut, möchte man fast wünschen,
die Bauherrn hätten lieber, so gut sie es konnten, die alten Bauten wieder hingestellt."
Die Apodiktik der geschichts- und kulturphilosophischen Verabsolutierung des kunsthistorischen Originalbegriffes ist nur in der Stellungnahme von Werner March relativiert. March,
aus architekturästhetischen Gründen zwar genauso gegen eine Rekonstruktion, war als einziger bereit zu erkennen, daß es sich in diesem Streit nicht nur um ein technisches und ästhetisches Problem handelte, sondern daß es hier um ganz irrationale Bedürfnisse nach
Identifikation, um elementare Ängste vor Heimatlosigkeit ging, die sich in den Wunsch nach
Wiederaufbau des zerstörten Wahrzeichens hineinsteigerten und seinen emotionalen Bedeutungsgehalt noch verstärkt hatten. March schrieb: "Ist aber das Knochenhaueramtshaus
wirklich das Wahrzeichen der einstigen Fachwerkstadt Hildesheim schlechthin und als Sinnbild folgerichtiger Zimmermannskunst noch heute so unlösbar mit dem Heimatgefühl der
Hildesheimer verbunden, daß sie sich zu einem Wiederaufbau entschließen, entstände auch
so ein Denkmal der Gesinnung unserer Tage, dem man nicht einseitig mit ästhetischer
Doktrin wird begegnen dürfen."
Direkt aufeinander bezogen waren die Stellungnahmen des Münchner Architekten Otto Völckers (damals bekannt als Theoretiker einer modernen Bautechnologie, des Bauens mit Glas
und Verfasser eines Kompendiums von Standardgrundrissen) und des Hildesheimer Mediziners und Heimatforschers Otto Beyse, eines der Wortführer für den Wiederaufbau des Knochenhaueramtshauses. Völckers schrieb: "Die wörtliche Wiederaufrichtung eines völlig zerstörten großartigen Baudenkmals kommt als sentimental-kleinbürgerliche Entgleisung und
Geschmacksverirrung so wenig in Frage wie der törichte Versuch, einen Toten durch Anfertigung einer lebensgroßen und 'täuschend ähnlichen' Wachsfigur wiedererwecken und ehren
zu wollen. Sie bedeutet Mißachtung einer großen Leistung der Vergangenheit, Verkennung
der Aufgaben und Kräfte der Gegenwart, Blindheit gegen geschichtliche Vorgänge und eine
bedauerliche Unempfindlichkeit gegen den Fluch der Lächerlichkeit. Die Steuerkraft der Bürgerschaft (sollte) für andere und wichtigere Aufgaben geschont werden." Dagegen Otto
Beyse: "Wenn kürzlich in einer bekannten Architekturzeitschrift18 vom Wiederaufbau eines
klassizistischen Gebäudes am Odeonsplatz in München als Kopie nach den alten Plänen berichtet wird und einige Seiten weiter ein Architekt bemüht wird, um den Wiederaufbau des
Knochenhaueramtshauses als dilettantische und laienhafte Forderung abzulehnen, so zeigt
diese völlig gegensätzliche Gegenüberstellung, daß diese Frage nicht vom Architekten ent-
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schieden werden kann, sondern allein vom Bauherrn der Stadt, d. h. dem Bürger (nicht dem
Einwohner) entschieden werden muß, da es sich nicht um eine Beurteilungsfrage noch so
bedeutenden Spezialwissens handelt, sondern um ein rein geistiges Problem, eine Frage der
menschlichen Einstellung, bei der sich rationaler Materialismus und seelisches – keineswegs
sentimentales – Bedürfnis und Verlangen gegenüberstehen zusammen mit der Verpflichtung, bei dem ungeheuren Kulturverlust Deutschlands von der Substanz des geistigen Kapitals vor dem Untergang durch Vergessen zu retten, was überhaupt noch zu retten ist".
Völckers packt den Gegner bei seinem großbürgerlichen Sozial- und Bildungsanspruch, indem er ihm den Hang kleiner Leute zu Kitsch und Sentimentalität, primitive Idolatrie und
kulturelle Rückständigkeit nachweist. Das schlagkräftigste Argument aber war, daß mit so
etwas Abwegigem wie dem Wiederaufbau eines zerstörten Baudenkmals Steuergelder von
wichtigeren, sozial dringlicheren Aufgaben zweckentfremdet würden. Dieser Vorwurf der
unsozialen Einstellung angesichts der absoluten Priorität von Wohnungsbau und Wirtschaftsförderung taucht in den Auseinandersetzungen immer wieder auf. Mit einem solchen moralischen Appell an das soziale Gewissen als der eigentlichen historischen Verpflichtung schloß
auch Heinrich Tessenow seine Ablehnung der Hildesheimer Fachwerkkopie: "800 000 Mark
würde etwa der Wiederaufbau des Knochenhaueramtshauses kosten. Wie wäre es, wenn
man das Geld zusammenbrächte und dafür eine Siedlung baute? Man möge sie Knochenhaueramtshaus-Siedlung nennen und damit den leidigen Streit begraben. So beispielhaft als
Baugesinnung des Mittelalters das alte Knochenhaueramtshaus auch war, so beispielhaft
würde diese Tat sein in unserer an Sozialempfinden und gesundem Menschenverstand so
armen Welt19 ." Dem wurde entgegengehalten, die höhere soziale Verpflichtung als die Erhaltung und Mehrung des materiellen sei die des "geistigen Kapitals" (wie in Beyses Replik),
die kulturelle Verpflichtung gegenüber "den kommenden Generationen, die den Verlust nicht
ertragen" würden20 .
Beyses Versuch, den universalen Kompetenzanspruch der Architekten ad absurdum zu führen, indem er ihnen Inkonsequenz in der Frage der Rekonstruktion historischer Bauten
nachwies, traf eher die Denkmalpfleger und ihre Anwendung des Denkmalbegriffes in den
Wiederaufbaufragen im allgemeinen wie beim Problem des Hildesheimer Marktes im besonderen. Das emphatische Plädoyer für den Wiederaufbau des Knochenhaueramtshauses, das
in einem von Bürgern der Stadt Hildesheim unterzeichneten und an den Rat der Stadt gerichteten offenen Brief vom 20.12.1949 formuliert ist: "Jede Kultur hat Erzeugnisse, für die
es den Begriff Vergangenheit nicht gibt und nicht geben darf, weil sie überzeitlich sind.
