PDF - Flüchtlingsrat Niedersachsen

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PDF - Flüchtlingsrat Niedersachsen
ISSN 1433-4488 H 43527
Ausgabe 7+8/01
Heft
80/81
Oktober 2001
FLÜCHTLINGSRAT
Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen
Krieg gegen
Flüchtlinge ?
• Terror in New York
und die Folgen
• Schily-Entwurf
• EU Flüchtlingspolitik
Editorial
Derzeit wird alles von den Terroranschlägen in den USA und den Vorbereitungen zu einem Vergeltungsschlag überschattet. Wir sind entsetzt über das schreckliche menschenverachtende Ausmaß dieser Terroranschläge und trauern um die Opfer.
Wir verurteilen jedoch die Pläne der USA einen "Kreuzzug gegen den internationalen Terrorismus"
(Bush) sprich den Islamischen Fundamentalismus zu führen. Krieg kann niemals eine Lösung sein
und führt nur zu einer Weiterführung der Gewaltspirale. Obwohl überhaupt nicht klar ist, wer wirklich hinter den Anschlägen steckt, ist der Gegner bereits ausgemacht: nicht nur Usama Bin Laden,
sondern alle Länder, die "Gastgeber von Terroristen" sind. Opfer dieses "Kreuzzugs" wird wie immer die Zivilbevölkerung sein. Eins der ersten Ziele wird wahrscheinlich Afghanistan sein, dabei haben die USA einst selbst durch ihre pro-fundamentalistische Politik den Bürgerkrieg und das Regime der Taliban unterstützt. Nun wird die unterdrückte Bevölkerung Afghanistans zum zweiten Mal
Opfer der amerikanischen Politik: die Kriegsvorbereitungen haben bereits eine Massenflucht ausgelöst. Auch die BRD wird sich an den militärischen Vergeltungsschlägen beteiligen - in welchem
Ausmass ist noch offen. Es bleibt nur zu hoffen, dass hier wieder eine breite Antikriegsbewegung
entsteht.
Es ist gerade eine ideale Gelegenheit, um die Militarisierung und Abschottung der BRD und der EU
weiter voranzutreiben. Die Umwandlung der Bundeswehr in eine Interventionsarmee und der Aufbau einer EU-Armee dienen der Aufrechterhaltung deutscher bzw. europäischer "Interessen" weltweit. Neben Terroristen, Drogendealern, islamischen Fundamentalisten, organisierten Kriminellen
werden auch Flüchtlinge als Bedrohungspotential definiert (S.9). Bereits im Kosovo-Krieg konnten
die Militärs ihre Rolle bei der Flüchtlingsabwehr unter Beweis stellen, indem sie unter humanitären
Deckmantel Flüchtlingslager in Albanien und Mazedonien einrichteten, um die Flüchtlinge daran zu
hindern in die EU-Staaten zu fliehen -die praktische Umsetzung des Konzeptes "Regionalisierung
der Flüchtlingsaufnahme" (S.26). Durch die paramilitärische Absicherung der EU-Aussengrenzen
und deren Vorverlagerung in Transitstaaten (S.21) soll ein von konzentrischen Kontrollringen umgebenes "Kern-Europa" geschaffen werden. Von einem gemeinsamen Asylrecht ist die EU allerdings noch weit entfernt. Insbesondere Deutschland betätigt sich immer wieder als Bremsblock bei
den im Vergleich zum deutschem Asylrecht liberaleren Richtlinienvorschlägen der Kommission
(S.15). Aufgrund der rassistischen Hetze ist zu befürchten, dass das zukünftige gemeinsame Asylrecht sehr restriktiv ausfallen wird.
Auch innenpolitisch werden in Deutschland "scharfe Geschütze" aufgefahren. PolitikerInnen nutzen
die derzeitige Lage dazu, um Grund- und Freiheitsrechte weiter zu beschneiden. "Individuelle Freiheitsrechte der Bürger, die wir noch vor zehn Jahren betont haben, müssen künftig hinter der öffentlichen Sicherheit zurückstehen" erklärte der nds. Innenminister Heiner Bartling. Unter Beschuß
stehen vor allem Flüchtlinge und MigrantInnen, gegen die täglich neue Restriktionen gefordert werden. Der von vielen Seiten scharf kritisierte und abgelehnte Gesetzesentwurf von Schily zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung (S.32ff.), wird vor diesem Hintergrund wahrscheinlich ohne großen Widerstand verabschiedet werden. Was abgelehnte Flüchtlinge zukünftig bundesweit zu
erwarten haben, wenn der Gesetzesentwurf angenommen wird, kann man heute schon im Abschiebelager Bramsche-Hesepe begutachten (S.47). Flüchtlingsorganisationen haben eine Kampagne
gegen den Schily-Entwurf initiiert (S.42 und www.stop-schily.de) und rufen zu einer Demonstration
am 29.9. in Berlin auf.
Die Situation hat sich von heute auf morgen schlagartig verschärft. Um so wichtiger ist es sich gegen den Krieg, die Einschränkung der Grundrechte, die Restriktionen gegen Flüchtlinge und MigrantInnen sowie rassistische Rhetorik auszusprechen und sich an Aktionen zu beteiligen.
Edith Diewald
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FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 73, Dezember 2000
IMPRESSUM
Titel:
FLÜCHTLINGSRAT
Zeitschrift für
Flüchtlingspolitik in
Niedersachsen
Ausgabe:
7+8/01 – Heft 80/81
Oktober 2001
Herausgeber, Verleger
Redaktionsanschrift:
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Niedersächsischer Flüchtlingsrat e.V.
Lessingstr.1
31135 Hildesheim
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Redaktion dieser Ausgabe:
Claudia Gayer
Dietmar Lousée
Justus Reuleaux
Kai Weber
Annli von Alvensleben
Maria Wöste
Layout
Justus Reuleaux
Druck:
Druckerei Lühmann
Bockenem
1-3 Tausend, Oktober 2001
Erscheinungsweise:
8 Hefte im Jahr
auch als Doppelnummer
Bezugspreis:
Jahres-Abonnement incl.
Versandkosten 120 DM
(im Mitgliedsbeitrag
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ISSN 1433-4488
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der Ausländerbeauftragten
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Titelfoto:
Flüchtlinge in Afghanistan
INHALT
Terroranschläge in den USA
S. 4
FESTUNG EUROPA
Militarisierung der EU (G. Lutz)
Die Union auf dem Weg zu einem gemeinsamen Asylrecht (K. Kopp)
Kolonialbeamte der EU (H. Dietrich)
Regionalisierung der Flüchtlingsaufnahme (T. Uwer)
S. 9
S. 15
S. 21
S. 26
GRUNDRECHT AUF ASYL UND EINWANDERUNG
Stellungnahmen zum Entwurf des Zuwanderungsgesetz
Das Recht auf polit. Asyl verteidigen! (IMRV, The Voice u.a.)
Schließung von Verfahrensberatungsstellen (T. Heek)
Einbürgerung mit Hindernissen
S. 32
S. 42
S. 43
S. 45
DEPORTATION
Modellprojekt Abschiebelager
Flüchtlingsprotest im Lager Bramsche-Hesepe
Für Roma ist kein Platz mehr (B. Stang)
Ermittlungen gegen staatenlose KurdInnen
Reisegefährdung für BGS-ler (E. Diewald)
Hussein Daoud lebt - Abschiebungen gehen weiter
S. 47
S. 50
S. 53
S. 55
S. 61
S. 63
RASSIMUS - ANTIRASSISMUS
Unser Land - vielseitig und weltoffen
Genua: Siamo tutti Clandestino
Im- und Expressionen vom Aktionszelten (A. v. Alvensleben)
Residenzpflichtprozeß in Westerstede
Erklärung zur rassist. Ermordung unserer Schwester
(Black Community in Germany)
S. 67
S. 70
S. 72
S. 75
S. 76
KIRCHENASYL
Ganz schön mutig (Interview mit Pastor Weusthof)
Bleiberecht für die Familie Altekin
Kirchenasyl in Hildesheim
S. 79
S. 82
S. 84
KURDENVERFOLGUNG
Der neue Lagebericht zur Türkei (C. Gayer)
Delegationsbericht des IPPNW (G. Penteker)
Hungerstreik in Büren (E. Diewald)
S. 86
S. 88
S. 90
GETEILTE MEDIZIN
Bleiberecht für traumatisierte Flüchtlinge? (H. Hoffmann)
Aachener Appell
S. 93
S. 98
ASYLBEWERBERLEISTUNGSGESETZ
ALDI nimmt keine Gutscheine mehr an
Potsdam fordert Abschaffung von Gutscheinen
S. 99
S. 99
SERVICE
S. 101
MATERIALIEN
S. 104
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Nachruf auf Leo Busch und Horst Manthey
Wir trauern um zwei langjährige Mitstreiter des niedersächsischen Flüchtlingsrats, Leo Busch und Horst
Manthey, die in diesem Jahr gestorben sind.
Leo Busch aus Hildesheim war Mitbegründer und zeitweise auch Vorstandsmitglied des Flüchtlingsrats.
Als bekennender Katholik bemühte er sich um den Dialog zwischen den verschiedenen christlichen Religionsgemeinschaften im Rahmen der von ihm geleiteten "Arbeitsgemeinschaft St. Basilius der Große".
Dieses Engagement brachte ihn in Kontakt zu verschiedenen Flüchtlingsgruppen, die in Deutschland
Schutz vor religiöser Verfolgung suchten (z.B. den assyrischen Christen), und so kam er schließlich zur
Flüchtlingsarbeit. Es zeichnete Leo Busch aus, dass er keine Unterschiede zwischen christlichen und anderen Flüchtlingsgruppen machte und unter Bezugnahme auf den Auftrag der Bibel darauf pochte, dass
alle Verfolgten und Bedrohten einen Anspruch auf Schutz haben. Er engagierte sich im örtlichen Flüchtlingshilfe-Verein "Asyl e.V.", wo er regelmäßig an Gruppensitzungen teilnahm, die Teestube mitgestaltete, Einzelfälle zur Diskussion stellte und Briefe an Verwaltung und Prominenz verfasste. Ein besonderes Anliegen war ihm das Schicksal der Yesiden, deren Aufenthaltsrecht als Opfer einer Gruppenverfolgung lange Jahre umstritten war. Auch wenn Leo Autoritäten grundsätzlich hochachtete und immer
bemüht war, Repräsentanten des öffentlichen Lebens für die Sache der Flüchtlinge zu gewinnen, so
konnte er doch auch unglaublich hartnäckig sein und mit seiner in tiefer Religiosität begründeten, unerschütterlichen Überzeugung Konflikte und Auseinandersetzungen aufnehmen. Beim Hildesheimer
Domhof waren die Auftritte des zornigen alten Mannes gefürchtet, wenn er ohne Rücksicht auf Sprechstunden, Zuständigkeiten und Dienstwege überraschend vorsprach, auf Defizite der Kirche hinwies und
vom Bischof kategorisch die Erfüllung christlicher Pflichten - z.B. in Form einer Gewährung von Kirchenasyl - forderte.
Der aktive Einsatz von Leo Busch fand ein jähes Ende, als ihn ein Schlaganfall vor fast drei Jahren ans
Bett fesselte. Leo starb im April dieses Jahres nach langer, schwerer Krankheit.
Der Tod von Horst Manthey war dagegen nicht vorhersehbar, sondern trat überraschend ein und hinterließ uns bestürzt und fassungslos. Horst starb Mitte Juli 2001 an einem Herzinfarkt während eines Segeltörns.
Für viele, die ihn kannten, war Horst das, was man gemeinhin unter einem "guten Kumpel" versteht. Er
drängte sich nie in den Vordergrund, aber er hörte zu, wenn man ihn brauchte, und war für eine ganze
Reihe von Flüchtlingen eine wichtige Vertrauensperson. Jahrelang engagierte sich Horst neben seiner Arbeit als Betreuer in einer Behinderteneinrichtung im Freundeskreis Asyl Sarstedt, wo er einzelne Flüchtlinge unterstützte und einen Gutscheinumtausch organisierte.
Nach seiner Pensionierung im letzten Jahr stürzte Horst sich noch weiter in die Flüchtlingsarbeit. Neben seinem örtlichen Engagement war er häufig bei den Treffen des ökumenischen Netzwerks Kirchenasyl und regelmäßiger Teilnehmer bei Veranstaltungen und Sitzungen des Flüchtlingsrats. In den
letzten Jahren versah er das Amt des Kassenprüfers auf den Jahreshauptversammlungen, auch an Vorstandssitzungen nahm Horst oft teil.
Leo und Horst waren Repräsentanten der Mahner und Zeitzeugen, für die die Erfahrungen des "3.
Reichs" Aufgabe und Verpflichtung darstellten, sich für bedrohte und verfolgte Flüchtlinge zu engagieren. Diese Erfahrung verblasst langsam, allenthalben breiten sich Schlusstrich-Mentalitäten aus, der
Kurswert des Asylrechts ist deutlich gefallen. Wir werden ihr Andenken in Erinnerung behalten. Sie werden uns fehlen.
Für den Flüchtlingsrat
Kai Weber
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FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 80/81, Oktober 2001
Systemische konnotation von Genua bis Niedersachen
Terroranschläge in den USA
Sieben Thesen zur Lage
von Christoph Spehr
1. Das ist kein Krieg. Auch wenn die Dimension der
Terroranschläge schockierend ist:
Das ist kein Krieg. Bis jetzt noch
nicht. Kriege sind bewaffnete
Auseinandersetzungen zwischen
Staaten oder Bürgerkriegsparteien in einem Land; Krieg erfordert
einen bekannten Gegner, dessen
militärische Struktur angegriffen
werden kann. Das Etikett "Krieg"
lenkt ab von der Fragwürdigkeit
von blinden Vergeltungsschlägen,
die vorwiegend aus symbolischen
und innenpolitischen Gründen
forciert werden. Es sei daran erinnert, dass z.B. die "Ziele" im
Sudan, die 1998 von den USA
bombardiert
wurden,
sich
nachträglich als "Irrtum" herausstellten. Terror wird durch Gegenterror nicht bekämpft, und er
rechtfertigt ihn nicht.
2. Es kommt jetzt alles darauf
an, keinen Krieg daraus zu
machen. Die Rhetorik vom Krieg und die
Politik des Gegenschlags spielt in
leichtfertiger Weise mit der Gefahr eines tatsächlichen Krieges,
vor allem eines Krieges zwischen
dem Westen und arabischen Ländern. Zweifellos geht Terror in
der Welt auch vom Boden der
USA und Europas aus; dass eine
Bombardierung entsprechender
"Zentren" nicht verständnisvoll
hingenommen werden kann, erleben wir gerade. Dasselbe gilt für
Länder in Asien, Afrika oder
Nahost aber auch. Aktuell ist es
der Westen, der einen Angriffskrieg gegen arabische Staaten
vorbereitet, der bereits als Krieg
des Guten gegen das Böse abgefeiert wird. Die Geschwindigkeit,
mit der angebliche "Erkenntnisse" produziert werden, ist mehr
als fragwürdig. Die Leichtfertigkeit, mit der das Risiko eines
tatsächlichen Krieges in Kauf genommen wird, ist ebenso
schockierend wie das Desinteres-
se an den Menschen, deren Leben direkt und indirekt gefährdet
wird.
3. Das ist kein Anschlag gegen
die Freiheit, nicht einmal gegen den Kapitalismus, und es
läßt sich auch keiner draus
machen. Mit den verheerenden Anschlägen ist weder die "freie Welt",
sprich der Westen, noch die "zivilisierte Welt", sprich die Industriestaaten, auch nicht die "Demokratie", sprich der Kapitalismus angegriffen worden. Abgesehen davon, dass man bis jetzt
nicht weiß, wer die Anschläge mit
welchem Ziel durchgeführt hat,
richten sie sich gegen Symbole
der USA als weltweiter Interventionsmacht, ökonomisch und militärisch. Das ist eine relativ spezielle Botschaft. Die Rede vom
"Angriff auf die Freiheit" bäckt
dieses spezifische Gewaltpotenzial mit allem und allen in der Gesellschaft zusammen und verdeckt gezielt, dass eben diese Interventionsmacht und -praxis seit
langem bewusst und kalkuliert
Risiken auch für die eigene Bevölkerung anzieht - vor allem indem sie anderswo Gewalt ausübt
und Armut schafft, aber auch indem sie bedenkenlos Gruppen
militärisch aufrüstet, über die sie
dann die Kontrolle verliert.
4. Das ist kein Anschlag für die
Freiheit, nicht einmal gegen
den Kapitalismus, und es läßt
sich auch keiner draus machen. Man muss keine Sympathie für
das Pentagon oder für das internationale Finanzkapital hegen,
um festzustellen, dass die Anschläge eine faschistische Handschrift tragen. Ähnlich wie bei
den Anschlägen in Bologna,
Oklahoma und anderen sollten
mit maximaler Gewalt möglichst
viele Menschen getötet werden,
Chaos und Krieg sind die kalkulierten, erhofften Folgen dabei.
Der Tod von Zivilisten, die unmittelbare Lebensgefahr die für
Palästinenser, für Israelis, für die
Bevölkerung arabischer Staaten
und viele anderehervorgerufen
wird, sind den Tätern vollständig
gleichgültig. Egal ob die Verantwortlichen arabische Fundamentalisten, amerikanische Rechtsextreme, eine Verbindung mehrerer
Gruppen oder ganz Andere waren: hier läßt sich kein antikapitalistischer Kontext konstruieren,
hier rechnet ein reaktionäres, organisiertes Machtpotential mit einem Gegner ab, der der eigenen
Macht im Weg steht; hier wird geschlachtet, weil man sich von den
Folgen eine Eskalation verspricht, von der das eigene
Machtgebilde auf Kosten zahlloser Anderer profitieren soll.
5. Die Anschläge sind der
Bankrott einer militärisch und
polizeilich fixierten Sicherheitspolitik; ein Weitergehen
in diese Richtung ist verantwortungsloser Hasard. Die Rede vom Krieg verdeckt
auch, dass es vor Terroranschlägen keinen absoluten Schutz gibt.
Die eigene Sicherheit zu erhöhen,
erfordert Politik, nicht militärische Schlagkraft. Es erfordert eine Politik, die zumindest in höherem Maße auf Kooperation, Ausgleich und Kompromiss bedacht
ist, wenn es um ökonomische Politik und internationale Konflikte
geht. Auch wenn die Terroranschläge nicht beanspruchen können, irgendjemand zu "repräsentieren", haben sie einen verbreiteten realen Hass auf den Westen
und die USA zur Voraussetzung,
um ihre Söldner zu rekrutieren
und sich erfolgreich vor Infiltration abzuschotten. Diesen Hass
kann man militärisch nicht zerschlagen, er ist die Bilanz einer
Politik, die weiten Teilen der
Menschheit nichts zu bieten hat 5
Systemische konnotation von Genua über New York bis nach Niedersachen
nicht die Ambivalenz eines noch
halbwegs auskömmlichen Lebens
im Kapitalismus, sondern buchstäblich nichts außer Gewalt, Armut, Vertreibung und Demütigung. Sicherheitspolitik besteht
heute im Protest gegen die Politik
der G8. Wer findet, am wichtigsten sei, dass die Bundeswehr
jetzt auch möglichst schnell ihre
globale Interventionsfähigkeit
weiter vorantreibt, ist nicht nur
zynisch, er riskiert bereitwillig unser aller Leben um der Interessen
von Eliten und "Systemzwängen"
willen.
6. Es ist notwendig deutlich zu
machen, dass wir uns weigern,
einen Krieg zu führen. Die an sich bekannte Wahrheit,
dass Krieg das Schlimmste ist,
was passieren kann, wird derzeit
beschleunigt zugedeckt. Wir erleben kriegsvorbereitende Propaganda. Es ist wichtig, klar zu ma-
chen, dass ein Krieg auf Widerstand stößt. Anteilnahme und Solidarität für die Getöteten in
Amerika und ihre Angehörigen
sind wichtig. Für die innenpolitischen Interessen von Bush und
die strategischen Machtinteressen
deutscher Eliten im Nahen Osten
den Kopf hinhalten, hat damit
nichts zu tun.
7. Es ist notwendig, einer Spirale von Rassismus entgegenzutreten. Es gibt bereits Angriffe auf Ausländer, speziell auf Menschen aus
arabischen Ländern oder aus
mehrheitlich moslemischen Ländern, in den USA und auch hier.
Das Spiel von oben ist dasselbe
wie immer: Man will solche
Übergriffe nicht haben, betreibt
aber die Politik, die sie vorbereitet. Es geht eben nicht darum,
dass "nicht alle Araber so sind"
oder der Islam auch ganz nett
sein kann. Es geht um aktiven
Schutz für Gefährdete, es geht
um eine selbstkritische Haltung
gegenüber der eigenen Politik
und Dominanz. Es geht um das
Anerkennen der Tatsache, dass es
auch Hass gibt und dass er auch
reale Gründe hat. Es geht um das
Eingeständnis der Tatsache, dass
der Westen jeder emanzipatorischen oder sozialen Alternative
innerhalb des Islam oder innerhalb der arabischen Gesellschaften mit kompromißloser Härte
entgegengetreten ist, einfach wegen des Öls. Und es geht darum,
mit der realen Vielgestaltigkeit
von Positionen, politischen Überzeugungen und sozialen Kräften
endlich zu kooperieren, zu kommunizieren und zu verhandeln,
anstatt sich die Feindbilder zu
schaffen, die das eigene Draufhauen immer wieder aufs Neue
legitimieren sollen.
"Jedes Verbrechen beginnt im Geist
und in der Seele eines Menschen."
Otto Schily will extremistische Asylbewerber in
Drittländer abschieben
H
amburg (ots) - Extremistische Ausländer sollen nach
dem Willen von Bundesinnenminister Otto Schily künftig in
Drittländer ausgewiesen werden
können. In einem Interview in
der neuen Ausgabe der Wochenzeitung DIE ZEIT sagt Schily:
"Was uns aus Sicherheitsgründen
Sorgen macht, sind weitgehend
Personen, die unter dem Vorwand, sie hätten irgendeinen
Flüchtlings- oder Asylstatus, hierher gekommen sind. Wenn wir sie
wegen drohender Gefahr für
Leib und Leben nicht in ihr Herkunftsland abschieben können,
müssen wir uns überlegen, ob wir
nicht andere Weltgegenden finden, wo sie keine Gefahr für die
6
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 80/81, Oktober 2001
Systemische konnotation von Genua bis Niedersachen
Sicherheit darstellen, wie das hier
in dem sehr sicherheitsempfindlichen Deutschland der Fall ist."
Das Problem, sagt Schily, betreffe
übrigens nicht nur "diesen extremistisch-terroristischen Bereich",
es gelte auch für andere Kriminalitätsbereiche. "Warum sollte es
nicht zulässig sein, diese Personen in ein Drittland abzuschieben, mit dem wir entsprechende
Vereinbarungen abschließen."
Der Bundesinnenminister betonte, er rufe bei der Terrorismus-
bekämpfung nicht nach dem Einsatz der Bundeswehr im Innern.
Der komme sowieso nur "im
Rahmen der verfassungsrechtlichen Grenzen" in Betracht. Es
stelle sich aber die Frage, so Schily wörtlich: "Ob wir zum Teil polizeiliche Strategien auch mit militärischen Mitteln durchsetzen
müssen. Wir werden den Taliban
ja wohl kaum ein Rechtshilfeersuchen mit der Bitte um Auslieferung von bin Laden übersenden."
Schily hob hervor, dass er nicht
nur auf Sicherheit setze. "Die
präventiven Strategien bleiben die
weitaus wichtigeren. Deshalb sage ich auch, wir müssen uns der
Frage zuwenden, wie eigentlich
Menschen zu solchen schrecklichen Handlungen kommen. Jedes
Verbrechen beginnt im Geist und
in der Seele eines Menschen."
Diese PRESSE-Vorabmeldung
aus der ZEIT Nr. 39/2001 mit
Erstverkaufstag am Donnerstag,
20. September 2001, ist unter
Quellen-Nennung DIE ZEIT
zur Veröffentlichung frei.
Auszug aus einer Erklärung der Revolutionary
Association of the women of Afghanistan
(RAWA)
"... Leider müssen wir feststellen,
dass es die Regierung der Vereinigten Staaten war, die den pakistanischen Diktator Gen. Zia-ul
Haq dabei unterstützten, Tausende von religiösen Schulen aufzubauen, aus denen sich der Keim
der Taliban entwickelte. In ähnlicher Weise war auch Osama Bin
Laden bekanntlich ein Kind der
CIA. Noch schmerzhafter ist,
dass die amerikanische Politik
nichts aus ihrer pro-fundamentalistischen Politik in unserem Land
gelernt hat und weiterhin fundamentalistische Gruppen und
Führer unterstützt. Nach unserer
Auffassung trägt jede Form der
Unterstützung der fundamentalistischen Taliban und der Jehadies
jetzt zur Zerstörung der Werte
von Demokratie, Frauen- und
Menschenrechten bei. ... Werden
die USA nun, nachdem die Taliban und Osama von den Behörden der USA als Hauptverdächtige der kriminellen Anschläge ausgemacht wurden, Afghanistan
ähnlich wie 1998 zum Schauplatz
eines militärischen Angriffs machen und Tausende von unschuldigen Afghanen für Verbrechen
töten, die von den Taliban und
Osama begangen wurden? Den-
ken die USA, dass sie durch solche Attacken, mit Tausenden von
benachteiligten, armen und unschuldigen Menschen aus Afghanistan als Opfern, die ursächlichen Wurzeln von Terrorismus
zu beseitigen in der Lage sein
werden, oder wird das den Terrorismus nur zu weiteren Höhen
treiben?..."
14. September 2001
7
Systemische konnotation von Genua über New York bis nach Niedersachen
Presseerklärung
Förderverein
Niedersächsischer
Flüchtlingsrat e. V.
Nds. Flüchtlingsrat ! Lessingstr. 1 ! 31135 Hildesheim
19.09.2001
Terroranschläge in New York
Aktionismus zum Thema Innere Sicherheit
PRO ASYL und Flüchtlingsräte warnen vor Spirale von
Gewalt und Rassismus
PRO ASYL und die Flüchtlingsräte der Bundesländer warnen
eindringlich vor einer Spirale von
Gewalt und Rassismus in
Deutschland. Schon jetzt häufen
sich Pöbeleien und Angriffe auf
hier lebende Migrantinnen und
Migranten, die man für Muslime
oder Araber hält. Es hat bereits
Morddrohungen gegeben. Politiker von SPD und CDU überbieten sich gegenwärtig mit neuen
restriktiven Vorschlägen und propagieren blinden Aktionismus.
PRO ASYL und die Flüchtlingsräte kritisieren die Äußerungen
führender Politiker als unverantwortlich und leichtfertig. Sie setzen mit ihren Vorschlägen die in
Deutschland lebenden Menschen
– Muslime, Araber und alle anderen Migrantinnen und Migranten
– dem Verdacht aus, mit den Tätern unter einer Decke zu stecken
oder zumindest zu sympathisieren.
Hier lebende Migrantinnen und
Migranten dürfen nicht unter einen Generalverdacht gestellt werden. Der Islam darf nicht mit
Terrorismus gleichgesetzt werden. Die Ursachen und Hintergründe der Anschläge von New
York müssen aufgeklärt und die
Verantwortlichen mit rechtsstaatlichen Mitteln zur Rechenschaft
gezogen werden. Die Antwort
auf den New Yorker „Anschlag
auf die Freiheit“ (Bundeskanzler
Schröder) darf jedoch nicht darin
bestehen, die Militarisierung der
Politik nach innen und außen
voranzutreiben. Es wäre die Niederlage der freiheitlichen Verfassung unseres Landes, wenn es Po8
litikerinnen und Politikern durch
die „Instrumentalisierung des
Terrors“ gelänge, die Grund- und
Freiheitsrechte weiter zu beschneiden. Es wäre ein irreversibler Verlust an Rechtsstaatlichkeit
und Demokratie, wenn unter
dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung staatliche Organe
und Behörden mit weitgehend
ungehinderten Kontroll- und
Vollzugsgewalten ausgestattet
würden.
PRO ASYL und die Flüchtlingsräte fordern eine Politik der Verständigung, eine Kultur des Dialogs und des Ausgleichs zwischen
den Religionen. Die verantwortlichen deutschen Innenpolitiker
stehen in einer hohen Verantwortung. PRO ASYL und die Flüchtlingsräte fordern die Politikerinnen und Politiker eindringlich
auf, mögliche rassistische Effekte
ihrer Worte und ihres Handelns
zu bedenken. Wir warnen davor,
die Situation weiter aufzuheizen,
damit es nicht wieder – wie in den
Jahren 1992 und 1993 – zu einer
Welle rassistisch motivierter Angriffe und Morde gegen Flüchtlinge und Migranten in Deutschland kommt.
Geradezu zynisch muten Versuche an, die New Yorker Terroranschläge in einen Zusammenhang
zur Asylthematik zu setzen und
als Munition für die Forderung
nach weiteren Verschärfungen
des Ausländerrechts zu instrumentalisieren. Zu kritisieren sind
insbesondere Beschlüsse der gestrigen Innenministerkonferenz,
die u.a., wie zuvor Bayerns Ministerpräsident Stoiber, einen generellen Abgleich der Daten der Sicherheitsbehörden mit Daten
von Flüchtlingen und Politisch
Verfolgten fordert. Schlimmer
noch der bayerische Innenminister Beckstein, der im Bayeri-
schen Rundfunk erklärt, er glaube
nicht, dass man noch „unbefangen darüber diskutieren kann, ob
man Leute zum Beispiel aus Irak,
Leute aus der arabischen Welt, zu
uns leichter kommen lässt.“ Mit
derartigen Tönen werden Übergriffe auf Migranten und Flüchtlinge förmlich herbeigeredet.
Auf unseren scharfen Protest
stoßen die – inzwischen vom
Bundesinnenministerium und der
Innenministerkonferenz aufgegriffene – Forderung Becksteins,
alle Migrantinnen und Migranten
einer Regelanfrage beim Verfassungsschutz zu unterziehen, sowie die Pläne von Bundesinnenminister Schily, den Datenschutz
weiter einzuschränken und Militär ggf. auch für polizeiliche Ziele im Inland einzusetzen. Schily
plant weiter einen Abgleich der
Daten aus dem Ausländerzentralregister mit Daten anderer
Behörden. Jeder Migrant und jede Migrantin wird so zum potenziellen Terroristen und Sicherheitsrisiko erklärt.
Wenn es sich, wie die Politik erklärt, um einen „Anschlag auf
unsere Werte“ handelt, ist sie
jetzt umso mehr verpflichtet, sich
in ihren Reaktionen auch nach ihnen zu richten. Nur Recht, soziale Gerechtigkeit und Toleranz
können langfristig dem Terrorismus den Boden entziehen.
Heiko Kauffmann (Sprecher von PRO
ASYL), Mehrnousch Zaeri-Esfahani (AK
Asyl Baden-Württemberg), Christian Wunner (Bayerischer Flüchtlingsrat), Walid Chahrour (Flüchtlingsrat Berlin), Evamaria
Friedrichsen (Verein ökumenischer Ausländerarbeit im Lande Bremen), Cornelia
Gunßer (Flüchtlingsrat Hamburg), Kai Weber (Niedersächsischer Flüchtlingsrat), Dr.
Michael Stoffels (Flüchtlingsrat Nordrhein-Westfalen), Werner Meyknecht
(Flüchtlingsrat Sachsen-Anhalt), Martin
Link (Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein),
Marion Wettach (Flüchtlingsrat Brandenburg), Roland Schrul (Flüchtlingsrat Mecklenburg-Vorpommern), Siegrfried Pick (AK
ASYL Rheinland-Pfalz)
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 80/81, Oktober 2001
Festung Europa
Festung Europa
Welche Entwicklungstendenzen zeichnen sich derzeit in der Flüchtlings- und Migrationspolitik
der EU-Staaten ab? Mit dieser Frage beschäftigte sich das Seminar "Migrationssteuerung und
Fluchtabwehr durch die EU", das der "BUKO-Arbeitsschwerpunkt Rassismus und Flüchtlingspolitik" vom 11.-13. Mai in Wuppertal durchführte.
Im Folgendem dokumentieren wir die Referate, die während des Seminars gehalten wurden. Thematisiert werden dabei der sicherheitspolitische Rahmen in dem heute EU-Flüchtlingspolitik
stattfindet (G. Lutz), der Harmonisierungsprozeß innerhalb der EU hin zu einem gemeinsamen
Asylrecht (K. Kopp), das EU-Grenzregime und die weitere Vorverlagerung der EU-Aussengrenzen in Transitstaaten (H. Dietrich) sowie die "Regionalisierung der Flüchtlingsaufnahme" und
deren Auswirkungen (T. Uwer).
Militarismus der EU
EU Außen- und Sicherheitspolitik im
Mittelmeerraum und in Osteuropa
Georg Lutz, Informationszentrum Dritte Welt, Freiburg
D
ie folgenden Diskussionsthesen sind kein stringentes Referat, sondern Thesen
zu einer kontroversen und sehr
wichtigen Diskussion. Sie können
aber einen Rahmen bilden in dem
sich das zentrale Thema des Seminars durchaus öfters widerspiegeln kann.
Mit dem Thema Europa hat der
BUKO schon lange Schwierigkeiten. Es gab in den letzten 15 Jahren Versuche das Thema zum
Beispiel über die Debatte um den
Binnenmarkt (1992) zu besetzen.
Zuletzt geschah dies bei der Einführung des EURO. Auch konkrete historische Termine wie 500
Jahre Kolonialismus wurden aufgegriffen. Die Ergebnisse waren
ernüchternd. Das Thema bedarf
aber dringend einer neuen Bearbeitung, da die dominanten linken Positionen daneben liegen.
Heute gibt es einerseits die dominanten gesellschaftlichen Kräfte,
die die EU, abgesehen von kleinen Fehlern als das zivilisatorische Projekt abfeiern, und andererseits eine Restlinke, die entweder auf den nationalen Rahmen
fixiert ist (z.B. antideutsche Positionen) oder verschwörungstheoretisch den US-Imperialismus für
alle Schweinereien verantwortlich
macht. Die zentrale Frage, ob
das EU-Projekt nach dem Ende
der bipolaren Situation Fessel
oder Sprungbrett deutscher Interessen ist, wird von diesen beiden Positionen zu einseitig wahrgenommen. Dazu zunächst vier
historische Argumentationsfiguren, die für mich zentrale historische Eckpunkte sind, auch was
heutige europäische Außen- und
Sicherheitspolitik betrifft.
1. Deutschland ist im Gegensatz
zu vor hundert Jahren eine saturierte Großmacht innerhalb der
EU. Vor dem ersten Weltkrieg
war Deutschland ein aufholender
Konkurrent mit einer reaktionären nationalistischen Elite.
Seit einigen Jahren verschiebt
sich die politische und ökonomische Klasse in Deutschland. Sie
wird europäischer, wenn auch im
Zeitlupentempo. Eine politische
Renationalisierung, obwohl als
potentielle Alternative und als
Stammtischargument immer in
Europa präsent, wäre mit drasti9
Festung Europa
schen ökonomischen und politischen Verlusten auch für die politische Klasse verbunden. Sie ist
daher unwahrscheinlich, selbst
wenn noch mehr Figuren à la
Haider und Berlusconi an die
Macht kommen sollten
2. Der deutsche Faschismus wird
bekanntlich von der neuen
rot/grünen Elite in ziemlich
übler Form funktionalisiert (vgl.
Krieg gegen Ex-Jugoslawien).
Gern wird die ‘ historische Zivilisierung‘ Deutschlands durch Europa beschworen. Die EU historisch als Antwort auf den Holocaust zu begreifen, ist aber eine
falsche These. Richtig ist, dass die
Zeit von der Montanunion bis zu
den Römischen Verträgen genutzt wurde, um die Kriegsunfähigkeit der alten Nationalstaaten innerhalb Europas sicher zu
stellen. Dies geschah allerdings
unter dem Schirm der Hegemonie der USA.
3. Mit der sogenannten Suez-Krise von 1956 verloren die europäischen Kolonialmächte endgültig
ihre strategische Stellung. Sie waren nicht mehr in der Lage eigenständige Weltpolitik zu betreiben.
Die Ablösung klassischer Kolonialmächte durch die ‚Supermächte‘ war vollzogen. Allerdings behielt sich zum Beispiel Frankreich
vor, in Afrika weiter militärisch
präsent und auch aktiv zu sein,
um seine ökonomischen Interessen zu schützen. Der begrenzende Rahmen war die bipolare Situation. Südliche Eliten konnten,
nachdem sie die Befreiung der
Fahne erreicht hatten, bis Mitte/
Ende der 80er Jahre durchaus eigene Interessen durchsetzen. Die
Lomé-Verträge (ab 1975) sind ein
Beispiel. Darin wurden die spezifischen ökonomischen Beziehungen zwischen der AKP-Staatengruppe (Ex-Kolonien) und der
EU geregelt. In dem neuen Abkommen konnten sich demgegenüber EU-Interessen weitgehend durchsetzten.
4. Eine europäische Armee war in
der Zeit der Blockkonfrontation
nicht möglich. Eigenständige
10
deutsche Ansprüche, zum Beispiel der Griff nach Atomwaffen,
scheiterten und auch europäische
Versuche kamen über Sandkastenspiele nicht hinaus. Die WEU
fristete zum Glück ein Schattendasein. Und im EU-Haushalt gab
es keinen eigenständigen Posten
der unter dem Stichwort Rüstung
bzw. Verteidigung gebucht wurde.
Mit Beginn der 90er Jahre änderte sich bekanntlich der historische Rahmen.
Militärische Lösungen stehen
wieder auf der Tagesordnung.
Zudem droht in einer neuen
Qualität die Abkopplung eines
militärisch industriellen Komplexes auf europäischer Ebene. Auf
den Punkt gebracht: militärisches
Denken ist wieder in. Das wird
auch auf andere Bereiche, zum
Beispiel Flüchtlingspolitik, ausstrahlen. Im folgenden dazu einige Argumentationsfiguren.
Die Salamitaktik der 90er Jahre
Nachdem der Feind östlich der
Elbe implodierte, wurden Anfang
der 90er Jahre hektisch neue Aufgaben für die westlichen Armeen
gesucht. Beispiel sind die ‚Verteidigungspolitischen Richtlinien‘
von 1992, die unter Rühe geschickt das Vokabular der Friedensforschung und in Teilen auch
der Friedensbewegung okkupierten. Stichworte sind ‚Peace-
keeping‘ oder ‚Peaceenforcement‘. Auch die praktische Vorgehensweise wies taktische Finessen auf. Zunächst spielte der
BGS in Namibia Wahlbeobachter, dann gab es in Kambodscha
ein Feld-Lazarett. Bitte, wer
konnte da schon dagegen sein?
Und die Friedensbewegung verlor gleichzeitig an Bedeutung, da
sie die neue Situation, im Gegensatz zur politischen Klasse nicht
erkannte. Sie blieb in ihrer Vorstellungswelt weiter im ‚Kalten
Krieg‘ verhaftet. Die Propaganda
im Golfkrieg argumentierte über
Katastrophen, die auch Europa
erreichen könnten.
Viele der Restlinken stellten sich
die Frage, ob die historische Situation die Tür zu nationalen
deutschen Alleingängen öffnete?
Nein, die Grundlage für die militärischen Planungsstäbe war die
Revision der NATO-Strategie im
Sommer 1990 (‚Londoner Erklärung‘, Juni 1990). Stichwort
dafür ist die ‚Neue Weltordnung
von Daddy Bush und intellektuelle Ratgeber waren Vordenker à la
Huntington („clash of civilization“).
Ziel war neben dem Aufbau neuer Feindbilder die OSZE klein zu
halten. Im herrschenden Rahmen
wäre sie eine potentielle Alternative für Konfliktmanagement gewesen, die NATO sollte jedoch
bei Konflikten intervenieren.
Hierzulande ist die neue Zielsetzung durch das sog. Naumannpapier (Generalinspekteur der Bundeswehr Anfang der 90er Jahre)
bekannt geworden. Die KeyWords sind nicht mehr „Bedrohung“ sondern „Instabilitäten“.
Der sogenannte „Krisenbogen“
(Naumann) spannt sich von Nordafrika bis nach Asien. In diesem
„Krisenbogen“ gibt es ein ganzes
Arsenal von „Instabilitäten“, die
je nach Bedarf ideologisch abgerufen werden können. Drogendealer, Flüchtlinge, Terroristen,
Schurkenstaaten und islamische
Fundis sind die meist genannten
Ziele der neuen Humanitätskrieger.
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 80/81, Oktober 2001
Festung Europa
Verkauft wird die Geschichte
durch Schlagworte wie ‚Humanitäre Intervention‘. Wer das kritisiert, wird wie vor wenigen Dekaden früher unter dem Stichwort, ‚Vaterlandsverräter‘, als Renegat der guten Seite abgestempelt. Die Botschaft soll gesellschaftlich durchschlagen und das
hat bisher weitgehend geklappt.
Der Krieg gegen Jugoslawien
1999 lief nach dem Drehbuch
der NATO von 1990. Wir wissen
heute, daß Militärlogik gegen alle
Sonntagsreden rot/grüner PolitikerInnen vor präventiven
Instrumenten Vorrang
hatte und das Verlassen
der UNO-Ebene nicht
zwingend war. Der Krieg
war zudem das ineinandergreifen von zwei Strängen: die Machtlogik der
Diktatur in Jugoslawien
und der Logik der Militärs
der NATO. Gesellschaftliche Gegenkräfte in Serbien als auch im EU-Europa
hatten es schwer diesem
ideologisch moralischem
Trommelfeuer Argumente
entgegen zu setzen. Wer
zudem wie Angelika Beer
behauptet, dies sei der
letzte Krieg mit einem solchen Drehbuch gewesen,
der irrt sich. Die NATO
mutierte in diesem Krieg von der
Bedrohungs- zur Kampfmaschine, die jederzeit wieder einsetzbar
ist.
über den militärisch industriellen
Komplex. Das ist alles vom Winde verweht. Die machiavellistische Wende rotgrüner Regierungen in Europa ging relativ glatt
über die Bühne: Alle politischen
Grausamkeiten müssen so schnell
wie möglich am Anfang der Regierung durchgesetzt werden ist
eine Grundregel von Machiavelli.
Und dazu gehört Krieg. Die Frage nach dem Warum bedarf einer
etwas anderen Debatte über die
68er, als wie wir sie aus der Tagespresse kennen, und kann an
dieser Stelle nicht ausgeführt wer-
ausnutzen. Es galt und gilt sich
zur Schutzmacht von Ethnien auf
zu spielen.
Das Gerede von Volksgruppen
hat weiter Konjunktur und wird
auch von der neuen Bundesregierung und rotgrünen Landesregierungen gefördert. Ein Beispiel
dafür ist das „Europäische Zentrum für Minderheitenfragen“ in
Flensburg.
Rassisch begründete Desintegration ist kein Fremdwort in der
rotgrünen „Zivilgesellschaft“.
Weitere Protektorate wie das
Kosovo sind vorstellbar. Als
Hintergrundsfolie dient ein
Europa, dass sich über konzentrische Kreise von „Kerneuropa“ hin zu Protektoraten definiert.
Nicht Abrüstung,
Aufrüstung ist angesagt
den. Sie ist aber für die Restlinke
wichtig, wenn sie politisch wieder
Oberwasser bekommen will.
Wechsel der Eliten
Die Volksgruppenideologie ist
weiter präsent
Die Flakhelfergeneration wurde
ab Mitte der 90er Jahre in Europa
durch die sogenannte 68er-Generation ersetzt. Das ist für die
Restlinke wichtig, da sie bisher
den ‚Humanitätsrittern‘ rhetorisch wenig entgegensetzten
konnte. Das betrifft nicht nur
Deutschland mit Fischerman’s
Friends, sondern auch den sogenannten Mr. GASP in Europa: Javier Solana. Alle waren früher erklärte NATO-Gegner und auch
gegen den Aufbau einer Europäischen Armee. In ihren Ikea-Regalen türmten sich die Fachbücher
Ich habe bisher die Position
Deutschlands als stark, aber im
europäischen Kontext eingebunden, analysiert. Deutsche Sonderwege sind wie gesagt eher unwahrscheinlich. Es gibt aber
Punkte, die auf das fortlaufen historischer Wurzeln hindeuten.
Wer Kommentatoren wie Erich
Rathfelder (taz) zur neuen Entwicklung in Mazedonien liest
kommt immer auf diesen Punkt.
Deutsche Politik wollte und will
Konflikte unter sogenannten
„Randvölkern“ in erster Linie
auf dem Balkan, immer wieder
Die Umwandlung der Bundeswehr in eine Interventionsarmee im europäischen
Rahmen schreitet voran.
Das Konzept von Scharping
sieht vor, dass künftig rund
150.000 Soldaten für “Kriseneinsätze” bereitstehen,
um gleichzeitig an zwei
Kriegsschauplätzen operieren zu können. Dies entspricht einer Aufstockung der
bisherigen “Krisenreaktionskräfte” (derzeitige Planung 66.000)
auf das Zweieinhalbfache.
In den Verteidigungspolitischen
Richtlinien von 1992 und in diversen NATO-Dokumenten (zuletzt im neuen Strategischen
Konzept vom April 1999) wurden als Ziele für das Militär u.a.
genannt: Aufrechterhaltung des
freien Welthandels, Zugang zu
Rohstoffen und natürlichen Ressourcen, Abwehr von Flüchtlingen und Bekämpfung des internationalen Terrorismus.
Das Ziel, die Herstellung einer
strukturellen Angriffsfähigkeit zu
erreichen, ist immer offensichtlicher. Folgerichtig werden von der
neuen Bundesregierung jene Be11
Festung Europa
schaffungsmaßnahmen vorrangig
behandelt, welche die Bundeswehr flexibler, transportfähiger
(“verlegefähiger”) und schlagkräftiger machen sollen. Festgehalten wird am teuersten Rüstungsprojekt der letzten Jahre,
dem Eurofighter 2000 (Beschaffungskosten bis zu 60 Mrd. DM).
Hier kann auf eine steigende Kostenlawine gesetzt werden, die es
bei solchen Mega-Projekten immer gibt, mit der wenigstens zeitliche Verzögerungen eintreten.
An erster Stelle im europäischen
Rahmen steht der Bau eines europäischen Großraumflugzeugs
A400 M. Die alten Transporter
(z.B. Herkules) können einfach
nicht genügend Tonnen für die
weltweiten Einsätze in die Luft
bekommen.
Weitere Luftwaffenprojekte sind:
die Beschaffung
des
Kampfhubs ch r a u b e r s
‚Tiger‘ und
des NATOHubschraubers NH-90.
Auch
das
neue gepanzerte Transportfahrzeug GTK
soll angeschafft werden. Bei der
Marine taucht auf Wunschlisten
ein riesiger Truppentransporter
auf, der die Verlegung via See gewährleisten soll. Zum Schutz bedarf es natürlich auch klassischer
Kampfschiffe. Von modernsten
Kleinwaffen, die ebenfalls beschafft werden, ist hier noch gar
nicht die Rede. Mit den in der
Entwicklung
befindlichen
Marschflugkörpern TAURUS,
manuell lenkbaren Flugbomben
POLYPHEM und Kampfdrohnen TAIFUN soll die Reichweite
der Artillerie erhöht werden. Solche präzisen Abstandswaffen verleihen der Bundeswehr eine künftigen Kriegsszenarios angepasste
“Deep-Battle-Kapazität”.
Dies ist eine europäische
Wunschliste, die sich trotz des
sonst überall realisierten Sparhaushalts in grossen Teilen
12
durchsetzen lassen wird. Die Militärs sind aber so euphorisch und
wollen so nebenher auch noch ihre nationalen Prestigewaffen aus
dem Kalten Krieg weiter technologisch ausbauen. So soll der
Kampfpanzer Leopard II neue
technologische Komponenten
verpasst bekommen. Damit kommen die Militärs meines Erachtens allerdings nicht durch, da
solche schweren Kampfpanzer
nicht in die Szenarien der Krisenreaktionskräfte passen und traditionelle Teile der Armeen, die zur
‚Landesverteidigung‘ benötigt
werden zugunsten der ‚Krisenreaktionskräfte‘ reduziert werden.
Ein riesiger militärischer
Komplex
Im Oktober 1999 fusionierten das DaimlerChryslerUnternehmen DASA und
die französische Aerospatiale Matra zur European Aeronautic,
Defense and Space
Company EADS. Dieser Luft- und Raumfahrtkonzern rückte
weltweit hinter Boeing
an die zweite Stelle, etwa an gleicher Stelle
mit dem zweiten US-Rüstungsgiganten Lockheed
Martin.
Doch damit nicht genug: Im Dezember 1999 trat die spanische
Casa der EADS bei, und im April
2000 gründeten die EADS und
der italienische Militärflugzeughersteller Alenia ein Gemeinschaftsunternehmen. Als nennenswerter europäischer Luftund Raumfahrtkonzern ist nun
lediglich British Aerospace noch
formal aussen vor. Beim Bau des
europäischen Militärtransportflugzeugs A400M ist die British
Aerospace aber dabei: Das mit 18
Mrd. DM teure Beschaffungsprogramm, an dem acht Länder beteiligt sind, wird von der EADSTochter Airbus Industrie durchgeführt.
Hier regt sich kein Kartellamt
und auch sonst agiert dieser Rü-
stungsgigant still vor sich hin.
Diese gewaltige ökonomische
Zusammenballung wurde bereits
Mitte der 90er Jahre von verschiedenen EU-Lobbyorganisationen
eingetütet. Zentrales Ziel ist es
den US-Firmen den Rüstungsmarkt für hochwertiges Gerät
streitig zu machen.
Ein regionales Beispiel: Die
EU und die Mittelmeerpolitik
Bis zum Ende der Ost-WestKonfliktes kam die EU nicht
über partielles Agieren hinaus.
Seit dieser Zeit sind die südlichen
und östlichen Anrainerstaaten eine strategisch wichtige Pufferzone. So heißt es in einer Erklärung
des Essener Gipfels von 1994:
„Derzeit stellen die politischen,
wirtschaftlichen und sozialen
Verhältnisse in einer Reihe dieser
Länder Quellen der Instabilität
dar, die zu
massenhafter Migration, fundamentalistischem Extremismus,
Te r r o r i s mus, Drogen und organisiertem
Verbrechen
führen.“
In der EU existieren zwei, auf
unterschiedlichen Ebenen angesiedelte Sicherheitskonzepte: Das
eine setzt auf eine veränderte militärische Option, das andere auf
sozio-ökonomische Reformen,
die durch Gelder der EU – wie
z.B. dem MEDA-Programm für
die Mittelmeeranrainer bzw.
durch Phare oder TACIS für die
MOEL Länder unterstützt werden sollen. An letzteres können
auch andere Projekte wie den Infrastrukturprogrammen im Verkehrsbereich unter dem Titel
‚Transeuropäische Netze‘ andocken.
Das militärische Konzept steht
dabei keinesfalls im Widerspruch
zu den reformpolitischen Projekten. Es ist vielmehr ein Notnagel
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 80/81, Oktober 2001
Festung Europa
und Alltag. Wer sich die zunehmenden militärischen Überwachungsmittel gegen Flüchtlinge,
zum Beispiel an der Meerenge
von Gibraltar anschaut, bekommt
dies allein optisch deutlich präsentiert.
Seit dem Frühjahr 1995 betreibt
die NATO in Abstimmung mit
der EU eine neue Politik gegenüber den Mittelmeeranrainerstaaten, die gegen „den Islam“ und
die Gefahr einer Weiterverbreitung moderner Waffen, insbesondere von Atomwaffen, gerichtet
ist. Ebenfalls 1995 gründeten im
Rahmen der WEU Frankreich,
Italien, Spanien und Portugal
zwei multinationale Truppenverbände: die 12000 Mann starke Interventionstruppe EUROFOR
sowie den gemeinsamen Marineverband EUROMARFOR. Damit wurde dem Drängen von Italien und Spanien nachgegeben,
die seit Jahren auch militärische
Mittel gegen die ‚Einwanderungsströme‘ aus dem Süden verlangen. Selbst an einem gemeinsamen Satellitenprojekt ‚Helios‘,
das eine militärische Überwachung des Mittelmeerraums gewährleisten soll, wird gebastelt.
An diesem Punkt sind die europäischen Militärs immer noch
von den USA abhängig.
Eine EU-Armee entsteht –
Eine kleine Chronik
Die Europäische Union rüstet
auf. Der entscheidende rechtliche
Schritt dazu ist im Amsterdamer
Vertrag
fest
geschrieben.
Während bis dahin durch den Artikel 223 des alten EG-Vertrages
der Rüstungssektor aus dem Gemeinsamen Binnenmarkt ausgeschlossen war und angebunden
an die nationale Verteidigung allein in nationaler Verantwortung
betrieben wurde, wird mit dem
Amsterdamer Vertrag 1997 ein
neues Kapitel über die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik aufgeschlagen.
Im Artikel V des Vertrages “Bestimmungen über die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik” wurde auch die Grundlage
für eine Europäische Verteidigungspolitik festgelegt. Die ‚Petersberg-Aufgaben‘ der WEU, die
Formen weltweiter Kampfeinsätze beschreiben, sind als Ziel der
verteidigungspolitischen Aktivitäten definiert.
Am 19./20.6.2000 wurden in
Santa Maria da Feira zum Abschlussgipfel der portugiesischen
Präsidentschaft weitere Teile zur
Vervollständigung der ESVP
(Europäische Sicherheits- und
Verteidigungspolitik) beschlossen. Zentrale Punkte sind: Zeitplan und Konkretisierung der
sog. “head-line-goals”, das heißt
der Reform der nationalen Armeen im Sinne der neuen Interventionsaufgaben der ESVP und
der weiteren Festigung der gemeinsamen Planungs- und Entscheidungsstruktur.
Hinzu
kommt der Aufbau einer permanenten Konsultationsstruktur mit
der NATO: Hier ging es um die
Einrichtung von vier “ad hoc
working groups”, jeweils zu Sicherheitsfragen, zu den militärischen Kapazitäten, zu den Modalitäten des EU-Zugangs zu NA-
TO-Militärkapazitäten und zur
Entwicklung einer Definition für
die permanente Konsultationsstruktur.
Der Gipfel in Nizza vom Dezember 2000 hat auch die institutionellen Voraussetzungen für den
militärischen Arm der ESVP mit
der Einbindung der Kommandofähigkeit in den Vertrag vollendet: die militärischen Kommandoorgane werden offiziell eingesetzt, die Aufrüstungskapazitäten
für die Interventionsfähigkeit
einschließlich der Mechanismen
zur weiteren Bedarfsüberprüfung
festgelegt und die Kompatibilität
zur NATO hergestellt.