Werden sie durch Schicksal oder durch Menschenwahnwitz zerstört, so haben die Zeitgenossen der Zerstörung die unabweisliche Pflicht zu originalgetreuer Wiederherstellung nach
bestem Wissen und Können. Die Pflicht haben sie nicht um ihrer selbst willen, sondern um
das von den Vorfahren ererbte Gut auf die nachfolgenden Geschlechter weiterzugeben,"
hätte so ähnlich auch von Paul Clemen stammen können und wurde von der Denkmalpflege
bei der Michaelskirche in Hildesheim angewendet. In der Marktplatzfrage gab es jedoch
Schwierigkeiten in der Anwendung des Denkmalbegriffes. Das Knochenhaueramtshaus, so
wurde häufig gesagt, war als hervorragendstes Beispiel niederdeutschen Fachwerkbaus
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Jürgen Paul: Das Knochenhaueramtshaus in Hildesheim – post mortem. Vom Nachleben
einer Architektur als Bedeutungsträger
aus: Ferdinand Stuttmann und Gert von der Osten (Hrsg.): Niederdeutsche Beiträge zur Kunstgeschichte Bd. 18. München Berlin 1979, S. 129–
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zwar ein "Baudenkmal" von hohem Rang. Einen kunsthistorischen Wert jedoch hatte es nur
als Bestandteil des gesamten Marktplatzes, ja der Hildesheimer Altstadt überhaupt, also als
Element eines Stadtbaukunstwerkes gehabt. Obwohl diese Trennung zwischen technologischer und künstlerischer Bedeutung ebenso willkürlich wie die Kunstwerk-Interpretation der
mittelalterlichen Stadt ist, sie hat in der Argumentation eine wichtige Rolle gespielt.
Die Unsicherheit der Denkmalpfleger angesichts des Hildesheimer Streites zeigt sich in der
Widersprüchlichkeit ihrer Positionen. Der Landeskonservator Hans Deckerz sprach sich dezidiert gegen die Rekonstruktion des Knochenhaueramtshauses aus und hat darauf hingewirkt, daß in der Wettbewerbsausschreibung von 1949 der Passus, ein möglicher Wiederaufbau des Knochenhaueramtshauses sei in das Ermessen des Architekten gestellt, ersetzt
wurde durch die Hinzufügung, daß er nicht empfohlen werden könne. Dagegen setzte sich
Robert Hiecke in der Oberkommission von 1951 für einen Wiederaufbau, allerdings nur der
Fachwerkkonstruktion "ohne die schmückenden Details" – gewissermaßen also als reines
„Baudenkmal" unter Verzicht auf den Anspruch als "Kunstdenkmal" –, ein und zog diesen
Vorschlag erst wieder zurück, als die übrigen Kommissionsmitglieder ihn davon überzeugten, daß "Detail und Baugefüge eine Einheit" seien. Von Deckerts Nachfolger Oskar Karpa,
im Gegensatz zu jenem ein heftiger Gegner der Marktplatzerweiterung und Befürworter eines Aufbaus auf den alten Parzellen, ist eine eindeutige Stellungnahme zu der Frage des
Knochenhaueramtshauses nicht überliefert, sondern nur das Bedauern, daß diese Frage
nicht so lange "in der Schwebe gehalten wurde, bis sich die Bürger nach Herstellung der
Nord- und Südbegrenzung (des Platzes) aus größerem Zeitabstand zu ihr abschließend
äußern konnten21 ." Doch bezugnehmend auf den immer wieder gebrachten Hinweis auf die
Rekonstruktion des Frankfurter Goethehauses erklärte der Hamburger Denkmalpfleger Günther Grundmann, Rekonstruktion sei nur dort gerechtfertigt, wo es sich um ein Kulturdenkmal handle; deswegen sei der Wiederaufbau des Goethehauses legitimiert, der des Knochenhaueramtshauses jedoch nicht22 .
Die gemeinsame Linie der Denkmalpflege bestand darin, daß auch sie eine ganz moderne
gestalterische Lösung ablehnte, daß sie einen Kompromiß zwischen "Alt" und "Neu", eine
"neue Form aus altem Geist", oder wie immer man das umschrieb, anstrebte. "Eine mit den
neuesten Formen und Planungsideen sich schmückende Bau- oder Platzgestaltung (kann)
rückständiger sein, als eine sich älterer Ausdrucksweise bedienende Anlage; 'modern' ist
das jeweils nach Zeit, Ort und Zweckbestimmung Angemessene," schrieb Oskar Karpa23 . In
anderen Formulierungen wurde diese erträumte Vision einer neuen Stadt, in der sich Geschichte und Gegenwart in gleicher Stärke und Gültigkeit ausdrücken, so beschrieben: "Die
Platzwände müssen in der Handschrift unserer Zeit, aber im Sinne der alten Maßstabsgerechtigkeit neu erstehen. Der festliche Reichtum der Bürgerlichkeit darf nicht verloren gehen, mit feiner Hand muß die Vielgliedrigkeit und Maßstäblichkeit der alten Fachwerkhäuser
mit modernen Mitteln anklingen" (dies war das Anliegen des neuen Sparkassenbaus), oder:
"Der Geist, der aus dem Gesicht des alten Marktplatzes sprach, kann in neue Formensprache übersetzt werden. Die Proportionen in ihren Höhenmaßen, das Spiel der Steildächer, die
Höhe der Traufen, der gleichmäßige Rhythmus der Fenster, der im Fachwerkbau herrschte,
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müssen mit modernen Gestaltungsmitteln und unseren Baustoffen durchgebildet werden," –
die in abstrakten Gestalterfahrungen interpretierte ästhetische Analyse der historischen
Stadt als Gesamtkunstwerk24 .
In diesem Wunsch nach einem Kompromiß, in der Vision einer "neuen Stadt, deren Gesicht
kein Allerweltsgesicht sei, sondern unverkennbar die besonderen Wesensmerkmale der über
1000 Jahre alten Stadt widerspiegeln müsse", wie sie nicht nur den Befürwortern des Knochenhaueramtshauses vorschwebte, artikulierte sich das konservative Kulturbewußtsein des
Bildungsbürgertums mit den ideologischen Bezügen seines Kulturpessimismus und seiner
Zivilisationsängste. In den Äußerungen, die in dem Hildesheimer Streit fielen, fehlt keines
der bekannten Denkschemata, die in den ideologischen Auseinandersetzungen seit dem
19. Jahrhundert die Angst vor dem Kontinuitätsbruch abendländischer Kulturtradition, vor
dem Verlust geistig bestimmter Werte, heimatlicher Verwurzelung und unverwechselbarer
Individualität angesichts der drohenden Entfremdung in einer materialistischen, von Technik
und Industrie bestimmten Zivilisation ausdrücken. Endlos ließen sich die Zitate, die von Leserbriefen bis zu Kampfschriften ("Die Tragödie vom Marktplatz zu Hildesheim") und zu politischen Manifesten reichen, aneinanderreihen, in denen der historische Marktplatz und das
Knochenhaueramtshaus beschworen wurden als Ausdruck einer "christlich-bürgerlichen
Welt, die von einer anderen Geisteshaltung (sei) als die moderne Sachlichkeit", als "Symbol
einer ruhigeren gesicherten Zeit", als Ausdruck einer handwerklichen Kultur, die der "seelenlosen" Technik entgegengehalten wird, als Symbol eines "echten Bürgerbewußtseins" als
Gegensatz der modernen Massengesellschaft und ihres "wirtschaftlichen Utilitarismus"25 .