Vermutlich wird es in praktischen
Einsatzfällen weiterhin Kompetenzkonflikte zwischen NATO
und dem neuen militärischen
Arm Europas geben. Allerdings
ist im Vergleich zur WEU ein
qualitativ völlig neuer und auch
aktionsfähigerer militärischer
EU-Apparat entstanden. Seit Nizza gibt es drei neue ständige politmilitärische Gremien. Ein
“Ständiges Politisches und Sicherheitspolitisches
Komitee“(PSK), der ‚Militärausschuss‘ (MC) und ein Militärstab
(MS). Ob sich daraus ein eigenständiger europäischer Generalstab entwickelt, ist aufgrund immer noch bestehender nationaler
Interessen, nicht sobald zu erwarten. Allerdings ist eine weitere
Abkopplung militärischer Interessen und Gremien von den verschiedensten Formen der Öffentlichkeit ein klar erkennbarer Prozess.
13
Festung Europa
Selbst die formal zuständige
Kontrollinstanz, das Europaparlament, bleibt wie bei manch anderen Politikfeldern außen vor.
Das Parlament hat sich sogar
selbst entmachtet. Die Forderung
nach parlamentarischer Kontrollfunktion des EP im Bereich der
ESVP mündete in einem
schwammigen Konsenspapier,
welches den Rat zu nichts verpflichtet. In der Konsequenz
heisst dies: keine Vertragsänderung für die ESVP und kaum
parlamentarische Kontrollbefugnisse. Die Sicherheitspolitik fällt in
ein gap zwischen Europaparlament und nationalen Parlamenten. Und
das kennen wir wie gesagt auch von anderen
Politikfeldern, die vergemeinschaftet wurden.
Das dauernde Argumentieren von der „Zivilmacht Europa“ fällt
an diesem Punkt wie ein
rhetorisches Kartenhaus
zusammen.
dergrund. Das heißt: Der zivile
Aspekt beschränkt sich nur noch
als Ergänzung zum militärischen
Teil der Sicherheitspolitik. Diese
Geschichten kennen wir auch aus
der sogenannten Entwicklungspolitischen Zusammenareit. In
der neoliberal geprägten Wirtschaftspolitik dürfen NGO’s soziale Nischenpolitik betreiben
und über Kleinprojekte Zeichen
setzen, die aber von ganz anderen
Prioritäten überlagert werden.
Wo bleibt das Zivile?
Sogenannte
zivile
Aspekte tauchen in der
ESVP ebenfalls auf. Bis
2003 sollen zum Beispiel 5.000 Polizisten für
internationale Missionen vorbereitet werden.
Die schwedische Präsidentschaft der EU (1.
Halbjahr 2001) versucht
auf Papier zivile Konfliktpräsentation von offizieller Seite wieder ins
Boot zu holen. Schweden weitet
folgerichtig die Agenda der Konfliktprävention aus. So setzt die
Präsidentschaft gezielt auf die
Zusammenarbeit mit NGO‘s und
Experten.
Das ist gute skandinavische Tradition, stösst allerdings an strukturelle Grenzen. Infolge der Gipfelbeschlüsse von Feira und Nizza stehen Maßnahmen zur Aufstellung der Polizeitruppe für robuste Konflikteinsätze im Vor14
Hoffnungsträger
mission ?
EU-Kom-
Oft machen Lobbygruppen den
Fehler aus einem Hoffnungsfunken, eine Wende in der Politik zu
erkennen. So hat die Kommission in Fragen der Flüchtlingspolitik in Teilen (z.B. Familienzusammenführung und geschlechtsspezifische Verfolgung) wesentlich
besser klingende Forderungen,
wie im jeweiligen nationalen Rahmen zu Papier gebracht.
Diese Positionen gilt es, aus taktischen Gründen in aktuelle nationale Diskussionen einzuspeisen ,
auch wenn es nur dazu dient wieder in einer breiteren Öffentlichkeit gehört zu werden. Allerdings
zeigt jede Erfahrung, dass die
Vorfreude nicht von langer Dauer sein wird. In den im Vorfeld
der Gesetzgebung veröffentlichten Papieren, z.B. ‚Grünbücher‘
klingen die Positionen der Kommission meist sehr viel offener
und freundlicher. Steht der Prozess der Gesetzgebung
oder eines
Abkommens
am
Ende bricht
von Lobbyseite meist
der grosse
Katzenjammer aus. Der
Ve r h a n d lungsprozess hin zu
einem neuen
AKP-EUAbkommen
kann dazu
beispielhaft
zitiert werden
Diese Thesen, so lässt
sich zusammenfassend
sagen, verd e u t l i ch e n
einen neuen
qualitativen
Schub was
die europäische Verteidigungs- und Sicherheitspolitik
betrifft. Das ‚Zivile Europa‘ wie
es gerade von grünen PolitikerInnen gerne an die Wand gemalt
wird ist ein theoretisches Konstrukt, welches gern ideologisch
eingesetzt wird. Dagegen sind
Flüchtlinge in den benannten militärischen Szenarien ein Bedrohungspotential.
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 80/81, Oktober 2001
Festung Europa
Halbzeit:
Die Union auf dem Weg zu einem
gemeinsamen Asylrecht
Karl Kopp, PRO ASYL
B
undesdeutsche Politiker profilieren sich auf dem europäischen Parkett gerne als große Visionäre - allen voran Außenminister Fischer. Auch Bundeskanzler
Schröder, der lange Zeit deutliche
Reserven bei der Frage des europäische Einigungsprozesses
zeigte, möchte seit geraumer Zeit
seinem Außenminister nicht nach
stehen. In Sonntagsreden fordern
sie die Stärkung des Europaparlaments, der Europäischen Kommission und den Übergang zu
Mehrheitsentscheidungen in allen
zentralen Politikfeldern, um das
vielzitierte Demokratiedefizit zu
beseitigen. Als es um die Reform
der EU in Nizza ging, hat die
Bundesrepublik genau diese
Aspekte der Weiterentwicklung
im Politikfeld Justiz und Inneres
verhindert und steht damit in der
Tradition der Kohl- Regierung.
Auch Innenminister Schily gibt
sich gerne als europäischer Visionär. Manchmal will er Dinge
europäisch lösen, die im Amsterdamer Vertrag noch nicht zur
Vergemeinschaftung vorgesehen
sind. Jüngstes Beispiel: Schily fordert die Schaffung einer europäischen Grenzpolizei. Bei der Umsetzung des asylpolitischen Programms, den konkreten Vorschlägen der Europäischen Kommission jedoch, denkt der Innenminister treu deutsch.
Über ein Jahrzehnt wurde in der
Bundesrepublik
Deutschland
”Europa” instrumentalisiert zur
Absenkung der Standards im
bundesdeutschen Asylrecht. Spätestens nach Vorlage der Richtlinienvorschläge der Europäischen
Kommission zur Familienzusammenführung und zu Mindestnormen für ein gemeinsames Asylverfahren kühlte die bundesdeutsche
„Europabegeisterung“
merklich ab: die anvisierten Standards auf EU-Ebene sind liberaler als das bundesdeutsche Asylrecht. Deshalb verhinderte die
Bundesregierung auf dem EUGipfel in Nizza den Übergang zu
Mehrheitsentscheidungen in der
Asyl- und Einwanderungspolitik.
Das Bundesinnenministerium
(BMI) mauert nahezu bei allen
Vorschlägen der Kommission
und die CDU/CSU läuft Sturm
gegen Brüssel. In dieser Arbeitsteilung agiert die Bundesrepublik
auf EU-Ebene als die zentrale
Bremserin einer Vergemeinschaftung des Asylrechts. Zeitgleich
wird innenpolitisch die Debatte
über Migration und Asyl geführt,
als wolle man diese Themen auch
in diesem Jahrzehnt noch im nationalstaatlichen Kontext regeln.
Mit dem nun vorliegenden Referentenentwurf eines Zuwanderungsgesetzes aus dem Hause
Schily werden anvisierte europäische Standards weit unterschrit-
ten und bundesdeutsche Pflöcke
für künftige Verhandlungen auf
EU-Ebene in den Boden gerammt.
Harmonisierung
Seit den 80er Jahren
ist die Rede von der
notwendigen Harmonisierung der europäischen Asylpolitik. Bis heute
jedoch wurde kein gemeinsames
Asylrecht geschaffen. Die Mitgliedsstaaten der Europäischen
Union betrieben im letzten Jahrzehnt eine Harmonisierung, die
sich vor allem durch gemeinsame
Abschottungsmaßnahmen und
die Verweigerungshaltung bei der
Flüchtlingsaufnahme auszeichnet. In zahlreichen nicht bindenden Beschlüssen- so genanntes
soft law – einigten sich die zuständigen Innenminister auf
Maßnahmen, die den Zugang
zum Verfahren erschwerten und
die Verfahrens- und sozialen
Standards absenkten. Ein prominentes Beispiel sind die so genannten Londoner Beschlüsse
aus dem Jahr 1992 zu dem Konzept “sichere Drittstaaten”, “sichere Herkunftsländer” und beschleunigtes Verfahren bei “offensichtlich unbegründeten Asylanträgen”. Diese Konzepte wurden in Folge in den nationalstaatlichen Gesetzen der Mitglieds15
Festung Europa
staaten umgesetzt. Die Bundesrepublik Deutschland hat die Drittstaatenregelung – die restriktivste
in der EU - und das Konzept “sichere Herkunftsländer” nur wenige Monate nach dem Londoner
Treffen in die Verfassung aufgenommen.
All diese Maßnahmen, flankiert
von der Schengener Grenzregimeaufrüstung und über 140 existierenden Rückübernahmeabkommen mit Anrainer-, Transitund Herkunftsländern, gefährden
nicht nur das Zurückweisungsverbot (Non- Refoulement - Gebot), sondern verlagern zunehmend die Flüchtlingsaufnahme in
Nicht-EU-Staaten.
Harmonisierung wurde zur Metapher für einen Wettlauf der Restriktionen zwischen den Mitgliedsstaaten der EU.
Vergemeinschaftung
des Asylrechts
Mit Inkrafttreten des
Amsterdamer Vertrages
im Mai 1999 befindet
sich die EU in einem Prozess zu
einer anderen Qualität der Harmonisierung: Die EU-Mitgliedsstaaten – um genau zu sein,
zwölf der fünfzehn EU-Staaten –
verpflichten sich innerhalb von
fünf Jahren bis 2004, in zentralen
Feldern der Asyl- und Einwanderungspolitik gemeinsames Recht
zu schaffen. England und Irland
entscheiden von Fall zu Fall, ob
sie an den beschlossen Maßnahmen teilnehmen. Dänemark
bleibt bis auf weiteres völlig
außen vor.
Diese Phase zu einer Vergemeinschaftung, also bindendes Recht
für alle beteiligten Mitgliedsstaaten zu schaffen, bedeutet eine Zäsur. Damit wird der Prozess der
Abgabe von nationalstaatlichen
Souveränitatsrechten im Normalfall unumkehrbar. Nationalstaatliche Politik im Asyl- und Einwanderungsrecht ist folglich ein Anachronismus. Die Europäische
Union befindet sich auf dem Weg
zu einem gemeinsamen Asyl16
recht. Aber dieser Vergemeinschaftungsprozess beginnt nicht
bei Null, sondern vor dem Hintergrund einer bereits real existierenden Abschottungsunion.
Im Oktober 1999 haben sich die
Staats- und Regierungschefs im
finnischen Tampere über die politischen Leitlinien verständigt,
wie dieser Vergemeinschaftungsprozess der Asyl- und Migrationspolitik vonstatten gehen soll.
Tampere hat Aspekte der bestehenden Abschottungslogik fortgeschrieben, aber sprachlich und
inhaltlich zum Teil neue Akzente
gesetzt. Das klare Bekenntnis, einem künftig gemeinsamen Europäischen Asylsystem die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK)
”allumfassend und uneingeschränkt” zu Grunde zu legen,
hat zumindest auf EU-Ebene
Überlegungen,
die
Genfer
Flüchtlingskonvention als nicht
mehr ”zeitgemäß” zur Disposition zu stellen, eine klare Absage
erteilt. Das hat in der Folge einzelne EU-Innenminister nicht
daran gehindert, Angriffe auf die
GFK zu führen.
Die Kommission arbeitete mit
Hochdruck das asylpolitische
Programm von Amsterdam und
die Vorgaben von Tampere ab:
Aktuell werden Richtlinienvorschläge zu Mindestnormen für
ein gemeinsames Asylverfahren
(September 2000), zu gemeinsamen Aufnahmebedingungen, zu
künftigen Zuständigkeitsregeln
(Juli 2001) und zur Familienzusammenführung (erster Vorschlag Dezember 1999 und eine
restriktivere Fassung vom Oktober 2000) im Rat behandelt. Bis
Herbst 2001 will die Kommission
Vorschläge zu allen asylrelevanten Bereichen vorlegen. Aktuell
stehen die brisantesten Richtlinienvorschläge zum Flüchtlingsbegriff und zu ergänzenden Schutzformen noch aus. Mit zwei Mitteilungen zu Asyl und Migration
(November 2000) hat die Kommission bereits Ziele über den
Amsterdamer Transit hinaus formuliert.
In der Grundtendenz orientieren
sich die Kommissionsvorschläge
an den Standards des internationalen Flüchtlingsrechtes. Ihre
Realisierung würde zumindest einen partiellen Bruch mit der Asylpolitik der 90er Jahre bedeuten,
die ”Harmonisierung” zur Metapher für einen Wettlauf der Restriktionen zwischen den Mitgliedsstaaten der EU machte.
Foto: Aktion 3. Welt-Saar
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 80/81, Oktober 2001
Festung Europa
Das Demokratiedefizit in der Union
Das Demokratiedefizit
der Union, insbesondere im Politikfeld Justiz und Inneres, ist jedoch so frappierend,
dass schon allein auf Grund der
existierenden Machtverhältnisse
in der Union eine reale Abkehr
nicht vollzogen werden kann. In
dem fünfjährigen Übergangszeitraum müssen asylpolitische Maßnahmen einstimmig im Ministerrat angenommen werden. Das
Kräfteverhältnis zwischen den
drei zentralen Akteuren Parlament, Rat und Kommission stellt
sich im Asylbereich wie folgt dar:
Die Kommission liefert zum Teil
flüchtlingsfreundlichere
Vorschläge, diese scheitern aber an
dem Prinzip der Einstimmigkeit
im Rat. Das Europäische Parlament nimmt – trotz seiner konservativen Mehrheit – häufig bei
Menschen- und Flüchtlingsrechtsfragen eine liberale Positionen ein, besitzt aber kein Mitentscheidungs-, sondern nur ein Anhörungsrecht. Somit bleibt die
Praxis der Union weiterhin von
nationalstaatlichen Partikularinteressen geprägt. Die Fachministerinnen und -minister im Rat
besitzen die Macht, und es deutet
sich in keiner Weise an, dass die
Nationalstaaten diese im Interesse eines gemeinsamen Asyl- und
Einwanderungsrechtes
teilen
oder gar aufgeben möchten. Unter diesen Voraussetzungen werden Mindestnormen – wenn
überhaupt – auf dem kleinsten
gemeinsamen Nenner verabschiedet werden. Es ist bereits
jetzt abzusehen, dass der Amsterdamer Zeitplan – eine Vergemeinschaftung der Asyl- und Migrationspolitik bis 2004 – nicht
eingehalten werden kann.
Halbzeitbilanz
Die Halbzeitbilanz im fünfjährigen Amsterdamer
Transit fällt dementsprechend
äußerst dürftig aus. Die wenigen
im Rat angenommenen Richtlinien und Verordnungen besitzen
eine stark repressive Schlagseite
Beschlossen wurde bis jetzt der
Europäische Flüchtlingsfonds
(September 2000), die EURODAC-Verordnung (EURODAC
ist ein System für den Vergleich
der Fingerabdrücke von Asylsuchenden und “illegalen Zuwanderern”)(Dezember 2000), eine Visa-Verordnung (März 2001), eine
Richtlinie zur Anwendnung des
politischen
Schutzkonzeptes
„Vorübergehender Schutz“ (Mai
2001) und diverse repressive
Maßnahmen zur „Schlepperbekämpfung“ und Sanktionierung von Beförderungsunternehmen (Mai 2001). Die EU steht
weiterhin in der Kontinuität einer
Abschottungsgemeinschaft. Einigung wird bei restriktiven Maßnahmen erzielt. Liberale Ansätze
wie zum Beispiel der Richtlinienvorschlag der Kommission zur
Familienzusammenführung sind
seit über 20 Monaten in Verhandlung, aber es ist keine Beschlussfassung in Sicht. Asylrechtliche
Maßnahmen oder Verordnungen
im engeren Sinne wurden bis jetzt
noch gar nicht beschlossen. Der
Rat beabsichtigt bis Dezember
2001 die Beratung über die Vorschläge zu gemeinsamen Asylverfahren und Aufnahmebedingung
abzuschließen.
Die Kommission steht unter starkem politischen Druck. Einige
Mitgliedsstaaten, an vorderster
Stelle auch hier die Bundesrepublik, kritisieren den Brüsseler
Grundansatz. Schily entwickelte
in diesem Zusammenhang eine
eigentümliche Additionslehre:
bundesdeutsche Maximalstandards gepaart mit den vorgeschla-
Foto: Aktion 3. Welt-Saar
17
Festung Europa
genen europäischen Mindeststandards führten zu nicht akzeptablen Supermaximalstandards in
Deutschland. Gebetsmühlenhaft
fordert er einen „ganzheitheitlichen Ansatz“ und meint letztlich
restriktive Leitlinien des Rates auf
deren Grundlage eine willfährigere Kommission Vorschläge unterbreiten soll.
Vor übergehender
Schutz
Die Erfahrungen aus dem Kosovokrieg haben gezeigt, dass
»vorübergehender Schutz« als politisches Schutzkonzept zur Umgehung der GFK genutzt wurde.
Der Richtlinienvorschlag der
Kommission zum „Vorübergehenden Schutz“ wurde stark verwässert, um das notwendige einstimmige Votum Ende Mai 2001
im Rat zu erhalten. Die Bundesrepublik hat sich mit ihrer Forderung nach einer Verlängerungsmöglichkeit dieses politischen
Schutzkonzeptes auf bis zu drei
Jahren – urspünglich war eine
Höchstdauer von zwei Jahren
vorgesehen - durchgesetzt.
Die Richtlinie stellt klar, dass
vorübergehender Schutz nur ein
in Ausnahmen einzusetzendes
Instrumentarium ist, wenn ”das
Asylsystem diesen Zustrom nicht
ohne Beeinträchtigung seiner
Funktionsweise” auffangen kann.
Deutschland, Frankreich, Österreich und England wollten auch
diese Einschränkung streichen,
um bei der Anwendung dieses
politischen Schutzkonzepts freie
Hand zu haben.
• Ein auf die Kernfamilie beschränktes Recht auf Familienzusamenführung und den
Zugang zum Arbeitsmarkt.
Ein zentraler Punkt der Auseinandersetzung bleibt die Frage des
Zugangs zu einem Asylverfahren.
Die Mitgliedsstaaten können die
Verfahren während der gesamten
Dauer des vorübergehenden
Schutzes aussetzen. Nach Auffassung von PRO ASYL muss
Flüchtlingen der Weg in ein Asylverfahren jederzeit offen stehen
und die Verfahren dürfen nicht
eingefroren werden.
Das Dubliner
Übereinkommen
Trotz aller Harmonisierungsbestrebungen existieren gravierende
Unterschiede bezüglich der Standards der Asylverfahren und der
Anerkennungspraxis in der EU.
Von daher können Zuständigkeitsregelungen bei der Prüfung
der Asylverfahren nicht fair funktionieren. Aktuell produziert das
Dubliner Übereinkommen – als
wichtiges (nicht ausschließliches)
Zuständigkeitskriterium gilt, über
wessen Außengrenzen der Asylsuchende in das Unionsgebiet
eingereist ist – eine Art Schutzlotterie für Flüchtlinge. Dublin
garantiert nicht einmal, dass die
Überprüfung eines Asylantrages
tatsächlich innerhalb der EU
stattfindet. Mitgliedsstaaten können auf Grundlage ihrer nationalen Drittstaatenregelung Schutzsuchende in Nicht-EU-Staaten
weiterschieben. Konsequent wäre
von daher die Frage, von Zuständigkeitsregeln bis zur Schaffung
eines gemeinsamen Asylrechts
auszusetzen. In der Dublin ersetzenden Verordnung muss die
Drittstaatenregelung gestrichen
werden, um den Zugang zu einem Asylverfahren innerhalb der
EU sicherzustellen. In Zukunft
sollte ein Finanzausgleich auf
EU- Ebene entwickelt werden,
statt Flüchtlinge weiterhin europaweit zu verteilen.
Der Flüchtlingsbegriff
Eine einheitliche Anwendung der
Genfer Flüchtlingskonvention
und zwar ”allumfassend und uneingeschränkt” stellt das Funda-
Die Richtlinie umfasst u.a.:
• einen neuen Solidaritätsmechanismus in Form eines Finanzausgleiches im Rahmen
des Europäischen Flüchtlingsfonds und
• die konkrete Aufnahme auf
der Grundlage der doppelten
Freiwilligkeit - d.h. Freiwilligkeit sowohl seitens der Aufnahmeländer als auch seitens
der aufzunehmenden Flüchtlinge.
18
Foto: S. O´Neil
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 80/81, Oktober 2001
Festung Europa
ment eines gemeinsamen Asylrechts dar. Absurderweise ist die
Annahme dieser Richtlinie im
Harmonisierungsfahrplan der EU
erst im April 2004 vorgesehen.
Einem großen Teil der De-factoFlüchtlinge wird auf Grund einer
restriktiven Auslegung der GFK
der ihnen zustehende Flüchtlingsschutz vorenthalten. Die Anwendung der GFK in der Union
muss künftig allen Formen und
Urhebern von Verfolgung, zum
Beispiel auch Verfolgung durch
nichtstaatliche Akteure, Rechnung tragen. Der demnächst vorliegende Richtlinienvorschlag
zum Flüchtlingsbegriff der Europäischen Kommission wird
nach Einschätzung von Beobachtern, diesem Ansatz in der Grundtendenz Rechnung tragen und
muss von daher mit erbittertem
Widerstand der Bundesrepublik
rechnen. Das BMI wird mit einem
nationalen Gesetzesentwurf in
die Verhandlungen treten, der die
Schutzlücke bei Opfern nichtstaatlicher Verfolgung fortschreibt
und sogar erweitert- im Widerspruch zum Völkerrecht und zur
Praxis der überwiegenden Mehrheit der EU- Mitgliedsstaaten.
Ergänzender Schutz
Der so genannte ergänzende Schutz soll
zeitgleich mit der Richtlinie zur
GFK verabschiedet werden. Aktuell existieren in den meisten
Mitgliedsstaaten unterschiedliche
Formen des ”ergänzenden
Schutzes”. In den Anerkennungsstatistiken nehmen diese Schutzformen im Vergleich zum Schutz
nach der GFK zu. Dies lässt sich
sicherlich auch als ein Indiz für
eine weitere Aushöhlung der
GFK werten. Die Rechte, die
Personen mit dem ergänzenden
Schutzstatus gewährt werden, variieren von Mitgliedsstaat zu Mitgliedsstaat. So besitzt z.B. diese
Schutzgruppe in den skandinavischen Ländern das Recht auf Familienzusammenführung und in
der Bundesrepublik, Luxemburg
und Österreich nicht. Nach unserer Auffassung ist ”ergänzender
Schutz” Personen zu gewähren,
die nicht unter die GFK fallen,
aber durch internationale Abkommen, wie zum Beispiel die
Europäische Menschenrechtskonvention, das Übereinkommen
der Vereinten Nationen gegen die
Folter oder die Kinderrechtskonvention vor Abschiebung geschützt sind. Den Flüchtlingen
sind Rechte analog zur GFK zu
gewähren.
Mindestnormen für
ein gemeinsames
Asylverfahren
Der Kommissionsvorschlag sieht
ein in der Regel dreistufiges Asylprüfungsverfahren vor, bestehend
aus einer Asylbehörde, einer administrativen oder gerichtlichen Beschwerdeinstanz und einem Berufungsgericht. Die Mitgliedsstaaten
sind verpflichtet, den uneingeschränkten Zugang zum Asylverfahren sicherzustellen und die
erfahrungsgemäß zuerst mit
Flüchtlingen in Kontakt tretenden Grenzbehörden zwingend
anzuweisen, die Asylsuchenden
an die für die Prüfung des Asylantrags zuständige Behörde weiterzuleiten. Weitreichende Verfahrensgarantien gelten für alle
unbegleiteten Minderjährigen unter 18 Jahren. Allen wird ein Vormund gestellt, die Anhörungen
werden von speziell ausgebildeten Personen durchgeführt. Der
Kommissionsvorschlag formuliert vor allem engere Bedingungen an die Drittstaatenregelung.
Ungeachtet der generalisierenden
Bestimmungen über die Sicherheit in einem Drittstaat muss eine
konkrete Einzelfallprüfung erfolgen. Nicht akzeptablel und korrekturbedürfig ist, dass der Kommissionsvorschlag bei Zulässigkeits- und beschleunigten Verfahren hinter völkerrechtlichen Standards zu-rückbleibt. Er lässt neben Flughafenverfahren auch so
genannte Grenzverfahren in allen
Fallkonstellationen zu. In jedem
Fall ist künftig das Verbleibensrecht des Asylsuchenden bis zum
Abschluss des Überprüfungsverfahrens sicherzustellen.
Mindestnormen für die
Aufnahmebedingungen
von Asylsuchenden
Foto: Maria Wöste
Anfang April 2001 veröffentlichte die Kommission ihren Richtlinienvorschlag. Sie will mit ihrem
19
Festung Europa
Vorschlag Mindestnormen festlegen, die Asylsuchenden “im Normalfall ein menschenwürdiges
Leben” ermöglichen. Der Rat
hatte der Kommission bereits im
Vorfeld ein Korsett angelegt. In
der
Ratsitzung
vom
30.11/1.12.2000 wurden Leitlinien verabschiedet.Die Bundesrepublik hatte vorab klargestellt,
dass die EU-weit einzigartige
bundesdeutsche Residenzpflicht
nicht zur Disposition stehe. Angesichts der vorgegebenen Leitlinien durch den Rat und den sehr
verschiedenen Ausgangsvoraussetzungen in den Mitgliedsstaaten, bezogen auf die existierenden allgemeinen Sozialsysteme
und der sozialen Ausgestaltungen
des Asylverfahrens, formuliert
die Kommission äußerst restriktive Aufnahmebedingungen, mit
vielen Kann-Bestimmungen. Aktuell variieren die Sozialleistungen für Asylsuchende von keinerlei Zuwendungen wie z. B. Griechenland, über partielle Leistungen wie in Österreich, Italien,
Frankreich, Spanien und überwiegend durchgängige Leistungen in
den Benelux – Staaten, in den
skandinavischen Mitgliedsstaaten,
England, Irland und Deutschland. Wobei sich in der letztgenannten Gruppe zunehmend reduzierte Leistungen durchsetzen.
Der nun vorliegende Kommissionsvorschlag ermöglicht diesen
Staaten ihr restriktives Modell
(Sachleistungen, Gutscheine etc.)
beizubehalten und zum Teil noch
weiter abzusenken. Verbesserung
hätte die Umsetzung dieses Vorschlags in Staaten zur Folge, in
denen nicht einmal eine Grundversorgung oder nur ein partielle
existiert. Absurderweise schränkt
die Kommission die Voraussetzung für ein faires Verfahren durchgängige
Versorgung
während des gesamten Verfahrens bzw. Aufenthalts auch noch
ein. Artikel 22 regelt die Einschränkung bzw. Aberkennung
von Aufnahmebedingungen, z.B.
bei Untertauchen von mehr als 6
Wochen, Rücknahme des Asylantrages, bei “unangemessenen Verhaltens” in den Unterkünften etc.
Asylsuchenden wird nach sechs
20
Monaten der Zugang zum Arbeitsmarkt gewährt. Doch die
Mitgliedsstaaten “ bestimmen
weiterhin völlig eigenständig über
den nationalen Arbeitsmarkt”.
Drei Monate, nachdem den
Schutzsuchenden der Zugang
zum Arbeitsmarkt zugestanden
wurde, dürfen die Mitgliedsstaaten die materiellen Aufnahmebedingungen einschränken oder gar
aberkennen. “
Die Frage der Freizügigkeit bzw.
Residenzpflicht wurde zur Zufriedenheit der Bundesrepublik
gelöst. Die Mitgliedstaaten können beschließen, dass sich Asylsuchende in einem begrenzten
Bereich aufhalten müssen, wenn
dies zur Umsetzung der Richtlinie oder zur zügigen Bearbeitung
der Asylanträge erforderlich ist.
Richtlinie zur Familienzusammenführung
Der Richtlinienvorschlag zur Familienzusammenführung vom
Dezember 1999 gewährte insbesondere Flüchtlingen das Recht
auf Familienzusammenführung.
Die EU-Kommission legte zudem einen Familienbegriff zu
Grunde, der nicht nur nichteheliche, sondern auch gleichgeschlechtliche
Lebensgemeinschaften umfasst. Außerdem regelte er die Möglichkeit der Familienzusammenführung auch für
Verwandte in aufsteigender Linie
(Eltern und Großeltern) sowie in Ausnahmen - auch für volljährige Kinder. Auf Grund der
starken Widerstände in einzelnen
Mitgliedsstaaten – allen voran die
Bundesrepublik – legte die Kommission am 10. Oktober 2000 einen revidierten Vorschlag vor. In
dieser restriktiveren Fassung wurde die große Gruppe der Personen herausgenommen, die so genannten ergänzenden Schutz besitzen. GFK-Flüchtlingen wird
weiterhin ein Rechtsanspruch auf
Familienzusammenführung ohne
Restriktionen gewährt. Mittlerweile ist der Kommissionsvorschlag völlig zerpflückt. In Folge
eines Monate langen bundesdeutschen Widerstands in den Ratsar-
beitsgruppen hat das BMI aus einem europäischen Richtlinienvorschlag einen bundesdeutschen
gemacht, mit aktuell über 25
Kann-Bestimmungen.
Mit seinem Referentenentwurf
legt Schily noch einmal eine Rolle
rückwärts hin und senkt das
Nachzugsalter für Kinder im
Normalfall auf zwölf Jahre ab,
während der EU-Standard bei
achtzehn Jahren liegt.
Die EU braucht eine grundlegende Reform und ein rechtsverbindliches Europäisches Grundrecht auf Asyl
Auf dem EU-Gipfel im Dezember 2000 in Nizza proklamierten
die Repräsentanten der drei EUInstitutionen eine Grundrechtscharta. Eine erneute Regierungskonferenz im Jahr 2004 wird entscheiden, ob die Charta in die
Verträge aufgenommen und damit rechtsverbindlich wird.
In Artikel 18 wird ein Asylrecht
garantiert:
”Das Recht auf Asyl wird nach
Maßgabe des Genfer Abkommens
vom 28. Juli 1951 und des Protokolls vom 31. Januar 1967 über
die Rechtsstellung der Flüchtlinge
sowie gemäß dem Vertrag zur
Gründung der Europäischen Gemeinschaft gewährleistet.”
Ein rechtsverbindliches Europäisches Grundrecht auf Asyl stellt
sicher, dass ein effektiver Zugang
zum Verfahren in einem Mitgliedsstaat und Flüchtlingen die
Gewährung der Rechtsstellung
nach der Genfer Flüchtlingskonvention gewährleistet wird.
Darüber hinaus benötigt die EU
eine umfassende Reform. Der
noch nicht ratifizierte Vertrag
von Nizza hat nicht ansatzweise
eine politische Union, die mehr
Demokratie und mehr Transparenz bietet, auf den Weg gebracht. Im Post-Nizza-Prozess
muss das Demokratiedefizit beseitigt werden:
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 80/81, Oktober 2001
Festung Europa
• Das Einstimmigkeitsprinzip
muss im Bereich Justiz und
Inneres fallen.
• Notwendig sind reale Mitentscheidungsrechte des Europäischen Parlaments und eine starke, parlamentarisch
kontrollierte Kommission.
• Die Charta der Grundrechte
muss rechtsverbindlich werden.
Ohne diese Reformen gestaltet
sich der Weg zu einem gemeinsamen Asylrecht weiterhin zäh und
wird flankiert von einem ungebremsten Wettlauf der Restriktionen auf Seiten der Nationalstaaten. Die größte Gemeinsamkeit
der Mitgliedstaaten bleibt die
möglichst effiziente Entledigung
der Verantwortung bei der
Flüchtlingsaufnahme, der Schutz
vor Flüchtlingen. Die Staats- und
Regierungschefs bekennen sich
zum Flüchtlingsschutz in der
Union, in der Praxis schottet sich
die EU jedoch weiterhin gegenüber Schutzsuchenden ab. Sichtbarer Ausdruck sind so genannte
Aktionspläne der EU zu verschiedenen Herkunftsländern (Irak,
Afghanistan, Marokko, Somalia,
Sri Lanka und Albanien/Kosovo). Diese Aktionspläne sollen
Ausdruck einer künftig größeren
Kohärenz der Innen-, Außenund Entwicklungspolitik sein. Im
konkreten Umsetzungsteil finden
wir kein Wort darüber, wie ein
Schutzsuchender Zugang zu einem Asylverfahren in der EU findet: Es geht um Fluchtverhinderung, Regionalisierung der
Flüchtlingsaufnahme, Vorverlagerung der Abschottungsmaß-
nahmen in Transitländer und die
Suche nach neuen Abschiebewegen.
UN-Generalsekretär Kofi Annan
hat den europäischen Staaten ihre
Abwehrpolitik und den fatalen
Vorbildcharakter deutlich ins
Stammbuch geschrieben:
”... ich bedauere es sagen zu müssen, (es) sprechen einige Anzeichen
dafür, dass Europa seine Verpflichtungen aus dem Auge verliert, Flüchtlinge gemäß internationalem Recht, wie es in der Genfer
Flüchtlingskonvention niedergelegt
ist, zu schützen. Das bereitet mir
größte Sorge, zumal es die Gefahr
herauf beschwört, Auswirkungen
auf andere Regionen zu haben, die
Europa als Vorbild sehen.” (Kofi
Annan, im Februar 2001 in
Stockholm)
Foto: arbeiterfotografie
Kolonialbeamte der Europäischen
Union
EU-Grenzpolizei vor Weißrussland und in Sarajewo
V o n H e l m u t D i e t r i c h , d e r T e x t e r s c h i e n i n g e k ü r z t e r F o r m i n d e r J u n g l e W o r l d 21, v o m 2 3 . 5 . 0 1
A
m 4. Juli 2001 soll die Zuwanderungskommission, die
Innenminister Otto Schily vor einem Jahr installiert hat, ihre
Empfehlung für eine neue Migrationspolitik abgeben. Die 21-köpfige Kommission umfasst bei ihrer Konstituierung außer einem
Deutsch-Schweizer keine ImmigrantInnen.1 Sie ist kein parlamentarisches Gremium, sondern
ein Institutionstyp, der Legitimität für den neuen Regierungsstil in Berlin beschaffen soll. Die
Grundlagentexte der neuen Migrationspolitik liegen bereits seit
zwei Jahren vor, und die SchilyKommission wird Folgendes ver-
künden: Mithilfe eines PunkteSystems sollen pro Jahr 600.000
MigrantInnen hergeholt und
400.000 MigrantInnen mehr oder
weniger freiwillig abgeschoben
werden, mit einem Realzuwachs
von 200.000 Personen jährlich.
Nicht eine Liberalisierung, sondern ein Ausbau des Kontrollsystems bis hin in die Herkunftsländer steht also bevor. Ein Scheitern dieses gigantischen Planungsvorhabens ist vorprogrammiert, wenn man sich die Eigenwilligkeit der MigrantInnen und
Flüchtlinge ansieht, die bereits
das Rotationsmodell der „GastarbeiterInnengeneration“ aushebel-
ten und als heimliche ZuwandererInnen die Festung Europa unterliefen. Bemerkenswert an der
Neukonzeption ist die expansive
Kraft der neuen EU, die darin zur
Geltung kommt; ihr gelten die
folgenden Überlegungen.
Welche symbolische Geste ist damit bezweckt, dass die SchilyKommission den amerikanischen
Unabhängigkeitstag für die Veröffentlichung erwägt? Wie lässt
sich die heutige Wende der Migrationspolitik auf dem Hintergrund der Jefferson´schen Erklärung von 1776 interpretieren?
Jefferson verband in der Er21
Festung Europa
Foto: AntiRaGö
klärung die Kritik an der monarchistischen Bürokratie mit der
Verkündung von Menschenrechten. Der Plantagenbesitzer formulierte in der Präambel, dass alle Menschen von Geburt aus mit
gleichen Rechten ausgestattet seien. Aber die Erklärung erwähnt
nicht, dass auf den Plantagen und
in den Haushalten afroamerikanische SklavInnen arbeiteten. Das
Stimmrecht war nur für die
weißen Männer, nicht aber für die
Frauen vorgesehen.
Der menschenrechtliche Impetus, der dennoch der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung
innewohnt, bezieht sich vor allem
auf das Land ohne Grenzen. Die
Immigration aus Europa ließ sich
bestens mit der Eroberung des
amerikanischen Westens verbinden. So war neben der Sklaverei
und der Frauendiskriminierung
das leere Land die Voraussetzung
für diese Art von Menschenrechtsverständnis. Leer war das
Land in den Augen der kapitalakkumulierenden Siedler und Plantagenbesitzer, in Wirklichkeit verdrängten sie die indianische Bevölkerung, dezimierten sie durch
die Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen und mordeten sie hin.
Es ist der expansive Kurs, der für
einen Vergleich mit der heutigen
Europäischen Union durchaus
bestechend ist und die Unabhängigkeitserklärung von 1776 von
heute aus lesbar macht. Denn erstens wird die EU-Osterweiterung als Zuwachs konzipiert,
nicht als länderübergreifender
22
Neuanfang. Und zweitens haben
die Kriegspolitik und die Interventionen in Südosteuropa aus
dem Balkan ein untergliedertes
EU-Protektorat gemacht. Mit anderen Worten: Westeuropa hat
neue abhängige Gebiete, die es
durch ein Mehrebenensystem
von Regierungsbeauftragten, Beratern, Unternehmen, ThinkTanks und Nichtregierungsorganisationen zu verwalten versucht.
Warum nimmt die Migrationspolitik in diesem neuen Szenarium
eine Leitfunktion ein? Welche
außenpolitischen und intergouvernamentalen Institutionen erfahren durch die migrationspolitische Wende eine Aufwertung
oder Neubestimmung? Welche
katalysatorischen Prozesse löst
ein europaweites, aufeinander abgestimmtes Migrationsregime
aus, das nicht mehr an den Grenzen der Festung Europa halt
macht, sondern in die Herkunftsgebiete von Flüchtlingen und MigrantInnen eingreift?
Die MigrationswissenschaftlerInnen, die von jeher eine besondere
Nähe zur Politikberatung aufweisen, haben bereits seit längerem
ihrem Feld eine Schlüsselstellung
im weltweiten Verhältnis von
Reich und Arm zuerkannt, das jedes nationale Politikkonzept obsolet macht. Damit finden sie eine Nähe zur internationalen Krisen- und Konfliktforschung. Man
nehme einen Satz von Johan Galtung: „Massenhafte Migration,
massive Entwicklung oder massenhafte Tötungen: Wir haben
die Wahl. Zu glauben, das gegenwärtige krasse Elend und die offenkundigen
Ungleichheiten
könnten fortdauern, ist nicht nur
unmoralisch, vielmehr auch und
vor allem – töricht!“ 2 Die Aggressivität und die Allmachtsphantasien, die hier der westlichen
„Staatengemeinschaft“ zugebilligt und angeregt werden, sollten
uns bei der folgenden Betrachtung in Erinnerung bleiben. Sie
könnten in dem Moment wirklichkeitsmächtig werden, wo die
EU aus ihrer Innenpolitik herausfindet und auf die Weltbühne
tritt.
Vorab kann man jedenfalls konstatieren, dass die genannten Fragestellungen zur neuen vorverlagerten Migrationspolitik die parlamentarischen Kontrollfunktionen und die Legalitätsverhältnisse
von Politik in einer Weise
berühren, wie sie in den letzten
Jahrzehnten in Europa unbekannt und regelrecht „vergessen“
waren: Die Vertreter des „Westens“, wenn der pauschale Begriff erlaubt ist, exekutieren in
den abhängigen Ländern Normen und Vorgaben, die nicht aus
den gesellschaftspolitischen Legitimierungs- und Kontrollprozessen vor Ort hergeleitet werden.
Stattdessen werden für den Einsatz in den neuen „Schutzgebieten“ einerseits die Protektion der
Menschenrechte bemüht, und andererseits wird ein Doppelrecht
ausgebildet. Während in der Europäischen Union formale
Rechtsverhältnisse herrschen, mit
Rechtsmittelgarantien und Gewaltenteilung, so walten die Entsendeten vor Ort nach eigenem
Ermessen. Es entsteht eine diskretionäre Gewalt, deren Kodifizierung in enorm umstrittenen
Randbereichen erfolgt ist, wie im
Ausländerrecht, nach dem Nichtdeutsche nicht über gleiches formales Recht verfügen und beispielsweise gegenüber einer
Rückschiebung keine Rechtsmittel einlegen können, und aus der
Gesetzgebung des Notstand, bei
dessen Ausrufung die Regierung
die Grundrechte außer Kraft
setzt.
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 80/81, Oktober 2001
Festung Europa
Die ursprüngliche moderne diskretionäre Gewalt, die später im
Ausländerrecht und in der Notstandsgesetzgebung kodifiziert
wurde, stammt aus dem Zeitalter
des Kolonialismus. Die Kolonialbeamten waren lokal regierende
Machthaber, Polizisten und Richter häufig in einer Person. In den
35 Jahren des deutschen Kolonialismus unterlagen bis zu 12 Millionen Menschen in den Kolonien nicht etwa dem Strafgesetzbuch, das sich typischer Weise
gleichzeitig ausbildete, sondern
dem Verwaltungs- und Willkürrecht der Kolonialbeamten. Die
Nilpferdpeitsche wurde zum
„Hauptkulturmittel“ der deutschen „Zivilisatoren“ in den Kolonien, wie Kayser, der Direktor
der Kolonialabteilung im Auswärtigen Amt 1886 im Reichstag
verkündete.3 Für den Zusammenhang, der hier und heute interessiert, ist der Hinweis aus der
Kolonialgeschichte besonders
wertvoll, dass „die damals angeblich weite Verbreitung von Kannibalismus und Sklavenhandel,
Menschenopfern und -jagden sowie Verstümmelungen von den
Kolonisatoren als Zeichen der eigenen Überlebenheit gewertet
[wurden]. Aus der ´animalischen
Daseinsform´ der Farbigen wurde eine moralische Pflicht zur Zivilisierung hergeleitet.“ 4 Bei der
Bekämpfung des Sklavenhandels
setzten die Kolonialbeamten Prügel- und Peitschenstrafen ein –
Mittel also, die aus dem deutschen System der Bestrafung
Deutscher zur selben Zeit verboten wurden und die es in den Kolonien vor der Kolonialisierung
nicht gegeben hat.
Vor dem Hintergrund der unterbrochenen Kontinuität kolonialistischer Muster soll im Folgenden
kritisch danach gefragt werden,
mit welchen Befugnissen, Legitimationen und Handlungsspielräumen künftige EU-Grenzpolizisten bei einem permanenten
„out of area“ Einsatz in BosnienHerzegowina, im Kosovo oder
auch in Ostpolen ausgestattet
werden.
Foto: AntiRaGö
Wenn man auf den Schengener
Formierungsprozess
zurückschaut, der in den 90er Jahren zu
einem der maßgeblichen Beschleuniger der EU-Integration
geworden ist, so kann man
zunächst konstatieren, dass verschiedene Aspekte des Schengener Grenzregimes starke – kritische wie unkritische – Beachtung
gefunden haben, andere dagegen
wenig in die öffentliche Wahrnehmung einflossen. Es überwiegt das Bild, dass die Schengener Vertragsstaaten die Außengrenzen abgeschottet und vor allem nach innen gewirkt hätten.
Dieser Eindruck ist insofern berechtigt, als sich in den 90er Jahren die EU stark über die migrationspolitische Abschottung zusammengefunden hat. Die Rede
von der Festung Europa umreißt
begrifflich diese Formierung.
Tatsächlich hat ein gigantischer
Zusammenschluss der Polizeien
„nach innen“ stattgefunden, ablesbar an dem einheitlichen
Schengener Informationssystem
(SIS) und an der Arbeit, die die
neuen „gemeinsamen Polizeizentren“ länderübergreifend abwikkeln. In diesen Zentren, die regional in Grenznähe entstanden
sind, arbeiten beispielsweise niedersächsische und niederländische, oder badenwürttembergische, französische und Schweizer
(Nicht-Schengen!) Polizisten und
Grenzpolizisten zusammen. Sie
unterliegen ihren jeweiligen nationalen Gesetzen, etwa dem Datenschutz, übergehen aber alle
dadurch entstehenden Hindernis-
se schlicht und einfach dadurch,
dass sie sich beim Bedienen nationaler Computer über die
Schulter sehen und sich die Aufgaben je nach praktischen Erfordernissen aufteilen.
Zu wahren Bahnbrechern dieser
Entwicklung wurden aber nicht
die Büros zwischen den Schengenstaaten, sondern zwischen
den östlichen deutschen Bundesländern und Polen beziehungsweise der Tschechischen Republik. Während zwischen den
Schengenstaaten eine gewisse Regelungsdichte auch für diesen Bereich existiert oder je nach einzelstaatlichem Interesse doch
bemüht werden kann, so zeichnet
sich das deutsch-polnische und
deutsch-tschechische Verhältnis
an Oder-Neiße und im Erzgebirge nach 1989 durch das Fehlen
jeglicher Regelungen und eingeübter Praktiken aus. Hier entstanden die Labors, wenn man so
will, für die Deregulierung der internationalen Migrationspolizei.
Ohne anweisende Vorschriften,
ohne ausreichende Sprachenkunde und ohne gesamtpolitische
Annäherungen entstand ein Experimentierfeld mit Ergebnissen,
die noch nicht gänzlich bekannt
sind. Zu den wichtigen Ausgangsbedingungen dieser Konstellation gehört, dass es sich
nicht nur um die einzige Grenze
ohne frühere grenzübergreifende
Kontakte handelt, sondern auch
um die Grenze mit dem höchsten
Einkommensgefälle auf der
Welt.5 Des weiteren gehört dazu,
dass die Bundesregierung sie
23
Festung Europa
nach 1990 auf deutscher Seite zur
am dichtesten bewachte Grenze
Europas machte.
Die Praktiken, die der BGS in
den Grenzgebieten entwickelte,
zielten von Anbeginn auf möglichst viele Zurückweisungen und
Rückschiebungen. Flüchtlinge
und MigrantInnen, die die Bundesregierung zu Unerwünschten
und zum Problem erklärte, überstellt der BGS seitdem zu Zehntausenden jährlich an die beiden
östlichen Nachbarländer. Wie ist
es möglich, dass ein solches System der größten denkbaren
Asymmetrie funktionieren kann?
Und dass ausgerechnet hier die
„gemeinsamen Zentren“ zu den
Katalysatoren einer EU-Grenzpolizei außerhalb der EU werden
könnten?
Eine Antwort lässt sich vielleicht
in den Kompensationszahlungen
finden, die die Bundesregierung
und später die EU an die beiden
Nachbarstaaten für die Neuausrichtung der dortigen Polizeien
zahlte. Ähnliche Finanztransfers
hat es innerhalb der EU nicht gegeben.
Ein weitere Antwort ist darin zu
suchen, dass den polnischen und
tschechischen Grenzschützern
nicht nur ein neues Feindbild, das
der „Illegalen“, der „Schlepper“
und „Schleuser“ vermittelt wurde, gegen die sie gemeinsam zu
Felde ziehen, sondern auch eine
neue polizeiliche Praxis angeboten wurde: Die Rückschiebung.
Dieses polizeiliche Instrument
wendet die Grenzpolizei gegenüber denjenigen an, denen jegliches Statusrecht, auch das auf
Asyl, verweigert wird. Innerhalb
von 48 Stunden werden sie nach
ihrer grenznahen Festnahme über
die Grenze zurückgeschoben. Sie
haben keine Chance, Verwandte
und Bekannte zu benachrichtigen, einen Anwalt einzuschalten,
und sie werden auch keinem anderen Behördenvertreter außerhalb des BGS vorgeführt. Sie befinden sich in einer Situation der
alleinigen Exekutionsmacht durch
den BGS – es ist die Situation dis24
kretionärer Gewalt, von der bereits die Rede war. Nirgendwo im
Landesinneren gibt es diese absolute Verfügungsmacht, diese Verwaltungsermächtigung. Allein
den Grenzraum in einer Breite
von 30 Kilometern definierten
die Gesetzgeber als „gefährlichen
Ort“ mit den Sonderbefugnissen
des BGS. Gegenüber den anderen Schengenstaaten kommt diese polizeigeografische Möglichkeit deswegen nicht zur Anwendung, weil dort das Dubliner Abkommen die Rücküberstellungen
regelt und dieses wegen seines
vergleichweise
komplizierten
Nachweissystems kaum in Anspruch genommen wird.
Die Fahndung nach heimlich
Eingereisten und die Rückschiebung gehört zu den Hauptaufgaben der deutschen, polnischen
und tschechischen Grenzpolizisten an Oder-Neiße und im Erzgebirge. Die Erweiterung des Ermessensspielraums, der Machtzuwachs ist offensichtlich der Faktor, der die ungleichen Partner
vor, während und nach der Menschenjagd zusammenschmiedet.
Eine gemeinsame „Kultur“ entsteht bei den Grenzpolizisten
diesseits und jenseits der Schengener Außengrenze, nämlich die,
zur europäischen Zivilisation dazuzugehören und gemeinsamgrenzüberschreitend zu ihrer Sicherung beizutragen. Jedes Interview, das man mit ihnen führen
kann, offenbart die Verachtung
der Geschleusten, die nichts als
dummes Opfer seien, und der
„skrupellosen Schleuser und
Schlepper“, die der internationalen Verschwörung des Organisierten Verbrechens angehörten.
Dass die heimlich Eingereisten in
Wirklichkeit kluge Menschen
sind, die auch nach der Abschiebung wiederkommen werden und
schon wissen, was sie machen,
und dass die kommerziellen
FluchthelferInnen womöglich arbeitslose ehemalige MitschülerInnen aus den deutschpolnischtschechischen Grenzgebieten
sind, entgeht auf systematische
Weise der migrationspolizeilichen
Wahrnehmung.
Im Europavergleich ist die Zusammenarbeit an der deutschpolnischen Grenze am weitesten
entwickelt. Die Wertemuster haben sich angenähert, gemeinsame
Streifengänge und länderübergreifende Fahndungsoperationen
finden statt. (Am Rande sei bemerkt, dass alle zivilen Bemühungen, eine lokal verankerte
deutsch-polnische Partnerschaft
aufzubauen, bisher nur ein kümmerliches Dasein fristen.) Diese
deutsch-polnische Fandungspraxis der Grenzschützer findet sich
als Ausgangspunkt in den Planungstexten, die seit 1998 in den
europäischen Gremien und EUnahen Think-Tanks zur Entwicklung eines EUGrenzschutzes im
Umlauf sind.
Doch zunächst zu einer anderen
Keimzelle
des
EU-Grenzschutzes, den Verbindungsbeamtenauf dem Balkan. BGS-Polizisten befinden sich dort seit dem
Kollabieren des albanischen
Staats, seit Dayton in BosnienHerzegowina und in Kroatien
und schließlich seit dem Ende des
NATO-Kriegs gegen Jugoslawien
in Kosovo. Dass sie sich dort der
versteckten Flüchtlingsfahndung
widmen, stellte sich bei Recherchen zum sogenanten Irak-Plan
heraus, den die Bundesrepublik
Deutschland als ein Musterprojekt der vorverlagerten Flüchtlingsbekämpfung entwarf. Eines
seiner Ziele ist die Zerschlagung
der Fluchtwege von und über den
Balkan. Der Krieg ums Kosovo
ermöglichte eine zeitweise Realisierung dieses Plans, die Flüchtlinge wurden in kriegsnahen Lagern der NATO-Staaten untergebracht und aufgehalten.6
Vor dem NATO-Krieg um das
Kosovo zeichneten Polizeien und
Medien in immer schärferen
Konturen ein Bedrohungsszenarium, das vom Balkan ausginge.
Als Ursache der Unruhe galten
nicht etwa die rassistischen Diskriminierungen und die Politik
der Ethnisierung, sondern - die
Emigration von Kriminellen. Waren es in der Bundesrepublik die
Kosovaren, die pauschal des Dro-
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 80/81, Oktober 2001
Festung Europa
genhandels verdächtigt wurden,
so fungierten in Italien die Albaner generell als verhassenswerte
Menschenhändler und Zuhälter.
Mit dem analytisch-kritischen
Blick auf dieses Szenarium soll
nicht in Abrede gestellt werden,
dass es tatsächlich Drogenhandel
und Prostituiertenausbeutung
gibt. Hier interessiert aber die
ethnisierte Stigmatisierung der
gesamten Flucht und Migration
aus denselben Gebieten, die zum
Objekt polizeilicher und militärischer Gewalt von außen wurden.
Es koexistieren die Bilder einer
Bevölkerung, die generell gefährlich wird, wenn sie denn in kleinem prozentualen Anteil bis nach
Westeuropa gelangt, und derselben Bevölkerung, die gänzlich
zum Opfer wird, wenn sie auf
dem Balkan verbleibt. Ihr Opferstatus ist konstitutiv für die “humanitäre Intervention” und eben
auch für die Stationierung von
Verbindungsbeamten des Grenzschutzes und anderer Polizeien,
damit sie nicht emigrieren und
sich mit ihrer Ankunft in Westeuropa in gefährliche Klassen verwandeln. Das ist der Kontext einer neuen westeuropäischen
Menschenrechtspolitik, bei der
die Menschenrechte nicht als
Ausdruck basisstarker Artikulation von Menschen gegenüber
dem Staat und mächtigen Gruppen gilt, sondern als Begleitwerk
einer Schutzpolitik in abhängigen
Gebieten.
Weder Jugoslawien noch seine
Teilnachfolgestaaten haben gegen
die Mehrheit der Welt eine Visapflicht erlassen. Schengen war
nicht Vorbild, auch existierten
kaum Grenzbewachungen und
erst recht keine massiven Grenzbefestigungsanlagen. Doch nach
den Balkankriegen drängte die
entstehende Protektoratsverwaltung in allen Balkanländern darauf, die ersten Staatseinnahmen,
die in manchen staatlichen Neugründungen überhaupt nur möglich waren, über den Zoll an den
Landesgrenzen zu gewinnen. Der
zögerliche Staatsaufbau in den
genannten Ländern erfolgte nicht
über eine aktive Gesellschaftspo-
litik der guten Nachbarschaft,
sondern über eine durchgesetzte
Trennung der Nachbarn, die sich
durch die grenzpolizeiliche Überwachung nunmehr verfestigt.
Heute ist in Bosnien-Herzegowina der neue Grenzschutz die einzige bedeutende Behörde des Gesamtstaats. Sie zählt gegenwärtig
2.600 Polizisten, geplant ist ihre
Aufstockung auf 3.500 Grenzwächtern. Sie untersteht der
UN-Polizei-Taskforce, in der der
westeuropäische Einfluss entscheidend ist.7
Neben dem Aufbau von Grenzpolizeien in Südosteuropa haben
Verbindungsbeamte als sogenannte Dokumentenberater und
als migrationspolizeiliche Koordinatoren auf Flughäfen und in
Botschaften Stellung bezogen.
Ihre Arbeit, die inzwischen auf
EU-Ebene koordiniert wird, läuft
auf der Grundlage ganz weniger
halbverbindlicher Texte, in der
keinerlei rechtliche Befugnisse
festgelegt sind. Die Sorge der EU
gilt vor allem der mangelnden
Abstimmung der verschiedenen
Apparate und Behörden untereinander. Allein aus der Bundesrepublik Deutschland sind der
BGS, das BKA und das BAFL
mit eigenen Beamten an diesen
Vorfeldstationierungen beteiligt.
Auf der EU-Ebene soll CIREFI,
das Clearinghaus für die Überwachungsmaßnahmen der Außengrenze, die Koordination übernehmen.8
Eine kohärente Strategie zum
Aufbau einer EU-Grenztruppe in
Ost- und Südosteuropa hat eine
Reflektionsgruppe 1998-99 unter
Vorsitz des italienischen Ministerpräsidenten Giuliano Amato im
Auftrag der Europäischen Kommission erarbeitet.9 Im Vordergrund der Studie steht die zivilisatorische Mission, die die
Grenzpolizei einer erweiterten
und wirtschaftlich expandierenden Europäischen Union zu erfüllen haben: Die EU-Grenzpolizei soll, so die Empfehlung der
Studie, nicht gegen rivalisierende
oder gar feindliche Nachbarn einer erweiterten EU in Stellung
gebracht werden, sondern den
Segen westlicher Werte durch
Kooperation auch mit schwierigen angrenzenden NachbarGrenzpolizeien verbreiten. Der
Schulterschluss über die vorverlagerte EU-Außengrenze hinweg
sei durch die Bekämpfung der “illegalen Migration“, der “Schlepper und Schleuser” und überhaupt der „Organisierten Kriminalität“ zu erlangen.
Im Februar 2001 veröffentlichten
Giuliano Amato und Tony Blair
im Vorfeld einer informellen EUJustiz- und Innenministerkonferenz einen Aufruf zur EU-Integration der diversen westeuropäischen Grenzpolizisten, von Europol und anderen obskuren
Diensten, die bereits auf den
Flughäfen Sarajewo und Mostar
sowie an der bosnisch-herzego-
Postkarte von FFF u.a.
25
Festung Europa
winischen Grenze zu Kroatien
stationiert sind, um die dort legal
reisenden Flüchtlinge und MigrantInnen aus dem Nahen
Osten und Asien aufzuhalten. Eine “Sarajeworoute” wollen Amato und Blair ausgemacht haben,
die durch Verhängung hoher
Strafen für heimlichen Grenzübertritt und eine entsprechende
Fahndungsausrichtung zerschlagen werden soll.10 50.000 Personen seien in den ersten 10 Monaten des Jahres 2000 illegal über
Bosnien in europäische Länder
eingereist, schreiben sie unter Berufung auf die UN-Polizei in Sarajewo, die sich aus dem BGS und
anderen europäischen Polizeien
zusammensetzt und den dortigen
Grenzschutz aufbaut. Seltsam,
dass sich die späteren Illegalen so
einfach zählen lassen.
Die Auseinandersetzungen der
Zukunft werden Aufschluss über
die Fragilität der neuen Ordnung
in den abhängigen Gebieten erbringen. Schon jetzt greift die
Angst beim UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR und beim Internationalen Roten Kreuz um sich,
denn sie haben sich wie viele andere internationale Organisationen mehr oder weniger offen an
die Seite der “humanitären Interventionen” gestellt. Einige ihrer
Mitarbeiter wurden in fernen
Ländern immer öfter für Stellver-
treter der neuen Ordnung gehalten und angegriffen, es gab bereits Tote. Und ob die Vorverlagerung der Abschottung, begleitet von einer kontrollierten Zuwanderungspolitik, die Flüchtlinge und MigrantInnen abhalten
wird, darf bezweifelt werden. Alle bisherigen Versuche sind
schiefgegangen. Der Zugang zu
Existenzmitteln und zu Wohlstand wird sich nicht verbieten
lassen, die Kämpfe und Auseinandersetzungen zur sozialen Frage in einem vergrößerten Europa
werden nicht auf sich warten lassen.
1 Erst später wird ein türkisch-deutscher
Großunternehmer zum Kommissionsmitglied berufen.
2 Galtung, Johan: Globale Migration, in
Butterwege, Christoph; Hentges, Gudrun: Zuwanderung im Zeichen der Globalisierung.
Migrations-, Integrations- und Minderheitenpolitik, Opladen, S. 9-19, hier: S. 19
3 RT, Sten. Ber., IX. Leg.-Per.
1896/1897, 59. Sitz. v. 13.3.1896, S. 1431,
zit. n. Kopp, Thomas: Nichtdeutsche
Angeklagte im deutschen Strafverfahren.
Ihr Schutz im Normal-, Kolonial- und
Militärzustand seit der Reichsgründung
1871, Baden-Baden 1997, S. 93
6 Dietrich, Helmut; Glöde, Harald: Kosovo. Der Krieg gegen die Flüchtlinge.
FFM Heft 7, Berlin u.a. 2000
7 NZZ, 25.04.2001
8 Gemeinsame Maßnahme vom 14. Oktober 1996 betreffend einen gemeinsamen Orientierungsrahmen für die Initiativen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union in bezug auf Verbindungsbeamte; Gemeinsamer Standpunkt vom
25. Oktober 1996 betreffend Unterstützungs- und Informationsprogramme im
Grenzvorbereich; Beschluß des Exekutivausschusses des Schengener Durchführungsübereinkommens vom 16. Dezember 1998 bezüglich des koordinierten
Einsatzes von Dokumentenberatern im
Flug- und Seeverkehr und bei konsularischen Vertretungen; Rat der Europäischen Union, Brüssel, den 28. Juni 2000
(9805/00; CIREFI 39, COMIX 512):
Aufzeichung des künftigen französischen Vorsitzes für CIREFI, Betr.: Netz
von Verbindungsbeamten. Im Anschluss
an diese EU-Texte finden sich Länderund Flughafenlisten mit den entsprechenden EU-Entsendeländern der Verbindungsbeamten. Zur Stationierung
von BGS-Beamten in Botschaften siehe
auch Nachrichten der Arbeitsgemeinschaft katholischer Flüchtlinges- und
Aussiedlerhilfe (Katholischer Lagerdienst)) Nr. 17, 22. Jui 1998
4 Kopp, a.a.O., S. 107
9 Amato, Giuliano; Batt, Judy: The
Long-Term Implications of EU Enlargement: The Nature of the New Border.
Final Report of the Reflection Group.
Fiesole, 1999
5 Stalker, Peter: Workers Without Frontiers. The Impact of Globalization on International Migration. ILO 2000
10 Observer 04.02.2001, Le Monde,
08.02.2001, TAZ 08.02.2001, Tagesspiegel 10.02.2001, NZZ 16.03.2001
Fluchtabwehr:
Regionalisierung der Flüchtlingsaufnahme
Thomas Uwer, WADI e.V.
W
ir erleben gerade, wie die
Flüchtlingspolitik in Europa auf dem Weg zu einer „europäischen Flüchtlingspolitik“ einen grundlegenden Paradigmenwandel durchläuft. Die EU hat
sich vorgenommen, in der
Flüchtlingspolitik nicht mehr nur
bereits eingetretene Tatbestände
zu verwalten, sondern schon im
Vorfeld, dort wo die Flüchtlinge
entstehen, politisch einzugreifen.
In den Theoriepapieren der EU
ist daher die Fluchtabwehr von
26
der Aussen- und Entwicklungspolitik immer weniger zu trennen, was weitreichende Folgen
für die gesamte Flüchtlings- und
Asylpolitik hat - ein Vorhaben,
das nicht in der Theorie stecken
bleibt und daher sehr ernst zu
nehmen ist.
Seit in Edinburgh 1992 das Konzept der „Regionalisierung der
Flüchtlingsaufnahme“ erstmals
auf die europäische Agenda gesetzt wurde, bewegt sich Flücht-
lingspolitik immer weiter aus den
Zentren hinaus, zunächst in die
subeuropäische Peripherie durch die Einbindung der Anrainerstaaten Osteuropas und des
Maghreb in ein repressives
Grenzregime - und im zweiten
Schritt in die sogenannten Herkunftsregionen - jene „flüchtlingsproduzierenden“ Länder, an
die der potentielle Flüchtling
möglichst noch vor seiner Flucht
gebunden werden soll. Bei diesem Unternehmen bleiben umge-
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 80/81, Oktober 2001
Festung Europa
kehrt auch die Entwicklungspolitik und das aussenpolitische Verhältnis zu jenen Staaten und Regionen nicht unberührt, die dem
europäischen Markt ausser nichtverwertbaren Menschen wenig
zuzuführen haben. Ich werde versuchen diese Bewegung aus dem
Zentrum heraus in drei Schritten
nachzuvollziehen und die praktischen Konsequenzen zu beleuchten:
• erstens für die Entwicklung
vor Ort, also dort, wo mit humanitärer Hilfe und zum Teil
militärischen Interventionen
in die Gesellschaften der Herkunftsländer
interveniert
wird.
• zweitens für Flüchtlinge und
Flüchtlingspolitik in Europa
selbst.
• und drittens für die Staaten
dazwischen, die sogenannten
Transitländer, die Flüchtlinge
auf dem Weg nach Europa
passieren müssen. Als Beispiel
werde ich die beiden Eckpunkte dieser Entwicklung
heranziehen: Den kurdischen
Nordirak, als erster sogenannter Safe Haven und also Modellfall wie auch Experimentierfeld für alle weiteren Konzepte einer “heimatnahen
Fluchtabwehr”; sowie den
Kosovo als jüngstes und prominentestes Beispiel dieser
Entwicklung.
1. Heimatnahe Fluchtabwehr
Mit der Durchsetzung sogenannter safe haven, UN-Schutzzonen
und ethnischer Enklaven als die
bedeutsamste Manifestation des
Konzepts der regionalisierten
Flüchtlingsaufnahme, sind Entwicklungspolitik und humanitäre
Hilfe zu einem praktischen Bestandteil der Fluchtabwehr geworden. Regionen, die geschaffen
wurden, um Migration und
Flucht einzudämmen, werden am
Leben gehalten mit den klassischen Mitteln der Not- und Ent-
wicklungshilfe. Ganz abgesehen
von der drängenden Frage, welche Sicherheit diese safe haven in
der Realität bieten, fällt zu allererst auf, dass keine dieser regionalen Enklaven in die Lage versetzt werden konnte, sozial und
ökonomisch ohne massive internationale Hilfe zu überleben. So
stellt für alle diese Regionen die
humanitäre Hilfe auch nach Jahren noch die Haupteinkommensquelle dar, während daneben zumeist nur der Gewinn aus dem
Schmuggel- und Schwarzmarkthandel ökonomisch ins Gewicht
fallen. An die 80% des geschätzten volkswirtschaftlichen Einkommens im kurdischen Nordirak beispielsweise stammen direkt aus dem internationalen
Hilfsprogramm oder der ihr angegliederten Zulieferwirtschaft,
20% werden durch Wegezölle
und illegale Ölausfuhr erwirtschaftet. Es ist naheliegend, dass
die Struktur und Logik, in der die
humanitäre Hilfe arbeitet, eine
zentrale Rolle bei der gesellschaftlichen Entwicklung dieser
Regionen spielt: Die Verteilungsstrukturen der humanitären Hilfe
stellen den Ursprung der Ökonomie der Flüchtlingsenklaven dar,
die rein auf Distributionssicherung beruht. Ohne die Distributionslogik der Hilfsökonomie ist
also keine der Entwicklungen vor
Ort verständlich.
Wie sehen diese Strukturen
aus?
Angesichts der Tatsache, dass
derartige Enklaven immer das
Resultat militärischer Konflikte
sind und zu Beginn mit einer
grossen Anzahl von displaced
persons zu kämpfen haben, zielt
humanitäre Hilfe folgerichtig zuerst auf die Verteilung der dringendst benötigten Güter ab. Diese Verteilung erfordert notwendig
die Formation von Gruppen und
sozialen Strukturen, ohne die sie
nicht effektiv funktionieren kann.
Eine Art von Hilfsökonomie, die
einer sozialen Formation bedarf,
deren wichtigste gesellschaftliche
Aufgabe zur Aufrechterhaltung
des ökonomischen Kreislaufes
darin besteht, den sicheren und
unbehinderten Fluss der zu verteilenden Waren zu garantieren.
Im Falle des Kosovo begannen
NGO bereits in den mazedonischen Flüchtlingscamps mit der
Registrierung der Flüchtlinge und
Zuordnung nach regionaler Herkunft. Später wurde die Region in
sieben Areas of Responsibility
unterteilt - eine Unterteilung, die
nicht nur der internen Organisation des Hilfsprogrammes diente
(jedes Gebiet wurde der Verantwortung einer der grossen NGO
unterstellt), sondern auch und
vor allem die Schaffung regionaler Verteilungsstrukturen und damit der Bindung von Menschen
an einen möglichst eng begrenzten Raum bewirkte.
Das übergreifende Ziel der „Regionalisierung” der Flüchtlingsaufnahme - also die Versorgung
vor Ort - grenzt die humanitäre
Hilfe, die aus ihrer eigenen Logik
heraus schon zwangsläufig auf
bereits bestehende regionale oder
traditionelle
Sozialstrukturen
zurückgreifen muss, um eine
möglichst effektive Verteilung zu
erreichen, auf einen eng gefassten topografischen Raum ein.
Die Indienstnahme regionaler
Sozialstrukturen wertet so einerseits traditionelle, bestehende
Formen sozialer Organisation
enorm auf und bindet sie an einen möglichst überschaubaren
sozialen Raum zurück, sie verleiht andererseits den bereits existierenden regionalen Eliten zusätzliche Macht durch die Kontrolle über den Fluss humanitärer
Güter.
Im kurdischen Nordirak waren
dies lokale NGO, die den regional
organisierten kurdischen Parteien
direkt untergliedert waren oder
auf Stammesverbänden fussten.
Stammesstrukturen, die während
der Vernichtungskampagne der
irakischen Armee zuvor entweder
zerschlagen wurden oder durch
die Kollaboration einzelner Stammesführer diskreditiert waren,
wurden auf diese Weise künstlich
wiederbelebt.
27
Festung Europa
Die bedeutsamste und zugleich
gefährlichste Folge ist, dass spezifische lokale Akteure über die
Kontrolle der Distribution von
Hilfsgütern mit einer ungeheuren
Macht ausgestattet werden. Diese
lokalen Akteure sind zumeist
führende Personen der Milizverbände und Parteien oder traditionelle und religiöse Führer. Und
selbst wenn nicht: Humanitäre
Hilfe ist ein wertvolles Gut, das
geschützt werden muss. Sie wird
in all diesen Regionen - zumindest bis die Claims abgesteckt
sind - mit Waffen geschützt; Waffen, die die lokalen Milizen stellen. Im Kosovo übernahmen kleine sogenannte Private Voluntary
Organisations die Distribution.
Selbst wenn sie es nicht wollten,
mussten sie doch zu Kompagnons lokaler Parteien und Milizverbände werden, ohne die eine
sichere Verteilung nicht möglich
gewesen wäre. Aus zwei miteinander direkt korrespondierenden
Gründen: Die lokalen Eliten und
die an sie angegliederten Miliz-
verbände trachten ganz folgerichtig danach, die Distribution der
Hilfsgüter zu kontrollieren, weshalb diese geschützt werden
muss. Dies bedeutet andererseits,
dass sich die Verteilung an eine
dieser Eliten anschließen muss,
um Schutz gegen Übergriffe zu
erhalten. Es entsteht ein System
vollständiger Abhängigkeit von
diesen Regionaleliten, das - vor
allem aufgrund seiner regionalen
Begrenztheit - an feudale Herrschaftsstrukturen mit konkurrierenden Fürstentümern erinnert.
Denn insofern, als der Zugang zu
Mitteln der humanitären Hilfe die
einzige Einkommensquelle darstellt, ist die absolute Loyalität zu
diesen lokalen Eliten die einzige
Garantie für die Menschen zu
überleben. Wer im Machtbereich
einer dieser Eliten aus dem Verteilungssystem ausgeschlossen
wurde, kann lediglich darauf hoffen im Gebiet der nächsten, konkurrierenden Miliz Unterschlupf
und Auskommen zu finden.
Diese Eliten sind zweitens regional oder ethnisch definiert. Am
Ende der Verteilungskette funktioniert humanitäre Hilfe über
persönliche Bekanntschaft oder
Zugehörigkeit zu primordialen
(ursprünglich, d. Red.) Strukturen, also Stämmen, Clans und Familien. Ethnische, regionale und
primordiale Zugehörigkeit wird
damit zu einem überlebenswichtigen Aspekt im Leben der Menschen, weil nicht zur richtigen
Gruppe zu gehören zugleich auch
bedeutet, aus den Verteilungsstrukturen ausgeschlossen zu
sein. Dieser Ausschluss wird damit zu einer effektiven Waffe. So
wird der lokale Verteilungskampf
ausgetragen in den Kategorien
von ethnischer und regionaler
Zugehörigkeit und der Gewährung bzw. Verweigerung der
damit verknüpften Rechte. Auseinandersetzungen zwischen solchen Gruppen sind daher auch
eines der grössten Probleme dieser Regionen. Im Kosovo waren
Roma und Juden die ersten, die
Folgen des Aktionplan Irak
Seit der erste sogenannte Aktionsplan Irak zur
Bekämpfung irakischer Flüchtlinge im Frühjahr
1998 auf den Weg gebracht wurde, streben die Mitgliedsstaaten der EU danach, Flüchtlinge aus dem
Irak (und kurdischen Nordirak) nicht nur an den
Außengrenzen abzuwehren, sondern auch jene, die
Europa bereits erreicht haben, "rückführbar" zu
machen. Es konnte beobachtet werden, wie in allen
europäischen Ländern die Anerkennungsquoten
gegenüber dieser Flüchtlingsgruppe binnen kurzer
Zeit massiv sanken - in Deutschland 1998 von nahezu 90 % auf rund 30 %, in Holland von 71 % auf
4,1 % (in Deutschland ist die Anerkennungsquote
nach massiver Kritik an der Lageberichts- und Anerkennungspraxis nach jüngsten Statistiken wieder
auf rund 50 % gestiegen). Ein Rückgang der zentral mit der Definition des kurdischen Nordirak als
"inländische Fluchtalternative" zu begründen ist.
Während aufgrund des anhaltenden internationalen Embargo gegen den Irak und der Weigerung
der Türkei, eine Durchschiebung abgelehnter irakischer Asylbewerber zu gestatten, derzeit eine
zwangsweise Rückführung nicht möglich ist, wirkt
sich die sinkende Anerkennungsquote zu aller erst
auf die Lebenssituation der Flüchtlinge innerhalb
Europas aus, deren Zugriffsmöglichkeiten auf Sozialleistungen und Bewegungsrechte mit sinkendem Status eingeschränkt werden - mit dem Ziel,
28
sie zu einer "freiwilligen" Rückkehr zu bewegen.
Diese von Flüchtlingsinitiativen als "policy of starvation" (Aushungerungspolitik) kritisierte Politik
hat in den Niederlanden einen neuen Höhepunkt
erreicht. Seit April dieses Jahres ist dort ein neues
Ausländergesetz in Kraft, das letztinstanzlich abgelehnten Asylbewerbern den legalen Aufenthaltsstatus entzieht (ein mit der Duldung vergleichbares
ausländerrechtliches Institut existiert nicht) und
diese faktisch illegalisiert. Damit einher geht der
vollständige Verlust aller Ansprüche auf Sozialleistungen oder medizinische Versorgung. Die größte
Gruppe der Betroffenen stellen die irakischen Kurden - Flüchtlingsinitiativen gehen von mindestens
4.800 und bis zu 9.000 Betroffenen innerhalb der
nächsten Zeit aus. Flankierend hat das niederländische Außenministerium einen länderspezifischen
Bericht zum kurdischen Nordirak vorgelegt, der die
Region als sicher zur Rückführung von Flüchtlingen beschreibt. Der Bericht, der zwischenzeitlich
vom Parlament angenommen wurde, weist eine
Reihe grundsätzlicher Fehleinschätzungen auf. Nur
eine Woche nach Annahme des Berichts ist das
neue Ausländergesetz gegenüber der ersten kurdischen Familie aus dem Nordirak von den Ausländerbehörden umgesetzt worden: Sie wurde von der
Polizei aus der Flüchtlingsunterkunft geworfen. (...)
(Aus PRO ASYL Info Nr. 51)
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 80/81, Oktober 2001
Festung Europa
den ethnisierten Verteilungskampf verloren. Andere Ethnien
folgten, von denen einige erst im
Moment des Ausschlusses von
ihrer Existenz erfuhren.
stem nach innen. Das role model
hierfür haben die NGOs geliefert.
Die Folgen für die gesellschaftliche Entwicklung liegen auf der
Hand. Die durch die Distributionslogiik der humanitären Hilfe
gestärkten lokalen oder ethnischen Machtzentren unterminieren systematisch jeden Ansatz
zur Entwicklung unabhängiger
und demokratischer Strukturen sie stehen dem Gleichheitsgedanken diametral entgegen. Sie unterminieren zugleich jeden Versuch, eigenständige ökonomische
Strukturen zu entwickeln und
zwar in zweifacher Weise: Indem
sie einerseits den Markt auf unwirtschaftliche regionale Enklaven beschränken, zwischen denen
mitunter enorme Wohlstandsgefälle herrschen. Andererseits
stellt die Distributionsökonomie
ein zentrales Mittel zum Machterhalt der Eliten dar, die mit Argusaugen über jede unabhängige
ökonomische Aktivität wachen,
die potentiell immer ihren Einfluss zu unterminieren droht. In
der Folge ist zudem zu beobachten, wie sich regionale Parteien
und Milizen zunehmend entpolitisieren, wie dies nach zehn Jahren Distributionsökonomie im
Nordirak geschehen ist, wo die
miteinander konkurrierenden
Parteien aufgrund ihres politischen Programmes nicht voneinander zu unterscheiden sind.
2. Die Folgen für Europa
Safe Havens und Schutzzonen
produzieren also Flüchtlinge,
anstatt sie zu schützen. Nicht
zuletzt wegen einer aufgezwungenen Ökonomie, die reinen
Distributionszwecken
dient.
Ohne übergreifende legale und
unabhängige Strukturen auf der
einen Seite, die regulierenden
Strukturen von Produktion und
Konsumtion auf der anderen,
fällt der gesellschaftliche Verteilungskampf zurück auf seine
Ursprünge: Als bewaffneter
Kampf zwischen ethnischen
Gangs und lokalen Banden und
einem repressiven Patronagesy-
Ich werde mich auf zwei Aspekte
beschränken, um möglichst
knapp die Folgen dieser „Regionalisierung” für die Flüchtlingspolitik innerhalb Europas zu beschreiben. Der erste Aspekt stellt
den Gegenstand aller europäischen Flüchtlingskonzepte in den
Mittelpunkt: Das Phänomen der
Flucht, das nicht mehr nur als ein
Problem von Massen gesehen
wird, sondern als eines spezifischer Gruppen und ethnischer/
nationaler Entitäten. Dieses sich
durchsetzende europäische Verständnis von Flucht folgt direkt
der praktischen Logik humanitärer (und militärischer) Intervention vor Ort, die ihrer Natur nach
nicht einzelne Individuen, sondern Gruppen behandelt. Das
sprachliche Äquivalent hierzu ist
in der Flüchtlingspolitik das
“Kontingent”. Während der Kosovo-Krise konnten wir beobachten, wie das Konzept der temporary protection von Flüchtlingskontingenten erstmals umgesetzt
wurde, ein Konzept, das sich mit
dem Versprechen legitimiert, die
Heimat der Flüchtlinge wieder sicher zu machen. Eine Politik also,
die Flüchtlinge einzig noch als
Teil eines spezifischen nationalen
oder ethnischen Kollektivs behandelt, dem ein spezifisches ethnisches/nationales Territorium
zugeordnet wird. Damit ist die
für die Flüchtlingspolitik relevante Verbindung hergestellt zwischen dem Flüchtling und dem,
was die Deutschen Heimat nennen. Der Begriff Heimat meint
mehr als ein definiertes nationales Territorium, es meint einen
Gemütszustand, eine qua Abstammung eingegebene physische
und mentale Bestimmung, die tief
in der kollektiven und persönlichen Struktur der Menschen ver-
Foto: arbeiterfotografie
29
Festung Europa
Foto: AntiRaGö
wurzelt ist. Eine Vorstellung zugleich, die in krassem Gegensatz
steht zur Massgabe der Behandlung von Flüchtlingen als Individuen, die einen Ort verlassen
können, wenn es ihnen dort nicht
passt und woanders hingehen.
Die Konsequenzen dieser völkischen Vorstellungswelt haben die
kosovo-albanischen Flüchtlinge
zu spüren bekommen. Als erst
einmal Kosovo-Flüchtlinge in
Kontingenten solange aufgenommen wurden, bis ihre Heimat zur
Rückkehr bereitet war, mussten
plötzlich alle ethnischen KosovoAlbaner mit einer Rückführung
rechnen. Die Frage ethnischer
Zugehörigkeit wurde so mit einem mal ein zentraler Aspekt
auch für jene, die sich zuvor niemals die Frage gestellt hatten, ob
sie Kosovo-Albaner, KosovoSerben oder Kosovo-Sonstwas
sind. Die Folgen der „Regionalisierung” für Europa können also
beschrieben werden als ein Verschwinden des Individuums aus
der Flüchtlingspolitik, an dessen
Stelle das nationale oder ethnische Kollektiv in Form des Kontingents gerückt ist. Es sollte daran erinnert werden, dass es gute
Gründe gab, über die Genfer
Flüchtlingskonvention
ein
Rechtssystem zu etablieren, das
dem Flüchtling individuellen
Schutz einräumt.
Die Tragweite dieses Wandels
wird vielleicht deutlicher durch
den zweiten Aspekt, den ich kurz
30
beleuchten will und der als eine
Verschiebung der Zeit beschrieben werden kann. Flucht wird
nicht mehr verstanden als ein bedauerlicher doch eingetretener
Tatbestand. Sie wird begriffen als
etwas, das politisch regulierbar
ist, und zwar bevor der Flüchtling
Europa erreicht, am besten aber,
bevor er überhaupt flieht. Flüchtlingspolitik setzt zeitlich früher
und damit logisch auch räumlich
immer weiter vor den Grenzen
Europas ein. Sie greift daher ganz
folgerichtig ein in die sozialen,
politischen und ökonomischen
Strukturen der Herkunftsländer
und jener Staaten, durch die
Flüchtlinge nach Europa gelangen. Die Beispiele Kosovo und
Nordirak zeigen, dass diese Einmischung auch militärische Intervention bedeuten kann. Üblicherweise jedoch kommen weniger
martialische Mittel zum Einsatz,
um die Transitländer der subeuropäischen Peripherie in die Vorgaben der Fluchtabwehr hineinzuzwingen. Wir sollten hier den
Begriff des „europäischen Einigungsprozesses“ durchaus ernst
nehmen, nämlich als ein Prozess,
in dem sich die supranationale
europäische Gesellschaft selbst
definiert. Eine Definition, die
über das gemeinsame Verhältnis
zu anderen hergestellt wird. Dieses Verhältnis zu seinen Nachbarn ist weitgehend geprägt
durch Europas „Sicherheitsinteressen“. Fragen der Grenzsicherheit und Fluchtabwehr stehen an
der Spitze der Tagesordnungen
auf allen Treffen zwischen europäischen und subeuropäischen
Staaten. In keinem anderen Bereich andererseits ist die gemeinsame europäische Politik derart
fortgeschritten, wie in der Schaffung eines einheitlichen Grenzregimes. Die Fluchtabwehr ist damit zum Motor und zentralen
Aspekt der europäischen Selbstdefinition geworden, die Europa
als exklusiven Club oder auch
„Festung Europa“ beschreibt.
Genau in diesem Zusammenhang
werden jetzt auch Fragen ethnischer/nationaler Zugehörigkeit
wieder bedeutsam: Sie entscheiden über das Recht, in Europa leben zu dürfen oder nicht.
3. Die Transitstaaten
In dem Maße, in dem das Verhältnis zu anderen weitgehend
bestimmt ist durch Europas Abschottungswillen, werden die
Länder der europäischen Peripherie instrumentalisiert, funktionalisiert, mitunter sogar zerstört,
in Teile zerlegt und neu zusammengesetzt. Europa greift in die
Innenpolitik ein und interveniert
in die nationale Souveränität von
Staaten - ein neokoloniales Verhalten.
Die Folgen für die betroffenen
Transitstaaten sind weitreichend.
Bilaterale Kredite, Wirtschaftsund Militärhilfe und Zusammenarbeit sind gekoppelt an die Bereitschaft, sich europäischen Ansprüchen zu unterwerfen. Der
Wunsch der meisten dieser Staaten, der EU beizutreten, ist ein
effektiver Motor, europäische Interessen voranzutreiben. Immer
mehr Menschen scheitern an den
europäischen Grenzen und sind
gezwungen längere Zeit in diesen
Transitländern zu verbringen. In
allen diesen Ländern ist eine Zunahme der Repression gegen
Flüchtlinge zu verzeichnen. Das
entspricht der Unterstützung, die
ihnen die EU für den Umgang
mit Flüchtlingen zur Verfügung
stellt: Die bilaterale Unterstützung zur Durchsetzung des
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 80/81, Oktober 2001
Festung Europa
Schengensystem beschränkt sich
einzig auf polizeiliche Repressionsinstrumente, wie die Ausrüstung mit Grenzsicherungsgeräten, technischem Material zur Registrierung und die Ausbildung
der Grenzpolizei. Die EU bewirkt dabei in einem ganz zentralen Bereich ganz praktisch direkt
die Entstehung eines repressiven,
polizeilichen
Übergewichts,
während sie zugleich die „Demokratisierung“ der Peripheriestaaten als Voraussetzung für einen
möglichen Beitritt propagiert.
Dabei nutzt sie die Furcht dieser
Länder vor einer Destabilisierung
durch Flüchtlinge, die mitunter
einer ethnischen Minorität angehören, von der Volkssplitter
auch im Transitland existieren.
Ein Beispiel für diese Politik ist
die Türkei, das wichtigste Transitland für Kurden aus dem Irak.
Die Grenzabwehr an der irakisch-türkischen Grenze wird
von der Türkei durchaus auch aus
dem Interesse betrieben, eine Zuwanderung von Kurden in grosser Anzahl zu unterbinden. Ein
anderes, sehr aktuelles Beispiel ist
Mazedonien, das sich vehement
gegen den NATO-Krieg im Kosovo ausgesprochen hatte, auf
der anderen Seite aber alle
Bemühungen der EU, Flüchtlinge
in den Kosovo zurückzuführen
unterstützte - aus Furcht vor einer Destabilisierung, deren Folgen wir jetzt beobachten können.
Conklusio
Ich möchte mit dem enden, was
eigentlich am Anfang stehen sollte, meiner eigenen Rolle in dem
ganzen Spiel. Als Mitarbeiter einer entwicklungspolitischen Organisation, die Projekte unter anderem im kurdischen Nordirak
unterhält, kenne ich aus eigener
Erfahrung, was ich hier kritisiere.
Es geht mir also nicht darum, die
Notwendigkeit von Hilfe in Frage
zu stellen - dass Entwicklungspolitik nicht ein Teil der Lösung,
sondern ein Teil des Problems ist,
bedeutet nicht, dass sie überflüssig wäre. Es ist vielmehr erforder-
lich eine politische Analyse einzuklagen, die über den beschränkten Bereich der praktischen Arbeit vor Ort, der Unterstützung
von Flüchtlingen hier oder der
Untersuchung des Grenzregimes
und seiner Mechanismen hinaus
reicht. Ich habe daher von Neokolonialismus gesprochen, sicherlich ein falscher Begriff, der aber
in die richtige Richtung weist:
Die politische Analyse europäischer Politik, die sich von der traditionellen nationalstaatlichen
Trennung von Innen- und Aussenpolitik verabschiedet hat. Die
Fluchtabwehr ist ein Teil dieser
Politik aber auch nicht mehr. Sie
kann nur dann einen Zugang zur
weiteren Analyse liefern, wenn sie
nicht als geheimer Plan verstanden wird, der in moralischen Kategorien als verwerflich gegenüber dem Schicksal von Menschen
offengelegt wird.
Darüber hinaus spricht mehr
noch für einen Begriff, wie den
des Neokolonialismus. Hier wäre
die ständige militärische und administrative Präsenz der Europäer in den von ihnen geschaffenen Enklaven zu nennen, die
sich vom - nennen wir es mal so traditionellen US-Imperialismus
unterscheidet, der zwar unliebsame Regierung wegputschte,
aber immer versuchte, die direkte
Kuratelverwaltung zu vermeiden.
Und auch wenn der US-Dollar
weltweit als Schattenwährung in
den Trikontländern existiert, so
wurde er nicht als offizielle
Währung in die Protektorate
exportiert, wie dies mit der
Deutsch Mark geschieht. Wie im
Kolonialismus auch bedient sich
Europa dabei sozialer Mikrostrukturen, mit deren Hilfe Länder zerlegt und Regionen gegeneinander aufgebracht werden,
um sie in feindlichem Gleichgewicht zu halten. Und es würde
zudem der Beispiele Bodo Hombach oder Bärbel Bohlay kaum
be- dürfen, um zu zeigen, dass
auch die aktuelle Personalpolitik
an koloniale Zeiten erinnert, wo
die europäischen Staaten ebenfalls bemüht waren, den nicht
integrierbaren Mob und die
zweite Reihe der Verwaltungspolitiker in die Kolonien abzuschieben.
Der grösste Unterschied liegt in
der Perspektive auf Emanzipation, die selbst im Kolonialismus
noch in der Negation seiner
Herrschaft durch die antikolonialen Befreiungsbewegungen enthalten war. Sie alle wendeten das
der kolonialistischen Ideologie inhärente Versprechen - ob das britische Modell des “White mans
burden” oder das französische
der “civilisation” - gegen eine koloniale Realität, die diesem Versprechen Hohn spottete. Die
Grundlage dieser emanzipativen
Perspektive war der Universalismus des alten europäischen Kolonialismus, den die Befreiungsbewegungen einklagen und in
Form eigener Nationalbewegungen nach europäischem Vorbild
gegen die koloniale Herrschaft
einsetzen konnten. Dieser Universalismus als zumindest ideologische Konstruktion eben geht
der aktuellen europäischen Politik
abhanden, die bereits ideologisch
auf der Differenz der Ethnien,
Völker und Nationalitäten fußt,
die im Gegensatz zum Kolonialismus nicht die Differenz, sondern umgekehrt, die Gleichheit
rechtfertigen muss. Es ist sicherlich kein Zufall, dass separatistische Organisationen innerhalb
Europas, wie die ETA, in den
vergangenen Jahren mehr Menschen getötet haben, als in ihrer
gesamten Geschichte, während
sie sich zugleich von jeder emanzipativen sozialen Perspektive
verabschiedet hat, die auf eine
Änderung der Produktionsverhältnisse abzielte.
Um dies alles also müsste es gehen, wenn wir von europäischer
Flüchtlingspolitik sprechen und
Begriffe, wie der des Neokolonialismus können dabei nur hilfreich
sein. Nicht, weil sie treffend diese
Politik beschreiben, sondern weil
sie die Perspektive auf Politik, also auf Befreiung, zumindest als
Begriff wieder in die Diskussion
einführen.
31
Grundrecht auf Asyl und Einwanderung
Grundrecht auf Asyl und Einwanderung
Foto: Kerstin Gierth
Anfang August hat Schily seinen Gesetzesentwurf zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung vorgelegt. Dabei handelt es sich nicht um ein Einwanderungsgesetz, statt dessen ist eine
Neuordnung des gesamten Ausländer- und Asylrechts vorgesehen. Der Gesetzesentwurf sieht vor
allem für Flüchtlinge massive Verschlechterungen vor, aber auch für MigrantInnen. Ursprünglich
wollte Schily, obwohl es viel Kritik von NGOs, Wohlfahrtsverbänden, Flüchtlingsinitiativen, Teilen der Grünen und sogar aus der eigenen Partei gab, seinen Gesetzesentwurf am 26. September
vom Kabinett beschließen lassen. Aufgrund der Terroranschläge in den USA ist der Termin nun
verschoben worden. Über den Gesetzesentwurf soll aber noch vor den Bundestagswahlen entschieden werden. Im Folgendem dokumentieren wir die kritischen Stellungnahmen von PRO
ASYL, von Asyl in der Kirche/NRW, vom AK Flüchtlinge/Asyl des IPPNW, der niedersächsischen Landtagsgrünen sowie einen Aufruf von Flüchtlingsorganisationen für eine Kampagne gegen den geplanten Gesetzesentwurf.
Weitere Entrechtung von Flüchtlingen
Stellungnahme von PRO ASYL zum Entwurf des
Zuwanderungsgesetzes
D
er von Bundesinnenminister
Schily Anfang August vorgestellte Referentenentwurf für
ein Zuwanderungsgesetz sieht
gravierende Verschärfungen für
in Deutschland lebende Migranten und Flüchtlinge vor. Von Seiten des Bundesinnenministeriums wird extremer Zeitdruck gemacht. Innerhalb weniger Wochen sollen die Fraktionen sich
verständigen. Vorgesehen ist,
dass das Gesetzeswerk im Oktober 2001 in den Bundestag als Regierungsvorlage eingebracht und
noch in diesem Jahr verabschiedet wird.
32
Neben einigen wenigen Verbesserungen (Gleichstellung der
Flüchtlinge nach der Genfer
Flüchtlingskonvention mit solchen nach Artikel 16 a Grundgesetz) sieht der Schily-Entwurf
gravierende Verschärfungen vor.
Das Gesetzeswerk kann Tausende in die Illegalität treiben. Die
Anmerkungen zum Entwurf
des Zuwanderungsgesetzes (ZuwGE) von Rechtsanwalt Hubert
Heinhold können in unserer Geschäftsstelle angefordert werden. Ebenso der Gesetzesentwurf von Schily.
soziale Entrechtung wird weitergeschrieben. Positive europäische
Entwicklungen sollen blockiert
werden. Zu den Regelungen im
Einzelnen:
Das Gesetz produziert
Illegalität:
250 000 Ausländer, darunter
nicht nur abgelehnte Asylsuchende, haben bisher eine Duldung.
Dass sie zum großen Teil über
Jahre hinweg mit diesem provisorischen Status leben müssen, wurde in der Vergangenheit zu Recht
kritisiert. Kettenduldungen sollen
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 80/81, Oktober 2001
Grundrecht auf Asyl und Einwanderung
abgeschafft werden, so auch die
Forderung der Süss-muth-Kommission. Nun schüttet Otto Schily das Kind mit dem Bade aus.
Die Duldung sollte wegfallen,
aber nur für eine Minderheit der
bislang Geduldeten soll sie durch
eine „Bescheinigung“ über die
Aussetzung der Abschiebung ersetzt werden. Lediglich sechs
Prozent der bislang Geduldeten
haben eine Duldung auf der Basis von § 53 Ausländergesetz, als
Folge eines gesetzlichen Abschiebungsverbots, aus Gründen der
Genfer Flüchtlingskonvention,
der Europäischen Menschenrechtskonvention oder weil das
Grundgesetz die Durchsetzung
ihrer Abschiebung nicht zulässt.
Viel mehr Menschen aber haben
– eine Folge des Hinausdefinierens von schutzbedürftigen Menschen aus dem Asyl und vorrangigen Schutzsystemen, lediglich
eine Duldung nach § 55 Absatz 2
Ausländergesetz. Ihre Abschiebung verhindern „tatsächliche
Abschiebungshindernisse“, zum
Beispiel weil es keinen Abschiebungsweg gibt oder der Zielstaat
der Abschiebung sie nicht aufnimmt. Für diese große Personengruppe soll es nach den Vorstellungen des Gesetzentwurfes
künftig nicht einmal die „Bescheinigung“ geben. Sie fallen ins
rechtliche Nichts. Ihnen droht die
gesetzlich geregelte Rechtlosigkeit.
Opfer nichtstaatlicher und
geschlechtsspezifischer Verfolgung werden schlechter gestellt:
UNHCR, PRO ASYL, Kirchen,
Wohlfahrtsverbände und andere
Nichtregierungsorganisationen
fordern seit langem: Die Genfer
Flüchtlingskonvention muss auch
in Deutschland endlich so umgesetzt werden, wie dies die meisten
anderen europäischen Staaten
tun. Opfer nichtstaatlicher und
geschlechtsspezifischer Verfolgung müssen den Flüchtlingsstatus nach der Genfer Flüchtlingskonvention erhalten. Auch die
SPD-Bundestagsfraktion hat sich
noch im Juni 2001 für Verbesse-
rungen eingesetzt und Vorschläge gemacht, wie die Schutzlücke
für diese Personengruppe geschlossen werden kann. Die
Lücke bleibt nicht nur – sie wird
sogar größer.
Eine Klarstellung im Gesetz, dass
auch eine von nichtstaatlichen
Organisationen ausgehende Verfolgung zur Anerkennung der
Flüchtlingseigenschaft im Sinne
der Genfer Flüchtlingskonvention führt, sucht man vergeblich.
Wie bisher auf § 53 Absatz 6
Ausländergesetz werden die auf
diese Weise bereits um einen vernünftigen Schutzstatus Geprellten künftig auf den § 60 Absatz 7
Aufenthaltsgesetz verwiesen. Der
alte Zustand wäre die Erteilung
einer Duldung gewesen. Die aber
kennt das neue Gesetz nicht
mehr. Theoretisch wäre nun eine
befristete Aufenthaltserlaubnis
denkbar. Doch der neue § 60
Aufenthaltsgesetz steht unter einem entscheidenden Vorbehalt:
Die Aufenthaltserlaubnis nach §
25 Absatz 3 wird nicht erteilt
„wenn die Ausreise in einen anderen Staat möglich und zumutbar ist“. Was harmlos klingt, hat
weitreichende Folgen. Bisher
musste die Behörde die Abschiebung in einen konkreten Staat
androhen. War sie in der Praxis
nicht vollziehbar, war die Konsequenz: Eine Duldung musste erteilt werden. Nunmehr kann die
Ausländerbehörde behaupten,
dass eine Ausreise in einen anderen Staat möglich und zumutbar
sei. Den Nachweis, dass sie in keinen anderen Staat ausweisen können, müssen die Betroffenen nun
selbst führen. Die Beweislast
wird umgekehrt. Die Folge: Eine
aufenthaltsrechtliche Besserstellung wird den Opfern nichtstaatlicher und geschlechtsspezifischer
Verfolgung nur im Ausnahmefall
zuteil. Den meisten droht eine
ungewisse Zukunft. Sie werden
oftmals nicht mehr in den Händen halten als die Bescheinigung,
dass ihre Abschiebung ausgesetzt
wurde.
Tausende können ihre Arbeitsplätze verlieren
Das neue Gesetzeswerk koppelt
die Arbeitserlaubnis daran, dass
ein „Aufenthaltstitel“ erteilt wird.
Eine bloße „Bescheinigung“ nach
§ 60 Aufenthaltsgesetz ist jedoch
kein Aufenthaltstitel. Bislang geduldete Ausländer dürfen also
nicht mehr arbeiten.
Ob und unter welchen Voraussetzungen Asylsuchende künftig
während der Dauer des Verfahrens arbeiten dürfen ist unklar.
Zwar sieht § 61 Absatz 2 Asylverfahrensgesetz (neu) vor, dass einem Asylbewerber nach einem
Jahr des Aufenthalts in Deutschland die Ausübung einer Beschäftigung erlaubt werden kann,
wenn das Arbeitsamt zustimmt
33
Grundrecht auf Asyl und Einwanderung
oder durch eine Rechtsverordnung festgelegt ist, dass eine Beschäftigung auch ohne Genehmigung möglich ist. Die Rechtsverordnung liegt noch nicht vor.
Klar ist damit bislang nur ein gesetzliches Arbeitsverbot für die
ersten 12 Monate. § 61 Absatz 2
Asylverfahrensgesetz steht jedoch im Widerspruch zu Artikel
9, Änderung des dritten Buches
des Sozialgesetzbuch in Kombination mit § 4 Aufenthaltsgesetz.
§ 284 (neu) des Sozialgesetzbuches besagt, dass Ausländer nur
dann eine Beschäftigung ausüben
dürfen, wenn der Aufenthaltstitel
es erlaubt. Da jedoch die Aufenthaltsgestattung während des Asylverfahrens in § 4 des Aufenthaltsgesetzes nicht als Aufenthaltstitel aufgeführt ist dürfen
Asylsuchende während der Dauer
des Asylverfahrens generell nicht
arbeiten. Zumindest besteht hier
ein Widerspruch zwischen dem
Asylverfahrensgesetz und dem
Aufenthaltsgesetz.
Soziale Ausgrenzung: Zeitlich
unbeschränkt und auf weitere
Gruppen ausgeweitet
Während das Bundessozialhilfegesetz den Anspruch hat, einem
jeden ein Leben in Menschenwürde zu ermöglichen, gilt seit in
Kraft treten des Asylbewerberleistungsgesetzes für Asylsuchende
und andere Personengruppen nur
noch eine „Menschenwürde mit
Rabatt“. Überwiegend werden sie
mit Sachleistungen abgespeist.
Das Leistungsniveau liegt mehr
als 30 Prozent unterhalb der Sozialhilfe in der Nähe des physischen Existenzminimums. Seit
Jahren wird die Ausgrenzung der
Betroffenen mit einer Art SalamiTaktik vorangetrieben. Zunächst
galten die geminderten Leistungen für ein Jahr, dann für drei
Jahre. Künftig soll das katastrophale Leistungsniveau zeitlich unbegrenzt gelten.
Auch den Betroffenenkreis will
man erheblich ausweiten: Auf alle Ausländer mit Abschiebungsschutz, auch dann, wenn deren
Abschiebung ausgesetzt ist, weil
sie Anspruch auf diesen Abschiebungsschutz etwa auf Grund völkerrechtlicher Bestimmungen haben.
Missachtung der Genfer
Flüchtlingskonvention: Das
politische Engagement von
Flüchtlingen wird sanktioniert
Viele Flüchtlinge engagieren sich
nach ihrer Flucht politisch und
weisen auf menschenrechtswidrige Zustände in ihrem Herkunftsland hin. Werden bei ihnen keine
Vorfluchtgründe anerkannt, gelten sie also nicht bereits als auf
Grund von Vorkommnissen in
ihrem Heimatland Verfolgte,
dann soll ihnen dieses Engagement künftig zum Nachteil gereichen. § 28 Absatz 2 Satz 1 Asylverfahrensgesetzentwurf (neu)
sieht vor, dass in diesen Fällen eine Anerkennung des „kleinen
Asyls“ – des Flüchtlingsstatus
nach der Genfer Flüchtlingskonvention, ausgeschlossen ist. Bei
diesem Vorschlag handelt es sich
um eine eklatante Missachtung
der Genfer Flüchtlingskonvention, die einen solchen Ausschluss
vom Flüchtlingsstatus in diesen
Fällen nicht vorsieht. Wer demonstriert, muss die Folgen tragen, das ist die Botschaft.
Statt Härtefallregelungen: Privatisierung des Schutzes von
Flüchtlingen
PRO ASYL, Kirchen und Verbände fordern seit langem eine
gesetzliche Härtefallregelung im
Ausländergesetz, mit der schwierige Einzelfälle gelöst werden.
Obwohl in der Koalitionsvereinbarung eine Prüfung der Frage
vereinbart wurde, legt sich Bundesinnenminister Schily mit dem
Gesetzentwurf fest: keine Härtefallregelung. Nach den Vorstellungen des Bundesinnenministers
sollen Kirchen und internationale
Organisationen jedoch die Möglichkeit bekommen, Menschen einen Aufenthalt zu sichern: Voraussetzung ist, dass sie den Lebensunterhalt und die Krankenversicherung dauerhaft garantieren. Die entsprechenden Paragrafen des Gesetzentwurfes sind unklar.
Die Position der Kirchen ist eindeutig: Kirchenasyl hat zum Ziel,
den Staat zu einer Überprüfung
von falschen oder moralisch unerträglichen Entscheidungen zu
bewegen. Der Staat wird nicht
aus seiner Verantwortung entlassen. Der Schutz von Menschen,
denen die sich in Gefahr für Leib
und Leben drohen, ist und bleibt
eine staatliche Aufgabe, die nicht
privatisiert werden kann. Den
Kirchen anzubieten, die Betroffenen quasi „freizukaufen“ ist keine
Lösung.
Ab ins Ausreisezentrum
Foto: Miriam Futterlieb
34
Der Aufenthalt vollziehbar ausreisepflichtiger Ausländer soll
künftig in jedem Fall beschränkt
werden. Diese rechtlich zwingenFLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 80/81, Oktober 2001
Grundrecht auf Asyl und Einwanderung
de Regelung kennt keine Ausnahmen. Die Betroffenen können
gemäß § 61 Aufenthaltsgesetz
verpflichtet werden, in einer Ausreiseeinrichtung zu wohnen. Für
die Einweisung in eine solche halboffene Einrichtung, in der durch
regelmäßige Befragung Druck
auf die Betroffenen ausgeübt
wird, genügt es, wenn Anhaltspunkte für den Verdacht bestehen, dass man einer Ausreisepflicht nicht nachkommen könnte – ein rechter Gummiparagraf
– oder wenn die gesetzte Ausreisefrist abgelaufen ist. Insbesondere letztere Regelung ermöglicht
praktisch die Einweisung der
großen Mehrheit der bislang geduldeten Ausländer – ob sie nun
die „Bescheinigung“ haben oder
nicht in derartige Ausreisezentren. Modellprojekte existieren
bereits in Rheinland-Pfalz und
Niedersachsen. Ohne zeitliche
Begrenzung wird dort auf die Betroffenen durch permanenten
Druck eingewirkt, nachdem man
sie von ihrem Wohnort wegverteilt und dort eingewiesen hat –
bei gleichzeitigem Entzug der Arbeitsgenehmigung. Die derart
Entwurzelten, die oftmals überhaupt nicht die Möglichkeit haben auszureisen, ziehen das Abtauchen in die Illegalität dem Leben unter solchen Bedingungen
vor. Wer sich in diese Ausreisezentren nicht einweisen lässt oder
untertaucht und dann aufgegriffen wird, erfüllt die Voraussetzungen für die Verhängung von
Abschiebungshaft.
seeinrichtung nicht Folge leisten,
aufgegriffen und inhaftiert werden.
Abschaffung der Weisungsunabhängigkeit der Entscheider
im Bundesamt:
Im Asylverfahren kommt es entscheidend darauf an, dass sich die
Entscheider einen persönlichen
Eindruck von der Glaubwürdigkeit eines Asylsuchenden machen. Glaubwürdigkeit ist nichts,
was nach Aktenlage beurteilt werden kann. Deshalb dürfen die
Entscheider des Bundesamtes
hinsichtlich der Glaubwürdigkeit
des einzelnen Asylvorbringens
keinen Weisungen unterliegen.
Der Gesetzentwurf sieht jedoch
vor, dass die bisherige Weisungsunabhängigkeit komplett abgeschafft wird.
Obligatorische Regelüberprüfung der Asylanerkennung
und der Flüchtlingseigenschaft
Die Regelungen, die der Gesetzentwurf hier vorsieht, sind zum
Teil widersprüchlich. Schon nach
dem geltenden Recht ist eine Prüfung, ob der Status zu widerrufen
ist, möglich. Es gibt die Möglichkeit, auf eine veränderte Situation
im Herkunftsland zu reagieren.
Sollte damit der obligatorischen
Überprüfung die Einleitung regelrechter Widerrufsverfahren
gemeint sein, dann ergäbe sich eine Arbeitsbeschaffungsmaßnah-
me für das Bundesamt für die
Anerkennung
ausländischer
Flüchtlinge. Um eine Vorstellung
von der Größenordnung zu vermitteln folgende Modellrechnung: Würde man die obligatorische Prüfung zum jetzigen Zeitpunkt einführen, wären die Entscheidungsjahre 1997 und 1998
betroffen. Für das Jahr 1997 müsste sich das Bundesamt mit 20
999 Fällen nochmals befassen,
für das Jahr 1998 mit 13 857 Fällen. Nicht eingerechnet sind dabei die Fälle, in denen im Rahmen
des gerichtlichen Verfahrens Anerkennungen ausgesprochen worden sind. Angesichts der Bearbeitungsdauer solcher Verfahren
und der Möglichkeit, gegen negative Entscheidungen weitere
Rechtsmittel einzulegen, dürfte
eine solche obligatorische Überprüfung zu einer weiteren jahrelangen Verunsicherung der Betroffenen führen und jede Integration ausschließen. Menschen,
die nach jahrelang andauernden
Verfahren endlich glaubten, in Sicherheit zu sein, werden erneut in
Unsicherheit gestürzt.
Das Kindeswohl wird weiter
missachtet:
Die skandalöse Behandlung unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge unter Missachtung der UNKinderrechtskonvention soll weitergehen. Forderungen von
Nichtregierungsorganisationen
nach der vollen Umsetzung der
UN-Kinderrechtskonvention in
Abschiebungshaft –
Der Skandal geht weiter
Die Regelungen über die Abschiebungshaft sollen unverändert ins neue Recht übernommen werden. Die Absichtserklärung aus der rot-grünen Koalitionsvereinbarung, insbesondere die Dauer der Abschiebungshaft im Lichte des Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu überprüfen – wird zur Makulatur.
Die Zahl der Abschiebungshäftlinge aber wird vermutlich
steigen, wenn diejenigen, die eine Einweisung in eine Ausrei-
Foto: Miriam Futterlieb
35
Grundrecht auf Asyl und Einwanderung
Deutschland mit dem Ziel, dass
Kindeswohl vor Ausländerrecht
geht, werden ebenso ignoriert,
wie Empfehlungen der Süssmuth-Kommission, die zum
Beispiel gefordert hat, die Verfahrensfähigkeit minderjähriger im
Asylverfahren auf 18 Jahre heraufzusetzen und Flüchtlingskinder im übrigen altersadäquat und
nach
jugendhilferechtlichen
Grundsätzen zu behandeln.