Die Ablehnung der neuen Architektur brach in den Auseinandersetzungen um den Wiederaufbau historischer Städte mit Macht und mit denselben kritischen Formeln wie in den
zwanziger Jahren wieder hervor gegen die "stillose", "gefühllose", " ausdruckslose Allerweltsform". "Und was haben sie dem Knochenhaueramtshaus entgegenzusetzen?", schrieb
Otto Beyse in seiner Kampfschrift: "einen ganz indifferenten Hochhausbau, wie er überall in
der Welt stehen könnte, ohne Geist und Gesicht, nur 'groß' schlechthin, ohne monumental
zu sein." Dahinter erscheint die alte Stilproblematik, wie sie in dem gleichen Hildesheimer
Zusammenhang so formuliert wurde: "Es würde vermutlich viel weniger Streitgespräche um
den Wiederaufbau des Alten und über moderne Architektur überhaupt geben, wenn wir bereits einen eigenen Stil entwickelt hätten. Aber gerade davon sind wir noch meilenweit entfernt. Es ist überhaupt fraglich, ob wir in der Lage sein werden, einen Stil, das heißt: eine
gemeinsame Formensprache, in der das Lebensgefühl der Menschen unserer Zeit unverwechselbar, und in allen Gebieten unseres Daseins erkennbar, Gestalt gewonnen hat, auszubilden. Fast scheint es undenkbar, daß wir jemals dieses Ziel erreichen werden, denn unser Volk ist heute nicht nur politisch zerspalten, es ist auch wirtschaftlich und vor allem
geistig kein gesunder Organismus mehr. Dies eingestehen, bedeutet keineswegs hoffnungslos zu sein. Immer sind es die großen schöpferischen Geister gewesen, die dem Leben der
Menschen auf Jahrzehnte und Jahrhunderte hinaus die Richtung gewiesen haben... Auf die
Tat des Genius freilich warten wir heute noch26 ." "Der Deutsche fällt von einem Extrem ins
andere. Wenn gestern die Nazis törichterweise das Schlagwort von der entarteten Kunst
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erfanden, so glaubt ein Teil der Heutigen, daß nur das Entartete wirklich Kunst sei. Seit dem
Ende der Barockzeit ist der metaphysische Gehalt der Baukunst in Nichts verflüchtigt. Demgegenüber hat seit drei oder vier Generationen das Handwerk versucht, die Tradition zu
retten. In dieser Hinsicht ist der Kampf um das Knochenhaueramtshaus eine Angelegenheit
von nationaler und bereits internationaler Bedeutung27 ."
Es mutet seltsam an zu sehen, wie hier die Argumente der Traditionalisten der zwanziger
Jahre, mit denen sie das Bauhaus und das neue Bauen bekämpft hatten, gegen sie selbst,
gegen Bonatz und seinen Schüler Graubner, gegen Schmitthenner und Diez Brandi, der wie
jener im Dritten Reich das "Bodenständige" gepflegt hatte, gerichtet wurden. Mit dem Begriff der "Bodenständigkeit" richtete sich die schärfste Kritik gegen den von Schmitthenner
und Bonatz gerühmten Sparkassenneubau, dem das "traditionsfremde Flachdach" (in Wirklichkeit ein verborgenes Pultdach)28 und der "heimatfremde" Habitus eines "häßlichen italienischen Renaissance-Palazzo" vorgeworfen wurde. Es wurde behauptet, der Architekt Brandi
sei ohnehin kein Deutscher, sondern Genuese von Geburt (in Wirklichkeit als Sohn des berühmten Historikers Karl Brandi in Marburg geboren)29 , und es tauchten die zuerst in der
Polemik gegen die Stuttgarter Weißenhofsiedlung erfundenen und von Paul SchultzeNaumburg in seinem Kampf gegen das Artfremde und für die Erneuerung der Kunst aus
dem deutschen Volkstum verwendeten Kamele und Araber in Karikaturen des Sparkassenbaus auf. Angesichts des Graubnerschen Entwurfs für einen Neubau anstelle des Knochenhaueramtshauses schrieb das katholische Kirchenblatt30 : "Soll ein Steinklotz mit flachem
Dach und nichtssagenden Formen an die Stelle des schönsten Fachwerkhauses der Welt
treten? Hildesheim würde zum Bagdad des Nordens und nicht mehr zum Nürnberg des Nordens."
In der Tat ist die Front für und gegen den Wiederaufbau des Knochenhaueramtshauses nicht
auf einen einfachen Gegensatz zwischen "Traditionalisten" und "Modernisten" zu bringen.
Der Hildesheimer Streit zeigt nur deutlich, wie eingeschränkt der kulturhistorische Ganzheitsanspruch auf künstlerische Kontinuität und Homogeneität von "altem Geist und neuer
Form" der traditionalistischen Architekten wie Bonatz und Schmitthenner, die hier wie fast
überall in der ersten Wiederaufbauphase den entscheidenden Einfluß hatten, von den bürgerlichen Kreisen, auf die sie sich stützten, als Lösung ihrer Probleme und Visionen akzeptiert wurde. Es ist daher gar nicht überraschend festzustellen, daß der einzige unter den
bedeutenderen in Hildesheim herangezogenen Architekten, der einen Wiederaufbau des
Knochenhaueramtshauses in seinem Projekt vorschlug, gerade ein jüngerer und der modernste war. Friedrich-Wilhelm Kraemer, damals neuer Professor an der Technischen Hochschule Braunschweig, hatte zwar im Dritten Reich auch noch mit "Blut-und-Boden"Entwürfen angefangen, gehörte aber nach dem Krieg zu denjenigen, die an die neue amerikanische Architektur anknüpften und stieg in den fünfziger und sechziger Jahren mit riesigen gläsernen Bürohausbauten zu Prominenz auf. In Hildesheim saß Kraemer zuerst in der
Wettbewerbskommission von 1949 und hat mit dem Denkmalpfleger Dekkert zusammen
dafür gesorgt, daß in der Ausschreibung die Rekonstruktion des Knochenhaueramtshauses
nicht, wie anfangs festgelegt, anheimgestellt, sondern als nicht zu empfehlen bezeichnet
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wurde. Als er jedoch die starke Bewegung für das Knochenhaueramtshaus bemerkte, trat er
aus der Jury aus und reichte einen eigenen Entwurf mit einer Rekonstruktion ein. Kraemer
schlug in seinem Projekt vor, aus dem Material abbruchreifer ländlicher Fachwerkbauten
(für die den Bauern moderne Scheunen errichtet werden könnten) einen Neubau in den alten Maßen des Knochenhaueramtshauses zu errichten. Dieser Bau an der alten Stelle sei
dann, so meinte Kraemer, "gleichsam ein Zeichen des Beharrungswillens abendländischer
Kultur, und als Symbol für die alte Handwerkskunst werde es über Jahrhunderte hinweg
leuchten." Sicherlich wäre dieser "symbolische" Pasticcio eines handwerklichen Demonstrationsstückes nicht das "unverlierbare" und "überzeitliche Kulturzeugnis" geworfen, das die
Befürworter der Rekonstruktion wiedererstehen lassen wollten, und war das listigopportunistische Kalkül nicht der Geist, den sie meinten, wenn sie den Gegnern der Kopie
vorhielten: "Wieso wäre das Wiedererstandene unecht? Echt muß die Gesinnung sein, aus
der es entsteht31 ."