Illegale – ein weiterhin verdrängtes Thema
Insbesondere die Kirchen hatten
in den letzten Monaten vehement
Verbesserungen für Menschen in
der Illegalität gefordert. Im Vordergrund steht dabei die Forderung nach der Sicherung sozialer
Mindeststandards, deren Inanspruchnahme nicht durch die Erhebung und Weitergabe von Daten gefährdet werden darf (Zugang zu medizinischer Behandlung, Durchsetzung vereinbarter
Löhne, Verhütung von Obdachlosigkeit). Das auch von der Süssmuth-Kommission angesprochene Thema wird im Gesetzentwurf ignoriert. Statt dessen löst
der Entwurf neue Illegalisierungsprozesse aus.
Datenschutz:
Mit dem neuen Bundesamt für
Migration und Flüchtlinge wird
eine neue Superbehörde geschaffen, die für eine Vielzahl völlig
unterschiedlicher Aufgaben zuständig sein soll. Die Behörde soll
Integrationsprogramme
entwickeln, Zuwanderungsbewerber
auswählen, die künftig im Rahmen des sogenannten Auswahlverfahrens einwandern dürfen,
nationale Kontaktstelle bei der
Gewährung von vorübergehendem Schutz an bestimmte Personengruppen sein, das Gesamte
„Rückkehrmanagement“ bei freiwilliger Rückkehr und Abschiebung übernehmen, das Ausländerzentralregister führen und
schließlich auch das Asylverfahren durchführen. Ausländerinnen
und Ausländer aller Kategorien
werden Objekt einer verschärften
36
Datensammelwut. Die Bestimmungen zur Datenerfassung und
–übermittlung sollen ausgeweitet
werden. Die Persönlichkeitsrechte von Ausländerinnen und Ausländern und ihr Recht auf informationelle Selbstbestimmung gelten weiterhin wenig in diesem
Land.
Entscheidungsstopp des Bundesamtes weit über sechs Monate hinaus:
Bereits bisher hat der Bundesinnenminister sogenannte „Entscheidungsstopps“ verhängt – und
dies in Situationen, wo sich für eine größere Zahl von Flüchtlingen
eine Anerkennung als politisch
Verfolgte geradezu aufgedrängt
hatte, so zum Beispiel während
des Bosnien-Krieges. Diese
rechtlich fragwürdige Praxis soll
nun eine gesetzliche Grundlage
erhalten und sogar noch ausgedehnt werden. Nach § 11 a Asylverfahrensgesetzentwurf kann
die Aussetzung der Entscheidung
sogar noch verlängert werden –
ohne zeitliche Befristung.
Missachtung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte
auch künftig möglich:
Die SPD-Bundestagsfraktion hat
eine Änderung von § 53 Absatz 4
Ausländergesetz vorgeschlagen,
so dass bei drohender Folter
durch nichtstaatliche Akteure die
Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrecht zu beachten ist. Diese
steht im Widerspruch zur Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, das die Europäische Menschenrechtskonvention
nur bei „staatlicher Folter“ angewendet sehen will. Diesem wichtigen Vorstoß der SPD-Bundestagsfraktion ist das Innenministerium nicht gefolgt.
Kein Anspruch auf Vollständigkeit
Die hier vorgelegte Liste von Verschärfungen erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Der
vom Bundesinnenminister vorgelegte Gesetzesentwurf ist ein sogenanntes „Artikelgesetz“, bei
dem die Neuregelung des Ausländerrechtes eine Vielzahl von Folgeänderungen in anderen Gesetzen nach sich zieht. Nicht nur
deshalb ist die Materie besonders
kompliziert. Der Gesetzentwurf
betrifft das Schicksal von sieben
Millionen Ausländern, nicht gerechnet diejenigen, die auf der
Basis eines solchen Zuwanderungsgesetzes oder als Flüchtlinge eines Tages kommen werden.
Über deren Schicksal, den Schutz
bedrohter Menschen und die einwanderungspolitischen Perspektiven der Bundesrepublik kann
nicht in einem Hau-Ruck-Verfahren beschlossen werden.
Ein Blick ins Gesetz zeigt: Neben
den hier dargestellten vorsätzlichen Verschärfungen enthält es
eine Fülle von widersprüchlichen
Regelungen und handwerklichen
Mängeln. Der Gesetzentwurf
wurde mit heißer Nadel in der
Sommerpause gestrickt.
Für die gesetzgeberische Hektik
gibt es keinen sachlichen Grund:
Das Gesetz soll erst im Jahre
2003 in Kraft treten. Und: Die
meisten der durch den SchilyEntwurf vorgesehenen neuen
Möglichkeiten der Arbeitskräftezuwanderung für nicht EU-Ausländer lassen sich – obwohl von
vielen Seiten als der große Wurf
gepriesen – auch ohne eine hektische Totalrevision des Ausländerrechtes umsetzen, etwa in Form
einer Rechtsverordnung zur Umsetzung der Anwerbestopp-Ausnahmeverordnung.
Eine künftige Regelung der Einwanderung darf nicht zu Lasten
schutzbedürftiger Menschen gehen. Dieses Potpourri der Restriktionen darf nicht Gesetz
werden. Es handelt sich um nicht
weniger als den weitreichendsten
Beitrag zur Entrechtung von Asylsuchenden und Geduldeten seit
dem Asylkompromiss 1993.
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 80/81, Oktober 2001
Grundrecht auf Asyl und Einwanderung
Asyl ist kein preiswerter Gnadenakt
Kirchenasylbewegung lehnt Schilys Vorschlag ab
In seinem Gesetzesentwurf zur Zuwanderung sieht Schily keine neue Härtefallregelung im Ausländergesetz
vor, wie sie Kirchen, Wohlfahrtsverbände und NGO´s seit langem fordern. Statt dessen räumt er den Kirchen
die Möglichkeit ein, vom Staat abgelehnte AsylbewerberInnen in Härtefällen ein befristetes Aufenthaltsrecht
in Deutschland zu gewähren, sofern sämtliche Kosten von den Kirchen selbst getragen werden. Dieser Vorschlag trifft auf breite Empörung bei den KirchenvertreterInnen. Im Folgenden dokumentieren wir die Antwort des Ökumenischen Netzwerk "Asyl in der Kirche" in Nordrhein-Westfalen auf Schilys Vorschlag.
(Red.)
Bundesinnenminister Otto Schily will mit den Kirchen eine neue Art Ablasshandel aufmachen. Das wundert uns - die Kirchenasylbewegung in Nordrhein-Westfalen - nicht. Schily hat aufgrund des ständigen
Asylmißbrauchs durch die deutschen Behörden allen Grund, um sich von christlicher und humanitärer Kritik freikaufen zu wollen.
Der Kirchenbewegung, die in den letzten Jahren zu einem moralischen Gegengewicht gegen die staatliche
Verweigerung des Asylrechts geworden ist, wird ein "Kontingent" von abgelehnten Asylbewerbern zugeschoben, die sie schützen darf. Mit Großzügigkeit oder mit Gnade hat dieses Angebot allerdings nichts zu
tun:
1.) Der Bundesinnenminister, der sogar die Rügen des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen an der rigiden, ja völkerrechtswidrigen Asylpraxis in Deutschland in schöner Regelmäßigkeit arrogant beiseite wischt, will sich mit diesem Vorschlag auf phantasievolle Weise weiter der staatlichen Schutzverpflichtung Verfolgten gegenüber entledigen.
2.) Das Kalkül lautet : die Kirchenasylbewegung soll für alle Opfer deutschen Asylmißbrauchs, die sie innerhalb dieses "Kontingents" schützt, die öffentliche Solidarität nicht mehr einfordern, sondern in aller
Stille barmherzig sein. Die Kirchenasylbewegung und ihre praktische Kritik am Versagen bundesdeutscher
Asylpraxis wäre damit tot - und der Zweck des Ablaßhandels erreicht.
3.) Wenn der Bundesinnenminister mit der bereits vor Jahren vom bayerischen CSU-Innenminister Beckstein unterbreiteten Kontigentidee die Kirchenasylbewegung befrieden will, so möchte er damit gleichzeitig die von ihm beabsichtigten Verschärfungen des Asylrechts (wie z.B. die Beschränkung der Asylanerkennung auf zwei Jahre) ohne kirchliche Gegenwehr durchsetzen. Dieses Kalkül macht das Schilysche
"Angebot" doppelt zynisch.
Das Ökumenische Netzwerk "Asyl in der Kirche" in Nordrhein-Westfalen lehnt den vom Bundesinnenminister vorgeschlagenen Menschenhandel mit aller Entschiedenheit ab.
Gabriele Spieker, (Vorsitzende vom Ökumenischen Netzwerk)
In Nordrhein-Westfalen werden derzeit fast zweihundert Menschen im Kirchenasyl vor der Abschiebung
geschützt, mehr als in allen anderen Bundesländern. Die meisten Flüchtlinge sind Kurden und Kurdinnen aus der Türkei, die sich seit Januar 1998 mit dem "Wanderkirchenasyl" an die Öffentlichkeit wandten. Die Wanderkirchenasylflüchtlinge protestierten gegen die Menschenrechtsverletzungen in ihrer Heimat und gegen die Asylpraxis in Deutschland, die sie zu rechtlosen "Illegalen" machte.
Durch diesen politischen Kirchenasylprotest, an dem sich über hundert Kirchengemeinden und die Kampagne "kein mensch ist illegal" beteiligt haben, konnte die Abschiebung von über 400 Menschen bisher
verhindert werden. 1999 erhielt das Wanderkirchenasyl den Aachener Friedenspreis.
37
Grundrecht auf Asyl und Einwanderung
Kritik des IPPNW
Sehr geehrter Herr Innenminister
Schily,
sierter Flüchtlinge nicht berücksichtigt. Zu dieser Thematik werden seit mehreren Jahren Fortbildungen für Mitarbeiter des Bundesamtes für die Anerkennung
ausländischer Flüchtlinge, BAFL,
durch Mitarbeiter von Psychosozialen und Behandlungs-Zentren
für Flüchtlinge und Folteropfer
durchgeführt.
In der Kürze der Zeit können in
unserer Stellungnahme nur einige
wichtige Aspekte benannt werden, die besonders traumatisierte
und kranke Flüchtlinge und Folteropfer betreffen.
Nach wissenschaftlichen Erkenntnissen brauchen traumatisierte Flüchtlinge aufgrund ihrer
traumabedingten Störungs- und
Krankheitsbilder
besonderen
Schutz.
In den Vorankündigungen zum
Zuwanderungsgesetz waren u.a.
Änderungen im Rahmen der
Asyl- und Ausländergesetze zur
Verbesserung des Schutzes von
schutzbedürftigen Flüchtlingen
in Aussicht gestellt worden.
Wie wir jedoch feststellen müssen, stehen viele Neuerungen in
den Asyl- und Ausländer-gesetzen den Notwendigkeiten der Lebenssicherung und medizinischen und psychotherapeutischen
Behandlungen entgegen. Unsicherer, instabiler und begrenzter
Aufenthaltsstatus, fehlende adäquate Behandlung und drohende
oder durchgeführte Rückführung
zu einem Zeitpunkt, den die betreffenden Flüchtlinge nicht
selbst bestimmen können, bewirken die Fortsetzung des traumatisierenden Prozesses und führen
zu weiterer Chronifizierung der
Krankheitsbilder mit weitreichenden gesundheitlichen Folgen für
die Betroffenen selbst, für ihre
Ehepartner und Kinder.
Erste Stellungnahme des AK
Flüchtlinge / Asyl der IPPNW
vom 22.8.2001 zum Entwurf
zum
Zuwanderungsgesetz
(ZuwGE), bezogen auf traumatisierte Flüchtlinge / Asylbewerber und Folteropfer.
Wie wir mit großem Bedauern
feststellen, fehlen in dem vorliegenden Entwurf Verbesserungen
gerade für traumatisierte Flüchtlinge und Folteropfer. Berechtigte
Forderungen, die teilweise auch
von der unabhängigen Kommission “Zuwanderung” erhoben
wurden, sind bedauerlicherweise
nicht berücksichtigt worden. Die
Empfehlungen der unabhängigen
Kommission “Zuwanderung”
haben bestehende Schutzlücken
und die Verbesserung der Situation von anerkannten Schutzsuchenden oder von solchen
Flüchtlingen zum Gegenstand,
die aus von ihnen nicht zu vertretenen Gründen nicht abgeschoben werden können.
Maßnahmen, die bereits von dem
Leiter des Bundesamtes, Herrn
Präsidenten Dr. Albert Schmid,
und auch bei der Fachtagung
“Traumatisierte Flüchtlinge” am
26.4.2001 in Nürnberg für erforderlich gehalten und in die Wege
geleitet wurden, sind im Entwurf
nicht enthalten. Ebenso wurden
Vorlagen zur Verbesserung der
frühzeitigen Erkennung traumati38
Wir begrüßen ausdrücklich, dass
das Amt des Bundesbeauftragten
ersatzlos gestrichen werden soll.
Dies bedeutet für alle Behörden
und Gerichte eine große Arbeitserleichterung und für die Asylbewerber eine wesentliche Verminderung von Angst, Aufregung und Verunsicherung.
schon Regelungen in die Wege
geleitet worden, die den notwendigen Schutz dieser Menschen verbessert hätte),
• der Schutz unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge (UMF)
und anderer Kinder im Sinne
der UN-Kinderrechtskonvention,
• Härtefallregelung,
• Vorkehrungen zur Vorbereitung und Beratung der Asylsuchenden vor der Anhörung
und vor Gerichtsverhandlungen, wie z.B. rechtliche und
psychosoziale Beratung und
Aufklärung über Verfahrensbestimmungen und Behandlungsmöglichkeiten,
• Sonderregelungen für traumatisierte Personen und unbegleitete minderjährige Jugendliche.
Wie schon erwähnt, muss gewährleistet sein, dass traumatisierte Flüchtlinge frühzeitig als
solche erkannt werden, ebenso
muss deren besondere Problematik der Folgeschäden nach
Traumatisierung
(PTSD,
Angststörung,
Depression,
Konzentrations- und Aussageschwierigkeiten in den Verfahren Berücksichtigung finden. Weiterhin ist es unabdingbar, dass Asylbewerber ihre
Asylgründe auch noch zu einem späteren Zeitpunkt in das
Verfahren einbringen können,
wenn sie z.B. erst zu einem späteren Zeitpunkt ihre traumatischen Erfahrungen durch oder
während der Behandlung ansprechen können.
Nicht ausreichend geregelt oder
nur unzureichend berücksichtigt
sind :
• Abschaffung oder zumindest
Neugestaltung der Abschiebehaft und des Flughafenverfahrens (z.B. Herausnahme von
UMF).
• der Schutz der Opfer nichtstaatlicher und geschlechtsspezifischer Verfolgung (hier waren durch das Bundesamt
Abschließend möchten wir unsere besondere Sorge zum Ausdruck bringen, dass die bisherige
Duldung abgeschafft werden soll.
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 80/81, Oktober 2001
Grundrecht auf Asyl und Einwanderung
Ein fehlender Aufenthaltstitel
und fehlender Abschiebe-schutz,
wie auch unsichere Ermessensregelungen und Ausschlussgründe
bedeuten für alle Asylbewerber,
jedoch besonders für traumatisierte Flüchtlinge und Folteropfer
das Fehlen der oben beschriebenen Voraussetzungen und Notwendigkeiten von Lebens- und
Behandlungs-bedingungen. Ein
sicherer und stabiler Aufenthalt
ist für diese Menschen unverzichtbar um sich zu stabilisieren
und ihre traumatischen Erlebnisse in ihr Leben integrieren zu lernen.
tes und Ausländerbehörden feststellen konnten, wurden unsere
fachlich-wissenschaftlichen Bedenken und Erfahrungen ernst
genommen.
Wie wir in früheren Gesprächen
mit dem Bundesinnenministerium, Gesundheitsministerium, der
Beauftragten der Bundesregierung für Ausländerfragen, leitenden Mitarbeitern des Bundesam-
Wir möchten daher sehr eindringlich bitten, unsere Ausführungen in Ihre weiteren Erwägungen für ein Zuwanderungsgesetz einzubeziehen und zu
berücksichtigen.
Nds. Grüne lehnen Schily-Entwurf ab
Nach anfänglichem Zögern wurden inzwischen auch kritische Stimmen von Seiten der Grünen gegen den Entwurf zur Zuwanderung laut. Die niedersächsischen Landtagsgrünen lehnen Schilys Entwurf ab. Mit einem
Entschließungsantrag für die nächste Plenarsitzung fordern sie die Landesregierung auf, sich in den Verhandlungen zwischen Bund und Ländern für eine Änderung des Gesetzentwurfes einzusetzen. Im Folgendem
dokumentieren wir den grünen Entschließungsantrag an den Niedersächsischen Landtag.
Antrag
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Hannover, den 03.09.01
Betr: Einwanderungsgesetz
Der Landtag wolle beschließen:
Entschließung
Der niedersächsische Landtag begrüßt die Absicht der rot-grünen Bundesregierung, noch in dieser Legislaturperiode ein Einwanderungsgesetz zu verabschieden. Nach der Reform des Staatsbürgerschaftsrechtes ist die Gestaltung der Einwanderung eines der wichtigsten Modernisierungs- und Reformprojekte. Die von der Bundesregierung eingesetzte “Unabhängige Kommission Zuwanderung” unter Leitung
von Prof. Rita Süßmuth hat wichtige Impulse für eine vernünftige Regelung der Einwanderung und Integration, aber auch zum Flüchtlingsschutz gegeben. Der Anfang August vom Bundesinnenministerium
vorgelegte Entwurf für ein Zuwanderungsgesetz nimmt die Anregungen der Süßmuth-Kommission nur
unzureichend auf. Die im Entwurf vorgesehenen Neuregelungen des Ausländerrechtes ergeben erhebliche Verschlechterungen für hier lebende Migrantinnen und Migranten sowie für Flüchtlinge. Der niedersächsische Landtag lehnt den Gesetzentwurf in der vorliegenden Fassung ab.
Der niedersächsische Landtag fordert die Landesregierung auf, sich im Beteiligungsverfahren der Länder
für ein modernes, zukunftsfähiges und europataugliches Einwanderungsgesetz einzusetzen. Die Landesregierung wird aufgefordert, sich bei der Neuregelung der Einwanderung und des Flüchtlingsschutzes insbesondere dafür einzusetzen, dass die nachfolgenden Kriterien beachtet werden:
1. Das Einwanderungsgesetz muss Rechtssicherheit gewährleisten.
Für die hier bereits langjährig lebenden Migrantinnen und Migranten muss der Übergang in das Niederlassungsrecht ohne “Prüfungen” und Gebühren gesichert sein. Der bisherige Aufenthaltsstatus darf sich
durch das neue Recht nicht verschlechtern. Der geplante Wegfall der Duldung darf nicht zur Folge haben, dass “de-facto-Flüchtlinge”, die aus unterschiedlichsten Gründen nicht abgeschoben werden können, keinen definierten Aufenthaltstitel mehr erhalten. Die für diese Personen “ohne Papiere” vorgesehenen räumlichen Beschränkungen und die Unterbringung in “Ausreiseeinrichtungen” stehen außerdem
im eklatanten Widerspruch zu den europäischen Grundsätzen einer humanen Flüchtlings- und Asylpolitik. Die geplante Überprüfung von Asylberechtigten nach drei Jahren führt zu einem unsinnigen rechtlichen Schwebezustand und wirkt des-integrierend. Darüber hinaus steht sie einer Beschleunigung der Asylverfahren entgegen und führt zu weiteren Kosten sowie unsinnigen Mehrbelastungen der Verwaltungsgerichte.
39
Grundrecht auf Asyl und Einwanderung
Statt - wie vorgeschlagen - Kirchen das Recht zu geben, auf eigene Kosten Menschen aus humanitären
Gründen ein befristetes Aufenthaltsrecht zu gewähren, muß vielmehr eine allgemeine Härtefallregelung
in das Gesetz aufgenommen werden.
2. Das Einwanderungsgesetz muss sozial ausgewogen sein.
Flüchtlinge und politisch Verfolgte haben ein Recht auf soziale Integration. Das Asylbewerberleistungsgesetz darf nicht weiter verschärft werden. Die geplante unbefristete Absenkung der Leistungen um 30
% unter das Existenzminimum ist weder mit unserer Verfassung noch mit der europäischen Rechtsprechung vereinbar.
Die geplanten Regelungen zum Familiennachzug führen zu einem “Zwei-Klassen-Recht”, denn der besondere Schutz von Art. 6 GG kommt nur noch den “Hochqualifizierten” zugute. Familien mit niedrigem Einkommen und weniger qualifizierten Bildungsabschlüssen dürfen aber in Fragen der Familienzusammenführung und des Nachzugsrechtes für Kinder nicht benachteiligt werden.
3. Das Einwanderungsgesetz muss integrationsfreundlich gestaltet sein.
Die Bereitstellung von qualifizierten Sprach- und Integrationskursen ist Pflichtaufgabe des Staates. Die
Finanzierung der Integrationsaufgaben muss gerecht zwischen Bund und Ländern geregelt werden. Für die
Teilnahme an Integrations- und Qualifizierungsmaßnahmen müssen Anreize geschaffen werden. Rechtliche Repressionen und soziale Sanktionen wirken desintegrierend, sie sind abzulehnen. Einen Anspruch
auf Integrationsmaßnahmen muss auch allen Flüchtlingen und politisch Verfolgten, denen ein Aufenthalt
in Deutschland zuerkannt wird, gewährt werden. Der Zugang zum Arbeitsmarkt darf für Flüchtlinge und
politisch Verfolgte nicht nach den erst kürzlich durchgesetzten Lockerungen erneut verschärft werden.
4. Das Einwanderungsgesetz muss europäische Standards in der Migrations- und Flüchtlingspolitik erfüllen.
Die nationalen deutschen Regelungen zu Einwanderung und Schutzgewährung dürfen nicht gegen bindendes Völkerrecht und europäische Vereinbarungen verstoßen. Die Einhaltung der Genfer Flüchtlingskonvention im Sinne der Auslegungspraxis des UNHCR und der UN-Kinderrechtskonvention muss gewährleistet sein. In Streitfragen sind die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes als bindend für
die nationale Rechtsprechung anzuerkennen. Die Schutzlücken im Bereich nichtstaatlicher und geschlechtsspezifischer Verfolgung sind zu schließen. Die Vorschläge der EU-Kommission zum Familiennachzug sind ebenso aufzunehmen, wie die europäischen Mindeststandards für die soziale Integration
von Flüchtlingen und politisch Verfolgten. Das Vorhaben, allen Personen, jeglichen Schutz zu versagen,
die erst durch selbstgeschaffene Nachfluchtgründe eine Verfolgung im Herkunftsland auslösen, wird abgelehnt. Eine solche Regelung verstößt gegen die Genfer Flüchtlingskonvention und gegen Beschlüsse
des Bundesverfassungsgerichtes. Entscheidend für die Schutzgewährung ist nicht, wie Verfolgungsgründe entstanden sind, sondern ob eine Verfolgung und Gefährdung für den Schutzsuchenden vorliegt.
5. Das Einwanderungsgesetz muss demokratisch, bürgerfreundlich und modern gestaltet sein.
Die parlamentarische Mitwirkung des Bundes und der Länder bei der Festlegung der Kriterien für die
Einwanderung und die zukünftige Schutzgewährung muss gesichert sein. Die geplante Alleinzuständigkeit des Bundesinnen- und des Bundesarbeitsministeriums widerspricht dem föderalen Aufbau unseres
Landes und führt zu einer Entparlamentarisierung der zukünftigen Steuerung von Einwanderung und
stellt die Schutzgewährung in vielen Bereichen in das Ermessen der Verwaltungen. Insgesamt führt der
vorliegende Gesetzentwurf zu einer “Entparlamentarisierung” der Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik.
Das Ziel, das Recht verständlicher und einfacherer zu gestalten ist verfehlt. Auch, wenn die Aufenthaltstitel reduziert werden sollen, bleiben die komplizierten Rechtsfolgen. Statt klar definierter Rechtsansprüche werden in dem vorliegenden Gesetzentwurf die Ermessensspielräume der zuständigen Behörden
ausgeweitet. Die Wege von einem Aufenthaltsrecht zum Niederlassungsrecht und zur Einbürgerung bleiben für die Betroffenen unklar. Wenig bürgerfreundlich sind die drastisch erhöhten Gebühren für die Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis oder der Beantragung des Niederlassungsrechtes. Kosten von bis zu
1000 DM für eine Familie mit einem Kind bilden keinen Anreiz, sie schrecken ab. Unsere Gesellschaft
braucht Einwanderung, die Verwaltungskosten können nicht einseitig den Einwanderungswilligen aufgebürdet werden.
40
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 80/81, Oktober 2001
Grundrecht auf Asyl und Einwanderung
Legalisierung jetzt
Aktion im Kreishaus gegen Flüchtlingspolitik
lr Lüchow. „Legalisierung jetzt“
und „Bleiberecht für alle“ forderten gestern rund 15 Menschen
bei einer Aktion im Kreishaus.
Sie protestierten gegen den kürzlich vorgelegten Schily-Entwurf
für ein Zuwanderungsgesetz:
Statt über ein solches zu diskutieren, müssten zunächst die rund
1,5 Millionen illegalen in
Deutschland lebenden und die
250.000 „geduldeten Flüchtlinge“
einen sicheren Aufenthaltsstatus
bekommen, wie es in fast allen
europäischen Staaten geschehen
sei.
Um auf ihr Anliegen aufmerksam
zu machen, brachte die Gruppe
im Foyer des Kreishauses Transparente an. Einige suchten in
Phantasie-Uniformen die Büros
des Ausländeramtes auf und forderten die dort Beschäftigten auf,
diese zu schließen, deckten die
Schreibtische mit Plastikplanen
ab. Dabei kam es zu Diskussionen mit Jürgen Weinhold, dem
Leiter des Dezernats III. und
Ordnungsamtsleiter Dietbart
Gnade.
Foto:„Kein Mensch ist illegal“: Transparente kritisierten gestern im
Kreishaus die aktuelle Zuwanderungspolitik.
Aufn.: T.Janssen
Der Wert des Menschen werde in
der Diskussion um das Zuwanderungsgesetz „ausschließlich nach
seiner wirtschaftlichen Verwert-
barkeit“ gemessen, stellten die
Protestierenden fest. Humanitäre
Vorschläge seien in dem Gesetzentwurf nicht zu finden.
Illegalisierte:
Bischöfe fordern soziale Mindeststandards
D
ie Deutsche Bischofskonferenz hat eine erfreuliche Erklärung zur Illegalität von Menschen abgegeben. In ihrem Papier
“Leben in der Illegalität in
Deutschland – eine humanitäre
und pastorale Herausforderung”
fordern die Bischöfe unter anderem soziale Mindeststandards für
Illegalisierte, wie Zugang zu
schulischer und beruflicher Bildung von Kindern, Zugang zu
medizinischen Leistungen ohne
die Gefahr der Anzeige, den
Schutz von Ehe und Familie, die
Durchsetzbarkeit von Lohnan-
sprüchen und Notaufnahmeeinrichtungen. Überdies müssten
“ernsthafte Überlegungen zur
Legalisierung bestimmter Gruppen und einzelner Personen angestellt werden”. Die Kirche
übernehme eine Anwaltsfunktion
für Illegalisierte. Deshalb dürften
auch engagierte Helfer/innen für
Illegalisierte nicht kriminalisiert
werden. Der Vorsitzende der Bischofskonferenz Karl Lehmann
fordert in seinem Statement “alle
Verantwortlichen in der Politik
auf kommunaler, Landes- und
Bundesebene dringend auf, Lö-
sungen zu suchen, die den betroffenen Menschen mehr gerecht
werden.” In der Frage der Illegalisierten haben die deutschen
Bischöfe übrigens keinen Dissens
mit dem Papst. Der hatte schon
1995 erklärt: “Der Status der Ungesetzlichkeit rechtfertigt keine
Abstriche bei der Würde des Migranten, der mit unveräußerlichen Rechten versehen ist, die
weder verletzt noch unbeachtet
gelassen werden dürfen.” (Aus
Pro Asyl Info Nr. 48)
41
Grundrecht auf Asyl und Einwanderung
Das Recht auf politisches Asyl
verteidigen!
Flüchtlinge gegen Schilys Gesetzentwurf
Internationaler Menschenrechtsverein Bremen; The Voice u. a.
U
ns Flüchtlingen in Deutschland bleibt keine andere
Möglichkeit, als zu einer dringlichen, entschlossenen und kompromisslosen Kampagne aufzurufen, um das Recht auf politisches Asyl in Deutschland zu verteidigen. Für uns steht fest, dass
die Gesetzesvorschläge von Innenminister Schily entworfen werden, um dem
Recht auf politisches Asyl
seine Substanz und seinen Inhalt zu rauben. Die
Zahl von uns Flüchtlingen soll drastisch reduziert werden. Unsere
Menschenrechte, unser
Recht auf politische
Betätigung und unser
Recht auf rechtliche Verteidigung sollen uns genommen werden. Innenminister Schily will die ohnehin
schon unerträgliche soziale Isolation von uns Flüchtlingen auf die
Spitze treiben. Indem er politische Flüchtlinge als diejenigen
mit geringsten Wert und damit
auch als die Unwillkommensten
definiert, versucht er einen Keil
zwischen Asylsuchende und Migrant/innen zu treiben.
Seit seinem Amtsantritt hat Innenminister Schily derart Druck
auf uns Flüchtlinge ausgeübt,
dass viele von uns, aus Angst vor
der Abschiebung, Deutschland
wieder verlassen haben, um in anderen Ländern Schutz zu suchen.
Nun will er eine Hochgeschwindigkeits-Abschiebemaschinerie in
Gang setzen. Unser gesamtes
Asylverfahren soll innerhalb eines
Jahres abgeschlossen sein. Dies
soll beispielsweise erreicht werden, indem für uns der Zugang
zum Verwaltungsgericht, die nahezu einzige Chance, die wir bis42
her in dem ohnehin völlig verkrüppelten Asylrecht noch hatten, praktisch abgeschafft wird.
Innenminister Schily will uns daran hindern, unser demokratisches
Grundrecht auf politische Betätigung auszuüben, das für andere
in Deutschland eine Selbstverständlichkeit ist, indem er uns mit
die wir in unseren Ländern
zurücklassen mussten, tagtäglich
erleiden. Wir versuchen zumindest in den Teilen der deutschen
Gesellschaft, denen noch etwas
an Menschenrechten und Gerechtigkeit liegt, eine auf Solidarität basierende Verbundenheit
mit den Menschen in unseren
Herkunftsländern zu entwickeln, die wir den auf
ökonomischer Ausbeutung gegründeten Beziehungen, die Deutschland
mit den dortigen Regimes unterhält, entgegensetzen. Die Zerstörung
des politischen Asyls zerstört genau diese Möglichkeit, sie bringt die
Stimme der humanen Solidarität zum Schweigen.
dem Schreckensgespenst der Folter und Exekution durch die
Hände genau derjenigen, vor denen wir fliehen mussten, bedroht.
Er will darüberhinaus sogar die
rechtliche Möglichkeit schaffen,
mit der den wenigen von uns, die
als politisch Verfolgte anerkannt
wurden, das Asyl nach einer kurzen Zeit wieder aberkannt werden kann. Über 270.000 von uns,
die im Besitz einer Duldung sind
und aus verschiedenen Gründen
nicht abgeschoben werden können, sollen in Ausreiselager gesteckt werden. Diese geplanten
Ausreiselager erinnern stark an
einen offenen Strafvollzug und
fügen dem psychischen Druck,
unter dem wir aufgrund der permanenten Abschiebeandrohung
stehen, noch inhumane physische
Bedingungen hinzu.
Wir werden nicht tatenlos danebenstehen und zusehen, wie das
Recht auf politisches Asyl von
denjenigen, die keine Achtung für
die Menschenrechte haben, hinweggefegt wird. Wir können
nicht stillschweigen wenn die
deutsche Regierung und die Regime in unseren Herkunftsländern
unsere Gräber vermessen. Wir,
die Flüchtlinge, werden uns vereinigen, und eine nachhaltige Kampagne gegen den Gesetzesentwurf von Otto Schily initiieren.
Wir rufen all diejenigen auf, denen der Respekt für die Menschenrechte am Herzen liegt, die
Rassismus verachten und für einen humanen Fortschritt eintreten, unsere Kampagne zu unterstützen und mit uns zusammen
das Recht auf politisches Asyl zu
verteidigen.
Als Flüchtlinge vergessen wir niemals die grausame Realität, die
unsere Schwestern und Brüder,
Kontakt: fax 0421 55 77 093 oder
[email protected]
www.stop-schily.de
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 80/81, Oktober 2001
Grundrecht auf Asyl und Einwanderung
Stellungnahme von REFUGIUM
Zur Schließung der Verfahrensberatungsstellen in
den Zentralen Anlaufstellen für AsylbewerberInnen in Niedersachsen
Thomas Heek
M
it großer Überraschung und
Bestürzung haben wir erfahren, dass das Land Niedersachsen den Vertrag mit dem
Diakonischen Werk über die Verfahrensberatung in den Zentralen
Anlaufstellen in Braunschweig
und Oldenburg zum Jahresende
2001 aufgekündigt hat. Dieser
Schritt ist uns in vielerlei Hinsicht
unverständlich.
Mit der Einrichtung der
Verfahrensberatungen in
den Zentralen Anlaufstellen im Jahr 1991 unternahm das Land Niedersachsen einen wichtigen
Schritt, um Asylsuchenden ein faires, rechtsstaatlichen Kriterien genügendes Asylverfahren zu garantieren. Mit dem sogenannten Asylkompromiss 1993
und der Einführung des Asylbewerberleistungsgesetzes im selben Jahr bestätigte sich die Notwendigkeit einer unabhängigen
Beratungsangebots während des
Asylverfahrens.
De-facto-Einschränkung des
Rechtswegs für Flüchtlinge
Nach dem Grundgesetz steht jedem Menschen gegen behördliche Entscheidungen der Rechtsweg offen. Diese Rechtsweggarantie ist für Asylsuchende theoretisch vorhanden, de facto aber
stark eingeschränkt. Die Rechtsmittelfrist im Asylverfahren beträgt nur zwei Wochen, im Falle
als offensichtlich unbegründet
abgelehnter Asylgesuche nur eine
Woche. Die Rechtsmittel müssen
in der Amtssprache Deutsch eingelegt werden. Voraussetzung
zum Beschreiten des Rechtswegs
ist, dass der/die Asylsuchende die
Schreiben des Bundesamtes für
die Anerkennung ausländischer
Flüchtlinge versteht, d.h. in eine
ihm/ihr verständliche Sprache
übersetzt bekommt und dass die
rechtlichen Möglichkeiten erläutert werden. Das Bundesamt für
die Anerkennung ausländischer
Flüchtlinge hat unserer Kenntnis
nach weder den Auftrag noch die
strukturelle Möglichkeit, diese
Rechtsweg gegen die eigenen
Entscheidungen
unparteiisch
berät und dann auch noch behilflich ist, die entsprechenden
Rechtsmittel einzulegen.
Unabhängige Beratung als
Teil eines fairen Verfahrens
und als Entlastung der Behörden und Gerichte
Die Schießung der Verfahrensberatungsstellen
bedeutet somit eine noch
weitergehende
Einschränkung des Rechtswegs für Asylsuchende.
Wie wichtig die Möglichkeit des Beschreitens des
Gerichtsweges im Asylverfahren für die Exivon
Postkarte von FFM stenzsicherung
Flüchtlingen ist, belegen
Beratung zu leisten, ebenso wenig die hinreichend bekannten Zahdie Sozialdienste der Zentralen len. Während das Bundesamt nur
eine geringe Anzahl von AsylsuAnlaufstellen.
chenden als Asylberechtigte oder
Die Einführung des Asylbewer- Konventionsflüchtlinge anerberleistungsgesetzes, nachdem kennt, erhöhen sich diese Quoten
ein Flüchtling im Asylverfahren über die Gerichte deutlich, d.h.
nur 80,- DM Bargeld im Monat viele Entscheidungen des Bunbekommt, macht das Einschalten desamtes sind fehlerhaft und
eines rechtlichen Beistands fast benötigen ein Korrektiv, von dem
die Verfahrensberatung ein Beunmöglich.
standteil ist. Der Verlauf des AsySofern kein Rechtsanwalt beauf- lverfahrens ist im äußersten Falle
tragt werden kann, benötigen eine Entscheidung über Leben
Flüchtlinge kompetente Stellen, und Tod, eine Entscheidung über
die ihnen bei der Abfassung ihrer die gesamte Existenz der AsylsuRechtsmittel in deutscher Spra- chenden. Dazu ist eine kompeche behilflich sein können. Diese tente, unabhängige Beratung unAufgabe kann nur durch eine un- erlässlich. Zudem hat auch die
Zuwanderungsabhängige Verfahrensberatungs- unabhängige
stelle durchgeführt werden. Staat- kommission der Bundesregierung
liche Stellen wie das Bundesamt festgestellt, das der Rechtsweg im
oder die Sozialdienste sind dazu Asylverfahren in vollem Umfang
weder in der Lage noch ist es ihr erhalten werden solle.
Auftrag oder Teil ihrer Aufgabe.
Auch kann von einer staatlichen Anzumerken sei hier auch, dass
Stelle nicht realistisch erwartet eine kompetente Verfahrensberawerden, dass sie Flüchtlinge zum tungstelle durch sachgerechte Be43
Grundrecht auf Asyl und Einwanderung
ratung hilft, unnötige bzw. aussichtslose Beschreitungen des
Rechtswegs zu verhindern und
damit zu einer Entlastung der beteiligten Behörden und Gerichte
führt.
Niedersächsische Flüchtlingspolitik
Die Schließung der Verfahrensberatungsstellen in den ZASten
ist ein weiterer Schritt des Abbaus von Flüchtlingsrechten in
Niedersachen. Im Bereich des
Asylbewerberleistungsgesetzes,
das schon allein aufgrund der
Herabsetzung der Sozialleistungen unterhalb des Existenzminimums menschenverachtend ist,
setzte das Land gegen den Willen
vieler Kommunen die Auszahlung der Leistungen in Form von
Wertgutscheinen
landesweit
durch.
In den ZASten richtete das Land
das ehemalige Modellprojekt zur
Identitätsfeststellung (Projekt X)
ein, das bis heute mit fragwürdigen Ergebnissen und Methoden
läuft. Ausreisepflichtige Flüchtlinge, deren Identität nicht zweifelsfrei nachgewiesen werden
kann, werden dort unter haftähnlichen Bedingungen gehalten und
werden wöchentlich befragt. In
vielen Fällen wurden die Sozialleistungen, um Druck auszuüben,
ganz gestrichen, was eine vollkommene Entrechtung bedeutet.
In einem Zwischenbericht wertete das Land nicht nur die bis zu
dem Zeitpunkt wenigen Abschiebungen als Resultat der Maßnahme als Erfolg, sondern auch das
Untertauchen vieler Flüchtlinge.
Im Jahr 2001 wurde dann die bewährte und inhaltlich nach wie
vor notwendige „Dezentrale
Flüchtlingssozialarbeit“ abgeschafft und durch die „Richtlinie
Integration“ ersetzt, die die
Flüchtlingsarbeit (d.h. die Betreuung von Flüchtlingen ohne gesicherten Aufenthalt) nur noch am
Rande beinhaltet.
Die Schließung der Verfahrensberatung kann in diesem Zusammenhang als die Absicht des Landes aufgefasst werden, Flüchtlingen nach Möglichkeit gar keine
Unterstützung mehr zukommen
zu lassen, abgesehen von den geringen Sozialleistungen.
Keine Alternative zur Verfahrensberatung in Braunschweig
Zumindest in Braunschweig besteht für die Verfahrensberatung
auch außerhalb der Zentralen
Anlaufstelle keine andere Einrichtung, die den Beratungsbedarf der Flüchtlinge in der ZASt
auffangen kann.
Die Ausländersozialberatungen
der Wohlfahrtsverbände haben
keinen Auftrag und damit keine
Möglichkeit, Asylverfahrensberatungen durchzuführen. Dieses
dürfte dem Land Niedersachsen
bekannt sein.
Das Braunschweiger Büro des
Flüchtlingshilfe e.V. Braunschweig finanziert sich überwiegend aus kommunalen Mitteln.
Unser Auftrag (und unsere Förderungsgrundlage) ist die Integrationsarbeit für in der Stadt
Braunschweig ansässige Flüchtlinge mit Bleiberecht. Asylverfahrensberatung führen wir in sehr
beschränktem Umfang durch. Eine Ausweitung dieses Bereichs ist
weder personell noch von unserer Finanzierungsgrundlage her
möglich.
In Braunschweig besteht ein trägerübergreifendes, traditionell
sehr gut kooperierendes Netzwerk
aus Migrationsberatungsstellen
mit klar umrissenen förderungsbedingten Aufgabenbereichen. In
diesem Rahmen besteht eine enge
Zusammenarbeit der Flüchtlingshilfe mit der Verfahrensberatung
des Diakonischen Werkes. Aufgrund der unzureichenden personellen Besetzung der Verfahrensberatung ist aus unserer Sicht
statt der Streichung eher eine
Ausweitung der Stellen in der
Verfahrensberatung unter der bisherigen Trägerschaft notwendig.
Der Wegfall der Verfahrensberatung durch das Diakonische Werk
in der Zentralen Anlaufstelle für
Asylbewerberinnen und Asylbewerber in Braunschweig hätte damit den kompletten Wegfall eines
Beratungsangebotes für den Personenkreis in Braunschweig zur
Folge.
Kontakt:
Flüchtlingshilfe e.V.
Steinweg 5
38100 Braunschweig
Telefon: 0531-2409800
Fax:
0531-77063
Mail: [email protected]
44
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 80/81, Oktober 2001
Grundrecht auf Asyl und Einwanderung
Einbürgerung mit Hindernissen
Flüchtlinge riskieren Verlust der Asylanerkennung
Edith Diewald / Kai Weber
W
er als Flüchtling in Niedersachsen die Einbürgerung
beantragt, läuft unter Umständen
Gefahr, dass ihm die Anerkennung oder Aufenthaltsbefugnis
widerrufen wird. Nach einem Erlass des MI vom 23.02.2000 sind
die niedersächsischen Behörden
verpflichtet, bei einem Einbürgerungsantrag von Flüchtlingen mit
Aufenthaltsbefugnis beim BAFl
nachzufragen, ob ein Widerrufungsverfahren gegen die Asylanerkennung anhängig ist. Das Ministerium beruft sich dabei auf
Nr. 8.1.3.1 Abs. 4 der Verwaltungsvorschriften zum Ausländerrecht, wo geregelt ist, dass
entsprechende Anfragen regelmäßig bei BefugnisinhaberInnen
zu stellen seien, wenn sie einen
Antrag auf Einbürgerung stellen.
Ist dies der Fall, soll nach dem
Willen des Innenministeriums
mit der Entscheidung über den
Einbürgerungsantrag gewartet
werden, bis Klarheit über das
Aufenthaltsrecht besteht.
Obwohl der Erlass bei Flüchtlingen, die nach Art. 16 GG anerkannt wurden, eine “Regelanfrage” nicht ausdrücklich vorsieht,
sehen sich offensichtlich einige
Ausländerbehörden gehalten, bei
jedem Einbürgerungsantrag (insbesondere von asylberechtigten
Kosovo-AlbanerInnen) eine Anfrage ans BAFl zu stellen. Die
Behörde des Landkreises Osterode ging sogar so weit zu fragen,
“ob ein Verfahren gem. § 73
AsylVfG eingeleitet wird”.
Und im Falle zweier kosovo-albanischer Schwestern, die eine davon noch minderjährig, sah sich
die Osteroder Ausländerbehörde
sogar veranlasst, ein Widerrufsverfahren zu initiieren, nachdem
das BAFl ihr mitteilte, dass ein
Verfahren nicht eingeleitet werde.
Mit dem Hinweis, dass die beiden
Schwestern “ohne die Asylanerkennung keinen Anspruch auf eine Aufenthaltserlaubnis (haben),
da sie seit langer Zeit Hilfe zum
Lebensunterhalt beziehen und
ein Ende des Leistungsbezugs
nicht absehbar ist.” wandte sich
die Behörde erneut mit der Bitte
um Prüfung, ob ein Widerrufsverfahren eingeleitet wird, ans
Bundesamt.
Offensichtlich wollen die Osteroder Behörden hier eine Einbürgerung verhindern, weil die Flüchtlinge staatliche Leistungen in Anspruch nehmen. Davon abgesehen ist der Hinweis auf den Sozialhilfebezug im konkreten Fall
schlichtweg sachwidrig. Bezüglich
der beiden Einbürgerungsbewerberinnen, die 1980 und 1987 geboren wurden, sieht § 85 III AuslG ausdrücklich vor, dass die Einbürgerung nicht davon abhängig
zu machen ist, ob der Lebensunterhalt ohne Inanspruchnahme
von Sozial- oder Arbeitslosenhilfe bestritten werden kann.
Das Niedersächsische Innenministerium hat bezüglich dieses
fragwürdigen Vorgehens des
Osteroder Landkreises keine Bedenken. In einem Antwortschreiben an Rechtsanwalt Bernd Waldmann-Stocker, der oben geschilderte Vorfälle kritisierte, weist es
darauf hin, dass “von einer politischen Verfolgung der KosovoAlbanerInnen nicht mehr ausgegangen werden (kann). Das BAFl
wäre daher verpflichtet, die Asylberechtigung von Kosovo-Albanern, nachdem die Voraussetzungen für die Anerkennung nicht
mehr vorliegen, “unverzüglich”
zu widerrufen (§ 73 Abs. 1 Satz 1
AsylVfG).” Das BAFl würde seiner gesetzlichen Verpflichtung
nur sehr unvollkommen nach-
kommen, von daher wäre nichts
dagegen einzuwenden, wenn die
Ausländerbehörde anfragt, ob ein
Widerrufungsverfahren anhängig
sei oder eingeleitet werden solle.
Eine solche Anfrage würde jedoch nur Sinn machen, “wenn
die Ausländerbehörde zu dem
Ergebnis gekommen ist, dass sie
im Falle des Widerrufs der Asylanerkennung auch die unbefristete
Aufenthaltserlaubnis ... widerrufen würde.”
Im Klartext: Asylberechtigte
Flüchtlinge, die Arbeit haben,
nicht vorbestraft sind und auch
sonst keine Ausweisungsgründe
erfüllen, sollen eingebürgert werden, ohne dass eine Anfrage an
das Bundesamt gerichtet wird, ob
eine Asylanerkennung widerrufen
oder zurückgenommen werden
soll. Wer jedoch z.B. Sozialhilfe
bezieht, riskiert mit dem Einbürgerungsantrag unter Umständen
nicht nur den Verlust des Flüchtlingspasses, sondern auch den
Entzug der Aufenthaltsgenehmigung. Auch Flüchtlinge, die aus
begründeter Furcht vor Verfolgung in die Bundesrepublik geflohen sind, hier anerkannt wurden und seit mindestens sieben
Jahren in Deutschland leben,
werden auf diese Weise nach dem
Kriterium ihrer Nützlichkeit für
die deutsche Volkswirtschaft unterschieden. Unberücksichtigt
bleibt die Tatsache, dass die Arbeitslosigkeit unter MigrantInnen
im Bundesdurchschnitt mehr als
doppelt so hoch ist wie unter
Deutschen. Statt weiterer Qualifizierungsmaßnahmen scheint es
allemal billiger, die unbequemen
Hungerleider mitsamt ihrer Arbeitslosigkeit ins Ausland abzuschieben.
45
Grundrecht auf Asyl und Einwanderung
Alle Kinder haben Rechte
A
nlässlich des Weltkindertages
am 20. September finden
zwei Veranstaltungen zur Lage
von Flüchtlingskindern in Hannover und Niedersachsen statt.
Veranstaltungsort ist das Kulturzentrum Pavillon in Hannover,
Lister Meile 4.
• Di 23.10., 11 und 20 Uhr:
Mit “7 Leben” bringt das
Hamburger Theater-Ensemble HAJUSOM ein besonderes Theatergastspiel ins Kulturzentrum Pavillon. Im
Frühjahr wurde diese einmalige künstlerische Leistung junger Flüchtlinge beim 22.
Theatertreffen der Jugend der
Berliner Festspiele mit dem 1.
Preis ausgezeichnet.
• Es heißt, die Katze habe sieben
Leben - für die 17 Jugendlichen
des HAJUSOM-Ensembles
aus Hamburg könnte dies auch
eine Zauberformel für ihr eigenes Überleben sein. 7 L e b e n ist
ihr neues Stück mit viel Musik, Tanz und chorischen Bewegungsszenen. Die Mädchen
und Jungen sind ohne ihre Eltern aus verschiedenen Ländern
Westafrikas, aus Äthiopien,
dem Iran und Afghanistan
nach Hamburg gekommen. In
7 L e b e n treten sie als einzelne
Persönlichkeiten her vor, erzählen eindringlich und jeweils
sehr spezifisch vom Leben in
ihren unterschiedlichen Heimatländern, den Erlebnissen
auf der Flucht und der Lan-
46
dung in einem häufig befremdlichen bis manchmal feindseligen
Land namens Deutschland. 7
x aus kriegs-und krisengeschüttelten Ländern geflohen,
7x unter waghalsigen Bedingungen weite Wege zurückgelegt, und 7 x in Hamburg auf
den harten Stühlen der Ausländerbehörde gelandet. Davon
erzählt das Stück. Und von
der Liebe zu ihrer Heimat, von
grünen Bergen und goldenen
Stränden und aus ihrem Leben
als Kindersoldaten, als Zeugen
des Mordes an ihren Familien
oder als Abschiebehäftlinge.
Unterschiedliche
Kulturen
prallen aufeinander, Aufbegehren gegen die politischen Mißstände dort wie hier schweißt
sie zusammen und ungebrochen
in ihrer Lebenslust fegen sie zu
Pop- und HipHop-Beats über
die Bühne.
• Di 30.10., 19 Uhr: Fachgespräch “Alle Kinder haben
Rechte” mit jugendlichen
Flüchtlinge, die ohne Eltern
und Familie geflohen sind,
und ihren Paten. Sie berichten
zusammen mit Heiko Kauffmann aus Frankfurt. Als Sprecher der Menschenrechtsorganisation PRO ASYL wurde
ihm für sein Engagement Anfang September der Aachener
Friedenspreis verliehen.
• Seit Jahren forder n Flüchtlings- und Menschenrechtsorganisationen die vorbehaltlose
Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention (1991). Die
deutschen Behörden stellen bei
Jugendlichen von 16 - 18 Jahren häufig das Ausländergesetz
über den Anspruch auf Schutz
gemäß dem Kinder- und Jugendhilfegesetz und anderer gesetzlicher Vorschriften zum
Wohl des Kindes. Diese Praxis
bedeutet für die jungen Flüchtlinge eine massive Gefährdung
ihrer seelischen und kör perlichen Entwicklung. Die Veranstaltung informiert über private
Vormundschaften und wirbt
für ehrenamtliches Engagement.
Auskunft zu den Veranstaltungen
und Kartenvorverkauf für das
Theaterstück:
Kulturzentrum Pavillon, Tel.
0511 - 34 45 58
Veranstalterkreis “Alle Kinder haben Rechte”:
Janusz-Korczak-Verein Humanitäre Flüchtlingshilfe, Kulturzentrum Pavillon, Netzwerk
Flüchtlingshilfe und Menschenrechte in Kooperation mit AWO
KV Hannover-Stadt, Diakonisches Werk der Ev.-Luth. Landeskirche Hannover, Ethno-Medizinisches Zentrum, Initiative für
ein internationales Kulturzentrum/IIK, Netzwerk Asyl in der
Kirche in Niedersachsen, Niedersächsischer Flüchtlingsrat
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 80/81, Oktober 2001
Deportation
Deportation
Modellprojekt Abschiebelager
Grenzdurchgangslager Bramsche-Hesepe neu genutzt
Vom Osnabrücker Bündnis gegen Abschiebung
I
n Bramsche-Hesepe hätte beinahe 10 Jahre lang das sog.
Grenzdurchgangslager bestanden, eines der Erstaufnahmelager
für AussiedlerInnen in Niedersachsen. Doch im Konkurrenzkampf mit Friedland, dem zweiten großen Erstaufnahmelager,
unterlag Bramsche. Am 25. August 1999 fiel die Entscheidung,
die eine Schließung des Lagers
nach sich gezogen hätte, wäre
nicht das Grenzdurchgangslager
mit 400 Beschäftigten einer der
größten Arbeitgeber in Bramsche
gewesen, weshalb der Protest gegen eine Schließung groß war.
Parteiübergreifend setzten sich
alle LokalpolitikerInnen für den
Erhalt des Lagers ein, und so kam
es zu einer neuen Nutzung der
ehemaligen Kaserne: 500 Betten
stehen nun für jüdische EmigrantInnen aus der ehemaligen Sowjetunion zur Verfügung, 50 Betten für ein Landeswohnheim für
Spätaussiedler, 150 für Bürgerkriegsflüchtlinge, 300 Reservebetten für Spätaussiedler und im
Rahmen eines „Modellprojektes
sind 200 Betten für abgelehnte
Asylbewerber, die nicht sofort
abgeschoben werden können“,
aufgestellt worden, so Staatssekretär Werner Lichtenberg aus
dem Landesinnenministerium.
Diese Regelung ist seit dem 30.
September 2000 in Kraft. Damit
wurden 70 der insgesamt 160 Arbeitsplätze für Landesbedienstete
erhalten. Die 110 Beschäftigten
des
Bundesverwaltungsamtes
bleiben komplett da, weil sie weiterhin das schriftliche Verfahren
abwickeln werden. Die 35 Stellen
der Betreuungskräfte von Kirchen, Wohlfahrtsverbänden und
Krankenkassen allerdings fallen
ersatzlos weg. Den neuen „BewohnerInnen“ des Lagers wird
offensichtlich kein Bedarf an dieser Art von Betreuung zugestanden.
Für dieses Arbeitsplatzgeschenk
fragte dann auch niemand mehr
nach, was eigentlich hinter dem
Stacheldraht des Lagers im Bramscher Ortsteil Hesepe vor sich
geht.
Im November 2000 wurde der
sog. „Unterbringungsbereich“ für
AsylbewerberInnen in Betrieb
genommen.
Die Flüchtlinge, die in dem Lager
bei Bramsche untergebracht werden, kommen aus der „Zentralen
Anlaufstelle für Asylbewerber“ in
Blankenburg/Oldenburg. Die
behördliche Zuständigkeit bleibt
in Oldenburg.
Die Menschen werden bei ihrer
Ankunft in Bramsche kaum über
ihre Situation informiert. Sie
kommen in der Hoffnung an, daß
die Unterbringung in dem Lager
ein vorübergehender Aufenthalt
vor der Umverteilung in Niedersachsen bedeutet. Einige glaubten bei ihrem Abtransport aus
Oldenburg, sie würden jetzt dezentral untergebracht und nicht
schon wieder in einem Lager.
Doch wird ihnen in Bramsche
dann schnell klar: für sie gibt es
keinen Transfer mehr, nur noch
die Abschiebung. Dabei ist bei
den wenigsten, die hier untergebracht sind, der Asylantrag bereits abgelehnt. Es sind einige
hier, die gerade die Erstanhörung
hinter sich haben, eine Aufenthaltsgestattung oder auch Duldung bekommen die meisten
Flüchtlinge erst in Bramsche.