Wurde der Kampf um den Hildesheimer Marktplatz und das Knochenhaueramtshaus anfangs
unmittelbar vor dem weltanschaulichen Hintergrund ausgetragen, so schob sich im Laufe
der Jahre mehr und mehr die Ebene der Tages- und Parteienpolitik dazwischen, die sich der
auf beiden Seiten verfochtenen Anliegen und ihrer ideologischen Positionen bemächtigte
und die Linie der Fronten noch komplizierter machte. Das erste zeitpolitische Moment, das
auftauchte und sich über Jahre hinweg hielt, war die Animosität gegen die nach Kriegsende
Zugezogenen und Flüchtlinge. Nicht nur in der zitierten Passage von Beyse wurde darauf
bestanden, daß die Wiederaufbaufragen eine Sache seien, die in erster Linie nur die eingesessenen "Altbürger" entscheiden könnten und müßten, und also unterstellt, daß die ganze
moderne Richtung und die Verhinderung der Rekonstruktion des Knochenhaueramtshauses
ein Komplott von Fremden ohne Heimatbeziehung zum alten Hildesheim und gegen die Alteingesessenen gerichtet sei. Dies wandte sich insbesondere auch gegen den nicht eingesessenen Stadtbaudirektor Haagen. Eine ähnliche emotional-politische Gegnerschaft bildete
sich in diesen Fragen zwischen dem Handwerk und der industriellen Wirtschaft heraus, die
schließlich zu einer harten Konfrontation zwischen der Handwerkskammer und der Industrie- und Handelskammer wurde.
Kommunalpolitik ergab sich zwar keine klare Trennung, aber eine Gewichtsverteilung zwischen den beiden großen Parteien über die Marktplatzfrage. Die SPD, die die stärkste Fraktion bildete, stimmte immer so gut wie geschlossen für die modernen Vorschläge. Die Erklärung des SPD-Sprechers anläßlich einer Ratssitzung vom 14.4.1950 entwickelte das Programm: "Auch wir müssen unserer Stadt unser eigenes Gesicht geben. Sind wir etwa so
schwach, daß wir unseren eigenen Gedanken keinen Ausdruck mehr verleihen können? Der
Marktplatz muß im Rhythmus unserer Zeit und unserer Empfindung entstehen. Wir leben,
und die Lebenden haben das Recht." Die Haltung der CDU blieb dagegen uneinheitlich,
einerseits den konservativen Argumenten zugeneigt, andererseits von den ArchitektenGutachtern beeindruckt, außerdem gespalten zwischen kulturpolitischen und wirtschaftlichen Erwägungen. Dies war die Grundlage wechselnder Abstimmungsergebnisse, die aber
immer für die moderne Seite ausgingen. Diese parteipolitische Schwerpunktverteilung über-
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trug sich auch auf die beiden Hildesheimer Tageszeitungen und ging bis zu einem von der
SPD-nahen "Hildesheimer Presse" geäußerten Komplottverdacht gegen bürgerliche Zeitungen im ganzen Bundesgebiet in der Berichterstattung über die Hildesheimer WiederaufbauKontroverse.
Im Kommunalwahlkampf des Jahres 1952 wurde der Marktplatzstreit und das Knochenhaueramtshaus zu einem der Hauptthemen. Die rechtsstehende Deutsche Partei ging sogar
so weit, bei dieser Gelegenheit durch einen Architekten einen eigenen Entwurf vorlegen zu
lassen, der für den Marktplatz eine stark historisierenden steildächrige Bebauung und die
Rekonstruktion des Knochenhaueramtshauses vorsah. Am stärksten aber wurde das Thema
von der Kommunistischen Partei in Politik umgemünzt.
In der offiziellen Kulturpolitik der DDR wurde der Hildesheimer Marktplatz-Streit zu einem
lange immer wieder zitierten Hauptbeispiel für die Überfremdung Westdeutschlands durch
die "formalistische" Kunst und Architektur Amerikas. Nur dem, der sich an das kulturtheoretische Programm des Sozialistischen Realismus jener Jahre nicht mehr erinnert, mutet es
heute seltsam an, daß dabei dieselben kulturgeschichtlichen und -politischen Leitbilder und
derselbe gesellschafts- und zeitkritische Angriffswinkel, die gleichen Begriffe von "Bodenständigkeit" und "Traditionsgebundenheit", von "Volksfremdheit" und "Wesensfremdheit"
auftauchen wie bei den bürgerlichen Konservativen und den rechtsstehenden Parteien, allerdings mit dem Unterschied, daß das, was den bürgerlichen Konservativen als zivilisatorische Bedrohung durch eine allgemeine geistige Zerstörung erschien, den Kommunisten als
Sympton und Mittel der gezielten Unterwerfung unter den amerikanischen Kapitalismus und
Imperialismus galt.
Zuerst in der Rede Walter Ulbrichts zur Neugründung der Berliner Bauakademie am
8.12.1951. nahm das Hildesheimer Thema einen breiten Raum ein. Ulbricht zitierte Otto
Beyses Kampfschrift "Die Tragödie vom Marktplatz zu Hildesheim", in der "ein deutscher
Patriot" seine Empörung ausdrücke über die Verunstaltung mit Bauten des amerikanischen
Formalismus und Konstruktivismus durch Architekten, die "unter dem Einfluß amerikanischer Ideenlosigkeit" die "realistischen Bauwerke der großen Baumeister der Vergangenheit
nicht kennen oder nicht kennen wollen". Diese "volksfremden Tendenzen" seien "nicht mit
dem Kampf des Volkes und dem kulturellen Fortschritt verbunden", der "amerikanische
Formalismus (sei) der Feind der nationalen Kultur des deutschen Volkes"32 .
Es folgte ein Artikel des DDR-Architekturtheoretikers Kurt Magritz in der neu gegründeten
DDR-Zeitschrift "Deutsche Architektur" mit dem Titel: "Die Tragödie der westdeutschen Architektur33 ." Auch hier stand der Hildesheimer Wiederaufbau im Mittelpunkt. "Das deutsche
Volk liebt seine Heimat und deren schöne realistische Bauwerke;" deshalb fordere die Mehrheit die "originalgetreue Wiederherstellung" der Bauten des "ehrwürdigen Marktplatzes",
die, obzwar technisch möglich, bewußt verhindert werde. Dies sei ein gezieltes "Auslöschen
der nationalen Tradition" durch den amerikanischen Imperialismus (vermerkt sei, daß dies
zur gleichen Zeit geschrieben wurde, da man das Berliner Schloß sprengte und in Dresden
ganze Straßenzüge mit erhaltenen barocken Fassaden abräumte).
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Die Rede Ulbrichts und der Artikel von Magritz hatten programmatische Funktion. Weiter
verbreitet in der Berliner "Täglichen Rundschau" und dem westdeutschen KPD-Organ "Die
Wahrheit"34 lieferten sie die kulturtheoretischen und politischen Linien und die begrifflichen
Formulierungen in der Auseinandersetzung mit der Architektur und dem Städtebau in Westdeutschland: der Gegensatz von "Realismus" als künstlerischer Ausdruck nationaler Gesinnung und von "Formalismus" als Instrument kultureller und wirtschaftlicher Unterwerfung
und imperialistischer Kriegsvorbereitungen. Die negativen Reaktionen in der Bevölkerung
gegen den Sparkassenneubau von Diez Brandi und die an ihm (dem untauglichen Objekt)
neu entflammten alten ideologischen Kritikschemata gegen die moderne Architektur wurden
aufgegriffen und ins Machtpolitische gewendet. In der KPD-Zeitung "Die Wahrheit" wurde
der – im Grunde so romantisch historisierend gemeinte – Sparkassenbau als "Eingeständnis
eines Systems, das nur in Kasernen, Flugplätzen und Panzerstraßen denken kann, und dem
das Gerede über die Verteidigung der christlich-abendländischen Kultur nur Tarnung für die
Vorbereitung eines neuen furchtbaren Blutvergießens ist", bezeichnet.
Die Formulierungen von Ulbricht und Magritz finden sich wörtlich wieder in einer umfangreichen Wahlkampfbroschüre der KPD in Hildesheim vom Oktober 1952 mit dem Titel: "Hildesheim muß wieder eine blühende Stadt werden." Das Verantwortungsgefühl der Bevölkerung,
heißt es hier, werde es nicht zulassen, daß die Gestaltung des Marktplatzes durch Bauten
von formalistischer Stillosigkeit zerstört werde. Die Forderung nach getreuem Wiederaufbau
verleihe dem Willen der Mehrheit der Bevölkerung sichtbare Gestalt, den eine Kommunalverwaltung, wenn sie wirklich demokratisch wäre, respektieren müßte. Die Broschüre beruft
sich auf Friedrich-Wilhelm Kraemer als sachverständigen Zeugen gegen die Architekten und
verweist darauf, daß "die Deutsche Demokratische Republik und die volksdemokratischen
Länder, sowie die Sowjet-Union, die alle verfügbaren Gelder für den friedlichen Aufbau verwenden und nicht viele Milliarden für Besatzungskosten und Kriegsvorbereitungen ausgeben, alle Zweifel, kulturhistorisch wertvolle Bauten neu erstehen zu lassen, durch praktische
Beweise widerlegt haben". "Was in Warschau und Dresden geschieht, muß auch in Hildesheim Wirklichkeit werden... Den Bau weiterer Betonklötze, von denen man nicht weiß, ob
sie noch ein Haus oder schon eine Fabrik sind, soll das Aufbauprogramm der KPD gemeinsam mit allen verantwortungsbewußten Bürgern verhindern."
Als der Stadtrat sich nach mehrfacher Ablehnung am 19.1.1953 mit knapper Mehrheit doch
noch für die geforderte Volksabstimmung entschied, erreichte der Streit um den Hildesheimer Markt und das Knochenhaueramtshaus seinen Höhepunkt und seine Wende. Heftige
Kontroversen über den Sinn einer solchen Bürgerbefragung waren vorausgegangen; die
SPD fand, daß nicht "gefühlsmäßig" abgestimmt werden könne, worüber die Sachverständigen längst entschieden hätten. Bis zum Wahltermin am 4.3.1953 erhitzte sich der Streit
noch einmal auf allen Ebenen.
Wohlweislich beinhaltete die Volksabstimmung nur die Frage der Erweiterung des Platzes,
nicht die über das Knochenhaueramtshaus, von dem jedoch gesagt wurde, daß sein Wiederaufbau an einem erweiterten Platz (obwohl das Grundstück davon nicht betroffen war)
nicht möglich sei. Die Industrie- und Handelskammer, die die Geschäftsleute vertrat, poleSeite 15
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misierte in einer Denkschrift heftig gegen die Abstimmung: statt ihrer seien wirtschaftliche,
städtebauliche und verkehrstechnische Erörterungen von Sachverständigen vonnöten, der
große Parkplatz sei wichtiger als "aufgewärmte Leichen". Die Handwerkskammer erließ einen Aufruf: "Mitbürger, jetzt bist du gefragt. Altbürger, bewahre unserer alten Vaterstadt
die Treue, laß uns ihr Herz – den alten Markt – wieder herstellen! Neubürger, du würdest
gerne für deine alte Heimat stimmen, wenn du nur könntest, stimme nun für unsere Heimat, die auch die deine wurde!" Das Gaststätten- und Beherbergungsgewerbe befürchtete,
Hildesheim werde seinen Ruf als Fremdenziel einbüßen und forderte im Interesse des Fremdenverkehrs den kleinen Marktplatz als "Traditionsinsel". Mit der Berufung auf Ausländer,
die den Wiederaufbau des Knochenhaueramtshauses wünschten, wurde dabei die internationale Bedeutung der Frage betont, die die Industrie- und Handelskammer einen "Schweizer
Pantoffelkrieg" nannte. Die KPD erließ einen Aufruf für den historischen Platz. In Zeitungen
und Rundfunk kamen Stimmen der Bürger zu Wort ("Wir wollen nicht, daß die Geistlosigkeit
und Kälte moderner Stahlbeton-Glaskuben, daß wesensfremde Anleihen aus aller Herren
Länder sich inmitten Hildesheims ein Stelldichein geben")35 . Versammlungen und Diskussionen wurden abgehalten. Die Architekten erörterten öffentlich ihre Modelle, und Gerhard
Graubner erklärte, sein Entwurf sei aus der Liebe zu Hildesheim entwickelt und beweise,
daß "wir heute genauso kraftvoll gestalten können wie die Früheren."