47
Deportation
Der behördliche Druck, der auf
die Flüchtlinge ausgeübt wird, ist
insgesamt groß: So scheint es
gängige Praxis zu sein, daß
Flüchtlinge nach ca. 3 Wochen
Aufenthalt aufgefordert werden,
ein Papier zu unterschreiben, mit
dem sie freiwillig ihren Asylantrag zurückziehen. Wenn sie das
nicht tun, wird ihnen offen mit
der Abschiebung durch die Polizei gedroht.
Zur Zeit sind ca. 180 der 200
Plätze des Abschiebelagers in
Bramsche-Hesepe belegt, und es
sind auch schon einige Flüchtlinge von dort abgeschoben worden.
Die Bedingungen in dem Lager
ähneln dem, was typisch ist in
Deutschland für die Unterbringung von Flüchtlingen in Sammelunterkünften:
• Das ehemalige Grenzdurch-
gangslager liegt 7 km von
Bramsche entfernt, inmitten
von Wiesen und Feldern, umgeben von Stacheldraht und
Schlagbaum
• Fünf bis sechs Leute sind in
einem Zimmer untergebracht
• 6 Familien mit insgesamt 22
Kindern leben zurzeit in
Bramsche-Hesepe, sie sind
gemeinsam in einem Haus untergebracht
• Die in dem Lager unterge-
brachten Menschen bekommen einen Lagerausweis, den
sie immer vorzeigen müssen,
wenn sie in das Lager hinein
wollen. Raus dürfen sie auch
ohne Ausweis. Das „sich Ausweisen“ wird dabei häufig zur
bürokratischen
Schikane.
Flüchtlinge berichten, daß sie
sich nur wenige Meter von
dem Schlagbaum, der die Einfahrt des Lagers versperrt,
entfernt haben, um sich mit
Freunden zu treffen, also in
Sichtweite des Pförtnerhauses
geblieben sind, und daß sie
dennoch, nachdem sie die
paar Meter wieder zurückgegangen sind, ihren Ausweis
vorzeigen mußten.
48
• Ab 20 Uhr ist das Tor ge-
schlossen, der Pförtner muß
einen Summer betätigen, damit die BewohnerInnen ins
Lager kommen.
• Wenn jemand das Lager besu-
chen will, muß er oder sie an
der Pforte sagen, wen sie besuchen will, ansonsten kommt
man in das Lager nicht rein.
Seinen Personalausweis muß
man an der Pforte abgeben,
der Name und die Uhrzeit
werden notiert. Verläßt man
das Lager, werden wieder der
Name und die Uhrzeit notiert.
gen Lohnes ist die Arbeit
natürlich begehrt, es gibt aber
immer nur wenige Stellen. Zur
Zeit dürfen 7 Leute im Lager
arbeiten und noch mal ca. 6
Leute in der Stadt Bramsche,
mit der es einen Vertrag gibt.
• In dem Lager gibt es keinen
Dolmetscher. Wird einer
benötigt, so muß er bestellt
werden, was 60 bis 90 Mark
die Stunde kostet. Das hat zur
Folge, daß meistens keine
Übersetzerin da ist, was die
Kommunikation
äußerst
schwierig macht.
• Ab 21 Uhr ist kein Besuch • Die gesundheitliche Versormehr erlaubt
• Die Insassen dürfen kein eige-
nes Essen zubereiten, sie werden aus einer Kantine versorgt. Neben dem, daß diese
Menschen nicht das Recht haben, selbst zu bestimmen, was
sie essen möchten, kommt
hinzu, daß etliche Leute aus
anderen Kulturkreisen das Essen, das aus einer russischen
Küche kommt, nicht gewöhnt
sind. Das führt dazu, daß sich
etliche BewohnerInnen des
Lagers nur von Brot ernähren
und daß ein großer Teil des
wenigen Bargeldes, das sie erhalten, für Lebensmittel ausgegeben werden muß.
• Ein Frau hat gerade ein Kind
bekommen. Auch sie bekam
während der Schwangerschaft
das gleiche Essen wie die anderen.
• An Bargeld bekommen die
Flüchtlinge nur 37 Mark und
ein paar Pfennige, alle zwei
Wochen. Aber allein die Busfahrt nach Bramsche kostet
schon 3 Mark, es ist unmöglich von diesem wenigen Geld
auch nur das Lebensnotwendige zu finanzieren, geschweige denn Telefonate, Anwälte,
Shampoo und andere Hygieneartikel, Zeitungen, Schreibmaterial, u.s.w.
• Ab und zu dürfen einige
Flüchtlinge sog. gemeinnützige Arbeit leisten, für 2 Mark
die Stunde. Trotz des niedri-
gung ist völlig unzureichend.
Im Lager gibt es nur eine
Krankenschwester, die allerdings kein Französisch, geschweige denn türkisch oder
arabisch spricht und deshalb
von vielen Flüchtlingen nicht
aufgesucht wird. Ein Arzt aus
Bramsche kommt ein bis zwei
mal in der Woche. Ein Facharzt muß in Bramsche aufgesucht werden, dafür gibt es allerdings keinen Fahrdienst
und um einen Dolmetscher
muß sich der oder die Kranke
auch selbst kümmern. Viele
Flüchtlinge haben den Eindruck, als würden sie in der
Krankenstation abgewimmelt
und nicht ernst genommen.
• Eine Rechtsberatung gibt es in
dem Lager nicht, den Flüchtlingen wird geraten, einen
Rechtsanwalt zu konsultieren.
Wie sie allerdings das Geld für
eine Rechtsberatung auftreiben sollen, wird ihnen nicht
gesagt.
• Eine psychosoziale Beratung
ist vorgesehen, kann aber
schon allein aus dem Grund
kaum wahrgenommen werden, weil die dafür Angestellten kaum Fremdsprachen
sprechen; eine spricht Englisch, und einer Polnisch und
Russisch. Das ist natürlich
völlig unzureichend, vor allem
vor dem Hintergrund, daß gerade in einer Lagersituation eine psychosoziale Beratung besonders nötig ist.
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 80/81, Oktober 2001
Deportation
Neben den Schikanen, denen die
Flüchtlinge im Lager ausgeliefert
sind, schlägt ihnen auch außerhalb des Lagers Rassismus entgegen. So werden sie immer mal
wieder offensichtlich nur aufgrund ihrer Hautfarbe von der
Polizei kontrolliert. Aus Osnabrück sind mindestens zwei Fälle bekannt, bei denen Flüchtlinge
zur Personalienfeststellung mit
Handschellen abgeführt wurden.
In Bramsche passierte es z.B. einigen, die vom Lager aus nach
Bramsche zur gemeinnützigen
Arbeit mit Fahrrädern fuhren, die
ihnen zur Verfügung gestellt wurden, daß sie von der Polizei angehalten wurden, wegen des Verdachtes, die Fahrräder geklaut zu
haben.
Die Angst vor der Abschiebung
ist das schlimmste für die Lagerinsassen. Wie die Abschiebungen
ablaufen, haben die Flüchtlinge,
die ein wenig länger da sind,
schon erleben müssen. Abschiebungen werden mit mehreren Polizeibeamten durchgeführt, die
locker das Haus umstellen. Sie
kommen mit einem Transporter
mit abgedunkelten Fenstern und
immer früh am Morgen. Die Polizisten stürmen die Zimmer und
gehen ziemlich barsch vor. Die
Abschiebung kommt für die
Flüchtlinge völlig unerwartet und
kann jeden und jede jederzeit
treffen. Das führt dazu, daß einige sagen, sie würden aus dem
Fenster springen, wenn die Polizei kommt. Andere stehen immer
schon um 4 Uhr morgens auf,
und verlassen das Haus. Die
Flüchtlinge sagen, sie schlafen
mit einem offenen Auge. Auch
haben es sich einige zur Gewohnheit gemacht, sich abends so zu
verabschieden, als könnte es sein,
daß sie sich am nächsten Tag
nicht mehr sehen.
nenswerten Widerstand der Bevölkerung funktioniert, schien
zunächst aufzugehen. Die Ankunft der ersten Flüchtlinge lief
scheinbar völlig unbemerkt von
der Bevölkerung ab. Und auch
den Angestellten im Lager schien
nicht aufzufallen, daß es hier
plötzlich eine neue Klasse von
Untergebrachten gab, die völlig
anders als die Anderen behandelt
werden. Neu an diesem Lager ist,
daß im Unterschied zum Projekt
X hier auch Familien untergebracht sind. Die Bedingungen
sind dafür nicht ganz so hart, wie
beim Projekt X. Dafür werden
hier ziemlich wahllos Menschen
untergebracht, bei denen, nach
welchen Kriterien auch immer, zu
vermuten ist, daß der Asylantrag
abgelehnt wird. Deshalb ist der
Aufenthaltsstatus, den die Flüchtlinge haben, unterschiedlich und
auch die Dauer des Aufenthaltes
in dem Lager ist völlig unklar.
Diese Ungewißheit scheint ein
Teil der Zermürbungstaktik zu
sein.
Die Entwicklung in Bramsche
zeigt sehr deutlich, daß humanitäres Gehabe meist dann aufhört,
wenn der eigene Wohlstand gefährdet ist, beziehungsweise Humanität gerne als politisch-moralische Argumentationshilfe benutzt wird, aber nicht zwingend
ernst gemeint ist.
Es gebe in der Region Osnabrück
eine ausgesprochen hohe Bereitschaft, auf Fremde zuzugehen.
Diese Toleranz sei „ein Wert an
sich, der nicht willkürlich zerstört
werden darf“, äußerte sich z.B.
Ernst Schwanhold, stellvertretender Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion, als es darum
ging, das Lager Bramsche-Hesepe als Erstaufnahmeeinrichtung
für Spätaussiedler zu erhalten.
Der CDU-Landtagsabgeordnete
Georg Schirmbeck sprach gar
von einem „Hochsicherheitstrakt
für abzuschiebende Asylbewerber“, der mit Nachdruck abzulehnen sei.
Das Kalkül der Behörden und
politisch Verantwortlichen, in
Bramsche einen Modellversuch
eines Abschiebelagers aufzubauen, in dem die staatliche Abschreckungspolitik bis hin zur
Abschiebung oder Illegalisierung
von Flüchtlingen ohne einen nen49
Deportation
Was die Flüchtlinge in dem Teil
des Lagers angeht, der als letzter
Aufenthalt vor der Abschiebung
dient, ist nichts davon zu merken,
daß auch nur irgendwer auf sie
zugeht, oder ihnen auch nur
Gehör verschafft. Und das ist
auch so gewollt.
Seit Anfang Juni hat das Osnabrücker Bündnis gegen Abschiebung engeren Kontakt zu
den Flüchtlingen in Bramsche
aufgebaut. Seitdem versuchen
wir, gemeinsam mit den Flüchtlingen, über das Lager zu informieren und eine Solidarität zu
schaffen. Daß das der Lagerleitung nicht paßt, bekamen wir
schnell zu spüren. So wurde uns
der Raum gekündigt, in dem wir
eine Informationsveranstaltung
zum Lager durchführen wollten.
Diese sollte in einem Jugendzentrum, das von einem gemeinnützigen Verein (Universum e.V.) betrieben wird, der finanziell von
der Stadt Bramsche abhängt,
stattfinden. Der Weg der Kündigung ging offensichtlich von der
Lagerleitung über den Bürgermeister zum Universum e.V., offizielle Begründung war, wir würden die Lagerleitung diffamieren
und ihnen unterstellen, sie würden Menschenrechte verletzen.
Da in unseren Veröffentlichun-
gen nie wörtlich von Verletzung
der Menschenrechte die Rede
war, kann man der Lagerleitung
unterstellen, daß ihnen dieser
Verstoß offensichtlich durchaus
bewußt ist. Außerdem hätten wir
nach Meinung des Bürgermeisters und der Lagerleitung diese
zu der Veranstaltung einladen
müssen. Da unsere Veranstaltung
öffentlich war, hätte natürlich
auch die Lagerleitung kommen
können, was wir gegenüber dem
Universum e.V. auch deutlich
machten, wir haben niemanden
ausgeladen, und wenn die Verantwortlichen auf einer Podiumsdiskussion bestehen, der werden wir
uns gerne stellen und wir werden
es in die Wege leiten, daß noch
vor den Kommunalwahlen eine
solche zustande kommt. Und ansonsten suchten wir einen neuen
Raum. Diesen fanden wir dann
auch im „Eine Welt Laden“. Die
Veranstaltung war mit über 40
Leuten für Bramscher Verhältnisse gut besucht, und ein erster
Schritt für die Sensibilisierung der
Bevölkerung ist getan. Im Nachhinein wollte sich übrigens kein
Verantwortlicher für die Kündigung des Raumes finden lassen.
Bei unserer Recherche, welche
Wege die Ablehnung genommen
hat, wollte und konnte plötzlich
niemand mehr was sagen, und
von Seiten des Universum e.V.
wurde die ganze Geschichte als
ein Mißverständnis hingestellt,
natürlich würde uns der Verein
Räume zur Verfügung stellen.
Eines ist klar: die Lagerleitung
und die weiteren Verantwortlichen werden mit allen Mitteln
versuchen, unsere Arbeit zu verhindern. Es wird auch einzelnen
Leuten, die Kontakte in das Lager
haben, offen gedroht, daß sie Ärger kriegen, wenn sie mit uns zusammenarbeiten. Das wird uns
aber nicht hindern weiter zu machen.
Als sehr positiv empfinden wir
die Bereitschaft der Flüchtlinge,
sich gegen ihre Situation zu wehren. Sie sagen, daß es ihnen wichtig ist, auch wenn es ihnen persönlich vielleicht nichts mehr
nützt, weil sie vielleicht bald abgeschoben werden. Sie wollen
aber auch für die Rechte derer
kämpfen, die nach ihnen kommen. Die Flüchtlinge planen einen Marsch zum Innenministerium nach Hannover, um auf ihre
Situation aufmerksam zu machen. Wir werden dieses Vorhaben so weit es uns möglich ist unterstützen.
Flüchtlingsprotest
im Lager Bramsche-Hesepe
W
ie auch anderswo organisieren sich die Flüchtlinge im
Lager Bramsche-Hesepe, um gegen die Zustände im Lager zu
protestieren.
Sie blockierten aus Protest über
die Behandlung mehrmals die
Kantine. Und am 25. Mai 2001
führten sie eine Demonstration
in der Innenstadt von Bramsche
durch, an der 60 Flüchtlinge teilnahmen (das ist ein Drittel sämtlicher LagerinsassInnen!). Sie
brachten zu dieser Aktion am 23.
Mai folgende Erklärung heraus:
50
„Wir, die Asylbewerber verschiedener Nationalitäten (kurdisch,
afrikanisch, albanisch, iranisch,
usw.) wohnen seit Monaten in dem
Grenzdurchgangslager in Hesepe
(Landkreis Osnabrück).
Uns wurde bei unserer Ankunft
gesagt, daß der Aufenthalt im
Grenzdurchgangslager für eine
kurze Zeit wäre. Seit Monaten
warten wir auf die Verteilung ,
was bisher immer noch nicht geschehen ist. Man hat sogar unsere
zwei Freunde (kurdisch und albanisch) in das Land zurückge-
schickt, wo sie nach asylrechtlichen
Gründen, als erstes betretenes
Land um Asyl bitten sollten.
W ir sind mit verschiedenen
Schwierigkeiten konfrontiert worden, daß wir jetzt sagen „KEIN
MENSCH IST ILLEGAL“
Aus diesen Gründen veranstalten
wir am Freitag , 25.05.01 um 14
Uhr in der Innenstadt Bramsche
eine Kundgebung.
Wir bitten um Verständnis und
Unterstützung.“
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 80/81, Oktober 2001
Deportation
Neben diesen selbst organisierten
Aktionen nahmen immer Flüchtlinge aus dem Lager an den Infoständen und an der Veranstaltung
des “Bündnis gegen Abschiebung“ teil.
dem Lager entfernt werden. So
sind vor ca. 3 Wochen drei Leute
laut Aussage der Flüchtlinge „als
Strafmaßnahme“ in andere Sammelunterkünfte umverteilt worden.
Sie sind nach wie vor motiviert,
etwas gegen ihre Situation zu unternehmen. Nur macht sich in
den letzten Wochen die Befürchtung breit, daß Flüchtlinge, die
durch Aktivitäten auffallen, aus
In den letzten Wochen gab es einen Abschiebeversuch, ob er geglückt ist, ist unklar. Es tauchen
immer mehr Flüchtlinge unter
oder versuchen, irgendwie bei
Verwandten unterzukommen. Sie
kommen dann nur noch selten im
Lager vorbei. Von der Lagerleitung scheint das niemanden zu
interessieren. Die Flüchtlinge haben den Eindruck, daß die Leute
nur weg sollen, wie und wohin ist
egal.
In der folgenden Dokumentation
berichtet Idris Özen von den Lebensbedingungen und den Aktionen im Lager Bramsche-Hesepe.
Die Aktionen in dem Lager Bramsche
Idris Özen /Kein Mensch ist illegal
A
ls ich in Bramsche ankam, traf ich Freunde, die
ich aus dem vorherigen Lager kannte. Sie schilderten mir ihre Probleme. Nach einer Woche hatte
ich feststellen können, daß die Praktiken hier nichts
mehr mit Menschlichkeit zu tun haben. Am ersten
Tag unterrichtete das Sozialamt die neu angekommenen Menschen über das Lager. Sie sagten, daß
wir nicht so sind, wie die Russen. Sie seien anders
als wir. Ich war verwirrt. Mit welcher Chuzpe konnte man so etwas behaupten? Ich fragte den Dolmetscher, ob ihm denn bewußt war, was er dort
sagte. Er antwortete, das wisse er schon. Die Russen seien die bevorzugten Menschen und wenn uns
dieses nicht gefiele, könnten wir ja gehen. Ich
schrieb diese Bemerkung seiner eventuellen Nervosität während der Informationsveranstaltung zu.
Auf einer Versammlung für die Neuankömmlinge
wieder das selbe. Die Russen werden bevorzugt
und wem das nicht behagt, der kann gehen. Ich
fragte mich, wo ich gelandet sei, insbesondere Herr
B. war wie ein Anhänger der Nazis.
Wie sollte ich beginnen? Die Menschen sind alle
voller psychologischer Probleme. Mit einer Pressekonferenz wollte ich unserer Stimme Gehör verschaffen. Es machte keinen Sinn, untereinander
darüber zu sprechen. Ich überzeugte meinen
Freund, einen Journalisten, und so kam die Özgür
Politika. Die erste Pressekonferenz führten wir in
meinem Zimmer durch. Da Journalisten der Zugang zum Lager verboten war, sagte ich ihm, er solle mich als meinen Besuch aufsuchen, dagegen könne niemand etwas einwenden. Und so machten wir
unsere Erklärung. Die BewohnerInnen erschienen
und erzählten. Es entwickelten sich interessante
Gespräche. Die Nachricht erschien dann mit der
Überschrift “Gefangenenlager” auf der Titelseite.
Danach merkte ich, daß die Menschen in mein
Zimmer kamen und mir ihre Probleme erzählten.
Es waren Anliegen, die für den Zuhörer unglaublich ernst zunehmen waren. Dabei habe ich Schwie-
rigkeiten, alle zu verstehen. Insbesondere von der
Verwaltung/Leitung wurden alle ernsthaft bedroht,
so daß sie von ihr zurückkehrten, ohne daß sie ihre
Anliegen erledigt hatten. Die Frauen sagten, daß sie
mehr Bedürfnisse hätten, als die Männer; sie seien
mit den 35 DM, die sie alle 1 Tage bekommen,
nicht in der Lage, die notwendigen Dinge für die
Zeit ihrer Regel einzukaufen. Mit ihrer Familie
könnten sie nur alle 2 Monate in Kontakt treten.
Bisher haben 7 Personen einen Selbstmordversuch
unternommen und es gäbe noch mehr, die daran
dächten. Ich versuche mich darum zu kümmern Selbstmord ist keine Lösung - ich versuche ständig,
die Menschen zu überzeugen. Natürlich ist dies
schwer. Wenn ich meine monatlichen Zahlungen
bekomme, dann gebe ich es den Kindern. Denn es
macht mich glücklich, für die Kinder etwas tun zu
können, auch wenn es nur wenig ist. Zuerst machten die Schwarzen eine Aktion zur Abschaffung der
Essensausgabe. Die Polizei kam und zog die Waffen. Aber ich habe sie unterstützt. Als ein Iraner
sich mit einem Messer selbst verletzt hatte, waren
Zivilbeamte und Beamte in Uniform gekommen,
die sofort die Waffen zogen, als sie aus den Wagen
ausstiegen. Damit wollten sie uns andeuten, daß sie
uns umbringen würden. Einer der Polizeibeamten
hielt seine Pistole an den Kopf des verletzten Iraners, daraufhin fiel dieser in Ohnmacht. Herr B.
vom Lagerpersonal hielt eine Ansprache, in der er
sagte, er könne uns alle fertigmachen. Er sprach so,
als ob er alle Polizeibeamten hinter sich hätte. Seitdem ist die Polizei permanent im Lager. Es ist geradezu so, daß die Polizei uns terrorisiert. Der
Hausmeister kontrolliert uns ständig und kommt
sich dabei sehr wichtig vor. Ich frage mich, warum
sich die Menschen auf diese Weise verhalten. Sind
wir denn Gefangene? Wenn wir das sind, dann sollten wir das auch wissen. Da gab es einen Freund,
mit dem ich das gleiche Zimmer teilte. Morgens um
5 Uhr stellte ich dann plötzlich fest, daß man versuchte, von außen unsere Zimmertür zu öffnen.
51
Deportation
Als wir dann die Tür aufmachten, sahen wir die
Polizisten aus dem Lager draußen stehen. Sofort
drangen sie in das Zimmer ein und sagten meinem
Freund, daß er sich fertigmachen sollte weil er gehen werde. Als ich fragte, wohin er gehen würde,
sagten sie, dass das Gericht beschlossen habe, dass
er Deutschland verlassen müsse. Ich fragte dann,
ob der Anwalt meines Freundes hiervon unterrichtet wäre, woraufhin sie mir sagten, daß er das wäre.
Ich entgegnete ihnen, daß das, was sie hier machten, falsch wäre und daß mein Freund durch seinen
Anwalt abgeholt werden müsse. Man bedeutete
mir, ich solle nicht so viel sprechen, sonst würde
man Gewalt anwenden. Als wir diskutierten, zog einer der Polizeibeamten bedeutungsschwer seine Pistole. Ich sagte dem Dolmetscher, dass er dem Beamten sagen sollte, dass er die Pistole zurückstecken solle und der Dolmetscher übersetzte es
ihm, aber der Beamte sagte nichts. Ich rief dann
den Anwalt an, der sagte, er wisse von nichts, man
habe ihn nicht benachrichtigt. Dies bedeutet, dass
die Polizei lügt. Wir erleben derartige Situationen,
daß man gar nicht darüber reden mag. Das Essen
besteht aus russischer Küche und morgens und
abends nur aus kalten Mahlzeiten. Unter uns gibt es
auch schwangere Frauen. Wenn wir hingehen, um
eine Erlaubnis einzuholen, forscht man ständig
nach und tut alles, um keine Erlaubnisse zu erteilen.
Die, die im Lager arbeiten, bekommen 2 DM die
Stunde. Noch nicht einmal in den Ländern der 3.
Welt gibt es Menschen, die derart schlecht bezahlt
werden. Die Menschen befinden sich in einer aussichtslosen Lage, in der es nahezu unmöglich ist,
nicht zu explodieren. Am ersten Tag meiner Ankunft hatte ich ein Blatt Papier, daß ich kopieren
wollte. Dafür verlangte Herr B. von mir, dass ich
0,20 DM bezahlen sollte und dass ich das nächste
Mal nach Bramsche gehen sollte, um es kopieren zu
lassen. Da soll man noch ruhig bleiben? Es gibt
Stoff für hundert Aufstände.
Obwohl bisher 4 Monate vergangen sind, habe ich
meine Familie nur zwei mal anrufen können. Jedes
Mal sagte man mir, daß die Polizei unsere Wohnung
überfallen und nach mir gefragt hatte. Dabei ist
meine Mutter krank, sie steht kurz vor ihrem Tode.
Wie Jesus bereits gesagt hat - glücklich die Menschen, die gegen das Unrecht kämpfen. Solche
Menschen wird es immer wieder geben. Zwar ist
meine Mutter krank, aber die Probleme im Lager
haben mich alles andere vergessen lassen. Ich rufe
meine Freunde nicht mehr an - ich will sie auch
nicht anrufen. Was hätte ich ihnen denn schon zu
erzählen? Soll ich ihnen erzählen, daß man uns hier
nicht als Menschen behandelt? Nach dem Ende der
nächsten Aktion werde ich das Land verlassen,
denn es ist für mich unmöglich, mit dieser Praxis
weiter zu leben. Unsere nächste Aktion sieht so
aus, daß wir von Bramsche bis nach Oldenburg
marschieren wollen. Die Kinder sollen dabei nicht
52
mitlaufen. Wir möchten bald damit beginnen. Bei
der letzten Aktion versammelte ich das ganze Lager
in meinem Zimmer. Zwar wurden zuvor Aktionen
gemacht, aber das Zerschlagen von Fensterscheiben, das Schließen der Kantine und die Selbstverletzung mit dem Messer - das sind falsche Aktionen. Damit wir unserer Stimme Gehör verschaffen
können, sagte ich, müssen wir zusammenstehen.
Ich spreche Arabisch, der Algerier übersetzt das
Arabische ins Französische und der Afrikaner, der
Französisch kann, kann auch Deutsch. Die Albaner
können Deutsch und einer der Iraner kann auch
Arabisch, das er dann ins Farsi übersetzt. Für die
Türken und Kurden spreche ich Türkisch und alle
hören mir aufmerksam zu. Die erste Versammlung
dauerte 5, die zweite 6 Stunden. Es ist sehr schwer
die Menschen zu überzeugen, aber es ist noch
schwerer, derart unterschiedliche Menschen zusammenzubringen. Wie Che schon gesagt hat - seid realistisch und verwirklicht das Unmögliche. So haben
wir die Aktion gemacht. Niemand sollte bei der Aktion Scheiben zerschlagen, denn das wäre nur die
Vernichtung des Geldes der Bevölkerung. Nach der
Aktion hat niemand Scheiben zerschlagen. Die Verwaltung hat mich nach der Aktion bedroht. Wenn
ich für die Wahrheit sterben muß, tue ich das, habe
ich gesagt. Einer unserer Freunde muß an seinem
Auge operiert werden. Er ist einige Male zur Verwaltung gegangen, aber die haben gesagt, daß sie
für sein Auge kein Geld hätten. Nur um sein Auge
nicht behandeln zu müssen, haben sie ihn verlegt.
Es geht nicht nur um diese Verlegung, den Druck,
die Ausweisung und die Einschränkung von Rechten - wir möchten menschenwürdig behandelt werden. So viel ich auch schildern würde, es würde
nicht ausreichen. Letztens hatte ein Mann Benzin
mitgebracht und wollte seine 5 Jahre alte Tochter
verbrennen. Wir haben miteinander diskutiert und
ich konnte ihn davon überzeugen, daß es keinen
Ausweg darstellt, seine Tochter zu verbrennen. Bis
jetzt hat noch keine zuständige Stelle mit uns gesprochen. Was passiert da? Wenn bisher noch niemand mit uns gesprochen hat, so bedeutet dies, daß
sie wollen, daß wir noch radikalere Aktionen durchführen. Macht Euch keine Sorgen, es wird bald geschehen.
Natürlich würden 100 Seiten nicht ausreichen, um
die Ereignisse darzustellen. Ich bin müde und wir
erwarten von euch materielle und immaterielle Unterstützung, denn man braucht Geld, um etwas zu
erreichen. Um letztens nach Osnabrück zu kommen, haben wir uns von allen eine Mark geben lassen.
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 80/81, Oktober 2001
Deportation
Kosovo
Für Roma ist kein Platz mehr
Roma organisieren sich Niedersachsenweit im
Verein “Roma Aglonipe”
Bettina Stang
„Bis in die 80er Jahre hinein hatten wir Roma in Jugoslawien eigentlich keine Schwierigkeiten“,
sagt Djevded Berisa. Berisa ist
Anfang der 90er Jahre nach
Deutschland gekommen. Zuvor
hat er in Belgrad gelebt und dort
ein Studium an einer Metallfachschule begonnen. Aber das Leben in Belgrad, sagt Berisa ,wurde
immer unerträglicher. Serbische
Nationalisten beschimpften ihn –
wegen seines albanischen Namens - mal als Albaner, mal als
Roma. „Heute ist für uns muslimische Roma nirgendwo in RestJugoslawien mehr Platz“, resümiert Berisa bitter.
1999, als der NATO-Bombenkrieg in Restjugoslawien zu Ende
ging, haben sich mehrere jugoslawische Roma in Hannover zusammengetan. Sie waren voller
Sorge um ihre Verwandten im
Kosovo, die sich jetzt Angriffen
der Albaner ausgesetzt sahen.
„Die Albaner sagen, wir hätten
mit den Serben kooperiert – aber
was sollen die Leute machen,
wenn serbisches Militär sie mit
vorgehaltenen Waffen zur ‚Mitarbeit’ an ihren Aktionen zwingt?“
– Jetzt, sagt Berisa, heißt es im
Kosovo: Für Roma ist kein Platz
mehr! Und auch in Hannover bekamen die Roma Ausreiseaufforderungen. „Wir mussten unsere
Situation erklären“, sagt Berisa,
„Deutschland kann uns nicht in
ein Land zurückschicken, in dem
wir angegriffen werden!“
Seit Beginn diesen Jahres hat der
Verein im Veranstaltungszentrum
Pavillon ein Heim gefunden. Ein,
zwei Mal im Monat kommen sie
zusammen, um Neuigkeiten auszutauschen und sich über ihre
rechtliche Situation zu informieren. „Wir sollen jetzt Duldungen
für sechs Monate erhalten – aber
Foto: Miriam Futterlieb
viele Ausländerbehörden richten
sich einfach nicht danach!“ Oft
müsse man erst mit dem Leiter
der Behörde drohen und auf den
Erlasstext pochen, bis die sechs
Monate tatsächlich gewährt werden. Wer keine Arbeit hat, so Berisa, bekommt oft trotzdem nur
drei Monate. „Wir brauchen eine
Beratungsstelle“, sagt der Vereinsvorsitzende. Im Pavillon hat
sich der Verein mit eigenen Veranstaltungen an die Öffentlichkeit gewandt: Eine Ausstellung
von Kinderbildern von Roma aus
der Slowakei und eine begleitende
Filmwoche wurden organisiert
und im Herbst wendet sich der
Verein wieder explizit an Schulklassen. Dann beteiligt sich Roma
Aglonipe an einer Veranstaltungsreihe unter dem Namen
„Krieg ist kein Kinderspiel“ und
zeigt dort einen Film über die Situation in den Wohnvierteln der
Roma im Kosovo. Außerdem, so
Berisa, möchte er die Schüler
über die Schwierigkeiten ihrer
Roma-Mitschüler in Deutschland
aufklären.
Der Verein Roma Aglonipe
spricht von „Roma“ und meint
damit alle Gruppen: die albanisch
sprechenden Roma, die serbisch
sprechenden Ashkali und die
„Ägypter“. „Wir machen da keine
Unterschiede“, versichert Berisa.
Ungefähr die Hälfte der 300 bis
400 Mitglieder stammten aus dem
Kosovo, die anderen aus Mazedonien, Serbien und Montenegro.
Sie sprechen untereinander vor
allem albanisch und serbisch. Die
eigene Sprache Romanes sprechen auch einige. Ihr ist der Name des Vereins entnommen.: Roma Aglonipe bedeute, so Berisa,
„Was Neues von den Roma“,
oder – „Roma gehen weiter“. So
habe auch ein Fernsehprogramm
geheißen, das in Kosovo, Mazedonien und und Teilen Serbiens
ausgestrahlt wurde – bis 1985 gab
es ein Mal im Monat die Sendung
von und für Roma - in Romanes.
Und damit es mit den Roma weitergeht, haben Berisa und seine
Mitstreiter noch einiges mehr
vor: Die Roma-Jugendlichen
müssen ermutigt werden, Ausbildungsplätze zu suchen – „sonst
gehen sie ins Leben und haben
nichts gelernt!“ Die Arbeitsmarktrestriktionen für Flüchtlinge und
die nur monateweise Verlängerung der Duldungen erschweren
die Ausbildungsplatzsuche erheblich. Der Verein will deshalb auch
mit Politikern sprechen, um Erleichterungen bei der Ausbildungsplatzsuche durchzusetzen.
53
Deportation
Der Verein erhebt keine Mitgliedsbeiträge, weshalb Spendensammlungen– auch unter der eigenen, wohlhabenderen Klientel
organisiert und Anträge geschrieben werden. Für das Frühjahr
plant der Verein nämlich einen
großen Roma-Kongress. „Aber
vorher müssen wir noch heraus-
finden, ob nicht eine andere Roma-Gruppierung in Deutschland
auch schon ähnliches plant!“ Die
Kooperation untereinander muss
noch ausgebaut werden. Vorerst
allerdings werden den Verein die
aktuellen Sorgen plagen: Das
Rückübernahmeabkommen mit
Jugoslawien ist wieder in Kraft
getreten. Und in Gesprächen mit
der jugoslawisch-serbischen Regierung wollen die Innenminister
jetzt herausfinden, ob Belgrad
auch „insbesondere nicht albanische“ Volksgruppen aus dem Kosovo aufnehmen würde. (Siehe
nächsten Artikel)
Kosovo-R
Roma nach Belgrad?
- deutsch-jugoslawisches Rückübernahmeabkommen ist wieder in Kraft Bettina Stang
B
ei gemeinsamen Gesprächen
haben sich die Regierungen
in Belgrad und Berlin Ende Juni
darauf geeinigt, auf Grundlage
des
deutsch-jugoslawischen
Rückübernahmeabkommens Abschiebungen nach Belgrad wieder
aufzunehmen. Im September soll
dann ein neues RückübernahmeAbkommen in Kraft treten.
Das Abkommen von 1996 war
wegen des während der KosovoKrise verhängten Flug-Embargos
ausgesetzt gewesen. Abschiebungen nach Rest-Jugoslawien konnten nicht stattfinden. Jetzt können jugoslawische Staatsangehörige, deren jugoslawische
Nationalpässe noch gültig und
der Ausländerbehörden zur Verfügung stehen, wieder abgeschoben werden, ohne dass die
Behörden vorher ein Rücknahmeersuchen stellen müssen. Einer besonders dringlichen Gefahr
der Abschiebung sind außerdem
54
jene ausgesetzt, deren Ausreise
bereits vor dem Flugembargo betrieben wurde und wo bereits eine “Rückübernahmezusage” besteht. In den anderen Fällen leitet
die Ausländerbehörde das Rückübernahmeersuchen ein. Flüge
können sowohl über die jugoslawische Fluglinie JAT als auch
über andere Flugunternehmen
stattfinden.*
Ob auch Flüchtlinge aus dem
Kosovo künftig nach Rest-Jugoslawien abgeschoben werden können, will die deutsche Seite in
weiteren Gesprächen bis September noch klären. Die deutschen
Innenminister scheinen hier insbesondere Roma ins Visier genommen zu haben, wie sich aus
dem nordrhein-westfälischen Erlass entnehmen lässt: “Im Rahmen dieser Gespräche soll auch
der Frage näher getreten werden,
ob jugoslawische Staatsangehörige aus dem Kosovo, insbesonde-
re nicht-albanische Volkszugehörige, auch in das übrige Gebiet der Bundesrepublik Jugoslawien zurückgeführt werden können.” - So sieht das also aus,
wenn Deutschland der Vertreibungspolitik an den Roma im
Kosovo “entschlossen entgegentreten” will.
* In Niedersachsen wendet sich die
Bezirksregierung Lüneburg an das
Generalkonsulat in Hamburg, um
dort Rückreisepapiere (“Putni List”)
ausstellen zu lassen. In einem Schreiben an die Bezirksregierungen und
Ausländerbehörden weist das MI
darauf hin, dass der Möglichkeit der
freiwilligen Ausreise Vorzug gegeben
werden soll und angesichts des oft
langjährigen Aufenthaltes die Abschiebungen “grundsätzlich anzukündigen” sei (“soweit nicht im
Einzelfall Erkenntnisse vorliegen,
die darauf hindeuten, dass die Betroffenen sich der Abschiebung entziehen werden”). Sei die Ausländerbehörde von der Ausreisebereitschaft der Betroffenen überzeugt,
könnten die Duldungen “in geeigneten Fällen” zur Regelung der persönlichen Angelegenheiten “angemessen” verlängert werden. Auch bei
noch nicht abgeschlossenen Rückübernahmeersuchen (alle über das jugoslawische Innenministerium) seien
Duldungen angesichts des langwierigen Verfahrens vorerst “entsprechend dem zu erwartenden Zeitbedarf ” zu verlängern. Bei in Deutschland geborenen Kindern sei mit einem besonders langwierigen Verfahren zu rechnen, da diese noch in Jugoslawien registriert werden müssten. Niedersachsen hat deswegen
beim BMI darauf gedränft, eine Vereinfachung des Verfahrens durchzusetzen.
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 80/81, Oktober 2001
Deportation
Ermittlungen gegen staatenlose
KurdInnen
Zum behördlichen Umgang mit Mahalmi aus
dem Libanon
Kai Weber
D
as nachfolgende Ergebnisprotokoll einer Dienstbesprechung im niedersächsischen
Innenministerium thematisiert
den behördlichen Umgang mit
Mahalmi aus dem Libanon, die
von Abschiebung in die Türkei
bedroht sind (s. FLÜCHTLINGSRAT 78/79: „Staatenlose
KurdInnen aus dem Libanon“).
Darin findet sich erstmals der
Gedanke, dass ein Teil der Betroffenen aus Gründen der Verhältnismäßigkeit ein weiteres
Bleiberecht in Niedersachsen erhalten könnte. Insofern kann das
Protokoll als ein Teilerfolg unserer Bemühungen interpretiert
werden, der faktischen Integration der Betroffenen in die deutschen Lebensverhältnisse Rechnung zu tragen.
Die Vorschläge des Innenministeriums gehen allerdings nicht
weit genug. Sie stellen sicher nicht
die von uns anvisierte politische
Lösung des Problems dar. Ein generelles Bleiberecht für die Betroffenen lehnt die Landesregierung ab. Zwar macht das Innenministerium deutlich, dass es einen Ermessensspielraum für humanitäre Entscheidungen gibt.
„Härtegründe“ erkennt das Innenministerium jedoch nur für
solche Flüchtlinge, die inzwischen über eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis verfügen (bzw.
als mittlerweile volljährig gewordene Jugendliche nur deshalb keine Aufenthaltserlaubnis erhalten,
weil ihre Angehörigen Sozialhilfe
erhalten) oder eingebürgert sind.
Wer jedoch Sozialhilfe bezieht
oder eine Straftat begangen hat
und deshalb „nur“ über eine Aufenthaltsbefugnis verfügt, soll
nach den Vorstellungen des Innenministeriums abgeschoben
werden. Dabei schreckt das Innenministerium offenbar auch
(aus der homepage von libasoli, wo sich im Übrigen auch die Northeimer Presseberichterstattung wiederfindet)
Entwurf für die Bundeskonferenz zur
Unterstützung der libanesischen
Flüchtlinge
13. Oktober in Essen
Zeit
10:30
10:45
NN
Ralph Ghadban
(angefragt) mit
Mohammad Masri
und Frank Borris
11.15 h Plenum
11:30 hEberhard
Haberkern RA,
Essen (in
Absprache mit
den RA' s aus
anderer Städten)
12.00 Plenum
12:15 Prof. Wolf-Dieter
Narr / alternativ
Heiko Kaufmann
(sollen angefragt
werden)
12.30 Dr. Franck Düvell
12.45
13:00 14:30
14:30
15:15
16:45
17:00
17:45
Moderation: NN
A. HEARING
Begrüßung und Zielvorstellung
Die Skizze der Problematik und
der geschichtlich-politische
Hintergrund.
Diskussion
Juristische Erläuterung der
Problematik
Diskussion
Politische Bewertung der
Problematik (Pilotprojekt für neue
Abschiebepolitik)
Die Abschiebungen im Kontext der
EU-Migrationspolitik
Diskussion
Mittagspause
B: PRESSEGESPRÄCH
C: VORWÄRTSSTRATEGIEN
Einstieg in den Nachmittag
Podiumsgespräch zum Vorgehen
der verschiedenen Behörden.
3-5 Personen aus Initiativen in den
Städten, in denen die
"Asylbetrugs"-Kampagne
hochgekocht wird
Entwicklung von
Handlungsperspektiven in AG?s.
Es sollen Arbeitsgruppen unter der
Schwerpunktfrage gebildet
werden, was können wir tun:
AG 1 auf kommunaler Ebene;
AG 2 auf Landesebene;
AG 3 auf Bundesebene;
Pause /Vorbereitung der
Berichterstattung im Plenum.
Besprechung der Ergebnisse der
Arbeitsgruppen im Plenum
Ende der Veranstaltung
55
Deportation
in Auseinandersetzung mit Ausländerbehörden (wie z.B. Northeim) darstellen, die behaupten,
es gäbe keinen Ermessensspielraum, sie wären rechtlich gebunden usw.
Foto: Edith Diewald
nicht davor zurück, dass in der
Konsequenz einer solchen Praxis
Familien auseinandergerissen
würden: Die arbeitslosen Eltern
sollen - ggfs. mit einem Teil ihrer
Kinder - abgeschoben werden,
die erwerbstätigen Kinder dürfen
bleiben. Was das Innenministerium als „Mittelweg“ beschreibt,
entpuppt sich hier als ein ziemlich rabiates Aussortieren einzelner Flüchtlinge nach dem Kriterium ihrer Nützlichkeit. Alte, Behinderte oder Alleinerziehende
haben in diesem Konzept – ebensowenig übrigens wie in den Bleiberechtsregelungen von 1996
und 1999 – keinen Platz. Hervorzuheben ist jedoch, dass das hier
vorliegende Protokoll kein Erlass
ist und insofern nur empfehlenden Charakter hat. Es steht insofern jeder Ausländerbehörde frei,
ihr Ermessen weiter auszuschöpfen und z.B. unter Hinweis auf
die langen Aufenthaltszeiten der
Betroffenen und den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz die Ermittlungen einzustellen, oder einjährige Aufenthaltsbefugnisse mit der
Auflage zu erteilen, innerhalb eines Jahres eine Arbeitsstelle
nachzuweisen. Insofern kann das
Papier eine Argumentationshilfe
Das Protokoll ersetzt freilich
nicht die geplante politische
Kampagne für ein Bleiberecht!
Ein erster Erfolg der Öffentlichkeitarbeit in Göttingen/Northeim läßt sich schon verzeichnen:
Ministerpräsident Gabriel hat die
geplante Abschiebung von mehr
als 100 Flüchtlingen aus Northeim in die Türkei zugesagt. Es
sei “nicht einsehbar, warum junge
Menschen die teilweise in
Deutschland geboren sind, in ein
Land abgeschoben werden sollen, dessen Sprache sie nicht
sprechen“, und andererseits
Fachkräftemangel auf dem Arbeitsmarkt durch GreencardAusländer ausgeglichen werden
müsse.
In Vorbereitung ist ein hearing
am 13.10. in Essen. Weitere Infos: www.libasoli.de und [email protected] und Telefon
bzw. Fax (0421-70 57 75) bzw. bei
pro asyl Essen.
Ermittlungen gegen Kurden mit vermutlich
türkischer Staatsangehörigkeit
Am 05.07.2001 fand im Niedersächsischen Innenministerium eine Dienstbesprechung statt, in
deren Mittelpunkt ein Reisebericht in den Libanon und in die Türkei stand. Hier das Ergebnisprotokoll:
1. Bewertung des Reiseberichts
Anlass der Dienstbesprechung ist
die Vorstellung und Veröffentlichung eines Reiseberichts über eine Reise in den Libanon und die
Türkei, die Herr Rechtsanwalt
Freckmann und Herr Kalmbach
(LK Hildesheim) in der Zeit vom
08.-18.03.2001 unternommen haben.
Der Reisebericht ist auf großes
Interesse seitens der Medien und
der Flüchtlings- und Wohlfahrtsverbände gestoßen; auch in anhängigen Rechtsbehelfs- und Pe56
titionsverfahren werden an die
Erkenntnisse aus dieser Reise von
Betroffenen große Hoffnungen
geknüpft. Der schriftlich vorliegende Reisebericht ist den Besprechungsteilnehmern bekannt.
RA Frechmann machte zunächst
deutlich, dass es das vorrangige
Ziel der Reise gewesen sei, vor
Ort herauszufinden, ob und wie
Identitätsunterlagen durch den
betroffenen Personenkreis beschafft werden konnten und wie
diese sowohl in den Herkunftsstaaten als auch in Deutschland
zu bewerten seien. Leider habe
weder seitens der libanesischen
noch seitens der türkischen
Behörden Bereitschaft zur Erörterung der rechtlichen Probleme
bestanden; auch sei die Einsichtnahme in die Personenstandsregister nicht möglich gewesen. In
der Türkei wurde die Weiterreise
von Mardin in das Gebiet von Savur untersagt, so dass die Teilnehmer der Reise sich keinen persönlichen Eindruck von den Ortschaften verschaffen und dort
auch keine Gespräche führen
konnten.
Gleichwohl hat die Reise nach
Auffassung Herrn Freckmanns
wichtige Erkenntnisse erbracht,
die auch bei der weiteren auslän-
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 80/81, Oktober 2001
Deportation
derrechtlichen Behandlung dieses
Personenkreises nicht unberücksichtigt bleiben könnten. Hierzu
gehöre in erster Linie die Erkenntnis, dass die in der Türkei
geführten Personenstandsregister
äußerst unzuverlässig seien, da
auf der Grundlage der Art. 1 u. 2
des Zusatzgesetzes 15/11/19843080/5 md Eintragungen in die
Register auch ohne Vorlage von
Urkunden von entfernten Verwandten, Dorfvorstehern oder
Dritten veranlasst werden könnten und es ständig Praxis sei, derartige Eintragungen ohne ausreichende Überprüfung vorzunehmen. Seine Einschätzung sei in
allen geführten Gesprächen, u.a.
auch mit einen Person, die viele
Jahre für die Registrierungen im
Personenstandsregister der Stadt
Mardin verantwortlich gewesen
sei, bestätigt worden.
Anders verhalte es sich dagegen,
wenn die Betroffenen bei der
Einreise im Besitz eines türkischen Passes, eines Nüfus oder
einer türkischen Personenstandsurkunde gewesen seien oder diese Unterlagen später aufgetaucht
seien. Es sei nicht möglich, dass
derartige Unterlagen ohne
Kenntnis der Betroffenen ausgestellt würden.
Damit bestand Übereinstimmung
in der Bewertung, dass Personen,
die mit einem türkischen Pass, einem Nüfus oder einer türkischen
Personenstandsurkunde eingereist sind und zunächst als türkische Staatsangehörige um Asyl
nachgesucht haben, dann untergetaucht sind und später als Kurden aus dem Libanon mit einer
geänderten Identität bzw. einem
arabisierten Namen ein Bleiberecht erhalten haben, die Behörden bewusst über ihre Identität
getäuscht haben.
Kein Einvernehmen konnte hinsichtlich der Bewertung der
Glaubwürdigkeit der türkischen
Personenstandsregister erzielt
werden. Aus dem Teilnehmerkreis wurde nachdrücklich darauf
hingewiesen, dass, wäre Herrn
RA Freckmanns Auffassung zu-
Foto: Edith Diewald
treffend, keine Beurkundungen
aus der Türkei, die auf Eintragungen in den Personenstandsregistern beruhen, in Deutschland
anerkannt werden könnten. Das
Gegenteil sei jedoch der Fall,
und derartige Urkunden würden
in der ständigen Praxis der
Behörden und Gerichte selbstverständlich akzeptiert. RD’In
Haunschild stellte dazu fest, dass
nach Art. 38 des türkischen
Staatsangehörigkeitsgesetzes folgende Urkunden bis zum Beweis
des Gegenteils die Vermutung
begründen, dass der Betreffende
die türkische Staatsangehörigkeit
besitzt:
• die Eintragungen im Perso-
nenstandsregister der türkischen Republik
• die Personalausweise
• die Pässe und Urkunden, die
an die Stelle von Pässen treten
und
• die von den türkischen Kon-
sulaten ausgestellten Staatsangehörigkeitsbescheinigungen.
Daraus folgt, dass Personen, die
im Personenstandsregister der
türkischen Republik eingetragen
seien, zunächst die gesetzliche
Vermutung gegen sich gelten lassen zu müssen, dass sie die türkische Staatsangehörigkeit besitzen. Es sei Sache der Betroffenen, diese gesetzliche Vermutung
zu widerlegen. Nach Art. 39 des
türkischen Staatsangehörigkeits-
gesetzes stehe bei Zweifeln über
die Staatsangehörigkeit einer Person dem Minister des Innern die
Entscheidung darüber zu. Die
Prüfung der türkischen Staatsangehörigkeit könne nicht deutschen Behörden obliegen.
Diese Auffassung vermochte
Herr Freckmann nur bedingt teilen, da er weiterhin die türkischen
Personenstandsregister für derart
unzuverlässig hält, dass die Vermutung der türkische Staatsangehörigkeit sich nicht allein darauf stützen dürfe.
Aus dem Teilnehmerkreis wurde
dazu angemerkt, dass diese Unterlagen in aller Regel auch nicht
den einzigen Nachweis bilden, es
vielmehr auch andere Hinweise
über Verwandschaftsverhältnisse,
aufgefundene Dokumente und
Unterlagen etc. gebe.
Herr Freckmann wies auf die
Stellungnahme des UNHCR vom
21.08.1992 zur staatsangehörigkeits- und flüchtlingsrechtlichen
Behandlung von Kurden aus dem
Libanon hin. Auch UNHCR gehe
in dieser Stellungnahme davon
aus, dass der überwiegende Teil
der Kurden aus dem Libanon als
staatenlos angesehen werden
müsse.
Dies ist zwar zutreffend; doch
führt der UMHCR in der selben
Stellungnahme auch aus, dass
nach Wortlaut und Zweck der
Staatenlosenkonvention für die
Beurteilung, ob jemand als staa57
Deportation
tenlos anzusehen ist, allein entscheidend sei, dass der in Frage
stehende Heimatstaat jeglichen
diplomatischen Schutz verweigert, da er den Schutzbegehrenden nicht als eigenen Staatsangehörigen ansieht, d.h., dass es
sich bei der betreffenden Person
um eine objektiv ungeschützte
Person handeln müsse. In Zweifelsfällen seien diese Personen
zunächst an die türkische Auslandsvertretung zu verweisen.
In den hier in Redestehenden Fällen gehe es jedoch gerade nicht
um Personen, denen der Heimatstaat jeglichen diplomatischen
Schutz verweigert, da sie für sich
die gesetzliche Vermutung der
türkischen Staatsangehörigkeit
aufgrund des Art. 38 des türkischen Staatsangehörigkeitsgesetzes in Anspruch nehmen können.
Da es sich im Zusammenhang
mit der Vorstellung des Reiseberichts zu irreführenden Presseveröffentlichungen gekommen
war, die zum Teil darauf
schließen lassen konnten, dass die
von Herrn Freckmann geäußerte
Bewertung die des Niedersächsischen Innenministeriums sei,
wurde dies klar gestellt. Der Bericht enthält die einvernehmliche
Auffassung sowohl Herrn RA
Freckmann als auch Herrn Kalmbachs; die von Herrn Freckmann
darüber hinaus abgegebene persönliche Bewertung stelle lediglich seine eigene Auffassung dar..
2. Weiteres Vorgehen
Die bisherigen Erfahrungen haben gezeigt, dass es sehr unterschiedliche Fallkonstellationen
gibt, was ein differenziertes Herangehen an die Einzelfälle erforderlich macht. Im wesentlichen
sind drei Personengruppen zu
unterscheiden, nämlich
1. Befugnisinhaber
2. Personen, die im Besitz einer
unbefristeten Aufenthaltserlaubnis oder Aufenthaltsberechtigung sind
3. Personen, die bereits eingebürgert sind.
58
zu 1.:
zu 2.:
Für die vor dem 01.08.1990 eingereisten und von einer Bleiberechtsregelung begünstigten Personen sind die zeitlichen Voraussetzungen für die Erteilung einer
unbefristeten Aufenthaltserlaubnis nach § 35 AuslG (achtjähriger
Besitz einer Aufenthaltserlaubnis)
in allen Fällen erfüllt. Bei denjenigen, die noch heute im Besitz einer Aufenthaltsbefugnis sind,
müssen daher Regelversagungsgründe der Erteilung der unbefristeten Aufenthaltserlaubnis entgegenstehen. Das bedeutet, dass
sie entweder erheblich straffällig
geworden oder noch immer nicht
in der Lage sind ihren Lebensunterhalt aus eigener Erwerbstätigkeit zu bestreiten. Die Verlängerung der Aufenthaltsbefugnisse
dieser Personen ist gemäß § 13
AuslG dann ausgeschlossen,
wenn feststeht, dass die Voraussetzungen für die Erteilung der
Aufenthaltsgenehmigung niemals
vorgelegen haben. Weder bedarf
es dann zur Ablehnung der Verlängerung des Nachweises der arglistigen Täuschung, noch können Ermessenserwägungen zu einer Verlängerung führen: es sei
denn, die Voraussetzungen des §
30 Abs. 2 AuslG wären erfüllt.
Bei Personen, die bereits im Besitz einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis sind, ist zu prüfen,
ob ein Rücknahmeverfahren eingeleitet und / oder eine Ausweisung verfügt werden soll. Bei der
Ermessungsentscheidung ist zu
berücksichtigen, ob eine Aufenthaltsbeendigung voraussichtlich
durchgesetzt werden kann und
ob diese Maßnahme unter
Berücksichtigung des regelmäßig
mehr als 10-jährigen Aufenthalts
im Bundesgebiet und der Gesamtumstände des Einzelfalles noch
verhältnismäßig ist. Dies dürfte –
von Ausnahmefällen bei besonders krasser Täuschung abgesehen – nur dann der Fall sein,
wenn sonstige erhebliche Straftaten vorliegen oder der Lebensunterhalt aus Gründen, die die Betroffenen selbst zu vertreten haben, inzwischen wieder überwiegend aus Sozialhilfemitteln bestritten wird.
Eine gesondert zu betrachtende
Ausnahmegruppe bilden dabei
die jungen Erwachsenen, die als
Minderjährige mit ihren Eltern
ins Bundesgebiet eingereist waren, inzwischen ihren eigenen Lebensunterhalt zwar sichern, eine
unbefristete Aufenthaltserlaubnis
jedoch nicht erhalten können,
weil ihre Eltern nach wie vor Sozialhilfe beziehen (§ 35 Abs. 1
i.V.m. § 24 Abs. 1 Nr. 6 i.V.m.