Die Abstimmung ging für die Platzerweiterung aus. Bei einer Beteiligung von 71 % entschieden sich 55,7 % für den großen Platz und damit implicite gegen den Wiederaufbau des
Knochenhaueramtshauses und 42,5 % für die historische Platzform. Analysiert man die Argumente, die im Vorfeld der Volksabstimmung gebraucht wurden, so stellt man fest, daß die
weltanschaulichen und kulturtheoretischen Bezüge inzwischen in den Hintergrund getreten
waren gegenüber den wirtschaftlichen und stadtbautechnischen Aspekten. Selbst die Befürworter des kleinen Marktplatzes (und damit des Knochenhaueramtshauses) versuchten anders zu argumentieren: Sie behaupteten, die Platzvergrößerung sei wirtschaftlich nicht zu
vertreten. Das Bewußtsein und die Prioritäten hatten sich geändert, auch bei der Bevölkerung. Zwei Jahre früher wäre eine Volksabstimmung zum gleichen Thema sicherlich mit
entgegengesetztem Ergebnis ausgegangen.
"Traditionalisten blieben auf der Strecke" oder "Kampf der letzten Europäer ohne Erfolg"
hieß es in der Presse, die im ganzen Bundesgebiet ausführlich berichtete. Die Stadt
beschloß eine schnelle Bebauung des Marktplatzes. Doch bereits im November 1953 regten
sich die ersten Stimmen, die einen Wiederaufbau des Knochenhaueramtshauses trotz des
vergrößerten Marktplatzes forderten. Die weitere Geschichte des Hildesheimer Marktplatzes
ist rasch berichtet. Vier Jahre geschah zunächst einmal nichts. Das Knochenhaueramtshaus
führte sein Geisterleben weiter. Die Forderungen nach seinem Wiederaufbau wurden leiser,
aber sie verstummten nicht. Sein Schatten schwebte auch über allen späteren Planungen
und Bauunternehmungen am Hildesheimer Markt. Im Frühjahr 1954 wurde in der Halle des
Rathauses ein Keramikrelief der Fassade des Knochenhaueramtshauses enthüllt, vor dem
jeweils am Jahrestag der Zerstörung eine Kerze angezündet wird.
Aus einem Planungsgutachten vom Jahresende 1957 ging der Beschluß hervor, das GrundSeite 16
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stück des Knochenhaueramtshauses, um eine herausgehobene Nutzung zu ermöglichen, für
die Errichtung eines Hotels unentgeltlich zur Verfügung zu stellen. Aus dem Projekt wurde
damals nichts, weil der eingeladene gastronomische Konzern Blatzheim eine zehnjährige
Ausfallsgarantie verlangte. 1958 folgten der Beschluß zum Bau des städtischen Verwaltungsgebäudes als Rathauserweiterung nach dem Entwurf von Gerhard Graubner und zum
Bau der Tiefgarage unter dem erweiterten Platz. 1959 wurde das Grundstück des Knochenhaueramtshauses einem eingesessenen Unternehmer zum Bau des Hotels übergeben. Dieser wollte allerdings, vor Errichtung eines modernen Hotels geprüft wissen, ob nicht auch
das in alter Form wiederaufgebaute Knochenhaueramtshaus als Hotel genutzt werden könnte. Ein lokales Architektengutachten bestätigte dies zwar, doch entschied sich die Stadt,
einen Wettbewerb auszuschreiben, um – wie es im Ausschreibungstext hieß – "als derzeitiger Eigentümer der Grundstücke an der Westseite des vergrößerten Altstadtmarktes... eine
Gestaltung zu gewährleisten, die der geschichtlichen und städtebaulichen Bedeutung dieses
Stadtmittelpunktes, sowie den Forderungen zeitgemäßer Architektur entspricht." Das Preisgericht stand unter dem Vorsitz von Rudolf Schwarz. Von den Entwürfen der eingeladenen
Architekten wurde der von Dieter Oesterlen mit dem 1. Preis ausgezeichnet. In der darüber
entscheidenden Ratssitzung flammte der Streit erneut auf. CDU-Vertreter gaben zu bedenken, daß die große Mehrheit der Bevölkerung für das Knochenhaueramtshaus sei, denn dieses sei nun einmal das Wahrzeichen Hildesheim. Der Entwurf von Oesterlen mache dagegen
aus der Westseite des Platzes eine "unpersönliche Wand aus Stein und Glas." Der Rat entschied jedoch gegen den Wiederaufbau des Knochenhaueramtshauses; der Oesterlensche
Entwurf wurde mit leichten Veränderungen ab 1962 gebaut. Auf der emotionsbeladenen
Stelle steht nun ein Hotel. "Die Steigerung auf sieben Geschosse war notwendig, um ein
Wegfließen des Platzes... zu verhindern, um dem breitgelagerten Rathaus eine städtebauliche Antwort zu geben – nicht zuletzt – um wenigstens städtebaulich an die steil aufragende
Gestalt des Knochenhaueramtshauses zu erinnern36 ." Angeschlossen ist ein langgestreckter
niedriger Büro- und Geschäftstrakt. Nachträglich wurden dem Hotel, um es ansehnlicher zu
machen, getriebene Kupfertafeln des Berliner Bildhauers Fritz Kühn vorgehängt.
Doch auch nachdem die alte Stelle bebaut war, schwand der Schatten des Knochenhaueramtshauses nicht37 . 1970 brauste die Welle für die Rekonstruktion des alten Wahrzeichens
noch einmal hoch. Ein neuer Oberbürgermeister kritisierte die einstigen Entscheidungen, ein
Fernsehjournalist riß die Sache an sich, erreichte im Rat eine Stimmung für das Knochenhaueramtshaus, der Abbruch des neuen Hotels wurde erwogen, Alternativstandorte für die
Fachwerkkopie vorgeschlagen: zwischen den beiden Platzhälften, hinter dem Rathaus oder
an anderer Stelle in der Stadt. Der Kaufhauskonzern Horten, dessen berühmte Fassade die
Nordseite des vergrößerten Marktplatzes mitbestimmt, schloß sich der Initiative an und ließ
ein großes farbiges Modell der Fassade des Knochenhaueramtshauses anfertigen, die jetzt
im Rathaus dem Keramikrelief von 1954 gegenüber hängt. Ohne hohen weltanschaulichen
Bezug, ohne erbitterten Kulturkampf zwischen Tradition und Fortschritt und ohne politisches
Bekenntnis war inzwischen aus dem Rekonstruktionsproblem des ehrwürdigen Wahrzeichens etwas einfach Machbares geworden, auch wenn man statt der ursprünglichen
250 000 DM nun 4–6 Millionen als Baukosten errechnete.
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Diese Studie will keine Bewertung des langen qualvollen Entscheidungsprozesses um den
Hildesheimer Marktplatz und das Knochenhaueramtshaus beanspruchen. Sie will vielmehr
die kritische Dokumentation eines exemplarischen Kapitels deutscher Nachkriegsgeschichte
geben, das auch ein Stück Kunstgeschichte ist. Gewiß kann man sagen: wir empfinden den
neuen, vergrößerten Hildesheimer Altstadtmarkt wohl kaum als "eines der schönsten Platzbilder Deutschlands", wie es Paul Bonatz erwartete. Das liegt nicht nur daran, daß die neue
Architektur, die einheitliche Platzfassung der Westseite – gleichsam eine optische Durststrecke ohne etwas, um sich daran festzuhalten – aber auch die Rathauserweiterung von
Graubner keine großen gestalterischen Qualitäten aufweisen und insbesondere die hilflosbemühte Besonderheit des Hotelbaus auf der Stelle des Knochenhaueramtshauses mit seiner Diskrepanz zwischen typologischer Banalität und dekorativem Aufwand weit hinter dein
Anspruch, wie er vom Architekten mit sensibel-einfühlsamen Worten beschrieben wurde,
zurückbleibt. Es liegt auch nicht nur daran, daß der Platz in seiner Funktion – umgeben von
Verwaltungsbauten und als Abdeckung für eine Tiefgarage – nicht wieder die lebendige Bedeutung eines Stadtmittelpunktes erhalten hat. Es liegt vielmehr vor allem in der Tat daran,
daß er seine historische Dimension verloren hat, die ihm durch die Dialektik von inhaltlicher
Ferne und anschaulicher Gegenwärtigkeit die Bedeutung gab, welche das Bedürfnis nach
einem sichtbaren kontinuierlichen Bezug zur Geschichte suchte. Das war es, was man auch
nach der Zerstörung nicht verloren geben wollte. Gewiß war und ist dieses so verstandene
Bedürfnis nach historischer Kontinuität ein zeitgebundenes, aus der Gegenwart zu verstehendes Interesse. Gewiß war die Bedeutung des historischen Hildesheimer Marktplatzes, die
Rezeption des Knochenhaueramtshauses als stellvertretendes Wahrzeichen gar nicht so alt.
Doch dieser Platz und das große alte Gildehaus waren die psychologischen Bezugspunkte
eines Identifikationsbedürfnisses, das den Gegensatz zum Gegenwärtigen braucht, um die
Distanz zur eigenen Zeit zu ertragen, auch wenn es oft nur als die von der Kunstgeschichte
gelieferte reine ästhetische Erfahrung interpretiert wurde.
Hätte man das Bauliche wiederherstellen können? In anderen Städten hat man es versucht.
Der wiederaufgebaute Prinzipalmarkt in Münster, beispielsweise, hat heute einen höheren
Identifikationswert als die Frankfurter Innenstadt: nicht, weil er "schöner" ist als eine moderne Form, sondern weil er mit seiner gegenwartsfremden Gestalt einen Widerspruch gegen die eindimensionale Stimmigkeit einer totalen Gegenwärtigkeit darstellt, der notwendig
ist, um im schwierigen Gegenwartsbezug des 20. Jahrhunderts Heimatgefühle zu erzeugen.
Das haben die Architekten beim Hildesheimer Streit nicht verstanden. Im Bewußtsein ihrer
Rolle als schöpferische Künstler, die über die Gültigkeit von Form und Inhalt kraft höherer
Einsicht verfügen, und im festen Vertrauen auf die Autonomie des Kunstwerkes glaubten
sie, über die kulturellen Bedürfnisse und Pflichten bestimmen zu müssen. Das haben auch
die Denkmalpfleger nicht verstanden, die nur an ihren von der wissenschaftlichen Theorie
definierten historischen Kunstdenkmal-Begriff und seine Hierarchie dachten.
Sicherlich hätte der Hildesheimer Altstadtmarkt einen höheren Identifikationswert für die
Bevölkerung der Nachkriegsjahre bekommen, hätte ihr sozusagen den Obergang erleichtert,
wenn man ihn nur in den alten Fluchten und auf den alten Grundstücken wiederaufgebaut
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DenkmalDebatten – Was ist ein Denkmal? Und wie geht man mit ihm um?
Grundlagentexte auf www.denkmaldebatten.denkmalschutz.de
Jürgen Paul: Das Knochenhaueramtshaus in Hildesheim – post mortem. Vom Nachleben
einer Architektur als Bedeutungsträger
aus: Ferdinand Stuttmann und Gert von der Osten (Hrsg.): Niederdeutsche Beiträge zur Kunstgeschichte Bd. 18. München Berlin 1979, S. 129–
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hätte. Selbst eine genaue Kopie der alten Bauten wäre heute längst, wie die Erfahrung
lehrt, akzeptiert, auch von den Architekten. Dies wäre heute ein museales Gebilde ("ein
Museum ist besser als gar nichts", sagte man damals), gewiß isoliert, genau wie ein einsam
rekonstruiertes Knochenhaueramtshaus, doch moralisch längst legitimiert. Die historische
Legitimierung aus der Geschichte ließe sich genauso nachliefern wie das Gegenteil. Der
Wunsch nach der Wiederherstellung des Verlorenen war ebenso wenig "unehrlich" wie seine
Ablehnung. Es gab eben nicht nur eine Wahrheit. Da war einerseits die elementare Angst
vor Identitätsverlust und Heimatlosigkeit, die sich in den Wunsch hineinsteigerte, wenigstens in einem sichtbaren und signifikanten Zeichen die Zerstörung rückgängig zu machen.
Dieses signifikante Zeichen waren eben nicht die "kunsthistorischen Baudenkmäler" der romanischen Kirchen, sondern das Knochenhaueramtshaus, dessen emotionale Bedeutung
dadurch noch größer geworden als vor seiner Vernichtung. Und diese emotionale Bedeutung
ließ sich eben nicht auf einen Neubau übertragen; das muß man dem Hotel "Rose" zugute
halten. Die andere Wahrheit hingegen war das Bekenntnis zur Gegenwart, zu Fortschrittsglauben und kulturellem Selbstbewußtsein als einer moralischen Pflicht.
Soll man es nun nachträglich verurteilen, daß das Knochenhaueramtshaus nicht wieder aufgebaut wurde? Heute würde man es ganz nüchtern tun, so wie es mit dem Leibnizhaus in
Hannover geschieht, nicht als ein Stück Weltanschauung, sondern als ein Stück Ästhetik,
nicht als Bekenntnis zur Geschichte, sondern aus Interesse für die Geschichte.