§ 46 Nr. 4 AuslG). Für sie
dürfte in der Regel eine Aufenthaltsbefugnis nach § 30 Abs. 2
AuslG in Betracht kommen.
Soll die Befugnis zurückgenommen oder eine Ausweisung verfügt
werden, sind stets die jeweiligen
weitergehenden gesetzlichen Voraussetzungen zu beachten; darüber hinaus sind Ermessungserwägungen (vgl. zu 2.) anzustellen.
zu 3.:
Die Ausführungen zu 2 gelten in
gesteigertem Maße für die Prüfung, ob eine Einbürgerung
zurückgenommen werden kann,
es sei denn, sie war ausschließlich
aufgrund des Gesetzes zur Vermeidung der Staatenlosigkeit erfolgt.
Soweit Einbürgerungsanträge gestellt worden sind, die Einbürgerung aber noch nicht durchgeführt worden ist, ist die Bearbeitung stets bis zur Klärung der
Staatsangehörigkeit zurückzustellen. Wird festgestellt, dass die
Einbürgerungsbewerber die türkische Staatsangehörigkeit besitzen, ist zunächst zu prüfen, ob
die Aufenthaltsgenehmigung verlängert bzw. belassen werden
kann.
MI wies darauf hin, dass das türkische Außenministerium die
deutsche Seite darüber informiert
hat, dass Personaldaten einschließlich Registerauszügen aus den
türkischen Personenstandsregistern wegen fehlender Gegensei-
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 80/81, Oktober 2001
Deportation
tigkeit der deutschen Seite nicht
mehr übermittelt werden. Deutsche Behörden hätten entsprechende Auskunftsersuchen türkischer Stellen unter Hinweis auf
datenschutzrechtliche Gründe
abgelehnt. Das BMI beabsichtigt,
die Frage der Beschaffung von
Personenstandsurkunden auch
im Rahmen der deutsch-türkischen Konsultationen im September 2001 mit der türkischen
Seite zu erörtern. Die künftige
Übersendung von Registerauszügen hat nicht nur Bedeutung für
den hier in Rede stehenden Personenkreis, sondern darüber hinaus auch für den der angeblichen
irakischen Kurden, die vermutlich zu einem nicht unerheblichen
Teil in Wirklichkeit türkische
Staatsangehörige sind. Das Ergebnis der Konsultation bleibt
abzuwarten. Sollte es dabei bleiben, dass keine Registerauszüge
mehr zur Verfügung gestellt werden, würde dies die Identitätserklärung außerordentlich erschweren bzw. unmöglich machen. In
Betracht gezogen werden könnte
daher die Alternativmöglichkeit,
über eine Gruppenauskunft aus
dem Ausländerzentralregister –
beispielsweise zu türkischen
Staatsangehörigen, die zur Zeit
von 1986 bis Ende 1990 in die
Bundesrepublik eingereist sind,
Asyl beantragt haben und dann
untergetaucht sind - eine Identitätsklärung zu erreichen. Die
Daten für diesen Personenkreis
sind weiterhin im AZR gespeichert. Da die Einreise seinerzeit
überwiegend über den Flughafen
Frankfurt erfolgte und Asylanträge von der Außenstelle des Bundesamtes in Schwalbach (Hessen)
registriert wurden, soll das Bun-
desamt gebeten werden zu prüfen, ob eine zentrale Erfassung
dieses Personenkreises erfolgt ist
oder noch erfolgen kann, so dass
in Verdachtsfällen dann ein Abgleich mit den Asylakten möglich
wäre.
Vor diesem Hintergrund der sich
immer schwieriger gestaltenden
Ermittlungen wurde seitens des
MI der Appell an die Besprechungsteilnehmer gerichtet, sowohl bei den Ermittlungen als
auch bei der Einleitung aufenthaltsbeendender Maßnahmen
sensibel und mit Augenmaß vorzugehen. Der hohe Personalaufwand, der in all diesen Fällen erforderlich sei, sei nur gerechtfertigt, wenn die Aussicht bestehe,
auch zu einer Aufenthaltsbeendigung zu kommen, und zwar sowohl, was die technische Durchführbarkeit als auch die Vertretbarkeit einer solchen Maßnahme
betreffe. Wenn am Ende aller
Bemühungen dagegen lediglich
erreichbar sei, den bisher legalen
Aufenthalt in einen geduldeten
umzuwandeln, müsse sich jede
Ausländerbehörde fragen, ob der
Aufwand angesichts dieses Ergebnisses gelohnt habe.
Dieser
Appell
stieß
auf
grundsätzliche
Zustimmung,
wurde allerdings seitens einiger
Teilnehmer mit der Bitte an die
Ausländerbehörden, die bei der
Besprechung nicht vertreten waren, verbunden, jedenfalls die Arbeit der ermittelnden Ausländerbehörden zu unterstützen und
Anfragen und Auskunftsersuchen zur Identitätsermittlung
nicht unbearbeitet liegen zu lassen.
Der Präsident des Niedersächsischen Landtages hat das Innenministerium gebeten, in der Sitzung der Ausländerkommission
am 20.08.2001 einen Bericht über
die Situation der zur Ausreise aufgeforderten Kurden aus dem Libanon zu geben. Dazu werden
auch Zahlenangaben erbeten. Es
ist beabsichtigt, die im März 2000
dem Ausschuss für Innere Verwaltung des Niedersächsischen
Landtages übermittelten Zahlen
zu diesem Personenkreis zu aktualisieren und fortzuschreiben.
Die Bezirksregierung wurde daher gebeten, dem MI bis zum
10.08.2001 folgende Angaben zu
übermitteln:
1. Wie viele Fälle (mit Anzahl
der Personen) von angeblichen Kurden aus dem Libanon, die sich hier unter einer
falschen Identität aufgehalten
haben, konnten abschließend
aufgeklärt werden?
1.1In wie vielen Fällen davon
a) wurden aufenthaltsrechtliche Maßnahmen eingeleitet,
b) ist der Aufenthalt durch
Abschiebung oder
c) freiwillige Ausreise beendet
worden?
2. In wie vielen Fällen werden
zurzeit noch Ermittlungen geführt, weil der Verdacht besteht, dass es sich um Personen mit gefälschter Identität
handelt?
3. Soweit das ohne zusätzlichen
Aufwand möglich ist, sollte
dabei jeweils nach dem Aufenthaltsstatus differenziert
werden.
Es rufen auf: antirassitische und antifaschistische Gruppen Infos: www.aba-bueren.de oder Tel: 05251/690574
59
Deportation
Demonstration in Northeim
"Wir bleiben hier"
Aktionen gegen Abschiebungen staatenloser
KurdInnen
Edith Diewald
B
undesweit sind inzwischen
mehrere tausend staatenlose
Bürgerkriegsflüchtlinge aus dem
Libanon von Abschiebungen bedroht - in Essen, Northeim, Einbeck, Diepholz, Bremen, Berlin.
Ihnen allen wird vorgeworfen
sich mit falschen Angaben über
ihre Herkunft, ein Bleiberecht
und Sozialleistungen erschlichen
zu haben (s. FLÜCHTLINGSRAT 78/79, Dokumentation:
Staatenlose KurdInnen aus dem
Libanon).
Gemeinsam mit UnterstützerInnen kämpfen die betroffenen
Flüchtlinge um ihr Bleiberecht.
So demonstrierten am 11. Mai bei
der Innenministerkonferenz in
Schierke (Harz) etwa 100 Flüchtlinge aus Northeim und UnterstützerInnen gegen die geplanten
Abschiebungen. Am 26. Juni gingen in Northeim erneut rund 100
Menschen auf die Straße und
übergaben an die Ausländerbehörde eine Unterschriftenliste,
auf der ca. 900 Northeimer und
Göttinger BürgerInnen ein Bleiberecht für die110 betroffenen
Flüchtlinge aus dem Landkreis
Northeim forderten.
Rege Beteiligung fand auch der
Bremer Aktionstag gegen die Ab-
schiebung libanesischer KurdInnen am 21. Juni. Mehrere Schulen
hatten sich an den Aktionen unter dem Motto "Rote Karte für
den Innensenator" auf dem
Marktplatz und in der Innenstadt
beteiligt. Etwa 500 SchülerInnen
- teilweise sogar im stilechten
Schiedsrichterdress - verteilten
"rote Karten", die eigentlich für
den Innensenator Bernt Schulte
(CDU) gedacht waren, an PassantInnen. Auf Flugblättern forderten, sie mit Verantwortlichen der
Bremer Behörden über einzelne
MitschülerInnen und Lehrlinge
zu reden. Nachmittags beteiligten
sich noch mal rund 300 Menschen an einer Demonstration.
531 in Bremen lebende libanesische KurdInnen, darunter fast
400 Kinder sollen in den nächsten Monaten in die Türkei abgeschoben werden. Viele haben
schon ihren Abschiebungsbescheid bekommen. Im Falle einer
Abschiebung, plant das Soli-Komitee eine Blockade des Bremer
Flughafens. Bereits 700 Menschen haben in einer halbseitigen
Zeitungsannonce angekündigt,
sich an einer Blockade zu beteiligen.
Aktionstag in Bremen 21.6.01
60
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 80/81, Oktober 2001
Deportation
Reisegefährdung für BGS-ler
Kein Abschiebestop nach Sri-Lanka trotz
Eskalation des Krieges
Edith Diewald
S
eit dem Anschlag der LTTE
auf den Militär- und Internationalen Flughafen Katunayake in
Colombo am 24. Juli 2001 warnt
das Auswärtige Amt vor Reisen
nach Sri Lanka. Dies gilt allerdings nicht für tamilische Flüchtlinge: etwa 6.000 Flüchtlinge sind
bundesweit akut von Abschiebung
in das Bürgerkriegsland Sri Lanka bedroht, einen Abschiebestop
gibt es nicht. In Bremen konnte
aufgrund der Reisewarnung eine
zum 8. August geplante Abschiebung nicht durchgeführt werden.
Nicht dass man sich um das
Wohler gehen des Tamilen Kugananthan S . Sor gen machte.
Nein - die BGS-Direktion sah ihre Beamten gefährdet und genehmigte ihre Dienstreise nicht. Für
die darauffolgende Abschiebung
von Mylvakanam N. am 27. August – die erste mit einem EUAusreisepapier - , hatte der Bremer Innensenator dann einen Plan,
wie der BGS, den Tamilen nach
Sri Lanka zurückbegleiten könnte: Die Beamten sollten den Transitbereich des Flughafens von Colombo nicht verlassen, und nachdem Mylvakanam den srilankischen Sicherheitskräften übergeben
worden wäre, sofort mit dem nächsten Flug nach Thailand den Flughafen verlassen, ohne nach Sri
Lanka einzureisen.
einen Abschiebestop nach Sri Lanka fordern. Am 28. August wurden die TeilnehmerInnen des Sitzstreik plötzlich freudig überrascht,
als Kugananthan zu ihnen stieß,
und ihnen mitteilte, dass er und
Mylvakanam am Vormittag aus
dem Abschiebegefängnis in der
Neuen Vahr entlassen wurden.
Vorher jedoch wurden sie noch
zur srilankischen Botschaft gebracht, wo sie vorstellig werden
mussten, um Passersatzpapiere zu
erhalten. Trotz Freilassung ist die
Abschiebung gegen die beiden Tamilen nach wie vor angeordnet.
Außer diesen beiden sind in Bremen noch mindestens 30 weitere
tamilische Flüchtlinge akut von
Abschiebung bedroht. Einige von
ihnen haben bereits das Land verlassen.
Einen Abschiebestop lehnt der
Bremer Innensenator in einem
Schreiben an den Internationalen
Menschenrechtsverein mit folgender
Begründung ab: „Die Situation,
auf die Tamilen bei ihrer Rückkehr nach Sri Lanka treffen, ist
sicherlich schwierig. Nach den aktuellen Lageberichten des Auswärtigen Amtes ist eine Rückkehr
aber nicht generell unzumutbar.
Erkenntnisse, die Rückführungen
nach Sri Lanka generell verbieten,
liegen derzeit nicht vor.“ Die ta-
milischen Flüchtlinge werden indes
weiterhin ihre Protestaktionen für
einen Abschiebestop durchführen.
Der folgende Text-Auszug ist dem
Kampagnen-Aufruf der „Karawane für die Rechte der Flüchtlinge
und MigrantInnen“ für die Freilassung der beiden Tamilen entnommen (www.humanrights.de)
und beschreibt die derzeitige Situation in Sri Lanka sowie den
politischen Kontext, in dem die geplanten Abschiebungen zur Zeit
stattfinden.
(...)
Seit der Flucht von Kugananthan
und Mylvakanthan aus Sri Lanka
ist der Krieg in ihrem Heimatland
ständig eskaliert. Vor wenigen
Wochen erst hat die srilankische
Regierung für mehrere Mio. $ international geächtete chemische
Waffen gekauft! Mehr als eine
halbe Million Tamilen befinden
sich innerhalb Sri Lankas ständig
auf der Flucht. Willkürliche Verhaftungen, Folter und Verschwindenlassen gehören nach wie vor
zum traurigen Alltag der Tamilen.
Kugananthan und Mylvakanam
sollen nun nach Sri Lanka abgeschoben werden - dem Land aus
dem sie vor Krieg und Verfolgung durch die Sicherheitskräfte
geflohen sind!
Doch auch diese Abschiebung wurde nicht durchgeführt. Offenbar
wurde dem Bremer Innensenat die
Abschiebung mit dem EU-Ausreisepapier aufgrund der Aufmerksamkeit, die dieser Fall infolge der
Proteste von tamilischen Flüchtlingen auf sich zog , zu heikel. Seit
dem 25. August befanden sich die
beiden inhaftierten Tamilen im
Hungerstreik. Unterstützt wurden
sie von tamilischen Flüchtlingen
und dem Internationalen Menschenrechtsverein, die 2 Tage später eine Dauermahnwache vor der
Bremer Bürgerschaft begannen und
61
Deportation
Die anstehenden Abschiebungen
von Kugananthan und Mylvakanam finden zu einer Zeit statt, in
der die Sicherheitslage in Sri Lanka aufgrund des Anschlags auf
den Flughafen von Colombo
äußerst angespannt ist. Das Auswärtige Amt warnt deutsche Touristen ausdrücklich vor Reisen
nach Sri Lanka. Der erste Versuch, Kugananthan abzuschieben, scheiterte zynischerweise an
der Weigerung der Grenzschutzbehörde, den begleitenden BGSBeamten die Reiseerlaubnis nach
Sri Lanka auszustellen. Für Tamilen gibt es eine solche Reisewarnung nicht.
Mehr als einhundert Tamilen
wurden seit dem Anschlag im
Großraum Colombo verhaftet,
überwiegend weil sie sich nicht
ausweisen konnten. Genau das
kann für Kugananthan und Mylvakanam zum Verhängnis werden, da abgeschobene Tamilen in
der Regel keine Passpapiere besitzen. Die deutsche Behörden wollen nicht abwarten, bis abgelehnte Flüchtlinge einen Pass von der
Botschaft erhalten. Deshalb müssen Kugananthan und Mylvakanam als “Versuchskaninchen” für
Abschiebungen herhalten, die mit
von der Ausländerbehörde Bremen ausgestellten sogenannten
EU-Ausreisepapieren durchgeführt werden. Bereits bei den bisher verwandten srilankischen
Passersatzpapieren ist es üblich,
dass die Abgeschobenen verhaftet werden und in der Haft mit
Misshandlungen und Folter zu
rechnen haben. Wie hoch die Gefährdung für Tamilen ist, die mit
einem EU- Papier einreisen, können die Behörden noch gar nicht
einschätzen, da sie keine Erfahrungen mit diesen Papieren haben. Unseren Nachforschungen
zufolge haben Tamilen, die aus
der Schweiz mit EU- Papieren
abgeschoben worden sind, kaum
eine Chance, die Haft ohne Probleme zu verlassen.
Wie zynisch die Bremer Ausländerbehörde mit tamilischen
Flüchtlingen umgeht, zeigte sich
an den Aussagen, die ein Beamter
62
der Bremer Ausländerbehörde
am 26. Juli 2001 gegenüber einem
Mitglied des IMRV machte. In
Bezug auf Abschiebungen nach
Sri Lanka mit EU-Ausreisepapieren äußerte er: “Dann wird er
schon merken, was mit ihm dort
passiert” und drohte so den
Flüchtlingen, sich möglichst
schnell Passersatzpapiere von der
Botschaft für ihre eigene Abschiebung zu besorgen.
Abschiebungen von Tamilen sollen jetzt um jeden Preis durchgesetzt werden, koste es auch das
Leben des betroffenen Flüchtlings. Tamilische Flüchtlinge verlassen - wenn sie überhaupt die
Möglichkeit dazu erhalten - seit
Jahrzehnten die Insel, da ihnen
aufgrund der brutalen Unterdrückung und Verfolgung durch
das srilankische Regime die blosse Existenz verwehrt wird. Gehetzt, gefoltert, vergewaltigt traumatisiert - erreichen sie
Deutschland und müssen feststellen, dass ihr Menschenleben auch
hier keinen Wert hat. Schamlos
empfangen deutsche Regierungsvertreter die srilankische Präsidentin Chandrika Kumaratunga,
um mit dieser über Investitionen
deutscher Firmen in Sri Lanka zu
verhandeln, um angebliche Entwicklungsgelder als eines der
westlichen „Geberländer” zuzusichern, die direkt und ausschliesslich in die Kriegskasse fliessen,
und um ein gemeinsames Konzept zur Bekämpfung des sogenannten internationalen Terrorismus zu erstellen. Kein Wort über
die international angeprangerten
Menschenrechtsverletzungen, die
durch die srilankische Regierung
begangen und befürwortet werden. Raketenwerfer, Flächenbombardierungen, der Gebrauch
von chemischen Waffen gegen
die tamilische Bevölkerung werden nicht etwa als internationaler
Terrorismus angesehen, sondern
der Protest Tausender tamilischer
Flüchtlinge, die es wagen, hier im
Exil ihre Stimme zu erheben und
den Genozid an ihrem Volk in Sri
Lanka öffentlich zu machen. Sie
stören damit die wirtschaftlichen
und politischen Interessen
Deutschlands. Werden diese Abschiebungen jetzt vollstreckt, so
wird der Kern des Gesetzesentwurfes von Innenminister Otto
Schily vor dessen offizieller Einführung realisiert.
Das “Zuwanderungsgesetz” orientiert sich ausschließlich an dem
politischen Interesse Deutschlands und den Interessen der
deutschen Wirtschaft. Die Bedürfnisse der Flüchtlinge, der
Schutz vor Menschenrechtsverletzungen, muss sich dieser Prämisse unterordnen. Flüchtlinge,
sind erneut Opfer derselben gierigen Wirtschaftsinteressen, die
sie aus ihren Heimatländern vertrieben haben. Sie sollen Platz
machen für sorgfältig ausgewählte Zuwanderer, die der deutschen
Wirtschaft Nutzen bringen.
Erst kürzlich traf Otto Schily seinen indischen Amtskollegen Lal
Krishna Advani, um die Abschiebung einer großen Anzahl indischer politischer Flüchtlinge zu
vereinbaren - als deutsche Hilfe
zur “Terrorismusbekämpfung.”
Es werden also politische Flüchtlinge, von denen die meisten für
die Rechte der unterdrückten
Menschen in Indien eintreten, an
ihre Peiniger übergeben, während
die Inder nach Deutschland geholt werden, die die deutsche
Wirtschaft auf Kosten Indiens
bereichern.
Mit welcher Konsequenz diese
Linie verfolgt wird, lässt sich an
einem Beispiel verdeutlichen. In
der letzten Woche besuchte ein
tamilischer Flüchtling aus Bremen gemeinsam mit seinem Arbeitgeber seinen zuständigen
Sachbearbeiter in der Bremer
Ausländerbehörde. Sein Arbeitgeber setzte sich für sein dauerhaftes Bleiberecht ein, bot eine
Bürgschaft und die Garantie einer
dauerhaften Beschäftigung inklusive Lohnerhöhung dar. Der Beamte entgegnete daraufhin, dass
eine solche Regelung zwar theoretisch möglich sei, aber gerade
bei Tamilen grundsätzlich ausge
Ende der 80er Jahre gab es be-
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 80/81, Oktober 2001
Deportation
reits Versuche der damaligen
CDU Regierung, Abschiebungen
von Flüchtlingen nach Sri Lanka
und in den Libanon in großem
Maße voranzutreiben. Durch
großen Widerstand konnten diese
Pläne durchkreuzt werden. Unter
der jetzigen sozialdemokratischen Regierung soll das vollendet werden, was die CDU nicht
geschafft hat. Momentan finden
massive Angriffe auf Flüchtlinge,
gerade gegen Kurden aus dem Libanon und gegen Tamilen aus Sri
Lanka, statt - ist das Zufall? Noch
ehe Schilys “Zuwanderungsgesetz” offiziell eingeführt wird,
sind es diese beiden Gruppen
von Flüchtlingen, die die menschenverachtende Logik dieses
Gesetzes schon jetzt zu spüren
bekommen.
Das Asylrecht begründet sich
von seinem Grundgedanken her
auf die moralische Verantwortung, Menschen vor Verfolgung
und Tod zu schützen. Nicht die
kalte ökonomische Berechnung,
sondern die Verpflichtung nach
den Menschenrechten liegen ihm
zu Grunde. Mit der Einführung
des Gesetzentwurfs von Schily
soll dies nun endgültig geändert
werden. Wird der Gesetzentwurf
erst einmal konsequent umgesetzt, werden Flüchtlinge in diesem Land einen wahren Exodus
erleben. Schon jetzt verlassen
Flüchtlinge Deutschland auf eigene Faust in Richtung ärmerer
Länder, wie Mylvakanam, der
scheiterte.
Hussein Daoud lebt
Abschiebungen nach Syrien gehen weiter
I
m FLÜCHTLINGSRAT 75/76
berichteten wir von der Verhaftung Hussein Daouds durch den
syrischen Staatssicherheitsdienst
und der Befürchtung, er sei in
Haft ums Leben gekommen.
Hussein Daoud war im Rahmen
des niedersächsischen “Projekt
X” in der Zentralen Anlaufstelle
Braunschweig interniert, bevor er
am 10.12.2000 nach Syrien abgeschoben wurde. Nachdem sein
Fall in der Öffentlichkeit publik
wurde, hatte die Niedersächsische
Landesregierung Anfang Juni
Abschiebungen nach Syrien ausgesetzt bis das Schicksal Daouds
aufgeklärt sei (ausgenommen
wurden davon allerdings “straffällig” gewordene SyrerInnen).
Inzwischen liegt ein Schreiben
des Auswärtigen Amtes vor, das
bestätigt, dass Hussein Daoud
noch am Leben ist (siehe weiter
unten).
Das Niedersächsische Innenministerium versucht sich nun seiner Verantwortung zu entledigen
und stützt sich dabei auf die Aus-
sage Daouds, dass er seit dem
4.2.2001 im Gefängnis Sednaya
inhaftiert sei. Die Begründung:
Da zwischen erfolgter Abschiebung und seiner Inhaftierung fast
zwei Monate verstrichen sind, sei
es “somit nicht sehr wahrscheinlich, dass die Festnahme im direkten Zusammenhang mit Ereignissen steht, die vor der Abschiebung stattgefunden haben.”
Dieser Interpretation ist haarsträubend: Hussein Daoud konnte sich in Anwesenheit eines syri-
63
Deportation
schen Geheimdienstmitarbeiters,
eines Gefängnisbeamten und eines Dolmetschers, der durch den
syrischen Geheimdienst gestellt
wurde, nicht frei äußern. Kurdische Oppositionsparteien, Freunde sowie der Bruder haben übereinstimmend ausgesagt, dass
Hussein Daoud bereits im Dezember 2000 – unmittelbar nach
seiner Abschiebung – im Flughafen festgenommen wurde. Der
urgent action von amnesty international vom 30.4.2001 war zu
entnehmen, dass Hussein Daoud
“mehrmals von einem Haftort in
einen anderen verlegt worden”
ist. Auch der Bericht des Auswärtigen Amts schließt nicht aus,
dass vor dem 4.2.2001 eine Inhaf-
AUSWÄRTIGES AMT
Gz.: 300-516 SYR
(Bitte bei Antwort angeben)
tierung in anderen Haftanstalten
erfolgte. Es ist bedauerlich, dass
das Innenministerium nicht den
Mut hat, zu seiner eigenen Entscheidung zu stehen, und sich aus
durchsichtigen politischen Gründen – Vermeidung eines Alleingangs bei Abschiebungsstopps
nach §54 AuslG – zu einem
Rückzug gezwungen sieht. (Red.)
Berlin, 3. August 2001
Telefon 01888 17 – 0 /Fax: 17-3402
Referat: 300, Verfasser: Nancy Reck
Durchwahl: 17 – 4929 / Fax: 17 – 54929
Fax Sekretariat: 01888 17 - 4493
Briefadresse: Auswärtiges Amt 11013 Berlin
An den
Geschäftsführer des Fördervereins
Niedersächsischer Flüchtlingsrat e.V.
Herrn Kai Weber
Lessingstraße 1
31135 Hildesheim
Sehr geehrter Herr Weber,
im Nachgang zum Schreiben des Auswärtigen Amts vom 10.07.2001 Gz. 300-516 SYR - möchte ich Sie
über den aktudlen Sachstand im Falle des abgeschobenen syrischen Staatsangehörigen Hussain Daoud
unterrichten.
Aufgrund der Bemühungen der Deutschen Botschaft Damaskus wurde einem Botschaftsvertreter seitens
des syrischen Aussenministenums am 26.06.2001 ein Treffen mit Hussain Daoud im Militärgefüngnis von
Sednaya ermöglicht. Aufgrund des übermittelten Fotos konnte Herr Daoud positiv identifiziert werden.
Die Behauptung, er sei in der Haft ums Leben gekommen, ist demnach nicht zutreffend.
Ein Vier-Augen-Gespräch mit Herrn Daoud war nicht möglich. Das Gespräch fand vielmehr
inAnwesenheit eines syrischen Gefängnisbeamten und eines Mitarbeiters des syrischen
Geheimdienstes statt. Auch der Dolmetscher wurde durch den syrischen militärischen Geheimdienst
gestellt.
Herr Daoud gab an, seit dem 04.02.2001 im Gefängnis von Sednaya inhaftiert zu sein. Zum Haftvorwurf
äußerte er sich nicht. Das äußere Erscheinungsbild war gut. Offensichtliche Folterspuren waren nicht zu
erkennen. Herr Daoud machte auch einen geistig klaren Eindruck, war jedoch offensichtlich angespannt
und nervös. Er äußerte sich dahingehend, dass Behandlung, Ernährung und hygienische Zustände gut
seien, räumte jedoch ein, nicht frei sprechen zu können.
Eine offizielle Äusserung der syrischen Behörden zum Tatvorwurf war bisher nicht zu erhalten.
Syrischen Pressemeldungen zufolge soll mit einer baldigen Freilassung Hussain Daouds zu rechnen sein.
Das Auswärtige Amt wird sich um Klärung bemühen, inwieweit diesen Meldungen Glauben geschenkt
werden kann. Es bleibt zu hoffen, dass sich die syrischen Behörden auch weiterhin kooperativ zeigen
werden.
Alle im Zusammenhang mit Abschiebungen zu treffenden Entscheidungen fallen in die ausschliessliche
Zuständigkeit der zur Durchführung des Ausländergesetzes berufenen Innenbehörden von Bund und
Ländern.
Mit freundlichen Grüßen
64
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 80/81, Oktober 2001
Deportation
Mal was Positives:
Geschiedene kurdische Ehefrau darf bleiben
R A H . -EE b e r h a r d S c h u l t z
Aufatmen können Frau Perihan
C. (36 Jahre) und ihre Kinder im
Alter von 8, 7 und 5 Jahren:
Durch Urteil des Verwaltungsgericht Bremen, das kürzlich zugestellt wurde, erhielten Frau und
Kinder ein vorläufiges Aufenthaltsrecht (Duldung) nach § 53
Abs. 6 Ausländergesetz (die „FR“
berichtete).
Sie hatte sich von ihrem Mann,
der wegen einer Straftat die Haft
in Bremen verbüßte zunächst getrennt und später gegen seinen
ausdrücklichen Willen scheiden
lassen. Der Antrag mit der Begründung, sie hätten in der Türkei keine Überlebenschance, war
vom BAFL abgelehnt worden.
Über die Klage wurde zunächst
am 05.10.2000 vor der 2. Kammer verhandelt und der Ehemann als Zeuge aus dem Gefängnis vorgeführt. Er behauptete, die
Scheidungsabsicht seiner Frau sei
nicht ernstgemeint, daß seine
Frau und seine Kinder selbstverständlich von ihm bzw. seiner Familie in der Türkei unterstützt
würden. Dies konnte durch die
Zeugenaussage einer Betreuerin
der Frau nachhaltig infragegestellt werden. Dadurch sah sich
das Gericht immerhin veranlaßt,
weitere Sachverständigengutachten einzuholen, die die von uns
vorgelegten bestätigten: Bei Trennung und Scheidung gegen den
Willen des Ehemannes werde die
Frau – anders als die Kinder –
sicherlich nicht von der Familie
des Mannes in ihrem kurdischen
Heimatdorf unterstützt, sie riskiere sogar die Blutrache,
schlimmstenfalls durch ihre eigene Familie. Auch dies reichte dem
Gericht noch nicht. Vielmehr
holte es zum weiteren Verhandlungstermin am 05.07.2001
die Mutter als Zeugin über das
Verhältnis ihrer Familie zu der
Klägerin. Erst als diese von ihrem
Aussageverweigerungsrecht Gebrauch machte, gleichzeitig ihre
eigene Tochter im Gericht weder
ansah, noch begrüßte, hatte das
Gericht wohl ein Einsehen ...
Abschiebung ohne
Ankündigung
In Peine wurde in einer Nacht
und Nebelaktion eine vietnamesische Familie abgeschoben.
Ohne vorherige Ankündigung
kamen Nachts um 1.15 Uhr
Vollzugsbeamte der Bezirksregierung in die Wohnung der Familie Nguyen, um die Eltern
und ihre 5-jährige Tochter abzuholen. Nur 30 Minuten Zeit hatte die aus dem Schlaf gerissene
Familie, um ihre Sachen zu
packen.
Die Regelung, den Betroffenen
vorher den Abschiebungstermin
mitzuteilen, wurde aufgehoben.
Begründet wird dies damit, dass
sich die Betroffenen bei Bekanntgabe eines Termins der
Abschiebung durch Flucht entziehen würden.
In der selben Nacht und in anderen Nächten sind noch weitere Familien aus dem Landkreis
Peine in „Nacht- und Nebelaktionen“ abgeschoben worden.
(Red)
65
Deportation
Tod durch Erdrücken
Zwei Jahre nach seinem gewaltsamen Tod in einer Lufthansamaschine liegt nun ein rechtsmedizinisches Gutachten zur Todesursache von Aamir Ageeb vor. Wie
„Der Spiegel“ berichtete ist Aamir
Ageeb offenbar allein durch den
massiven Körpereinsatz dreier
BGS-Beamter ums Leben gekommen. Dagegen habe der Motorradhelm, der zunächst als Ursache
für das Ersticken gegolten hatte,
keine entscheidende Rolle gespielt. Die BGS-Beamten hätten
den Sudanesen während der gesamten Startphase massiv nach
unten gedrückt, was zur Erstickung führte. Dabei seien auch
sechs Rippen gebrochen worden.
Ob die drei BGS-Beamte wegen
fahrlässiger Tötung angeklagt werden habe die Staatsanwaltschaft
noch nicht endgültig entschieden.
Fliegen ist freiwillig
Seit mehr als einem Jahr fordert
das antirassistische Netzwerk
kein mensch ist illegal den Ausstieg der Lufthansa aus dem
Abschiebegeschäft. Erster Erfolg der Kampagne war die Zusage der Lufthansa, keine gewaltsamen Abschiebungen an
Bord ihrer Flugzeuge mehr zuzulassen. Jedoch besteht sie darauf, einer angeblichen Beförderungspflicht auch für unfreiwillige Passagiere zu unterliegen.
Die Pilotengewerkschaft Cockpit dagegen hat ihren Mitgliedern jetzt empfohlen, geplante
Abschiebungskosten
Die Bundesregierung hat in einer
Antwort auf eine Kleine Anfrage
der PDS-Abgeordneten Ulla Jelpe www.dip.bundestag.de/btd/
14/058/1405870.pdf (BT-Drucksache 14/5870) zur Bezahlung
von Abschiebungskosten Stellung genommen. Darin bekräftigt die Bundesregierung, dass
Abgeschobene grundsätzlich für
66
Abschiebungen gegen den Willen der Betroffenen zu verweigern.
Ein Beispiel sollte sich die Lufthansa an der rumänischen Fluggesellschaft TAROM nehmen:
diese hat sofort - nach einer Intervention von kein mensch ist
illegal - alle Abschiebungen mit
ihren Chartermaschinen gestoppt!
Informationen:
www.deportation-alliance.com
(Aus der Grenzcampzeitung
„Campen in Rhein-Main“, Juli –
August 2001)
die Kostentragung herangezogen
werden, wenn sie Jahre später
wieder einreisen und ggf. ein
Aufenthaltsrecht erwerben. Hinsichtlich der hohen Kosten insbesondere so genannter “begleiteter” Abschiebungen äußert die
Bundesregierung lapidar: “Soweit eine Sicherheitsbegleitung
für die Abschiebung eines Ausländers erforderlich ist, liegt dies
allein in seinem Verhalten oder
Lufthansa goes offline
Die Online-Demo gegen die Lufthansa am 20.6. war offenbar erfolgreich. Wer zwischen 10 und 12
Uhr versucht hat, auf die Lufthansa-Seite zu gelangen, wurde per
Fehlermeldung freundlich darauf
aufmerksam gemacht, dass wohl
“technische Schwierigkeiten” aufgetreten seien. Die Lufthansa hat
eine Beeinträchtigung ihres Angebots öffentlich abgestritten, bei
einzelnen Nachfragen aber zugeben müssen, dass der Server aufgrund der Online-Demo überlastet
gewesen sei.
(Aus Pro Asyl Infoservice Nr.51)
Umständen begründet, die er
selbst zu vertreten hat.” Fraglich
ist diese Aussage insbesondere
im Hinblick auf algerische
Flüchtlinge, die regelmäßig den
algerischen Sicherheitskräften
übergeben werden. Im Jahr 2000
wurden rund 30 % aller Flugabschiebungen mit “Begleitservice”
durchgeführt. Pro Asyl Info Nr.
48)
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 80/81, Oktober 2001
Rassismus - Antirassismus
Rassismus - Antirassismus
Unser Land - vielseitig und weltoffen*
* Titel einer Entschließung des Niedersächsischen Landtags gegen Gewalt und Fremdenhass im Sept. 2000
L
aut Verfassungsschutzbericht
ist die Mitgliederzahl der
Neonazi- und Skinheadszene in
Niedersachsen im letzten Jahr auf
1250 gestiegen, 150 mehr als im
Vorjahr. Dies macht sich auch im
Anstieg von rechtsextremistischen
Gewalttaten bemerkbar. Währenddessen ist von dem vor einem Jahr
ausgerufenen "Aufstand der Anständigen" kaum mehr was zu
spüren. Angesichts der Hysterie,
die seit dem Terroranschlag in den
USA ausgebrochen ist, und der
Mobilisierung des latenten Feindbilds "Islam", ist in nächster Zeit
mit einem weiteren Anstieg rassistischer Übergriffe zu rechnen.
sche Kontrollpraxis der Polizei
beschwerte, sagte der Polizist:
"Dies ist mein Deutschland. Darauf passe ich auf. Wenn dir das
nicht passt, kannst du ja auswandern."
Duderstadt, 15.4. 2001
Mehrere Männer verprügelten in
einer Diskothek mehrere Menschen, ein dreißigjähriger Türke
wurde so schwer verletzt, dass er
ins Krankenhaus eingeliefert werden musste. Später gab die Polizei
an, die Täter seien "aus der rechten Szene". Ob politische Motive
eine Rolle spielten, sei unklar, so
die Kripo.
Im folgendem eine Zusammenstellung der Erfahrungen von MigrantInnen, Flüchtlingen und jüdischen
Menschen in Niedersachsen aus
dem letzten halben Jahr.
Göttingen, 10.4. 2001
Bei einem Besuch in Göttingen
wurde ein 26jähriger Student aus
Oldenburg, der in Indien geboren und als Baby von Deutschen
adoptiert worden war, von zwei
Polizisten festgehalten und kontrolliert. Als er nach dem Grund
dafür fragte, wurde ihm entgegnet, er solle "ganz ruhig bleiben"
und "nicht frech werden". Die
Polizisten duzten ihn dabei. Als
sich der Student, über die rassisti-
Hannover/Langenhagen (1),
24.5.2001
An Himmelfahrt haben randalierende Skinheads in Hannover
und Langenhagen MigrantInnen
durch die Innenstädte gehetzt
und angegriffen.
In Langenhagen zogen sieben
stark alkoholisierte Skinheads
(21-31 Jahre) rechte Parolen
grölend und mit einer Hakenkreuzfahne durch die Straßen.
Die hinzu gerufene Polizei nahm
nur die Fahne an sich, stellte die
Personalien fest und lies sie wieder laufen. Wenig später verletzten sie auf einer Party einen 28jährigen Deutschen. Dann pöbelten sie einen Italiener (30) und
seine beiden Begleiterinnen an,
bewarfen sie mit Flaschen und
hetzten sie bis zu ihrem Haus.
Dort zertrümmerten sie den Eingangsbereich. Erst dann nahmen
Polizisten die sieben Skins, die
mit Holzlatten auf die Beamten
losgingen, fest. Sechs von ihnen
wurden am darauffolgenden Tag
wieder freigelassen. Nur ein 21jähriger, gegen den ein Haftbefehl wegen eines anderen, nicht
rechtsextremen Deliktes vorlag,
blieb in Polizeiarrest. Alle sieben
gehören der sogenannten Wiesenauer Szene an. Gegen sie wird
wegen Verdachts auf schweren
Landfriedensbruch ermittelt.
In Hannover haben vier
Skinheads zwei 25-jährige Iraner
attackiert und mit ausländerfeindlichen Parolen beschimpft. Die
beiden Iraner waren mit dem
Fahrrad unterwegs als sie auf die
Skinheads trafen und es zu Handgreiflichkeiten kam. Als einer der
beiden zu Boden stürzte, warfen
die Skins sein Fahrrad auf ihn.
67
Rassismus - Antirassismus
Flüchtlingsdelegation aus der Bahn heraus verhaftet
Am 22. Mai reiste eine Gruppe
von acht Personen aus Hamburg
und Bremen nach Bonn, um dort
als ReferentInnen an einer Veranstaltung zu Botschaftsanhörungen von Flüchtlingen teilzunehmen.
Zwischen Osnabrück und Münster verlangten vier BGS-Beamte
in Zivil von den "nicht-weissen"
Personen dieser Gruppe die Papiere, die daraufhin nach den
Kriterien für die Kontrolle fragten und die Herausgabe ihrer Papiere verweigerten, wenn nur sie
kontrolliert werden sollten. Die
Beamten beteuerten, es handle
sich um eine reine Routine Kontrolle, dabei kontrollierten
sie jedoch ausschließlich die betroffenen Flüchtlinge und niemand anderes in dem Zug. Als
Begründung wurde Verdacht auf
illegalen Aufenthalt angegeben,
das käme auf dieser Strecke häufig vor. Der Verdacht würde
durch die Hautfarbe ausgelöst
und dies sei durch Vorschriften
zu verdachtsabhängigen Kontrollen gerechtfertigt.
Die Gruppe verweigerte diese
Form rassistischer Kontrolle und
die Aushändigung der Personal-
papiere. Am Bahnhof von Münster wurde die Delegation, von
mindestens zehn weiteren BGSBeamten erwartet. Drei Afrikaner wurden aus dem Zug heraus
verhaftet und mit brutaler Gewalt aus dem Zug gezerrt. Sie
wurden in ein Polizeirevier gebracht, mehrere Stunden festgehalten, teilweise nackt durchsucht (Verdacht auf Drogenhandel), unter Androhung von
Zwang auf Alkoholkonsum getestet und erkennungsdienstlich
behandelt.
Nach mehreren Stunden wurde
die Gruppe freigelassen und
konnte die Reise fortsetzen, allerdings mit dem Hinweis, dass diejenigen, die als Flüchtlinge gegen
die sog. Residenzpflicht verstoßen, im Zug mit weiteren
Kontrollen zu rechnen hätten.
Einzelne Teilnehmer der Gruppe
sind nun mit Verfahren wegen
Beleidigung und Widerstands gegen die Staatsgewalt konfrontiert, andere wegen Verstoßes gegen die Residenzpflicht.
Ein Protokoll über die BGSKontrolle kann bei der Geschäftsstelle angefordert werden.
Foto: arbeiterfotografie
68
Ein Täter stach mit dem Messer
zu. Das Opfer musste zur Behandlung ins Krankenhaus.
Bremerhaven, 1.6.2001
Ein ägyptischer Staatsangehöriger ist in der Nacht zum Freitag
auf einem Autobahnparkplatz
bei Bremerhaven zusammengeschlagen und schwer verletzt
worden. Dringend tatverdächtig
sind nach Angaben der Polizei
drei Männer im Alter von 20-21
Jahren aus dem Cuxhavener und
Bremerhavener Umland, die der
rechten Szene angehören sollen.
Die drei Männer waren bei einer
Fahndung gestellt und vorläufig
festgenommen worden. Sie hätten ihr Opfer beraubt. Im Auto
seien zahlreiche CDs mit volksverhetzendem Inhalt gefunden.
Einer der Männer, die alkoholisiert gewesen seien, habe einen
Polizeibeamten angegriffen und
ihn leicht verletzt.
Langenhagen (2), 2.6.2001
Bei dem Schützenfest Kaltenweide wurde ein 27-jähriger Mann
von 4-5 Neonazis vor den Augen
von zwei nebenstehenden Polizisten zusammengeschlagen. Die
Beamten griffen auch dann nicht
ein, als die Nazis mit ihren Springerstiefeln auf den am Boden liegenden Mann herumtrampelten.
Der Mann wurde mit einer
Platzwunde am Kopf ins Krankenhaus gebracht, wo er nach
ambulanter Behandlung wieder
entlassen wurde. Die Polizei fasste die Männer kurze Zeit später,
setzte sie aber in der gleichen
Nacht wieder auf freien Fuss. Bei
drei der Täter soll es sich um Angehörige der sogenannten Wiesenauer Szene handeln. Zwei von
ihnen sollen bereits an den rassistischen Ausschreitungen an
Himmelfahrt beteiligt gewesen
sein.
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 80/81, Oktober 2001
Rassismus - Antirassismus
Göttingen, 18.6. 2001
Am 16. Juni gelang es der NPD
erstmalig nach vielen gescheiterten Versuchen, in Göttingen zu
demonstrieren. Mit einem massiven Polizeiaufgebot sicherte die
Polizei die gerichtlich erlaubte
Demo der Nazis gegen die mehreren tausend Gegendemonstran-
tInnen. Die Polizei "konnte direkte Auseinandersetzungen zwischen Gegendemonstranten und
NPDlern verhindern", so ihre
Erfolgsmeldung nach offizieller
Lesart. Nicht in der Lage sahen
sie sich allerdings, MigrantInnen
zu schützen, deren Züge Göttingen passierten. Während die Polizei über hundert Gegendemonstranten bis abends festsetzte, die
Route der Nazis säumte, freiprügelte und sie schließlich zum
Bahnhof eskortierte, holten sie
Migrantenfamilien aus den Zü-
gen, um die freie Fahrt der Nazis
zu gewährleisten. Die betroffenen MigrantInnen mussten den
nächsten Zug nehmen. Leider
hätte die Polizei nicht genügend
Kapazitäten gehabt, um die Fahrt
der betroffenen MigrantInnen zu
sichern, ließ sie später verlauten.
Oldenburg, 21. 6.2001
Als 2 jugendliche Neonazis
NPD-Aufkleber an einem Altglascontainer anbringen, stellt ein
iranischer Migrant sie zur Rede.
Daraufhin zieht einer von ihnen
eine Gaspistole und setzt sie ihm
an die Schläfe. Der Iraner steht
Todesängste aus und schreit laut
um Hilfe. Auf der sehr belebten
Straße zeigt fast niemand eine Reaktion. Schließlich mischen sich
doch zwei Passanten ein und die
Jugendlichen ziehen ab, werden
kurz nach der Tat von der Polizei
gefaßt, jedoch wenig später wieder laufen gelassen. Obwohl die
beiden Täter dem 4. Fachkommissariat, das unter anderem für
politisch motivierte Straftaten zuständig ist, schon bekannt sind,
wollte der Pressesprecher der Oldenburger Polizei, sich nicht darauf festlegen, dass man es mit einem rechtsradikalen Vergehen zu
tun habe. Gegen den 18-jährigen
Täter laufen jetzt Ermittlungen
wegen "Bedrohung", die wegen
seines Alters keine schwere Strafe
nach sich ziehen werden. Der Iraner empfand diese "Bedrohung"
als "Scheinhinrichtung" - ein Tat-
bestand, der im Strafgesetzbuch
nun mal nicht vorgesehen ist.
Den Tätern ist er bereits wieder
begegnet, sie wohnen in seiner
Nähe.
Pattensen, 10.7.2001
Ein Bewohner des Asylbewerberheims in Pattensen entdeckte vor
dem Gebäude einen nicht gezündeten Brandbeschleuniger. Der
jugoslawische Flüchtlinge verständigte die Polizei, die nun wegen versuchter menschengefährdender Brandstiftung ermittelt.
Ein ausländerfeindlicher Hintergrund wird ausnahmsweise mal
nicht ausgeschlossen.
Langenhagen, 12.7.2001
In der Nacht zum 12.7. hat ein
27-jähriger Deutscher mit einer
Holzlatte auf einen 18-jährigen
Ukrainer eingeschlagen. Zuvor
hatte er gemeinsam mit vier weiteren mutmaßlichen Angehörigen
der rechtsextremen Szene verfassungswidrige Parolen und "Ihr
Scheiß-Kanacken" gebrüllt. Die
Männer wurden von der Polizei
vorübergehend festgenommen.
Achim, Juli 2001
In Achim wurde auf Betreiben
der Nachbarschaft der Bau einer
Moschee gestoppt. Begründung:
die Erweiterung des schon bestehenden Gebetshauses würde eine
Vergrößerung des Verkehrsaufkommens nach sich ziehen,
schon jetzt wären die Parkplätze
knapp. Dabei handelt es sich keineswegs um ein reines Wohngebiet, in der Straße befinden sich
ein Tapetenhandel und eine Wäscherei.
Peinlich für den klagenden Nachbarn: bei der Überprüfung des
Nachbarschaftkonflikts stellte
das Bauamt Verden fest, dass er
seinen Anbau "illegal gebaut"
und seine Gartenmauer über die
Grundstücksgrenze hinaus, auf
dem Grundstück der Moschee
gebaut hat.
Schon im Februar diesen Jahres
bekam die muslimische Gemeinde eine Absage auf ihre Bauvoranfrage für die Errichtung eines
20 Meter hohen Minaretts. Der
Rat der Stadt Achim begründete
dies damit, daß das Vereinsheim
damit den Charakter einer überregionalen Moschee bekommen
und damit ein erhöhtes Verkehrsaufkommen nach sich ziehen
würde.
Ottersberg, September 2001
Unbekannte TäterInnen haben
auf dem erst im vergangenem
Jahr restaurierten jüdischen
Friedhof in mehrere Grabsteine
Hakenkreuze eingeritzt und einen
Grabstein umgestossen und zerbrochen.
69
Rassismus - Antirassismus
Siamo tutti Clandestini
(Wir sind alle Illegale)
Von Niedersachsen nach Genua aus antirassistischer Perspektive
Sarah Sahara
E
r sei einer der “stranieri”
(Fremden) gewesen, die ihre
Stadt verwüstet hätten, sagt die
Frau in der Bäckerei in Genua am
Samstag morgen, und meint damit Carlo Guiliano, der am Tag
vorher von einem italienischen
carabiniere erschossen worden
war. Das harte Vorgehen der Polizei gegen die “angereisten Gewalttäter” fände sie richtig, auch
wenn das einer der Demonstranten mit seinem Leben bezahlen
musste. Da dreht sich ein gutgekleideter Mann in der Warteschlange vor uns um und sagt
”Es war kein
Fremder, Signora. Der Tote
war ein Sohn
unserer Stadt,
geboren in Rom,
doch jetzt lebte
er hier in Genua.” “Aber es
hieß doch, er sei
Spanier gewesen”, protestiert
die Frau noch,
dann senkt sich
ein betretenes
Schweigen über
die Umstehenden.
Dies blieb nicht die einzige zusammengebrochene Konstruktion über “die Fremden”, die nach
altbekannten rassistischen Mustern an allem Schuld sein sollen.
Als angebliche Mitglieder eines
“Schwarzen Blocks”, dem die
Verantwortung für die Gewalteskalation bei den Protesten gegen
den G8-Gipfel vom 19. bis zum
21. Juli in Genua zugeschoben
werden soll, wurden nach den
Aktionstagen fast ausschließlich
AusländerInnen verhaftet. Gezielt hielten die Sicherheitskräfte
nach Autos mit ausländischen
Kennzeichen Ausschau. Die meisten Verhaftungen fanden in den
70
Tagen nach den Protesten außerhalb von Genua statt, zwei TschechInnen wurden sogar noch am
20. August festgenommen. Die
systematische Brutalität der
staatsbediensteten Sicherheitskräfte gegen alle DemonstrationsteilnehmerInnen ist - nach anfänglicher Funkstille - mittlerweile auch hierzulande Thema in den
Medien, in Italien hat sie über
Wochen täglich mehrere Zeitungsseiten gefüllt und Massendemonstrationen ausgelöst. Bis
auf sieben Menschen, davon fünf
Deutsche, waren Anfang Septem-
halb von Genua verhaftet worden. Verhaftet wurden sie, als sie
das dritte Mal an dem Tag in eine
Straßenkontrolle geraten waren,
die ersten beiden Kontrollen hatten sie unbeanstandet verlassen
können (siehe auch [email protected]). Wieviel Personen
trotz Haftentlassung ein Prozess
erwartet, ist noch unklar. Es ist zu
befürchten, dass schließlich an
Einzelnen ein Exempel statuiert
werden wird, einer der Deutschen beispielsweise wurde aus
dem Gefängnis in ein italienisches Hausarrest entlassen, ihm
droht auf jeden
Fall ein Prozess.
Willkür, systematische Misshandlungen bis
zur Folter auf
den Polizeiwachen und eine
bislang in Westeuropa in diesem
Ausmaß unbekannte Brutalität
gegenüber DemonstrantInnen
mit EU-Pässen Foto: Maria Wöste solche Behandlung durch Siber alle Inhaftierten (z.B. die ge- cherheits- und Grenzpolizeisamte no-border Volx-Theater- Kräfte kennen wir sonst nur geKarawane) freigelassen, denn die genüber Flüchtlingen, vor allem
Anklagekonstruktion ließ sich an- bei Abschiebungen. Ebenso wie
gesichts des breiten öffentlichen betroffene Flüchtlinge sind wohl
Drucks nicht aufrechterhalten - auch ein Teil der in Genua VerTheaterrequisiten, Campingaus- letzten und Verhafteten durch ihrüstung, dunkle oder graue Klei- re Erlebnisse traumatisiert, so
dungsstücke erschienen im Licht Freunde und UnterstützerInnen
medialer Öffentlichkeit als das, (siehe auch www.indymedia.de).
was sie waren: allzu dürftige Indi- Nicht wenige AktivistInnen hazien einer Anklagekonstruktion, ben laut NGO-VetreterInnen in
die um jeden Preis nach Schuldi- Genua und den anderen GipfelAustragungs-Orten ihre “demogen sucht.
kratische Unschuld” verloren:
Zehn der Deutschen z.B. waren “Ihren Glauben an die Möglichmit zwei Campingbussen unter- keit, in demokratischen Ländern
wegs und zwei Tage nach den mit demokratischen Mitteln zu
Protesten 20 Kilometer außer- kämpfen”, so Riccardo Petrella in
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 80/81, Oktober 2001
Rassismus - Antirassismus
der Le Monde diplomatique
(10.8. 01). In ersten Versuchen einer politischen Einschätzung ist
von “regelrecht militärischen Dimensionen” bei den Auseinandersetzungen im Rahmen der sogenannten Anti-GlobalisierungsProteste die Rede, sowohl im
Straßenkampf als auch in Form
eines “Informationskrieges” im
Vorfeld. Nicht nur der Einsatz
von Räumpanzern und scharfer
Munition, mit der auch geschossen wurde, sind bislang im Kontext sozialer Bewegungen in
Westeuropa in dieser Dimension
unübliche Mittel der Auseinandersetzung. Ein Toter, mehrere
lebensgefährlich und
hunderte Verletzte war
die bittere Bilanz auf
Seiten der Demonstrierenden.
gekommen waren - die Atemmaske wegen der erwarteten Tränengas-Einsätze am Gürtel.
Neben der Zerschlagung einer
transnationalen Widerstands-Bewegung ging es in Genua auch
um die Oppositionsbewegung im
eigenen Land. Anders als in
Deutschland sind in Italien die
Auswirkungen eines ungehemmten Kapitalismus akutes Thema:
Berlusconis politischen Pläne zur
Umstrukturierung der italienischen Gesellschaft in einem
Land, das die globale Weltordnung in seinem ökonomischen
Gefälle zwischen Nord und Süd
Was ist es, was hier so
hart be- und umkämpft wird? Offensichtlich ist etwas in
Bewegung geraten,
was in Ausmaß, gesellschaftlicher Breite und
Dynamik die Herrschenden tief beunruhigt. In Genua waren
am Samstag 200 000
bis 300 000 Menschen
auf der Straße, eine
Größenordnung, die
die bisherigen Proteste gegen den neoliberalen
Kapitalismus
weit übersteigt. An jedem der drei Aktionstage in Genua kamen
ca. ein Drittel mehr
Menschen, als selbst
die VeranstalterInnen,
das Genua Social Forum (GSF), erwartet Foto: Maria Wöste
hatten. In italienischen
Zeitungen ist von einer “neuen als Mikrokosmos widerspiegelt,
Generation” die Rede. “Neue sind paradigmatisch für den gloGeneration” kann jedoch nicht balisierten Kapitalismus. Die gedeckungsgleich sein mit “jung”, planten Umbauprozesse im Bildenn vor allem überraschend für dungs- und Gesundheitssektor,
niedersächsische Genua-Fahre- Angriffe auf die Pensionen und
rInnen war die gemischte Alters- die anstehenden Tarif-Auseinanzusammensetzung, die Menge dersetzungen in der Metallinduund die Wut der Menschen, die strie werden zu einem “heißen
am Samstag trotz der Todes- Herbst” in Italien führen, so ist es
schüsse am Vortag nach Genua von verschiedenen Seiten an-
gekündigt. Der Plan der Berlusconi-Regierung sieht vor, Schulen
wie Betriebe zu organisieren und
Krankenhäuser zu privatisieren Gesundheit und Bildung als “Ware” ist die neue Linie.
MigrantInnen- und Flüchtlingspolitik spielt in diesen Auseinandersetzungen eine zentrale Rolle.
Das wurde aber in deutschen Medien systematisch ignoriert und
ging auch in den Köpfen der Interessierten nach der Gewaltorgie
in Genua völlig unter - mit Ausnahme der Interessen des deutschen Innenministers, die Ereignisse in Genua für den Aufbau einer
europäischen
(Grenz-)Polizei
zu
nutzen. Das Besondere an den Gipfelprotesten in Genua aber
war, dass hier das erste Mal offensiv die
Kämpfe und Forderungen der MigrantInnen mit denen der
Kapitalismus-KritikerInnen
verbunden
wurden (vgl. FLÜCHLINGSRAT 75/76, S.
74). Nicht zufällig war
deshalb als Auftakt
der drei Protesttage
der Donnerstag (19.
Juli) zum “Tag der MigrantInnen” erklärt
worden. Siebzigtausend Menschen kamen und forderten in
einem überwältigenden Demonstrationszug, der von Illegalisierten angeführt wurde, Bewegungsfreiheit
und gleiche soziale
Rechte. Nicht nur die
Größe der Demo war
unerwartet, auch die
mit deutschen Latsch-Demos
nicht vergleichbare Lautstärke,
Dynamik und gesellschaftliche
Breite war euphorisierend.
Christliche Gruppen, Basisgewerkschaften, sogenannte Globalisierungs-GegnerInnen, AnarchistInnen und Autonome waren
zusammen auf der Straße, es kam
zu Solidarisierungsszenen mit
den wenigen verbliebenen An71
Rassismus - Antirassismus
wohnerInnen, als der Demozug
durch die gespenstisch einwohnerleere Stadt zog. “Siamo tutti
clandestini”, wir sind alle Illegale,
war eine vielbeschworene Parole.
Der Charakter dieses Tages war
ein völlig anderer als an den beiden folgenden, an denen sich eine
ganz andere Dynamik der Auseinandersetzungen Bahn brach.
Es läßt sich schwer vermitteln,
welche Mischung aus Aufbruchstimmung und Verstörung die widersprüchlichen Erfahrungen in
Genua bei Genua-FahrerInnen
aus Niedersachsen hinterließen.
Anders als von uns erwartet war
die Demonstration am Tag der
MigrantInnen jedoch nicht bestimmt von MigrantInnen-Selbstorganisation, die Repression im
Vorfeld hatte die Zahl der illegalisierten TeilnehmerInnen stark
beschränkt. Wie nicht nur die
weiteren Ereignisse zeigten, war
Genua kein gutes Pflaster für Illegale in diesen Tagen. Die Behörden hatten das G8-Treffen im
Vorfeld genutzt, um die Stadt von
Illegalisierten und anderen unregistrierten BewohnerInnen zu
säubern. Die verfallene Altstadt
Genuas, die anders als in anderen
europäischen Städten überwiegend von MigrantInnen und Armen bewohnt wird, war systematisch durchkämmt worden. Ein
detailliertes AnwohnerInnenverzeichnis diente zur Einlasskontrolle in diesen Teil der Stadt, der
während des G8-Gipfels zur ver-
botenen “Roten Zone” wurde.
Damit wurde in Genua auch ein
Exempel statuiert für den künftigen Umgang mit selbstbestimmter Migration - unter Kontrolle
bringen, ist das erklärte Ziel: kontrollierte Migration nach kapitalistischer Verwertungslogik.
Woche nach den Protesten von
Genua präsentierte das Italienische Parlament ein Gesetz, das illegale Einreise unter Strafe stellt,
sanktioniert mit Freiheitsstrafen
bis zu vier Jahren. Und der Aufbau weiterer Abschiebelager ist
geplant.
Eines der wohl wichtigsten politischen Ereignisse der letzten zehn
Jahre sei die Demonstration der
MigrantInnen in Genua gewesen,
analysieren vier Autoren am 7.
August in der italienischen Tageszeitung Il Manifesto die Ereignisse in Genua. Mit den Illegalisierten sei der Kern der Prekarisierung von Lebensbedingungen
und Arbeitsverhältnissen in den
Mittelpunkt gestellt worden. Illegalisierte unterliegen superprekären Arbeitsbedingungen, ihnen komme damit eine Vorreiterrolle bei den von der BerlusconiRegierung geplanten gesellschaftlichen Umwälzungen zu. Die DemonstrantInnen hatten die Lebensbedingungen der Illegalisierten auf die eigene Situation bezogen und sich deren Forderungen
zu eigen gemacht. Dass dieses im
Kontext der Proteste gegen den
globalisierten Kapitalismus erkannt und thematisiert und auch
noch mit so großer Beteiligung
aufgegriffen wurde, sei ein politischer Durchbruch, so Il Manifesto. Die Herrschenden, Berlusconi/Lega Nord/ Forza Italia, stellen die Frage der Migration ebenfalls in den Mittelpunkt. Eine
“Siamo tutti Clandestini” - das
klingt nach den Ereignissen von
Genua in zweifacher Hinsicht wie
ein Menetekel: Il-legal gleich
rechtlos gegenüber staatlicher Repression wird behandelt, wer sich
gegen die herrschende Logik des
globalisierten Kapitalismus stellt.
Und: Il-legal gleich entrechtet
werden zukünftig auch andere
Bevölkerungsgruppen. Illegalisierte und Flüchtlinge waren und
sind das Experimentierfeld für eine Politik der Entrechtung und
einen Umbau der Gesellschaft
nach sozialdarwinistischer Verwertungslogik. Wie die jüngste
Populismus-Offensive
in
Deutschland gegen EmpfängerInnen von öffentlichen Leistungen und das neue Migrationskonzept zeigen, sind das keine speziell “italienischen Verhältnisse”.
Weitere Informationen:
http://de.indymedia.org
http://free.freespeech.org
http://www.aktionsinfo.de
http://www.gbolzaneto.de
http://www.lorraine.ch/genua/
http://www.no-racism.net
http://www.savanne.ch
http://www.linkeseite.de
Im-und Expressionen vom Aktionszelten
Annli von Alvensleben
A
ntirassistisches Grenzcamp
2001 bei Kelsterbach am
Frankfurter Flughafen: Im Laufe
der Woche wächst die Zahl der
GrenzcamperInnen auf über
1000 Menschen, die Zelte auf der
Wiese zwischen Bundesstraße
und Main stehen dicht an dicht,
auf der Infowand drängen sich
konkurrierende Programmpunkte - Aktionen, Besetzungen, Demos, Diskussionen, Plena, Arbeitskreise... Die inhaltlichen
Schwerpunkte liegen, abgesehen
72
von Abschiebungen, bei Genua,
Residenzpflicht, ZwangsarbeiterInnenentschädigung, Einwanderungsdebatte, staatlicher Überwachung, rassistischen Kontrollen,
campinternen Strukturen und
Umgang mit Sexismus.
Logistische Vorbereitungen zur
Umgehung von polizeilichen Versammlungs- und Demo-Verhinderungsplänen brauchen ebenfalls ihre Zeit. Auch wenn es die
Polizeiführung, wohl nicht zu-
letzt unter dem Eindruck der
Prügelorgien von Genua, offensichtlich nicht auf Eskalation abgesehen hat, muss häufig umdisponiert werden, um an der unglaublichen Menge von Einsatzkräften aus mehreren Bundesländern vorbei zu diversen Zielen zu
gelangen.
Die Zeltenden kommen aus unterschiedlichen Zusammenhängen aus dem gesamten Bundesgebiet und vereinzelt aus dem Aus-
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 80/81, Oktober 2001
Rassismus - Antirassismus
land. Von Seiten der Flüchtlinge
gibt es Kritik an der Terminierung des Camps, der Zeitraum
überschneidet sich mit der Leistungsausgabe in den Sozialämtern. Die meisten campwilligen
Flüchtlinge können es sich daher
nicht erlauben, zu kommen. Einige sind trotzdem da, hauptsächlich von „the Voice“ und der
Brandenburgischen Flüchtlingsinitiative. Aus einem Wohnheim in
Schwalbach kommen manchmal
für ein paar Stunden größere
Gruppen von Flüchtlingen.
Fürs leibliche Wohl sorgen eine
hervorragende und rund um die
Uhr aktive Volxküche, ein Zeltcafé, ein findiger italienischer Eisverkäufer, der zum Leidwesen einiger KundInnen kein Statement
zu Berlusconi abgeben will, und
der nahe See zur angesichts der
Dauerhitze dringend notwendigen Abkühlung.
Auch wenn das Gerücht kursiert,
es seien „hundert gewaltbereite
Randalierer“ unter uns, die Kelsterbacher Schaufenster einschmeißen und Flughafenangestellte verprügeln wollten, ist die
Bevölkerung vor Ort im Vergleich zu der der VorjahresCamps an deutschen Ostgrenzen
sehr viel empfänglicher für die
Anliegen des Camps. Nur vereinzelt ruft es aus vorbeifahrenden
Autos „Haut endlich ab“ oder
„Zeckenlager“.
Samstag morgen, auf dem Weg
zum See, werde ich von einem
verstörten Kelsterbacher abgefangen, der wissen will, was wir
denn am Flughafen vorhaben.
Seine Frau arbeitet dort und ist
aufgefordert worden, in Zivil zu
erscheinen und sich am besten
zur Arbeit fahren zu lassen, da sie
sonst von den Demonstranten
angegriffen und bespuckt würde.
Dass wir was gegen den Flughafen machen wollten, sei ja gut.
Ach so, wegen der Asylanten, jaja. Übergangslos hält er einen
ausführlichen Vortrag über die
angeblich unzähligen Kakerlaken
am Flughafen. Schließlich klärt
sich der Gedankensprung auf:
„Die sitzen in den Kulturbeuteln
der Asylanten, und wenn meine
Frau die kontrolliert, springen sie
raus. Deshalb ist das auch ungünstig mit der Privatkleidung, man
will die Kakerlaken ja nicht auch
noch im Haus haben.“
Ein paar Stunden später, zu zweit
beim Campzeitung verteilen in
Kelsterbach, treffen wir einen
Mann, der sich im Laufe des
„meine Meinung dazu wird Ihnen
gar nicht gefallen“ Gesprächs als
BGS - Beamter zu erkennen gibt.
Unsere Ideologie sei ja eigentlich
ganz richtig. (?!) Aaaaber. Wir
sollten doch mal eine Woche
beim BGS verbringen, da würden
wir unsere Meinung schon ändern. Vier Kollegen braucht man,
um einen Afrikaner abzuschieben, der die Beamten beleidigt
und dann auch noch beißt und
spuckt und um sich tritt. Was
man sich so bieten lassen muss
beim BGS, das würden wir ja
nicht ahnen. Selbstverständlich
sind wir voll des Mitgefühls für
misshandelte BGSler und raten
zur Abschiebungsverweigerung.
(„You are not from Ghana, you
are from Kelsterbach“) und er
konnte bzw. musste gehen („Sie
sind ja ein freier Mann“).
Am Sonntag soll Demo im Terminal sein. Nicht genehmigt seitens der Fraport, angeblich aus
Angst vor einer Behinderung des
Flugverkehrs. Die Behinderung
übernimmt die Fraport dann
selbst, ohne gültiges Ticket
kommt niemand mehr in den
Flughafen. AbholerInnen, BegleiterInnen und Last-Minute-AnwärterInnen müssen draußen
warten. Gerade ankommende
Fluggäste brauchen stundenlang,
um den Flughafen zu verlassen.
„Da ist alles voll mit Polizei, aber
die haben keine Ahnung, wo sie
die Leute hinschicken sollen!“.
Die „radical cheerleaders“ in Pink
und Silber werden am Flughafen
gar nicht erst aus dem S-Bahnhof
gelassen, die Aufgänge sind überzeugend abgeriegelt, Transparente zum Schutz vor Kameras werden unter Schlagstockeinsatz entfernt. Überirdisch sind währenddessen die Zugänge zum Termi-
Foto: AntiRaGö
Beim Plenum am Samstagabend
berichtet ein Mann mit deutschem Pass und ghanaischer Mutter von dem Versuch, sich für ein
paar Tage in das Lager im Flughafen einzuschleichen. Er hatte
am Freitag einen Asylantrag gestellt und behauptet, aus Ghana
zu kommen. Seine Glaubwürdigkeit scheiterte zunächst am Übersetzer, da er keinen der lokalen
Dialekte sprechen konnte. Daraufhin wurde unterstellt, er komme aus Kairo, obwohl er kein
Wort arabisch spricht. Nach einer
höchst unkomfortablen Nacht
flog seine Identität dann auf
nal von innen von der Polizei,
von außen von DemonstrantInnen blockiert. Die Demo versucht, sich bei Laune zu halten.
Es gibt klassische Konzerte, als
Römer verkleidete CamperInnen
veranstalten einen Sklavenhandel,
und schließlich stürmt nach zwei
Stunden doch noch ein lauter und
tanzender Pink-and-Silver-Block
aus der S-Bahn ans Tageslicht.
Ansonsten lange Rückstaus auf
der Straße und eine Menge völlig
entnervter Fluggäste. Die Polizei
erklärt die rigiden Kontrollen mit
„betriebsinternen Gründen“.
73
Rassismus - Antirassismus
Nach langen Verhandlungen darf
dann doch noch eine Kundgebung in Terminal 3 stattfinden.
Die Stimmung ist ausgezeichnet,
auch wenn sich das Publikum auf
- immerhin zahlreiche - Uniformierte beschränkt. Der Fraport
wird angekündigt, wir würden jeden Tag wiederkommen, wenn
die Demo am Samstag nicht genehmigt wird. Das Ultimatum
läuft bis Donnerstag.
Obwohl sich dann unter der Woche nur kleinere Gruppen zum
Flugblätter- und Zeitungsverteilen zum Flughafen aufmachen,
bleiben die rigiden Abschottungsmaßnahmen gegen alle
Nicht-Flugticket-InhaberInnen
bestehen. Am Freitag zur Abwechslung mal nicht aus „betriebsinternen Gründen“, sondern „wegen einer Firmenveranstaltung“.
Am Mittwoch ist Innenstadtaktionstag unter dem Motto „Attack
Kontrollraum!“. Verschiedene
kleinere und größere Gruppen
tummeln sich in Frankfurt, bela-
der Mittagshitze werden wir an
der Konstablerwache doch noch
eingekesselt, angenehmerweise
unter großen Bäumen. Rufen,
hüpfen, puscheln und singen lässt es sich aber auch im Polizeikessel. Mit der Zeit wandelt sich die
Mini-Demo zur Party, von Umstehenden werden zahlreiche Flaschen Wasser und Eis gereicht,
woraufhin
die
skandierten
Sprüche spontan das Thema
wechseln: „Wir haben Freunde,
und ihr nicht!“ (dabei wird
„Freunde“ wahlweise gegen
„Schatten“, „Spaß“, „Wasser“
oder „Puschel“ ausgetauscht).
Unter der Auflage, zurück nach
Kelsterbach zu fahren, werden
wir irgendwann in die S-Bahn
entlassen. Dort ist rasches Umziehen und bei der nächsten Station Aussteigen angesagt, schließlich will man nicht nach Kelsterbach, sondern zur Aktion im
Hauptbahnhof und danach zum
Konzert.
Auch an anderen Tagen wird die
Polizei in der City auf Trab gehalten, z.B. durch den minutiös
Foto: AntiRaGö
gern Teile des Hauptbahnhofs,
kontrollieren Deutsche, tauschen
U-bahn-Plakate aus oder verteilen Informationen zum jüngst
entdeckten „Staatsbürger-Gen“.
Ca. 80 Leute in „Pink-and-Silver“
ziehen mit alten und neuen
Sprüchen, Liedern, Choreographien, Cheerleader-Puscheln und
Flugblättern durch zwei Kaufhäuser und durch die Zeil. Der
Polizei wird das zu bunt, sie versucht es mit halbherzigen Absperrungen, die ohne große
Mühe und unter Beifall von PassantInnen einfach überrannt werden. Nach langem Dauerlauf in
74
geplanten Sturm auf die Börse
anlässlich der ZwangsarbeiterInnen-Debatte oder Genua-bezogene Besetzungen der SPD-Zentrale und des italienischen Fremdenverkehrsamts. Bei letzterem
Event kommen wir zufällig vorbei, auf dem Rückweg von der
Residenzpflicht-Demo. Ein Ladenbesitzer auf der anderen
Straßenseite verzweifelt am deutschen Staatspazifismus. „Das die
das hier dürfen! In Marokko
wären die schon längst niedergeschossen worden, oder in der
Türkei!“
Zur Abschlussdemo am Samstag
scheint sich der Flughafen auf einen kriegerischen Angriff vorbereitet zu haben. Zusätzlich zum
inzwischen gewohnten „grünen
Gürtel“ um die Terminals ist der
Eingang zu Tor 3, hinter dem
sich das Internierungslager
(Camp-Jargon) für Asylsuchende
befindet, von Nato-Draht, Wasserwerfern und einem riesigen
Aufgebot an teilweise vermummter Polizei und BGS abgeriegelt.
Zwei Stunden lang fahren keine
S-Bahnen mehr zum Flughafen,
der ICE platzt aus allen Nähten.
2-3000 Leute kommen auf diversen Umwegen zum Demonstrieren, Polizeiketten versperren
Pink-and-Silver wieder mal vorübergehend den Weg, diesmal unter Schlagstock- und Tränengaseinsatz. Nach Verhandlungen
kommt die Demo mit einiger
Verspätung zustande. Leider gelingt es nicht, eine Delegation zu
den eingesperrten Flüchtlingen
durchzusetzen. Nach 8 Tagen
Daueraktion lässt die Energie
nach.
Nichtsdestotrotz hat auch die
Abschlussdemo, wie fast alle anderen Aktionen, ein breites und
weitgehend sympathisierendes
Medienecho weit über Frankfurt
hinaus gefunden. Das Teil-Ziel,
die Fraport unter Druck zu setzen sowie Öffentlichkeit zu Abschiebepraxis und Rassismus herzustellen, wurde zweifellos erreicht. Der hessische Innenminister räumt im Nachhinein ein, die
Polizei sei von der „beeindruckenden Logistik“ der GrenzcamperInnen überfordert gewesen, natürlich nicht, ohne im gleichen Atemzug alle Protestformen
als Krawalle und Randale zu bezeichnen, die über genehmigte
Latschdemos hinausgingen.
Auch in anderen Ländern fanden
diesen Sommer Grenzcamps
statt: in Tarifa (Spanien), Polen,
Slowenien, Italien und Mexiko.
Informationen hierzu gibt es im
Internet: www.noborder.de
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 80/81, Oktober 2001
Rassismus - Antirassismus
Residenzpflichtprozess in Westerstede
320
DM Geldstrafe, dieses
Urteil traf das Amtsgericht in einem Verfahren gegen
den Asylbewerber Richard N.
Der in einer Flüchtlingsunterkunft in Edewecht, Landkreis
Ammerland, lebende Asylbewerber hatte gegen die Residenzpflicht verstossen, weil er sich ohne
Genehmigung in Oldenburg aufgehalten hat. Nach dem Asylverfahrensgesetz ist es AsylbewerberInnen untersagt ihre Landkreisgrenze bzw. Stadtgrenze zu überschreiten. Wollen sie es dennoch
tun, müssen sie vorher eine Genehmigung einholen.
Heimatland Kamerun einsetzen
zu können. Jedesmal wenn er aufgrund seiner politischen Aktivitäten den Landkreis verlassen will,
muß er vorher eine Genehmigung einholen. Allerdings gibt es
keinen Anspruch darauf, diese
wirklich zu erhalten. Gerade im
Zusammenhang mit den Protestaktionen der Karawane in
Berlin hat sich wieder gezeigt,
daß Ausländerbehörden politische Aktivitäten von Flüchtlingen
oftmals eher be- bzw. verhindern:
Viele engagierte Flüchtlinge erhielten keine Erlaubnis nach Berlin zu reisen.
In dem Prozeß vor dem Amtsgericht machte Richard N. nun
deutlich, daß er auch zukünftig
nicht ständig solche Genehmigungen einholen wird, wenn er
den ihm zugewiesenen Landkreis
verlassen will. Mit dieser Aktion
zivilen Ungehorsams schließt
Richard N. sich der bundesweiten
Kampagne der Karawane für die
Rechte der Flüchtlinge und MigrantInnen in Deutschland an
(siehe FLÜCHTLINGSRAT 73).
Mit einer Demonstration und anderen Protestaktionen in Berlin
hat die Karawane vom 17.-19.
Mai ihre Kampagne einer breiteren Öffentlichkeit vorgestellt und
weitere Aktionen zivilen Ungehorsams angekündigt.
Aber nicht nur politische Aktivitäten werden durch die Residenzpflicht erschwert, auch der
ganz normale Alltag. Richard N.
wurde verurteilt, weil er in Oldenburg das Flüchtlingscafé be-
sucht hatte. Dieser wöchentliche
Treffpunkt von Flüchtlingen
dient dazu, die jeweiligen Probleme und Schwierigkeiten auszutauschen und gemeinsame Aktivitäten zu planen. Er wollte bei
diesem Besuch noch einen
Flüchtling zur Ausländerbehörde
begleiten, um dort mit seinen
Deutschkenntnissen beim Ausfüllen eines Antragsformulars
auszuhelfen.
Zur Unterstützung von Richard
in seinem Verfahren hat sich eine
Unterstützergruppe gebildet. Für
Mitarbeit und dringend benötigte
Spenden:
Initiative für offene Grenzen
Tel.: 04 41 – 24 81 75
Konto-Nr.: 11 22 70 55 01 Marc
Gyampoh, Stichwort “Richard”
OLB; BLZ: 280 200 50
Als Vorsitzender der SDF (Social
Demokratic Front ) in Niedersachsen muß Richard N. viel reisen, um sich hier im Exil in
Deutschland wirkungsvoll für politische Veränderungen in seinem
“Rassimus hat viele Gesichter”,
so heißt die Kampagne von Pro
Asyl zum diesjährigen Tag des
Flüchtlings am 28. September.
Thema der Kampagne ist die soziale Ausgrenzung von Flüchtlingen am Beispiel von Residenzpflicht und Sachleistungsprinzip. Plakate, Flyer, Postkarten, Materialhefte sind bei Pro
Asyl, Postfach 16 06 24 in 60069
Frankfurt/M., Tel.: 069 – 23 06
88 oder im Internet zu bestellen.
75
Rassismus - Antirassismus
Erklärung zur rassistischen
Ermordung unserer Schwester
THE BLACK COMMUNITY IN GERMANY
Am 14. Juli ist die 26-jährige Senegalesin N‘deye Mareame FARR
in Aschaffenburg von einem Polizisten erschossen worden. Hintergrund ist ein Streit zwischen ihr
und ihrem Ehemann, einem
weißen Deutschen, der in der
Nacht gegen 2.30 Uhr die Polizei
gerufen hat, um seine Frau aus der
Wohnung werfen zu lassen. Die
Frau war in die Wohnung ihres
Ehemannes gekommen, weil sie
den zweijährigen Sohn abholen
wollte, der einige Tage zuvor von
dem Mann entführt wurde. Zuvor
hatte sie die Polizei vergeblich um
Hilfe bei der Abholung ihres Kindes gebeten. Aber als der Mann
die Polizei anrief, waren sofort 2
Beamte zur Stelle. Als sie auftauchten und sofort Partei für den
Ehemann ergriffen hatten, kam es
zu einer Auseinandersetzung zwischen den zwei Polizeibeamten und
der 26-jährigen Afrikanerin.
Laut Polizeibericht ergriff die
Frau ein Küchenmesser und stach
auf einen Polizisten ein. Auf eine
Aufforderung des zweiten Polizisten , das Messer fallen zu lassen
soll sie nicht reagiert haben. Daraufhin zog dieser seine Dienstwaffe und gab einen Schuß auf die
Frau ab, die wenig später im Klinikum Aschaffenburg verstarb. Im
Folgendem dokumentieren wir die
Erklärung der “Black Community
in Deutschland” zu diesem Vorfall. (Red.)
W
ir fordern Wahrheit, Gerechtigkeit, Entschädigung und ein Ende des staatlich institutionalisierten Rassismus in Deutschland
76
Am 14. Juli 2001 tötete ein deutscher Polizist in Aschaffenburg
unsere Schwester Ndeye Mareame SARR. Die Motivation für
dieses Verbrechen scheint eine
deutlich rassistische gewesen zu
sein. Tatsächlich können wir
nicht verstehen, wie ein Polizist,
der dazu ausgebildet ist, jegliche
Situation mit Ruhe und Gelassenheit zu bewältigen, seine Waffe
gegen eine Mutter einsetzten
musste, die nichts anderes wollte,
als zu leben und die Zukunft ihrer Kinder zu sichern. Wir sind
verwundert, dass die Polizeidirektion in Aschaffenburg von “Nothilfe” spricht, wo doch die Polizisten zu zweit waren. Wir können nicht glauben, dass die beiden keinen anderen Weg sahen,
Schwester Mareame zu überwältigen, als auf sie zu schießen. Dieses Verbrechen ist um so unverständlicher und unakzeptabler, als
der Polizist auf viele andere Körperstellen hätte schießen können,
um Mareame “unschädlich” zu
machen, ohne sie auf so unnötige, kaltblütige und feige Weise zu
töten.
Für uns steht fest, dass Mareame
getötet wurde, weil sie Schwarz
ist und weil Schwarzsein für viele
Menschen in diesem Land, besonders für Beamten und Polizisten, ein unverzeihliches Verbrechen ist. Deshalb handelt es sich
hierbei um den klaren Fall eines
groben rassistischen Verbrechens, das als solches gnadenlos
verurteilt und um so strenger geahndet werden muss, als der Täter ein Polizeibeamter ist. Des-
halb verurteilen wir sehr scharf
das verhalten des Staatsanwaltschaft Aschaffenburg, der sich
der Interpretation der Polizei
anschließen will, die Ermittlungen einstellen und keine Strafverfahren gegen die Polizei-Mörder
aufnehmen.
Wir verurteilen ebenso die Verschwörung des Schweigens um
den Mord unserer Schwester und
Freundin Mareame, die von den
deutschen Medien und PolitikerInnen betrieben wird. Wann immer einE schwarzeR oder ausländische Mensch hier etwas falsch
macht, findet diese Information
in ganz Deutschland Resonanz,
und die Medien und PolitikerInnen trommeln und singen es in
die Welt hinaus, um AusländerInnen und besonders AfrikanerInnen zu kriminalisieren und das
“gute deutsche Volk” gegen uns
aufzubringen. Doch wenn wir die
Opfer von Brutalität und Gewalt
durch deutsche BürgerInnen, Beamten und Polizei sind, bewahren
alle Stillschweigen. Wenn wir in
den deutschen Abschiebeknäste
sterben oder bei der Abschiebung
von der Polizei getötet werden,
stellen sich plötzlich alle blind
und taub. Wir verurteilen diese
Haltung vehement, da sie eine
Komplizenschaft mit den Tätern
rassistischer Verbrechen offenbart und diese ermutigt, mit
ihrem schmutzigen Geschäft
fortzufahren.
Doch all dies wird uns weder einschüchtern noch entmutigen, also:
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 80/81, Oktober 2001
Rassismus - Antirassismus
1. fordern wir, dass der Polizeibeamte, der unsere Schwester
und Freundin Mareame getötet
hat, und sein Komplize sofort
aus dem Dienst entlassen werden und vor Gericht zur Rechenschaft gezogen werden;
2. halten wir die Polizei, die Stadtverwaltung Aschaffenburg sowie das Innenministerium des
Freistaates Bayern politisch
verantwortlich für das rassistische Verbrechen, dass durch einen ihrer Beamten begangen
wurde;
3. fordern wir den deutschen
Staat und die Polizei dazu auf,
sich bei den Familienmitgliedern von Ndeye Mareame offiziell zu entschuldigen und ihnen für den Verlust, den entstandenen Schaden und die
Traumatisierung der Verwandten eine Entschädigung auszuzahlen. Dies betreffend müssen die Kosten der Überführung des Leichnams in den
Senegal und alle Kosten für die
Trauerfeierlichkeiten im Senegal und in Deutschland von der
Bundesrepublik Deutschland
getragen werden;
4. außerdem fordern wir eine umfassende und radikale Aufarbeitung und vollständige Been-
digung von rassistischem Gedankengut und Verhaltensweisen, die in der deutschen Gesellschaft, bei der Polizei, in der
Verwaltung und in anderen
staatlichen Strukturen vorherrschen. Denn das ist der einzige
Weg, allen hier lebenden Menschen, egal welcher Herkunft
und Hautfarbe, in menschlicher Würde, in Achtung ihrer
Freiheit, mit den gleichen
Rechten und Pflichten und ohne die Gefahr, Opfer von rassistischer Diskriminierung und
Gewalt zu werden, ein gleichberechtigtes Leben in Deutschland zu ermöglichen.
Schließlich möchten wir der Familie Mareames unser Mitgefühl
ausdrücken und ihr versichern,
dass wir sie in dieser schmerzlichen Situation vollkommen unterstützen. Gemeinsam werden
wir dafür kämpfen, dass die
Wahrheit bekannt gemacht, Gerechtigkeit erreicht und Entschädigung gezahlt wird.
Dieser Kampf wird so lange weitergehen, bis die rassistische Politik, die in Deutschland gegen
AusländerInnen und besonders
gegen Schwarze betrieben wird
und diese Art von Verbrechen
begünstigt, abgeschafft wird.
Der Kampf geht weiter. Komme,
was wolle, wir werden siegen.
UnterzeichnerInnen:
Black Students’ OrganisationBSO e.V., SOS Struggles of Students e.V.-International Hauptsitz, African Refugees Association-ARA, Initiative Schwarze
Deutsche-ISD-Bund e.V., ADEFRA e.V.- Schwarze Frauen in
Deutschland SOKONI e.V.,
Amicale des Sénégalais à Hambourg-Verein der Senegalese in
Hamburg e.V. Senegalesische
Community in Deutschland;
Hambastegie-International Föderation Iranischer FlüchtlingeIFIR Kamerunische StudentInnenparlamant in Exil, SOS
Struggles of Students-Deutsche
Sektion, SOS Struggles of Students-Österreich, SOS Struggles
of Students-Portugal.
Liebe FreundInnen und MitstreiterInnen, lasst uns bitte wissen,
ob ihr diese Erklärung über die
rassistische Ermordung von Mareame.
Dafür schreibt bitte ein kurze
Mail an eine der folgende Adressen: [email protected],
[email protected] oder
[email protected]
Rassimus in den Medien
Beschwerdemöglichkeit bei der NLM
G r a z i e l l a B o a r o -TT i t z e
Graziella Boaro-Titze ist Italienerin und lebt seit mehr als 25
Jahren in Deutschland. Sie gehört
als Mitglied dem Flüchtlingsrat
Niedersachsen an und vertritt ihn
seit Januar 2000 in der Niedersächsischen Landesmedienanstalt
für privaten Rundfunk (NLM).
Im folgenden Bericht beschreibt sie
die Funktion der NLM. (Red.)
D
ie Niedersächsiche Landesmedienanstalt für privaten
Rundfunk ist eine Anstalt des öffentlichen Rechts und hat ihre
Geschäftsführung in Hannover.
Ein Organ der NLM ist die Versammlung, die sich aus mindestens 41 ständigen VertreterInnen verschiedener Organisationen Niedersachsens, darunter
auch der Nds. Flüchtlingsrat, sowie der Landtagsparteien zusammensetzt.
Die Versammlung hat weitreichende Kompetenzen und entscheidet u.a. über die Erlaubnis
für die Veranstaltung nichtkommerziellen lokalen Rundfunks
und Zulassung von Trägerschaften eines Offenen Kanals, auch
über die Beanstandung sowie Untersagung der Weiterverbreitung
von
Rund-funkprogrammen.
Desgleichen überprüft die NLM
die Ausgewogenheit der angebotenen Rund-funkprogramme auf
Landes- und auf Bundesebene
und hat hierüber auch Einfluss
auf erforderliche Regelungen zur
Verhinderung von multimedialer
Meinungsmacht.
Zur Durchsetzung hat die NLM
die behördliche Befugnis zur
Androhung eines Bußgeldes und
kann festgestellte Verstöße nach
77
Rassismus - Antirassismus
dem Ordnungswidrigkeitenrecht
mit einer Geldbuße bis zu
500.000 DM ahnden.
Was wohl die wenigsten wissen:
Jede/r BewohnerIn dieses Landes kann sich mit einer Beschwerde an die NLM wenden,
sofern sich die Beschwerde auf
eine Sendung im Radio oder
Fernsehen bezieht. Dabei ist es
unbedeutend, ob sich die Beschwerde beispielsweise auf den
Inhalt oder auf die Sendezeit bezieht. Überregional ist die NLM
unmittelbar zuständig für den
Fernsehsender RTL, d.h. Beschwerden über den Sender werden aus dem gesamten Bundesgebiet direkt abgearbeitet. Be-
schwerden über andere Sender
leitet die NLM an die Medienanstalten der anderen Bundesländer
entsprechend der festgelegten
Zuständigkeit weiter. Insofern
verfügt die NLM über eine weitergehende Kompetenz als beispielsweise der Deutsche Presserat, denn die Landesmedienanstalten sind auch sanktionsberechtigt.
Beschwerden können direkt gerichtet werden an: Niedersächsische Landesmedienanstalt für
den privaten Rundfunk, Seelhorststraße 18, 30175 Hannover,
Tel.: 0511/28 477-0, Fax: -/
28477-36, e-mail: [email protected], Internet: www.nlm.de
Die Beteiligung von MigrantInnen in Gremien wie beispielsweise der NLM halte ich für überaus
wichtig und unverzichtbar. MigrantInnen müssen im Alltag gerade auch in Bereichen wahrgenommen werden und zu Wort
kommen, die an sich und bislang
zum Größtenteil ausschließlich
von VertreterInnen der Mehrheitsgesellschaft besetzt sind. Dabei spielt es im Grunde keine
Rolle, welchen Aufenthaltsstatus
der/die MigrantIn besitzt. Wesentlich ist lediglich, dass er/sie
der Verhandlung folgen kann und
dass er/sie an dieser Aufgabe interessiert ist.
Kriminalisierung von Flüchtlingsberatung
M
it der Keule des Rechtsberatungsgesetzes versucht
die Rechtsanwaltskammer Stuttgart, gegen den Caritasverband
Stuttgart und einen seiner Mitarbeiter vorzugehen. Hintergrund:
mit der Beratung von SozialhilfeempfängerInnen, AsylbewerberInnen und anderen sozial benachteiligten Menschen soll Dr.
Manfred Hammel in mehreren
Fällen gegen das Rechtsberatungsgesetz verstoßen haben.
Dieses Gesetz stammt aus dem
Jahr 1935 und befugt ausschliesslich RechtsanwältInnen oder zugelassene Rechtsbeistände MitbürgerInnen in rechtlichen Dingen zu helfen. Die Wurzeln dieses
Gesetzes liegen im Ermächtigungsgesetz von 1933. Damals
wurde mit diesem Gesetz die
“Entjudung” der deutschen Anwaltschaft und gleichzeitige Monopolstellung der Rechtsberatung
durch die deutsche Anwaltschaft
erreicht.
Das Landgericht Stuttgart hat am
21. Juni 2001 die Rechtsauffassung des Caritasverbandes zu
weiten Teilen bestätigt. Pikant
unter anderem: Der Caritasverband hatte im außergerichtlichen
Vergleichsverfahren den Mitgliedern der Rechtsanwaltskammer
Stuttgart angeboten, Rechtsbera78
tung für Hilfsbedürftige in Caritas-Räumen auf der Basis von
Beratungs- und Prozesskostenhilfe durchzuführen. Die Stuttgarter
Anwaltschaft war jedoch nicht
bereit, unter diesen vom Gesetzgeber vorgesehenen unattraktiven Bedingungen tätig zu werden
und erwartete von der Caritas ein
Stundenhonorar. Das bestätigt
nicht nur Vorurteile gegen Teile
der Anwaltschaft, sondern belegt
auch, dass sich das Rechtsberatungsgesetz als Mechanismus zur
Verhinderung anwaltlicher Beratung für mittellose Flüchtlinge
auswirkt. Teile der Anwaltschaft
lassen sich offenbar für politische
Zwecke
instrumentalisieren,
wenn sie die rechtliche Vertretung für Flüchtlinge unter den gegebenen Bedingungen gar nicht
übernehmen wollen und dennoch
Grundsatzstreitigkeiten dieser
Art vom Zaun brechen.
Das Urteil des Landgericht Stuttgart wurde von der Rechtsanwaltskammer Stuttgart nicht akzeptiert. Der Termin zur Berufungsverhandlung vor dem Oberlandesgericht Stuttgart ist am
Freitag den 9. November 2001 14 Uhr. Weitere Infos zum Hintergrund dieses Prozesses und
des Rechtsberatungsgesetz allgemein über www.tacheles.de.
Auch in Freiburg werden staatsanwaltschaftliche Ermittlungsverfahren gegen die Flüchtlingsinitiative SAGA (Südbadisches
Aktionsbündnis gegen Abschiebungen) wegen angeblichen Verstoßes gegen das Rechtsberatungsgsesetz geführt. Polizeiliche
Vorladungen sind insbesondere
gegen zwei Personen der SAGA
ergangen. Tätig geworden ist hier
allerdings nicht die Anwaltskammer, sondern die Verwaltungsbehörden, die den Flüchtlingen
ohnehin immer mehr Rechte beschneiden. Offenbar haben die
Abschiebebehörden des Regierungspräsidium Freiburg und die
Freiburger Außenstelle des Bundesamtes für die Anerkennung
ausländischer Flüchtlinge über
längere Zeit angebliche Belege
für die im Raum stehenden Vorwürfe gesammelt. Ziel des Vorgehens ist es offenbar, sich mit dem
Vorgehen gegen SAGA missliebiger Kritiker zu entledigen und
freie Flüchtlingsinitiativen, die
nicht die (begrenzten) Privilegierungen der Wohlfahrtsverbände
und Kirchen in Sachen Rechtsberatung genießen, einzuschüchtern. Eine Pressemitteilung von
SAGA, die die Vorgänge kommentiert, kann bei unserer Geschäftsstelle bestellt werden.
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 80/81, Oktober 2001
Kirchenasyl
Kirchenasyl
Ganz schön mutig
Interview mit Pastor
Gerrit Weusthof, katholischer
Priester in Papenburg/Emsland
Das Interview führte Maria Wöste
Ü
ber 14 Monate lebte die neunköpfige kurdische Familie Gül im
Kirchenasyl in der Kath. Kirchengemeinde St. Josef in Papenburg, bis sie
schließlich eine befristete Aufenthaltsbefugnis erhielt (nach der sog. Altfallregelung). Doch juristisch ist das Kirchenasyl noch nicht vorbei - im Mai 2001
stand Pastor Gerrit Weusthof wegen
des Kirchenasyls vor Gericht. Verstoß
gegen das Ausländergesetz lautete der
Vorwurf. Gegen eine Geldbuße von
500 DM, zahlbar an ein eigenes Sozial-Projekt, sollte das Verfahren
zunächst eingestellt werden, so das
außergerichtliche Angebot. Doch der
Pastor und die Kirchengemeinde verweigerten die Zahlung, wurden in einem lokal vielbeachteten Prozess zur Zahlung
von 4000 DM mit zweijähriger Bewährung verurteilt - und legten Berufung ein.
Sie haben jetzt vor Gericht gestanden wegen des Kirchenasyls für die Familie Gül und
sind verurteilt worden. Worum
ging es da und wie geht es
jetzt weiter?
GERRIT WEUSTHOF: Wir haben Berufung eingelegt. Weil wir
immer noch meinen, das kann so
nicht sein. Wir haben dieser Familie in einer Situation geholfen,
wo sie in Not war, wo wir der felsenfesten Überzeugung waren,
diese Familie kann so nicht ausgewiesen werden, dieser Familie
wird es in der Türkei schlecht gehen, das muss noch mal neu geprüft werden, und darum müssen
wir der Familie Kirchenasyl verleihen. Und das haben ja auch
hier die Behörden anerkannt. Sie
hätten ja auch die Familie aus
dem Kirchengebäude herausholen können und sie trotzdem abschieben können. Wir haben auch
immer versucht, mit denen im
Gespräch zu bleiben, und die mit
uns, und das ist auch gelungen.
Jetzt im Nachhinein sagt die
Staatsanwaltschaft: das war verkehrt. Und das kann ja nicht sein.
Denn das war ja keine Kurzschlussaktion.
Wir
haben
zunächst das Angebot erhalten,
wir sollten 500 DM bezahlen,
dann wäre alles erledigt gewesen.
Das haben wir nicht gemacht.
Auch Herr und Frau Gül sind zu
500 DM Strafe verurteilt worden.
Die haben bezahlt, um da nicht
zusätzliche Schwierigkeiten zu
bekommen. Aber wir als Kirchengemeinde haben gesagt, nein
das geht nicht, weil wir in dem
Sinne nicht “schuldig” geworden
sind. Denn wir haben ja durch
unser Verhalten klar gezeigt, was
dahinter stand, dass diese Entscheidung übers Gewissen ging,
denn wenn dieses nicht wirklich
eine Gewissensentscheidung beinhalten würde, dann hätten ja
nicht so viele Leute so lange dermaßen Einsatz zeigen können.
Die Tatsachen zeigen, dass unsere Entscheidung richtig war.
Sie sprechen jetzt immer von
“wir”, aber es waren ja erst
mal Sie als Person, der da als
Priester der kirchenasylgewährenden Gemeinde vor Gericht stand?
79
Kirchenasyl
G. WEUSTHOF: Ja, dafür muss
erst mal eine Person den Kopf
hinhalten. Aber alleine könnte ich
ja nichts machen, wenn da nicht
viele Menschen die unterschiedlichsten Aufgaben übernommen
hätten. Wenn nicht jemand da
wäre zum Beispiel für die Kontakte oder jemand, der dafür
sorgt, dass der Herd vernünftig
angeschlossen wird, dann könnten sie auch nicht vernünftig leben. Es kommt ja nicht nur darauf an, dass jemand da ist irgendwie zum Repräsentieren, sondern
auf alle. Und darum muss ich immer ausdrücklich in “Wir”-Form
sprechen, sonst wäre das auch
ungerecht. Die Kritik bekomme
ich nicht allein, auch die Anerkennung bekomme ich nicht allein.
Hat es denn keine Angst ausgelöst, als dann die Vorladung
ins Haus flatterte?
G. WEUSTHOF: Es gibt Schlimmeres. Hier geht es ja wirklich um
eine gute Sache, wo man sagt, ich
will ein besseres Zusammenleben
der Menschen miteinander, auch
Menschen der unterschiedlichsten Nationen. Und man weiß,
dass dies kein leichter Weg ist, das
dieser Weg ein Umdenken erfordert, und auf diesem Weg befinden wir uns. Dafür muss man
sich dann einsetzen. Wofür will
man denn sonst leben, wenn ich
keinen Traum mehr habe, dass
Zukunft gestaltet werden kann,
und dass ein besseres Miteinander der Menschen und ein größerer Frieden möglich ist. Ich mach
den Behörden auch keine Vorwürfe, die müssen ja genauso gut
diesen Prozess mitmachen, müssen ja auch in mancher Hinsicht
umdenken. Ist ja auch gut, wenn
sie das nur wollen. Wir haben ja
auch keine schlechten Erfahrungen gemacht, weder mit der Polizei noch mit den Behörden.
Die Staatsanwaltschaft steht
doch aber jetzt sozusagen auf
der anderen Seite der Anklagebank, auf der Sie ja nun sitzen.
G. WEUSTHOF: Ich bin ja auch
lieber auf meiner Seite als auf der
80
Seite der Staatsanwaltschaft.
Wenn die Staatsanwaltschaft uns
noch mal deutlich machen will,
dass das nicht so einfach ist und
das auch mit Mühe verbunden ist,
ja dann kann ich das auch dieses
Mal noch verstehen. Aber dann
hoffe ich auch, dass sie jetzt in
der nächsten Instanz sagen wird,
wir sehen dieses Engagement
ralvikariat und dem Bischof, und
auch von der Rechtsabteilung, die
haben uns nie Vorwürfe gemacht,
sondern eher ermutigt. Als wir
dann merkten, dass die das auch
unterstützen, dann konnten wir
auch eingestehen, dass wir genau
das wollten - wir wollen das nicht
so eben abtun, so dass wir sagen,
es geht uns nur um die einzelne
Pfarrer Gerrit Weusthof mit seiner Gemeinde
und aufgrund dieses Engagements ist hier Freispruch angesagt. Es muss ja auch deutlich
werden, dass das ganze, die ganze
Integration nicht in ein paar Sätzen gemacht werden kann, dann
ist der Staat tot, egal wo das ist.
Gesetze sind dazu da, dass sie
den Menschen helfen, ihr Leben
zu gestalten. Aber sie können nie
genau sagen, so muss es sein, dass
ist unmöglich. Und das muss
auch uns Menschen klar sein,
dass es so nicht geht, das können
immer nur gewisse Richtlinien
sein.
In der Regel gibt es ja bei Kirchenasylen eine kleine Geldstrafe für die Seelsorger der
Kirchengemeinde und das
wird gar nicht an die große
Glocke gehängt. War es denn
hier so, dass alle das auch unterstützt haben, einen Prozess
in Kauf zu nehmen und das
richtig fanden, die Zahlung
der Geldbuße zu verweigern?
G. WEUSTHOF: Das war so ein
bisschen der Clou - zuerst haben
wir auch daran gedacht, die Geldbuße zu bezahlen, dann hätten
wir unsere Ruhe gehabt. Aber
dann hatten wir auch Unterstützung in Osnabrück, dem Gene-
Familie, sondern es geht uns auch
um einen gewissen Weg, das
muss irgendwie auch an die Öffentlichkeit gebracht werden, was
da stattfindet. Ich glaub, dass es
sehr vielen Menschen gar nicht
klar war; sehr viele Menschen haben das zuerst gar nicht verstanden, dass so etwas auch noch verurteilt werden könnte. Denn das
leuchtet nun wirklich keinem ein:
nun haben wir versucht, was Gutes zu tun, haben versucht, der Familie zu helfen, und das ist auch
gut gelungen, und auf einmal
wird man verurteilt. Das können
sehr viele Kirchengemeindemitglieder nicht verstehen, das kann
doch nun nicht sein. Aber das
sind dann nun gerade die Prozesse, die man will - man will ja gerne, dass man über das Verhalten,
das wir an den Tag legen, redet.
Im Grunde sollten wir uns ja so
verhalten, dass andere über unser
Verhalten angeregt werden, im
Guten - dafür leben wir doch.
Durch die Verhandlung wird das
noch mal wieder wachgerüttelt,
die ganze Problematik wird dadurch eigentlich vertieft. Das ist
dann auch gut, dass es eine Verhandlung gibt, eine öffentliche
Verhandlung, es muss eigentlich
noch viel mehr darüber gesprochen werden.
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 80/81, Oktober 2001
Kirchenasyl
Dieser Prozess war ja schon
sehr ungewöhnlich auch in der
Öffentlichkeitswirkung, gerade für diese ländliche Region
Emsland, hier gibt es sonst
keine politischen Demonstrationen. Ich habe die Pressefotos gesehen, wo die katholische Landjugend mit ihren
Fahnen vorm Amtsgericht
die Seligkeit auch noch nicht erreicht, aber das ist doch ein bedeutsamer Schritt, und ich denke
auch eine Ermutigung für andere,
ähnliche Schritte zu machen. So
etwas mag anstrengend sein, aber
letztlich wird es einen Gewinn
bringen für beide Parteien. Sowohl für diejenigen, die um Asyl
bitten als auch für diejenigen, die
derländer, oder? Hat das irgendeine Rolle gespielt?
G. WEUSTHOF: Ja, ich bin ausländischer Mitbürger hier. Aber
das hat nichts damit zu tun. Am
Anfang hat mal einer gesagt, ich
sollte doch selbst wieder dahin
zurückgehen, ich wäre doch
selbst Ausländer. Einigen hat das
natürlich wohl aufgestoßen, aber
das ist nicht mehr das Problem.
Wie sind Ihre Perspektiven
fürs Kirchenasyl?
Solidaritätskundgebung der Kath. Landjugend vor dem Amtsgericht
steht, hundert Leute. Auch die
katholische Frauengemeinschaft unterstützte das, dass
man vor Gericht zieht und sich
dann auch gegen den Staat
stellt. Das ist doch wohl sehr
außergewöhnlich hier.
G. WEUSTHOF: Ja, das ist wohl
ungewöhnlich, aber sehr interessant. Hier gab es auch eine große,
ganzseitige Zeitungsannonce,
zum größten Teil von einem Lehrerkollegium. Der Text lautete:
“Gesetze werden für die Menschen gemacht, also sind sie
menschlich. Menschlichkeit ist
somit Leitlinie von Gesetzgebung
und Rechtsfindung. Das Urteil
des Amtsgerichts Papenburg vom
17. Mai 2001 gegen Pfarrer Gerrit Weusthof wegen praktizierter
Menschlichkeit zu 4000 DM auf
Bewährung kann also nicht
menschlich sein. Wir schämen
uns für dieses Urteil.” Da standen
interessante Leute drunter. Der
ehemalige Bürgermeister (CDU)
hat auch unterschrieben. Der ist
eigentlich sonst gar nicht so auf
dieser Seite. Auch Ratsleute. Viele haben uns diese Zeitungsseite
dann mit weiteren Unterschriften
zugeschickt. Insoweit hatte das
dann tatsächlich eine große Öffentlichkeitswirkung. Damit ist
Asyl verleihen. Die gehen genauso bereichert da raus wie die anderen. Ich wette, dass alle die sich
in dem Sinne engagiert haben,
froh sind, die Familie Gül etwas
kennengelernt und dadurch einen
ganz anderen Blick auf viele Dinge bekommen zu haben. Wenn
genügend Leute sich zusammentun, ist es möglich, solche Wege
zu beschreiten.
Wenn der ehemalige CDUBürgermeister eine Anzeige
unterschreibt, die sich gegen
geltendes Recht wendet, das
ist ja geradezu revolutionär.
G. WEUSTHOF: Wahrscheinlich
will er damit anerkennen, wie sich
die Gemeinde engagiert hat. Das
heißt ja noch nicht, dass alle Gesetze verkehrt sind. Ich habe das
selbst immer damit verglichen:
Ich akzeptiere durchaus Ampeln,
und dass ich vor roten Ampeln
warten muss, aber wenn auf der
anderen Seite jemand verblutet,
und die Ampel ist rot, dann warte ich nicht darauf, dass die Ampel grün wird. Besonders dann
nicht, wenn die Ampel auch noch
kaputt ist.
Sie sind ja vom Pass her selbst
auch Ausländer, sie sind Nie-
G. WEUSTHOF: Die haben
auch bei Gericht gefragt, ob wir
denn noch wieder ein Kirchenasyl machen würden. Ich habe gesagt, das kann ich jetzt so nicht
entscheiden, das wird von der Begegnung abhängen. Das könnte
gut sein.
Damit verstoßen Sie dann gegen die Bewährung, oder?
G. WEUSTHOF: Genau, deshalb habe ich gesagt, das kann ich
nicht sagen. Das erste ist aus einer Gewissensentscheidung entstanden, das wird dann auch so
sein. Natürlich bin ich jetzt um eine Erfahrung reicher und weiß,
mit welchen Mühen das verbunden ist, auch um eine Gemeinde
dafür zu begeistern. Die würden
auch erst zweimal durchatmen vielleicht auch dreimal. Das muss
von sehr vielen Menschen mitgetragen werden.
Müssen Sie denn die 4000 DM
jetzt bezahlen, oder erst, wenn
Sie gegen die zweijährige Bewährung verstoßen?
G. WEUSTHOF: Ich glaub
schon, jetzt noch nicht. Wir müssen jetzt unsere anderen Kosten,
die Anwaltskosten usw. zahlen.
Aber wenn wir damit die Botschaft Jesu verkünden können,
mag es sich ja noch wohl lohnen.
Ich bin sehr gespannt, ob irgendwann eine Richterin oder ein
Richter den Mut hat zu sagen, wir
erkennen das an. Diese Richterin
hätte die Chance gehabt, die hätte den Mut haben können.
81
Kirchenasyl
Bleiberecht für die Familie Altekin
Susanne Ohse, Leben in der Fremde e.V. Goslar
S
eit November 2000 befindet
sich die siebenköpfige kurdische Flüchtlingsfamilie Altekin
im Kirchenasyl in Oebisfelde
(Sachsen-Anhalt). Über ihre Geschichte gibt eine Petition an den
Präsidenten des Niedersächsischen Landtags vom 24.04.2001,
die im folgenden zitiert wird, umfassend Auskunft.
“Sehr geehrter Herr Wernstedt,
wir sind Mitglieder der ev. Kirchengemeinde St. Katharinen in
Oebisfelde und wenden uns an Sie
mit der Bitte, die kurdische Familie Altekin vor der Abschiebung in
die Türkei zu schützen.
Celal Altekin (geb. 1. 1. 64) und
seine Frau Sultani (geb. 1. 8. 68)
reisten am 10. 10. 89 in die Bundesrepublik Deutschland ein und
stellten einen Antrag auf Asyl.
Sie stammen aus der östlichen
Türkei, Kreis Nusaybin, Bezirk
Mardin. Sie verließen ihr Heimatdorf, weil Herr Altekin sich weigerte, die Rolle eines Dorfschützers
zu übernehmen (Mit dieser Rolle
ist bekanntlich die Bespitzelung
kurdischer Bewohner verbunden).
Kurz nach ihrer Flucht brachte
Sultani hier in Deutschland ihr erstes Kind zur Welt. Vier weitere
Kinder folgten.
Am 13.02.1992 wurde der Bruder von Frau Altekin, Ahmet
Beyhan, der sich als Gewerkschafter für die kurdische Sache in der
Türkei eingesetzt hat, auf offener
Straße erschossen. Tatmotiv und
Täter konnten angeblich nicht ermittelt werden.)
Der erste Asylantrag und der ihrer
ältesten Tochter Gülistan wurden
1995 letztinstanzlich abgelehnt.
Die Antragsteller wurden vom Gericht auf die sog. “sichere Westtürkei“ als Fluchtalternative verwiesen. Gegen diese Entscheidung
legten sie eine Verfassungsbeschwerde ein. Diese wurde jedoch
vom Gericht nicht behandelt. Die
82
Möglichkeit einer “inländischen
Fluchtalternative“ ist jedoch nachweislich nur theoretisch, da Kurden in der gesamten Türkei schweren Benachteiligungen und Verfolgungen unterliegen.