Wenn man damals für den Wiederaufbau des Knochenhaueramtshauses gewesen wäre, hätte man sich aber identifizieren müssen mit allem, was dahinter steckte: kulturtheoretisch,
ideologisch, politisch. Und eines muß am Schluß dieser Betrachtungen gesagt werden: in
den hunderten von Äußerungen und Berichten, die für diese Studie durchgearbeitet wurden,
war kein einziges Wort zu finden, das ein Nachdenken ausdrückte über das, was schließlich
überhaupt zur Zerstörung Hildesheims und des Knochenhaueramtshauses geführt hatte,
den Krieg und seine Ursachen.
* Diese Studie sollte ursprünglich in der Gedenkschrift für Günter Bandmann erscheinen. Aus Termingründen konnte sie dort nicht mehr aufgenommen werden.
Zu danken habe ich an erster Stelle Herrn Stadtbaudirektor i. R. Bernhard Haagen, Hildesheim, für seine herzliche
und freimütige Informationsbereitschaft und für die Erlaubnis, sein umfangreiches Zeitungsarchiv auswerten zu
dürfen. Herr Dipl.-Ing. Martin Schumacher half mir bei der Materialsuche, Herr Dipl.-Ing. Martin Thumm mit fotografischen Aufnahmen. Herrn Dipl.-Ing. Heinrich Job verdanke ich wertvolle Literatur-Angaben.
1
Georg Dehio, Handbuch der deutschen Kunstdenkmäler.
400 Jahre Knochenhaueramtshaus 1529–1929, Hildesheim 1929. Walter Konrad: Knochenhaueramtshaus, Hildesheim 1970.
3
Otto Beyse: Die Tragödie vom Marktplatz zu Hildesheim, Hildesheim 1951.
4
"Abenspost" 4.3.1948. Josef Nowak: Wenn die Steine reden, Alt-Hildesheim klagt an, Hildesheim 1948. Stadtverwaltung Hildesheim: Die Steine reden, eine Erwiderung der Stadtverwaltung auf die Streitschrift von Josef Nowak, Hildesheim 1948. Josef Nowak: Passion einer Stadt, Alt-Hildesheim klagt an, Hildesheim 1948.
5
"Hannoversche Presse" 1.8.1947.
6
"Tagesspiegel" Berlin 10.1.1952.
7
"Hildesh. Allg. Zeitung" 20.11.1951.
8
"Hildesh. Allg. Zeitung" 26.10.1949.
9
"Hildesh. Allg. Zeitung" 5.1.1950.
10
Walter Konrad a. a. O.
11
Walter Konrad a. a. O.
12
Geb. 1904, 1942–1945 Prof. an der TH Berlin.
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Jürgen Paul: Das Knochenhaueramtshaus in Hildesheim – post mortem. Vom Nachleben
einer Architektur als Bedeutungsträger
aus: Ferdinand Stuttmann und Gert von der Osten (Hrsg.): Niederdeutsche Beiträge zur Kunstgeschichte Bd. 18. München Berlin 1979, S. 129–
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Erschienen 1 9 4 6 .
"Hildesh. Allg. Zeitung" 10.10.1951.
15
Walter Konrad a. a. O.
16
"Merian" 4 (8), S. 40–42.
17
Hans Bernhard Reichow: Organische Stadtbaukunst, Braunschweig 1948.
18
Baumeister 1951 Heft 11.
19
Ebenda, s. auch die Zeitschr. "die neue Stadt" 1951.
20
Baurat Hillge in "Hildesh. Allg. Zeitung" 26.10.1949.
21
Oskar Karpa: Wiederaufbau des Marktplatzes zu Hildesheim, in: Deutsche Kunst und Denkmalpflege 1953,
S. 4 ff.
22
Tag der Heimatpflege 1954 in Hannover, Zitat nach "Hildesh. Allg. Zeitung" 12.10.1954.
23
Oskar Karpa in: Deutsche Kunst und Denkmalpflege a. a. O.
24
Architekt Tenge in: "Hildesh. Allg. Zeitung" 3.12.1949.
25
Alles Zitate aus Berichten und Stellungnahmen in Zeitungen.
26
Rudolf Lange: Statt Restauration – lebendiges Symbol, in: "Hannov. Allg. Zeitung" 14./15.6.1952.
27
"Das Wort", katholische Zeitung für Niedersachsen 29.1.1950.
28
Es wurde immer wieder gefordert, dem Haus nachträglich ein Steildach zu geben. Vo rschlag mit Giebel in:
"Hildesh. Allg. Zeitung" 16/17.8.1952.
29
Geb. 1901, Bautätigkeit im Dritten Reich, während des Krieges Professor an der Deutschen T.H. in Prag, Nachkriegsbauten u. a. Rathaus in Aschaffenburg.
30
Februar 1951.
31
"Hildesh. Allg. Zeitung" 1.1.1949.
32
Walter Ulbricht, Das nationale Aufbauwerk und die Aufgaben der deutschen Architektur, hg. vom Amt für Information der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin 1952.
33
Kurz Magritz, Die Tragödie der westdeutschen Architektur, in: Deutsche Architektur 1. 1952 Heft 2, S. 57 ff.
Magritz war Chefredakteur der offiziellen Architekturzeitschrift der DDR "Deutsche Architektur".
34
Z. B. "Tägliche Rundschau" 29.8.1953, "Die Wahrheit" Febr. 1952, 22.1.1953, 13.8.1953.
35
Zit. eines Handwerkers in: "Die Welt" 14.2.1953, dort auch Gropius zitiert.
36
Alexander Koch, Dieter Oesterlen, Bauten und Planungen 1946–1963, Stuttgart 1964, = Bauten und Planungen
Band 2, S. 176 ff.
37
Weitere wichtige Berichte und Stellungnahmen in der Presse: "Hildesh. Allg. Zeitung" 8.10.1949, 17. 10.I949,
26.10.1949, 1.11.1949, 9.11.1949, 10.4.1951, 6.7.1951, 29/30.9.1951, 12.2.1952, 28.3.1952, 8.7.1952,
9./10.1.1954 " Hildesheimer Presse" 1.11.1949, 22.3.1950, 15.2.1952 "Hannoversche Presse" 1.8.1947,
31.12.1948, 13.1.1949. "Deutsche Volkszeitung" 18.9.1948. "Die Welt" 10.3.1951, 21/22.12.1955. "Neue Zeitung"
15./16.3.1952. "Norddeutsche Zeitung" 3./4.5.1952, 7.2.1951. "Badische Zeitung" 19./20.1.1952.
Bernhard Haagen, Das neue Hildesheim, in: Hildesheim 1945–1955, hg. Hans Kayser und Gustav Lautenbach,
Hildesheim 1955, S.108–143.
Bernhard Haagen, Metamorphose einer Stadt, in: Hildesheim, hg. Rudolf Zoder, Brilon 1956, = Deutschlands Städtebau, Kommunal- und Volkswirtschaft, S. 32-41. Hildesheim – einst und heute, hg. Hans A. Gerstenberg, Hildesheim 1966.
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Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Autors
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