Gleichzeitig stellten sie einen Asylfolgeantrag , der sich auf Herrn
Altekins exilpolitische Tätigkeiten bezog. Er war auf mehreren
Demonstrationen gegen die Verfolgung und Ausrottung der Kurden
in der Türkei als Ordner tätig geworden und hatte Infotische betreut.
Desweiteren hatte Celal Altekin
Kontakt mit einem Kurden namens
Denli, der nach seiner Abschiebung in die Türkei Landsleute denunziert hat, und es ist wahrscheinlich, dass auch Celal Altekins Name auf einer dieser Listen
steht. In diesem Falle besteht eine
erhebliche Gefährdung für ihn und
seine Familie.
Im November 1996 fand eine erneute Anhörung vor dem Verwaltungsgericht Braunschweig statt.
Das Ergebnis dieser Anhörung
war negativ. Obwohl Angehörige
der Familie Altekin aus dem gleichen Heimatort als asylberechtigt
anerkannt wurden, erhielten Celal
und Sultani Altekin dieses Recht
nicht zugesprochen. Als auch der
letzte Versuch im März 2000,
Asyl für die restlichen vier Kinder
zu beantragen, scheiterte, sahen sie
aus Furcht vor den Folgen einer
Abschiebung in die Türkei im Juni 2000 keine andere Möglichkeit
mehr, als sich zu verstecken.
In der Zeit vom Juni bis November
2000 hat die Familie sechzehnmal
ihren Aufenthaltsort gewechselt.
Die Kinder wurden aus ihren sozialen Beziehungen gerissen und
konnten erst ab Januar 2001 neu
beschult werden. Am 23. November 2000 sind Celal und Sultani
Altekin mit ihren fünf Kindern
zu uns ins Kirchenasyl geflüchtet.
Nachdem wir uns eingehend mit
der Situation der Familie beschäftigt haben, verstehen wir ihre psychische Belastung (Denli - Listen,
Ermordung des Bruders) und ihre
Angst vor einer Rückkehr in die
Türkei.
Wir setzen uns für die Familie
Altekin ein, weil wir nicht nachvollziehen können, warum ihr die
Bleiberechtsregelung (sog. Altfallregelung) trotz gesetzlich bestehender Möglichkeiten verweigert wurde.
Dabei beziehen wir uns vor allem
auf die Altfallregelung vom
10.12.1999 (Nds. MBL.2000
S.41).
Lange Jahre hatte sich Celal Altekin im Landkreis Goslar, in dem
die Familie von 1989 bis 2000
lebte, bemüht, Arbeit zu finden.
Als er im Jahre 1999 eine Arbeit
bei der Firma Altkleidersammlung Mehmet Kaya in SalzgitterLebenstedt gefunden hatte, dauerte
das Genehmigungsverfahren beim
Arbeitsamt Braunschweig vom
31.08.1999 bis zum 05.11. 99
(“Vorrang prüfung”, ob ein Deutscher oder EU-Ausländer für diese Stelle in Frage käme).
Die am 05.11.99 erteilte Arbeitserlaubnis für den Zeitraum vom
05.11.1999 – 31.01.2000 war
jedoch auf 10 Stunden in der Woche beschränkt, so dass Herr Altekin zum Stichtag der o.a. Altfallregelung , dem 19.11.1999, nur eine geringfügige Beschäftigung nachweisen konnte, obwohl das Angebot des Arbeitgebers auf Vollbeschäftigung vorlag , das nur deshalb
nicht in Anwendung kam, weil eine rechtzeitige Genehmigung des
Arbeitsamtes auf Vollbeschäftigung nicht erteilt wurde.
Erst nach zwei (!!) erneuten Anträgen wurde ihm am 18. April
2000 eine Arbeitserlaubnis für
Vollzeit bei der Firma Kaya er-
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 80/81, Oktober 2001
Kirchenasyl
teilt, die ihn dann auch vom
03.05.00 bis Anfang Juni beschäftigte.
Hätte bereits am 05.11.1999 eine
Arbeitsgenehmigung auf Vollbeschäftigung vorgelegen, oder wäre
die im April ausgestellte Genehmigung auf Vollbeschäftigung
zum 19.11.1999 erteilt worden,
hätte Punkt 2.2.1.a) der Altfallregelung zur Anwendung kommen m ü s s e n ! Es erscheint uns
nicht nachvollziehbar, dass Herr
Rowold in seinem Brief vom
04.04.2000 eine Bleiberechtsrege lung ausschließt, während das Ar beitsamt am 18.04.2000 jedoch
die für das Bleiberecht erforderliche
Genehmigung für Vollbeschäfti g u n g a u s s t e l l t . Her r Altekin
nahm zum nächst möglichen Zeitpunkt die Vollbeschäftigung auf.
Somit war die Familie Altekin am
Tage des Abschiebebescheides fi nanziell nicht vom Sozialamt ab h ä n g i g . Diese Arbeit könnte Herr
Altekin auch jederzeit wieder aufnehmen, eine entsprechende Bestätigung der Firma Kaya ist dieser Petition als Anlage beigefügt.
Aus den obigen Fakten geht her vor, dass durch die langwierigen
Arbeitsgenehmigungsverfahren
bzw. durch die Einschränkung der
zunächst erteilten Arbeitserlaub nis die Anwendung der o.a. Alt fallregelung verhindert wurde.
Die Familie Altekin lebt seit elfeinhalb Jahren in Deutschland.
Alle fünf Kinder sind hier geboren. Sie haben die Türkei nie gesehen und sind der türkischen Sprache nicht mächtig; ihre Heimat ist
Deutschland. Sie sprechen fließend
deutsch, besser als kurdisch. Die
Türkei ist für sie ein fremdes
Land mit einer völlig fremden Kultur.
Die Kinder gingen im Landkreis
Goslar zur Schule und in den Kindergarten. Und sie tun dieses,
dank des Engagements in Sachsen
– Anhalt, jetzt wieder. In der
Türkei hätten sie erhebliche
Schwierigkeiten, die Schule weiter
zu besuchen, da sie zum einen die
Die 5 Kinder der Familie Altekin mit 2 FreundInnen
türkische Sprache nicht beherrschen und die Familie zum anderen kein Geld hätte, den Schulbesuch zu finanzieren.
Eine Abschiebung der Familie in
die Türkei stellt eine unzumutbare
Härte dar, da sie ganz offensicht lich dem Wohl der Kinder zuwider
laufen würde, dies widerspräche
der Kinderrechtskonvention, die
auch von der Bundesrepublik
Deutschland unterzeichnet wurde.
Vor dem Hintergrund des Sachstandes und der uns zur Verfügung stehenden Informationen haben wir uns entschlossen, der Familie seit dem 23. 11. 2000 Kirchenasyl in unserer Kirchengemeinde zu gewähren. Der einz ige
Wunsch der Familie ist es, sicher
und angstfrei zu leben und in
Deutschland den Frieden zu finden, den es in ihrer Heimat auf
absehbare Zeit nicht geben wird.
Diesen Wunsch begreifen und anerkennen wir, wie wir auch die Gefahr für die ganze Familie erkennen und sehr real wahrnehmen,
das fordert uns als Christen.
Nach der Ablehnung des Asylfolgeverfahrens vom 01.02.01 möchten wir Sie mit dieser Petition darum bitten, die Entscheidung des
Landkreises Goslar aufzuheben
und der Familie zu einem Bleiberecht in Deutschland zu verhelfen.
Im Falle eines positiven Entscheides ver pflichten sich die unterzeichnenden Mitglieder des Ar-
beitskreises sicherzustellen, dass
Familie Altekin mindestens bis
zum 30.04.2003 keine Sozialhilfe in Anspruch nehmen muss. Der
Arbeitskreis Oebisfelde beabsichtigt darüber hinaus, in akuten
Notlagen Mittel aus eigener Kraft
zur Verfügung zu stellen.
Für die Zeit bis zu Ihrer Entscheidung bitten wir, bei der Ausländerbehörde des Landkreises
Goslar eine Duldung zu erwirken,
damit Herr Altekin unverzüglich
die ihm angebotene Arbeit aufnehmen und den Lebensunterhalt für
die Familie selbständig bestreiten
kann.
Vielen Dank und mit freundlichen Grüßen
Arbeitskreis Kirchenasyl Oebisfelde”
Am 20.06.01 hat es eine Unterredung zwischen Vertretern des Arbeitskreises Kirchenasyl Oebisfelde und dem Landkreis Goslar
gegeben, der nach wie vor für die
Familie Altekin zuständig ist. Der
Verlauf des Gesprächs schien für
den Arbeitskreis sehr konstruktiv
zu sein. Also sandten sie noch
fehlende Dokumente an den
Landkreis und wurden dann aber
am 30.07.01 mit der schriftlichen
Antwort überrascht, dass von
Seiten des Landkreises kein Meinungswechsel erfolgt wäre, was
die Anwendung der Altfallregelung angehe. Landrat Kopischke
(SPD) versteift sich darauf, dass
Familie Altekin die Bedingungen
83
Kirchenasyl
für die Altfallregelung nicht erfülle, da Herr Altekin sich angeblich erst um die Umwandlung seines geringfügigen Arbeitsplatzes
in einen sozialversicherungspflichtigen bemüht habe, nachdem er auch das letzte Asylverfahren verloren hatte. Dies hätte
jedoch “unverzüglich” geschehen
müssen. Anderslautend hatte das
Ausländeramt durch Herrn Rowold während des Gesprächs angedeutet, dass es landkreisintern
eine Frist von 3 Monaten nach in
Kraft treten der Altfallregelung
gegeben hätte, von der aber offiziell niemand informiert worden
wäre. Selbst in der Bürgerfragestunde im Kreistag am 20. 08.01
nach dieser Frist, wurde es geleugnet, dass es eine gegeben hätte.
In einem erneuten Brief des Arbeitskreises vom 10.8.01 an den
Landkreis Goslar weist der Arbeitskreis noch einmal darauf
hin, dass Herr Altekin nachweislich das Gerichtsurteil erst am
29.03.00 erhalten habe, während
der Antrag auf Erteilung einer
Arbeitserlaubnis für Vollzeitarbeit vom 12.03.00 stammt. Der
indirekten Drohung des Landkreises, dass die Petition vom 24.
04.01 keine aufschiebende Wirkung habe, hält der Arbeitskreis
den Runderlass des Nds. Innenministeriums entgegen, wonach
eine Abschiebung während eines
laufenden Petitionsverfahrens
unzulässig ist. Wichtig ist nun,
wie der Petitionsausschuß des
Landtages in dieser Angelegenheit entscheidet.
Kirchenasyl in Hildesheim
Matthäusgemeinde schützt Familie Gündüz
Claudia Gayer
S
eit einigen Monaten befindet
sich die 7-köpfige kurdische
Familie Gündüz in der Hildesheimer Matthäusgemeinde im Kirchenasyl. Der Kirchenvorstand
ist von einer akuten Gefährdung
der Familie im Falle ihrer Abschiebung in die Türkei überzeugt und möchte ihr darum ermöglichen, Beschwerde gegen die
drohende Abschiebung bei dem
Europäischen Menschenrechtsgerichtshof einzulegen. Über die
Klage im Asylverfahren wird das
VG Hannover voraussichtlich im
September entscheiden.
Die Gefährdung der Familie
Gündüz ergibt sich aus der Tatsache, dass nach Herrn Gündüz in
der Türkei gefahndet wird. Die
Fahndung wird durch Schreiben
des RA Sedat Aslantas und der
Gendar meriekommandantur
Dargecit bestätigt. Zudem haben
sich Herr und Frau Gündüz in
Deutschland aktiv politisch engagiert.
Das Verwaltungsgericht Hannover lehnte im Klageverfahren die
Anträge auf vorläufigen Rechtsschutz jedoch ab. Zwar sei unbestritten, so das VG, dass nach
Herrn Gündüz gefahndet werde,
dies begründe jedoch keinen Asylanspruch, da die Fahndung kei-
84
nen politischen Hintergrund habe. Die exilpolitischen Aktivitäten führten nicht zu einer landesweiten Verfolgung.
Die Einschätzung des VG Hannover ist nach Ansicht der Kirchengemeinde und des Nds.
Flüchtlingsrats nicht haltbar.
Denn selbst wenn die Fahndung
nach Herrn Gündüz aus nichtpolitischen Gründen eingeleitet
wurde, garantiert dies keine Verfolgungsfreiheit. Herr Gündüz
wird bei einer Einreise in die Türkei aufgrund der Fahndung festgenommen und verhört werden.
Man wird ihn nach seinem Aufenthalt in Deutschland, seinen
dortigen Kontakten und Aktivitäten befragen. Gerade da Herr
Gündüz und seine Frau sich in
Deutschland in vielfacher Weise
politisch engagiert haben, besteht
die Gefahr, dass er der Anti-Terror-Polizei zwecks weiterer, eingehender Befragung überstellt
wird. Aufgrund des umfangreichen Engagements (Teilnahme
und Mitorganisation verschiedener Protestveranstaltungen, Hungerstreiks, Demonstration vor
dem türk. Konsulat, Auftritt im
kurdischen Fernsehen MED-TV
usw.) ist es sehr wahrscheinlich,
dass die türkischen Behörden davon Kenntnis erhalten haben, sei
es durch Auswertung der Presse,
Spitzel oder Akteneinsicht in ein
Strafverfahren gegen Herrn Gündüz. Aufgefallen ist die Familie
Gündüz in jedem Fall wegen der
Auseinandersetzungen mit dem
türkischen Konsulat um die Registrierung des Kindes Schira. Das
Konsulat weigerte sich, das Kind
zu registrieren, weil die Schreibweise nicht korrekt türkisch sei.
Es forderte die Familie auf, den
Namen entsprechend zu ändern,
was die Eltern Gündüz jedoch
ablehnten.
Die Argumentation des VG, das
politische Engagement der Familie Gündüz stoße bei den türkischen Sicherheitskräften nicht auf
Interesse, da es keinen exponierten Charakter gehabt habe und
insbesondere Herr Gündüz eher
im Hintergrund zum Gelingen
von politischen Veranstaltungen
beigetragen habe, wird widerlegt
durch die Recherchen des Nds.
Flüchtlingsrats zur Rückkehrgefährdung von KurdInnen. Im
überwiegenden Teil der von uns
recherchierten Fälle war das
tatsächliche oder unterstellte politische Engagement der Betroffenen in Deutschland Anlass für
Folter und politische Verfolgung
nach der Abschiebung/Ausweisung in die Türkei.
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 80/81, Oktober 2001
Kirchenasyl
Erfolgreiches Kirchenasyl
H . -EE b e r h a r d S c h u l t z
D
as Kirchenasyl der evangelischen Gemeinde BremenHabenhausen (Simon-PetrusKirche) für die kurdischen Eheleuten Mehmet M. (35 Jahre.) und
Akide M. (27 Jahre) konnte nach
einer positiven Entscheidung des
Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (BAFL) endlich beendet werden. Es wurde seit Dezember
2000 gegen den ausdrücklichen
Widerstand aus den Kreisen des
Bremer Innenressorts gewährt.
Das BAFL nimmt allerdings ein
Abschiebungshindernis zunächst
nur für drei Monate an.
Vorangegangen war ein typisches
Schicksal kurdischer Flüchtlingsfamilien: Nach traumatischen Erlebnissen mit den türkischen
Sicherheitskräften im Jahr 1996
hierher geflüchtet, konnten die
Eheleute das BAFL nicht von
ihrem Verfolgungsschicksal überzeugen. Aus Angst vor drohender
Abschiebung und der ungewohnten Umgebung hielten sie es in
dem zugewiesenen Ort in Seesen
am Harz nicht aus, gingen nach
Bremen zu Verwandten und begaben sich in therapeutische Behandlung zu Refugio in Bremen.
Da sie ihren Aufenthalt in Bremen den zuständigen Behörden
nicht mitteilen konnten und wollten, wurden sie als „untergetaucht“ behandelt und das
Verwaltungsgericht in Braunschweig stellte das Klageverfahren gegen den ablehnenden Bescheid des BAFL wegen „mangelndem Rechtsschutzbedürfnis“
ein; alle dagegen durchgeführten
Rechtsbehelfe waren erfolglos;
auch die fachliche Bescheinigung
der Psychologin von Refugio, wonach die Eheleute angesichts ihrer
posttraumatischen
Belastungsstörung außerstande gewesen seien, sich ausreichend um
ihr Gerichtsverfahren zu kümmern, fruchtete nichts. Als die
Abschiebung konkret anstand,
begaben sich die Eheleute ins
Kirchenasyl, gleichzeitig haben
wir am 19.02.2001 einen Antrag
auf Feststellung eines Abschiebungshindernisses wegen der posttraumatischen
Belastungsstörung beim BAFL gestellt.
Während ablehnende Bescheide
in Folgeverfahren beim BAFL in
der Regel wenige Tage benötigen,
dauerte es diesmal mehr als ein
halbes Jahr, bis die positive Entscheidung kam.
Danach wird ein Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 6 S. 1
AuslG (Absehen von der Abschiebung eines Ausländers,
wenn dort in dem Heimatstaat
für ihn eine erhebliche konkrete
Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht) angenommen; unter
der Voraussetzung:
• Vorliegen einer ernsthaften
psychischen Erkrankung mit
dem nachgewiesenen Erfordernis einer Langzeitbehandlung;
• bei psychischen Erkrankungen ist in der Türkei ein
großer Teil der Kosten von
den Erkrankten selbst zu tragen und zusätzliche Gefahr einer Re-Traumatisierung mit
“unübersehbaren Folgen des
Abbruchs der begonnenen
Therapie”.
BAFL, Az.: 2641940-163)
Wir werden gegen den Bescheid
fristgerecht klagen, um ein weitergehendes Abschiebungshindernis zu erreichen.
Kirchenasyl schützt
E
ine Untersuchung der Ökumenischen BAG „Asyl in der
Kirche“ hat ergeben, daß die Kirchenasyle in Deutschland überwiegend erfolgreich enden. In
den vergangenen 5 Jahren konnten etwa 1.500 Flüchtlinge geschützt werden, in 73 % aller Fälle konnten Abschiebungen dauerhaft oder zumindest vorläufig
verhindert werden. „Durch ihren
Einsatz erreichten die Gemeinden, dass Zeit gewonnen wurde,
um den jeweiligen Einzelfall mit
Hilfe einer Klage, einer Petition,
einer Härtefallkommission o.ä.
neu zu überprüfen. Immer wieder kam es zur Revision von Ent-
scheidungen: statt Abschiebungen gab es Anerkennungen der
betroffenen Flüchtlinge als Asylberechtigte (nach Art. 16a GG
oder § 51 AuslG), als Schutzbedürftige (nach § 53 AuslG) oder
als Anspruchsberechtigte für die
Altfallregelung. Das wirft kein
positives Licht auf das Asylverfahren in der Bundesrepublik.“
Zwei Drittel der Flüchtlingen
stammten aus der Türkei, davon
waren die meisten kurdischer
Herkunft.
Die Häufigkeit der Kirchenasyle
bleibt konstant, hat keine abnehmende Tendenz, wie dies gele-
gentlich angenommen wird. Von
1997-1999 steigt sie sogar deutlich an. Diese Bilanz zum Kirchenasyl deckt sich weitgehend
mit einer ersten Erhebung vor
fünf Jahren. Allerdings läßt sich
eine Entwicklung beobachten:
die Kirchenasyle dauern immer
länger, da einvernehmliche Lösungen mit den Behörden immer
schwieriger werden.
Die Fragebögen zum Wanderkirchenasyl in NRW wurden getrennt ausgewertet. Die Untersuchung „Unter dem Schatten deiner Flügel“ kann bezogen werden
unter Tel.: 0228/96503-42, Fax: -43
85
Kurdenverfolgung
Kurdenverfolgung
Alles beim Alten ?!
Zum Lagebericht Türkei 07/01
v o n C l a u d i a G a y e r , T ü r k e i -P
Projekt, Nds. Flüchtlingsrat
L
änger als ein Jahr ließ der
neue Lagebericht des AA zur
Türkei auf sich warten, x-mal
wurde er angekündigt, nichts passierte. Am 24.07.01 war er dann
endlich fertig. Die lange Verzögerung verwundert um so mehr, als
der Bericht im Vergleich zum
letzten keine wesentlichen Veränderungen beinhaltet. Hier und da
wurden Zahlen aktualisiert, politische Ereignisse erwähnt, und an
ein paar Formulierungen wurde
gefeilt, ohne dass dies den Inhalt
berührt hätte. Im Großen und
Ganzen also eine Neuauflage des
Berichts aus 2000.
Zur Auflistung von Abschiebefällen kamen nur zwei neue hinzu:
die Abschiebungen von Hüseyin
Calhan und Mehmet Kilic im Oktober 2000, beide Sprecher des
Wanderkirchenasyls in NWR.
Calhans Abschiebung soll demnach unproblematisch verlaufen
sein. Mehmet K.s Angaben zur
Verfolgung nach der Abschiebung hält das AA für detailarm
und vage. Allein die Art und Weise der fast zweiseitigen Beschreibung des Falls macht klar, dass
das AA ihn für unglaubwürdig
einschätzt, auch wenn es nicht explizit ausschließen möchte, dass
die Angaben Kilic zutreffen.
Die Gründe dafür, dass und vor
allem wie die Abschiebefälle Calhan und Kilic aufgeführt wurden,
sind ziemlich durchsichtig: Als
Präzedenzfälle für die angebliche
Gefahrlosigkeit einer Abschiebung von WKA-Teilnehmern.
Ansonsten werden die alten Abschiebefälle wie gehabt aufgelistet. Dass das Auswärtige Amt
aktuelle Fälle von Misshandlung
nach der Abschiebung im Lagebericht ignoriert, war bereits 1999
86
Dr. Sema Piskinsüt beim
Ärztefeiertag, Diyarbarkir
Recherchen des Flüchtlingsrats fanden Eingang in die
niederländische Rechtsprechung
Die Recherchen des Nds.
Flüchtlingsrats zur Rückkehrgefährdung von KurdInnen haben
inzwischen auch Eingang in die
niederländische Rechtsprechung
gefunden. Unter Bezugnahme
auf die Dokumentation "Von
Deutschland in den türkischen
Folterkeller" kommt das Gericht
in Gravenhage (Arrondissementsrechtbank te 's-Gravenhage) in seinem Urteil vom
08.02.01 zu dem Schluss, dass
nachweisbare exilpolitische Aktivitäten eine Gefährdung im
Sinne des Art. 3 EMRK (grausame und unmenschliche Behandlung) nach sich ziehen können.
Anders als in der deutschen
Rechtsprechung wird der Personenkreis jedoch nicht auf exponiert politisch Tätige beschränkt. Schon der Verdacht
auf eine mögliche Beziehung
zur PKK gefährde die Betroffenen. Quelle: Vluchtelingen
Werk, NL Stevensbeek
und 2000 Anlass zur Kritik durch
PRO ASYL und Nds. Flüchtlingsrat. Dazu findet sich im Vorspann des aktuellen Berichts neuerdings folgender Hinweis:
“Es wird darauf hingewiesen,
dass das Auswärtige Amt nicht
nur in den genannten Fällen, sondern auch in anderen Fällen, in
denen es substantiiert, d.h. unter
Angabe von Details um Über prüfung gebeten wurde, Nachforschungen zu behaupteten Misshandlungen Abgeschobener durchgeführt
hat. Es ist jedoch nicht Aufgabe
des vorliegenden Berichts, darin die
Sachverhalte zu a l l e n Einzelfällen, in denen dem Auswärtigen
Amt Erkenntnisse vorliegen, zu
beschreiben.”
Damit gesteht das AA wenigstens
an einer Stelle ein, dass mehrere
weitere Fälle von Folter und Verfolgung nach der Abschiebung
vorliegen. Trotzdem ist es nicht
nachvollziehbar, weshalb das AA
erstens immer wieder alte Beispiele aus den Jahren 96-99 aufführt, wo längst neuere vorliegen,
und zweitens Beispiele nennt, die
es nicht für verifizierbar oder
glaubhaft hält, andererseits aber
Fälle, die vom BAFl, den Gerichten und/oder vom AA selbst bestätigt wurden, überhaupt nicht
erwähnt.
Eine wesentliche Verschlechterung könnte in der Einschätzung
zur medizinischen Versorgung
psychisch kranker Menschen liegen. Dem letzten Lagebericht lag
noch ein ausführlicher Anhang
bei, in dem u.a. stand:
“Eine der größten Schwierigkeiten
ist die fast völlige Ausweglosigkeit
bestimmter betroffener Gruppen
(...), adäquate Behandlungsmetho-
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 80/81, Oktober 2001
Kurdenverfolgung
den/-verfahren in Anspruch nehmen zu können: hierzu gehören
traumatisierte Menschen, ver gewaltigte Frauen, Menschen mit
Angsttraumata nach Mißhandlungen (...) - um nur einige zu nennen.”
Im neuen Bericht wurde das Thema auf zwei Sätze gekürzt, die
unter Punkt IV. 3 a. eingefügt
sind:
“Die Behandlung psychisch kranker Menschen ist in allen Krankenhäusern mit einer psychiatrischen Abteilung möglich. Die Behandlung von posttraumatischen
Belastungsstörungen kann durch
medikamentöse und psychotherapeutische Therapien erfolgen.”
Diese plötzliche Kehrtwende
sieht schwer nach einem politisch
motivierten Versuch aus, die Gewährung von Abschiebehindernissen nach § 53 Abs. 6 AuslG
einzuschränken. Angesichts der
Tatsache, dass Ärzte, die in der
Türkei Folteropfer behandeln,
permanent unter Druck gesetzt
werden und nur unter erschwerten Bedingungen arbeiten können und die Arbeit des Folteropferzentrums TIHV regelmäßig
blockiert wird, mutet die Einschätzung des AA geradezu zynisch an. Erst vor wenigen Tagen
bezeichnete die Staatsanwaltschaft Diyarbakir die Behandlung
von Folteropfern durch die Menschenrechtsstiftung TIHV als “illegale Aktion” und ordnete eine
Beschlagnahmung von Patientenunterlagen an.
Ansonsten finden sich Veränderungen, die zwar größtenteils
nicht gravierend, so doch erwähnenswert sind. Stand im alten Bericht noch kommentarlos “Die
Verfassung garantiert die Unabhängigkeit der Gerichte”, so wurde diese trockene und in der Praxis unrealistische Behauptung
nun ergänzt durch die Anmerkung, dass Richter in der Türkei
aufgrund ihrer “streng etatistischen Ausbildung” von ganz alleine dazu tendieren, den Staat
vor als subversiv empfundenen
Davut K. erhielt "kleines Asyl"
- die Unterlagen waren doch
echt!
T ü r k e i -P
Projekt
Im November letzen Jahres
sprang der Kurde Davut K., gejagt von der deutschen Polizei, in
panischer Angst vor einer Abschiebung aus dem Fenster der
psycho-therapeutischen Beratungsstelle XENION in Berlin.
Der damals 17-jährige überlebte
den Sturz aus elf Metern Höhe
schwer verletzt und lag wochenlang im Krankenhaus. Zuvor hatte das BAFl im Juli 2000 nach der
erneuten Flucht des Kurden aus
der Türkei die Durchführung eines Folgeverfahrens mit der Begründung abgelehnt, die eingereichten Unterlagen über eine
Verurteilung durch das Staatssicherheitsgericht Van 1999 zu 12
Jahren und 6 Monaten Haft seien
gefälscht. Dem schloss sich das
VG Magdeburg im August 2000
an und lehnte zwei Rechtsschutzanträge ab. So kam es, dass Davut
nach einer Fahrkartenkontrolle in
der Berliner S-Bahn aus Angst vor
einer Festnahme in die Beratungsstelle flüchtete, die daraufhin
überfallartig von der Polizei gestürmt wurde.
Ende Mai 01 korrigierte nun das
BAFl seine Entscheidung: Davut
K. erhielt das "kleine Asyl" gem. §
51 Abs. 1 AuslG. Es stellte sich
nach Überprüfung seiner Unterlagen heraus, dass die im Asylverfahren vorlegten Dokumente
doch echt waren. Das Auswärtige
Amt teilte mit: "Die vorgelegten
Unterlagen sind echt." Die Entscheidung des BAFl's, seinen Bescheid aufzuheben und damit den
Rechtsstreit um Asyl zu beenden,
ist erfreulich. Es stellt sich aber
die Frage, warum erst eine Verzweiflungstat nötig war, um den
öffentlichen Druck so zu erhöhen, dass die Asylgründe Davut's zum ersten Mal gewissenhaft
überprüft wurden. Davut hatte
Glück und überstand den Sprung
aus dem Fenster letztendlich
glimpflich. Wäre er nicht gesprungen, säße er vermutlich bereits in
einem türkischen Knast.
Handlungen zu schützen, ohne
dass eine politische Einflussnahme nötig sei. Zur Einschätzung,
dass die Presse weitgehend frei
berichten kann, ergänzte das AA
nun: “... solange Fragen der (sehr
weit ausgelegten) Staatssicherheit
und die Rolle des Militärs nicht
berührt werden”. Zur Sippenhaft
heißt es jetzt, dass Familienangehörige häufig zu Vernehmungen geladen werden. Die Aussage
stand im letzten Bericht noch im
Konjunktiv.
Mit der Beibehaltung alter Satzbausteine, die im neuen Bericht
durch Halbsätze ergänzt werden,
verwickelt sich das Auswärtige
Amt zunehmend in Widersprüche, die das Bemühen widerspiegeln, Menschenrechtsverletzungen einzelnen Sicherheitskräften zuzuschustern und den türkischen Staat letztendlich aus der
Verantwortung zu nehmen - was
nicht recht gelingt:
Auf der einen Seite behauptet das
AA, nicht der Stand der Gesetzgebung und das geltende Recht
seien hinsichtlich der Menschenrechtssituation das Hauptproblem, sondern deren Umsetzung
in die Praxis. Auf der anderen
Seite stellt das Amt aber fest, dass
die Verfassung Grundrechte einschränkt, die Incommunicadohaft “Übergriffe” (sprich Folter)
begünstigt und dass es auf dem
innerstaatlichen Rechtsweg keine
wirksame Rechtsbehelfe gegen
Übergriffe gibt. Das heißt: das
geltende Recht schafft strukturelle Voraussetzungen für Folter
und Repressionen, gegen die man
sich praktisch nicht wehren kann.
Weiter behauptet das AA, dass
die Menschenrechtspraxis an der
unzureichenden Beachtung geltenden Rechts durch die Sicherheitskräfte leide, von denen sich
der Staat allerdings regelmäßig distanziere. Auf der anderen Seite
stellt es fest, dass Menschenrechtsverletzungen der Sicherheitskräfte von staatlichen Stellen
bisher nur selten verfolgt werden.
Also: Der Staat schafft quasi ein
Klima der Straffreiheit für Folterer, Distanzierungen entpuppen
87
Kurdenverfolgung
sich damit als Lippenbekenntnisse. Last but not least stellt das
AA neuerdings fest, dass Sicherheitskräfte neben der Sicherung
des Staates nach außen “eine
Schlüsselrolle in der Politik und
der inneren Sicherheit” einnehmen. Auf der anderen Seite versucht das AA geradezu zwanghaft, auch weiterhin eine Trennung zwischen Staat und den Sicherheitsorganen zu konstruieren, die es faktisch nicht gibt.
Die tatsächliche Rolle des Militärs wird regelmäßig unterschlagen.
Die Aufzählung von politischen
Ereignissen und Einschätzungen
ist selektiv und wird dadurch
wertend. Ein Beispiel ist das
“Verschwinden” der beiden HADEP’ler Tanis und Deniz in Silopi. Das AA schreibt dazu, dass
diese “unbestätigten Meldungen
der türkischen Presse” zufolge in
ein PKK-Lager im Nordirak verschleppt worden sein sollen. Das
hört sich ziemlich nach türkischer Propaganda an. Die Einschätzung von Menschenrechtsorganisationen, dass die beiden
von staatlichen Stellen verschleppt wurden, fehlt im Be-
Sammelabschiebungen
Red.
Anfang Juli gab es zum ersten Mal
eine
Sammelabschiebung
von
Deutschland aus in die Türkei. 88
türkische Staatsangehörige wurden in
Begleitung von 56 deutschen Sicherheitsbeamten per gecharterter Maschine nach Istanbul geflogen, wo sie
türkischen Sicherheitsbeamten übergeben wurden. Laut türkischen Medienberichten wurden 25 Abgeschobene, bei denen es sich überwiegend
um KurdInnen gehandelt habe sofort verhaftet, weil sie wegen verschiedener Delikte von der türkischen Polizei gesucht würden. Die
übrigen sollen nach Überprüfung ihrer Personalien zunächst freigelassen
worden sein. Unter den Abgeschobenen sollen sich auch Kranke und Behinderte befunden haben.
Eine weitere Sammelabschiebung
gab es am 8. August, bei der ca. 4550 kurdische und türkische Flüchtlinge befanden. Unter ihnen befand
sich Ali Dasayak, der 60 Tage im
Hungerstreik war, um seine Abschiebung in die Türkei zu verhindern, wo
er als Militärdienstverweigerer und
Sympathisant der PKK gesucht wird
(siehe S. 90 ).
richt. Überhaupt nicht erwähnt
wird z.B., dass Sema Piskinsüt,
die als Vorsitzende der Parlamentarischen Menschenrechtskommission Berichte über Folter und Misshandlung auf Polizeistationen veröffentlicht hatte, abgesetzt und durch einen
Abgeordneten der nationalistischen und rechtsextremen
MHP ersetzt wurden. Gegen
Piskinsüt wurde nun ein Verfahren eingeleitet, um sie zur
Herausgabe der Namen der
Folteropfer zu zwingen. Kein
Wort wird verloren über die pogromartigen Ausschreitungen
gegen KurdInnen in Susurluk
im April 01. Ebensowenig findet der Prozess gegen Frauen
Erwähnung, die öffentlich darüber berichtet hatten, dass sie in
Polizeihaft vergewaltigt wurden.
Die Liste weiterer Beispiel ist
lang.
Insgesamt ist der Bericht, wie
seine Vorgänger, in seinem
Grundton nach wie vor diplomatisch zurückhaltend und
mehr um Verständnis für die
Türkei bemüht, als um eine objektive und realistische Darstellung.
Es geht um die Menschen nicht um den Heiligen Staat
Delegationsbericht des IPPNW
Von 12. bis 21. 3. 2001 fand die
6. IPPNW - ÄrztInnen - Delegation in die Türkei statt. Die Delegationsgruppe reiste nach Diyarbakir, Batman, Mardin, Izmir
und Istanbul, wo sie sich mit Ärzten und Anwälten, mit Gewerkschafter n, Lehrer n, Studenten,
Kriegsdienstverweigerer n, Menschenrechtler n, Künstler n und
Bürgermeistern traf. Der 42-seitige Delegationsbericht enthält neben
einer Einschätzung zur Gesundheitsversorgung die Mitschriften
der Einzelgespräche, z.B. mit den
Ärztekammer n Mardin und
Diyarbakir, der Menschenrechts88
Wir dokumentieren im Folgenden
die zusammenfassende Einschätzung zur gesundheitl. Versorgung.
Der vollständige Text kann über
die Geschäftsstelle als Datei oder
in der Papierfassung bestellt werden. (Red.)
Die Delegation mit Dr. Kizilkan, ein
früherer Präsident der Ärztekammer
stiftung TIHV, der Anwaltskammer, und eine Auswahl von Meldungen und Artikeln der türkischen Presse zwischen dem 9.3.
und 23.3.2001.
(...) Ein Schwerpunkt unserer
Reisen ist es, Informationen über
die Gesundheitsversorgung zu
sammeln. Im Südosten ist die
Gesundheitsversorgung schlecht.
Viele Gesundheitsstationen sind
in den Kriegsjahren zerstört oder
geschlossen worden. Die noch arbeitenden Gesundheitseinrich-
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 80/81, Oktober 2001
Kurdenverfolgung
tungen sind schlecht ausgerüstet.
Die zunehmende Privatisierung
auch im Gesundheitswesen führt
dazu, dass moderne Diagnoseund Therapiegeräte in den Privatpraxen und nicht in den öffentlichen Krankenhäusern stehen.
Die enorme Zuwanderung von
Vertriebenen aus den Dörfern
führt dazu, dass es viel zu wenig
Ärzte und Pflegepersonal gibt.
Zudem kommen viele Ärzte für
ein paar Jahre in den Südosten,
um sich ein finanzielles Polster zu
verschaffen, engagieren sich in
dieser Zeit aber nicht für die Probleme in der Region und ihrer Patienten. Kollegen aus der Region,
die sich auch für soziale und
Menschenrechtsfragen interessieren, werden in ihrer Arbeit massiv behindert. Soweit sie im öffentlichen Dienst sind, können
sie jederzeit mit Verbannung belegt werden oder wegen irgendwelcher Vorwände inhaftiert und
vor Gericht gestellt werden. Das
gilt in noch höherem Maß auch
für Hebammen, Schwestern und
Pfleger, die sich z.B. in der Gesundheitsgewerkschaft engagieren. Der Arbeitslohn für Allgemeinärzte ist sehr niedrig. Sie haben auch nicht viele Möglichkeiten, durch eine Privatpraxis Geld
dazuzuverdienen. So versuchen
viele jedes Jahr erneut, die Facharztprüfung zu machen. Dabei
gibt es für 30 000 Bewerber 4000
Zulassungen. Die Prüfungen sind
schwer, die Ärzte müssen sich
ernsthaft vorbereiten und haben
so wenig Zeit, sich um ihre Patienten zu kümmern. Der diensthabende Arzt im Krankenhaus in
Mardin z.B. versorgt etwa 100 Patienten in 4 Stunden.
In der Türkei sind Menschen, die
im öffentlichen Dienst arbeiten
krankenversichert, ebenso Arbeiter und Angestellte in Fabriken
und Betrieben. Selbstständige
können sich privat versichern.
Die vielen Binnenflüchtlinge sind
zumeist Viehzüchter und Bauern,
die alles verloren haben, oder
Landarbeiter, die schon immer
arm waren. Bei einer hohen Arbeitslosigkeit in den Städten, in
Batman z.B. 56%, gibt es eine
Tayyar Akyol
aus Abschiebehaft entlassen
T ü r k e i -P
Projekt
Der 21-jährige kurdische
Flüchtling Tayyar Akyol wurde
nach einem positiven Beschluss
des VG Hannover Anfang August aus der Abschiebehaft entlassen. Bei dem Versuch, über
ein Asylfolgeverfahren neue Beweismittel zur drohenden Verfolgung einzubringen, war
Tayyar am 03.07.01 nach seiner
Anhörung beim BAFl in Braunschweig in Abschiebehaft genommen worden. Das VG
Hannover möchte nun im Klageverfahren Recherchen zu den
vorgelegten Unterlagen, die das
fortdauernde Interesse der türkischen Sicherheitskräfte an
Mitgliedern der Familie Akyol
deutlich machen, anstellen.
Trotz umfangreicher Nachweise über die seit Jahren andauernden Repressionen gegen die
Mitglieder der Familie Akyol
wurde Tayyar ein Schutzstatus
bisher verweigert, unter anderem mit der Argumentation, er
sei bei seiner Flucht mit 12 Jahren für die Sicherheitskräfte
kein "Unsicherheitsfaktor" gewesen und dies habe sich bis
heute nicht geändert. Alle seine
nach Deutschland geflohenen
Verwandten, darunter seine
zwei Brüder, wurden dagegen
als politisch Verfolgte anerkannt.
Duran Y.
erhält kleines Asyl
Der Kurde Duran Y., der im
Sept. 97 rechtswidrig in die Türkei abgeschoben wurde, erhielt
nun nach seiner erneuten
Flucht mit Bescheid des BAFl
vom 31.07.01 das "kleine Asyl".
Das BAFl bestätigte damit die
auch vom Türkei-Projekt recherchierte Verfolgung nach der
Abschiebung (s. Bericht "Von
Deutschland in den türkischen
Folterkeller").
große Zahl von mittellosen Menschen, die keine soziale Absicherung haben.
Für diese Menschen gibt es die
Yesil Kart, die grüne Karte, die
beim Gouverneur beantragt werden muss. In Batman z.B. wurden
100 000 Yesil Karts ausgegeben,
ca. 250 000 Bedürftige, d.h. Menschen ohne Einkommen und ohne Krankenversicherung, haben
keine Kart. Die Kart berechtigt
zur kostenlosen Untersuchung
und Behandlung in staatlichen
Krankenhäusern und Gesundheitsstationen. Sie deckt nicht die
Medikamentenkosten. In der Praxis müssen auch Inhaber der Yesil
Kart im Krankenhaus einen bestimmten Betrag entrichten, bevor sie einen Arzt sehen. Gegen
das Messergeld, das vor Operationen in der Regel an den Chirurgen entrichtet werden muss,
geht die Ärztekammer seit längerem vor, es hat sich aber bisher
wenig geändert.
Die Yesil Kart hat also für die bedürftigen Patienten wenig Nutzen. Der Weg zum Gouverneur
fällt ihnen schwer. Aufgrund ihrer Erfahrungen vor und
während der Vertreibung haben
sie Angst. Sie müssen dort ihre
Bedürftigkeit nachweisen. Die
Angabe, dass sie aus ihrem Dorf
und von ihrem Land vertrieben
wurden, führt dazu, dass sie als
PKK-Unterstützer beschimpft
und häufig auch geschlagen werden. Häufig wird ihnen dann die
Yesil Kart auch verweigert, auf
die kein Rechtsanspruch besteht.
Alle diese Faktoren haben dazu
geführt, dass Säuglings- und Kindersterblichkeit im Südosten der
Türkei auf das Niveau der ärmsten Entwicklungsländer angestiegen sind. Impfprogramme
werden kaum noch flächendeckend durchgeführt. Es gibt
Todesfälle an Diphtherie und die
Tuberkulose breitet sich wieder
aus.
In den Metropolen im Westen
gibt es eine Gesundheitsversorgung nach westlichem Standard,
aber auch nur für den, der sie be89
Kurdenverfolgung
zahlen kann. Die Arbeitslosigkeit
ist auch hier hoch, erreicht bei
den Vertriebenen und Flüchtlingen bis zu 80%. Sie halten sich
mit Gelegenheitsarbeiten und
Straßenhandel über Wasser. Auch
sie können eine Yesil Kart beantragen. Nach der Aussage unserer
Gesprächspartner in Izmir und
Istanbul bekommen Bedürftige
kurdischer Herkunft dort fast nie
eine Kart sondern riskieren allenfalls Beschimpfungen, Prügel
und Inhaftierung.
Dass die Behandlung psychisch
kranker Menschen in der Türkei
im Argen liegt, steht sogar im
Anhang zum Lagebericht des
deutschen Außenministeriums.
Die fünf Rehabilitationszentren
der Menschenrechtsstiftung in
Ankara, Istanbul, Izmir, Adana
und Diyarbakir arbeiten mit Psychiatern und Psychotherapeuten,
die kostenlos Folteropfer behandeln. Auch gibt es ein Netz von
Psychiatern außerhalb der Stiftung, die sich mit der Behandlung
posttraumatischer Belastungsstörungen auskennen. Sie alle
können ihren Patienten keine Sicherheit bieten vor weiterer Verfolgung, vor erneuter Inhaftierung und erneuter Folter. Das
macht eine erfolgreiche Therapie
nahezu unmöglich. Dazu kommt,
dass auch diese Ärzte in ihrer Arbeit ständig behindert und mit
Gerichtsverfahren überzogen
werden.
Petition an Bundestag:
Kurdischer Kriegsdienstverweigerer aus Abschiebehaft entlassen
T ü r k e i -P
Projekt
D
er kurdische KDV’ler Sedat
Baydemir wurde nach Einreichen einer Petition beim Deutschen Bundestag durch den Nds.
Flüchtlingsrat und Connection
e.V. Ende Mai aus der Abschiebehaft entlassen. Der Landrat des
Main-Kinzig-Kreises setzte auf
Bitten des Petitionsausschusses
die Abschiebung bis zur Entscheidung über die Petition aus.
Baydemir hatte gemeinsam mit
40 anderen türkisch-kurdischen
Kriegsdienstverweigerern am 1.
Dezember 2000 vor dem türkischen Konsulat in Hannover öffentlich seine Kriegsdienstverwei-
gerung erklärt. In einer gemeinsamen Erklärung hatten sie deutlich gemacht, dass sie “das Militär
und den Militärdienst überall auf
der Welt ablehnen”. Zugleich
wiesen sie darauf hin, dass die
Türkei das Menschenrecht auf
Kriegsdienstverweigerung nicht
anerkennt. Angesichts des Krieges in der Türkei riefen sie “die
von diesem Krieg betroffenen
Menschen auf, nicht an den Verbrechen des Krieges teilzunehmen, Kriegsdienste zu verweigern und Kriegsdienstverweigerer und Deserteure zu unterstützen.” Die Hürriyet denunzierte
die an der Aktion beteiligten Verweigerer in einem Artikel tags
darauf als Angehörige der PKK.
Weder das BAFl, noch das VG
Frankfurt in seiner Eilentscheidung prüften die sich daraus ergebenden Verfolgungsgefahren.
Die vom Niedersächsischen
Flüchtlingsrat und Connection
e.V. eingereichte Petition, die zu
einer nochmaligen Überprüfung
der Verfolgungsgründe von Baydemir auffordert, wurde zwischenzeitlich von weiteren Organisationen unterstützt.
Hungerstreik in Büren
Edith Diewald
I
m Abschiebegefängnis Büren
befanden sich drei kurdische
Flüchtlinge im Hungerstreik, die
damit gegen ihre Abschiebung in
die Türkei protestierten. Inzwischen ist der Hungerstreik von allen dreien beendet - mit unterschiedlichem Ausgang.
Ali Dasayak, der seinen Hungerstreik am 29. Mai begann, ist in
die Türkei abgeschoben worden.
Dasayak hat den Militärdienst
verweigert hat und wurde in der
90
Türkei als Sympathisant der PKK
gesucht. Er kam vor 8 Jahren
nach Deutschland. Sein Asylantrag wurde abgelehnt, weil in der
Bundesrepublik die Verweigerung des Militärdienstes als
Fluchtgrund nicht anerkannt ist.
Nach über 60 Tagen im Hungerstreik hat die JVA Büren Dasayak,
der sich nach einem Schwächeanfall eine Kopfverletzung zuzog,
ins Justizvollzugskrankenhaus
Fröndenberg verlegen lassen. Am
8. August wurde Ali Dasayak
dann im Rahmen einer Sammelabschiebung in die Türkei abgeschoben. Dort wurde er direkt
auf dem Flughafen verhaftet. Er
verbrachte mindestens zwei Tage
im Polizeigewahrsam, wo er
mehrfach verhört wurde. Er unterliegt einer Meldeauflage bei
der Polizei. Die Freilassung von
Dasayak beruht nach Ansicht seines Betreuers Frank Gockel vom
Verein Hilfe für Menschen in Abschiebehaft Büren e.V., sicherlich
auch darin, dass es in den deut-
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 80/81, Oktober 2001
Kurdenverfolgung
schen Medien ein breites Interesse an diesem Fall gibt und dass
daher die türkische Regierung
Dasayak nicht einfach inhaftieren
oder verschwinden lassen kann.
Ismail Genc befand sich seit dem
5. Juli im Hungerstreik. Er beendete diesen, als das Verwaltungsgericht Leipzig feststellte, dass er
bis zu einer endgültigen Entscheidung über seinen Eilantrag
nicht abgeschoben werden dürfe.
Genc sollte, obwohl noch eine
Klage im Asylverfahren beim
Verwaltungsgericht anhängig war,
abgeschoben werden. Das Ver-
waltungsgericht entschied am
27.8. über den Eilantrag von
Genc. Er darf vorläufig nicht in
die Türkei abgeschoben werden.
Nun muss die Ausländerbehörde
mit der Abschiebung bis zu einer
endgültigen Entscheidung der
Klage warten. Dies dauert in der
Regel bis zu einem Jahr. Eine genaue Begründung der Gerichtsentscheidung liegt noch nicht
vor.
Erol Akbulut war seit dem
17.6.01 im Hungerstreik und beendete diesen nach 69 Tagen. Er
wurde bevor er einen Asylantrag
gestellt hatte, von der Polizei wegen illegaler Einreise verhaftet
und in Abschiebehaft nach Büren
verbracht. Dort stellte er einen
Asylerstantrag, der jedoch abgelehnt worden ist. Jetzt hofft er
noch auf einen Eilantrag, den seine Rechtsanwältin beim Verwaltungsgericht eingelegt hat.
Weitere Informationen über den
Hungerstreik der Gefangenen
sind unter http:/www.gegenAbschiebehaft.de nachzulesen.
VERBOTEN IST, DEN
FRIEDEN ZU VERBIETEN
Aufruf an die Bundesregierung zur Aufhebung
des Betätigungsverbots der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) in Deutschland
Die in Deutschland immer noch verbotene Kurdische Arbeiterpartei (PKK) hat einseitig und ohne Gegenleistung die Fortführung des bewaffneten Kampfes eingestellt: In Erwartung, dass die aufrichtige Geste des Friedens den Dialog zu einer friedlichen und demokratischen Versöhnung in der Türkei ermöglicht. In der Hoffnung, dass die international anerkannten Rechte auch der Kurdinnen und Kurden in der
Türkei und international bestätigt werden. Um den historischen Konflikt endgültig zu lösen, den Krieg
zukünftig unmöglich zu machen, um die Türkei auf dem gemeinsamen Weg nach Europa als demokratische Zivilgesellschaft einzurichten.
SOLL DIESE GROSSE HOFFNUNG WEITERHIN VERBOTEN SEIN ?
• Die Aufhebung des PKK-Verbotes, die erst den freien, offenen Dialog zwischen allen Beteiligten ermöglicht?
• Die Annahme des Friedensangebotes als Beispiel für die gesellschaftliche Entwicklung der
Türkei?
• Die zur Versöhnung ausgestreckte Hand, die nur ergriffen werden kann, wenn allen Partnern
des Friedensprozesses zivilgesellschaftliche Anerkennung gilt?
• Die erklärte Bereitschaft, die großen Opfer und die schrecklichen Wunden der Vergangenheit
gemeinsam aufzuarbeiten?
• Der legitime Wunsch, die freie und ungehinderte Tätigkeit der PKK und aller kurdischen Vereine in Deutschland auch zu legalisieren?
Die Aufhebung des längst überflüssigen Verbots der PKK sollte den ersten und wichtigsten friedenspolitischen Schritt der Bundesrepublik zur Beendigung des türkisch-kurdischen Konflikts ermöglichen. Die
nachhaltige Lösung der Kurdenfrage ist nur unter Einbeziehung aller Parteien und Gruppen aussichtsreich.
Das noch geltende Verbot hemmt und ignoriert den strategischen Wechsel der PKK und dessen positive
Auswirkungen innerhalb des kurdischen Volkes im deutschen Exil und diffamiert es als eine Menschengruppe “zweiter Güte”. Der innere Frieden in Deutschland, das Zusammenleben zwischen Bürgerinnen
und Bürgern unterschiedlicher Herkunft, wird belastet durch ein antiquiertes Verbot, das als ein wesentlicher Stimulus für die anwachsende Ausländerfeindlichkeit in unserem Lande fortwirkt.
91
Kurdenverfolgung
Die Aufhebung des Betätigungsverbots der PKK bedeutet einen Verlust nur in Form der Aufgabe eines
riesigen geldverzehrenden Überwachungsapparates der Polizeien und Geheimdienste, da die Kurden mit
ihrer neuen Strategie ihre Arbeit, ihre Organisationen und ihre Absichten noch stärker öffentlich präsentieren möchten. Die Abschaffung dieses Repressionsapparates bedeutete einen großen Schritt in Richtung auf die Verwirklichung des Friedens und wäre alles das: menschlich, demokratisch und vernünftig.
Wir, die Unterzeichner und Unterzeichnerinnen unterstützen das Symposium im Dezember 2001
in Berlin und die Kampagne ”Verboten ist es, den Frieden zu verbieten”. Die Bundesregierung
rufen wir auf, Schritte zur Aufhebung des PKK-Verbotes einzuleiten und sich für eine friedenspolitische Lösung der kurdischen Frage einzusetzen.
Trägerkreis:
YEK-KOM (Föderation kurdischer Vereine in Deutschland e.V.), IPPNW (Deutsche Sektion der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges Ärzte in sozialer Verantwortung e.V.), medico international, AZADI e.V. (Rechtshilfefonds für Kurdinnen und Kurden in Deutschland), Humanistische Union e.V.
UnterstützerInnen:
Aengenheister, Astrid (Rechtsanwältin); AG Friedens- und Internationale Politik beim Parteivorstand der PDS; Ahues, Rainer (Rechtsanwalt/ Vorstandsmitglied des Republikanischen Anwaltsvereins); Antifaschistische Aktion Lüneburg/Ülzen; Antifaschistische Initiative e.V.; Antifaschistisches Telefon; Arndt, Christian (Pastor); Auernheimer, Prof. Dr. Georg (Uni-Köln); Autonome Antifa (Göttingen);
Avras, Peter (Mission-Entwicklung-Frieden St.-Martin, Lahnstein); Baba, Evrim (MdA/PDS); Babel, Christian (PDS); Bakkenes, Bert (Vorsitzender der Stiftung Initiativgruppe Kurdistan, NL); Becker, Helga; Becker, Laura; Becker, Phillip; Berghausen, Dr. Hans Georg (DKP);
Biskamp, Elard (Rechtsanwalt); Blüm, Dr. Norbert (CDU/CSU); Bootz, Mariagerogia (Linke Liste, VVN/BdA); Brauns, Nikolaus (Vorstandsmitglied der Deutsch-Kurdischen Gesellschaft e.V. und Vorstandsmitglied der PDS München); Butterwegge, Prof. Dr. Christoph
(Uni-Köln); Coskun, Baki (Rechtsanwalt); Dahmer, Prof. Helmut (TU-Darmstadt); Detjen, Jörg (PDS-Gruppe im Rat der Stadt Köln); Die
Karawane für die Rechte der Flüchtlinge und MigrantInnen; Diefenbach, Gerhard (Vorsitzender der Aachener Friedenspreis e.V.);
Dombrowsky, Christine (Archiv 415 – Die Trikont Bücher in ihrer Zeit); Elturan, Dr. Burhan (Indiana University); Emhart, Doris; Engels,
Tim (VVN-BdA Neuss); Europäische Vereinigung von Juristinnen und Juristen für Demokratie und Menschenrechte in der Welt e.V.
(EJDM) Düsseldorf; Farahat, Kh. (DGB); Farroklizad, Schalinad (Uni-Köln); Flüchtlingsrat Wiesbaden; Friedensinitiative “Freiheit für Leyla Zana” e.V.; Frisullo, Dino (Italien); Gärtner, Birgit (Journalistin); Gebre, Elias (DGB); Gehrcke, Wolfgang (MdB/PDS); Geisweid, Heike
(Rechtsanwältin); Ghassemlou, Dr. Nesmil (Initiative Freiheit für Leyla Zana); Ghassemlou, Dr. Nesmil (IPPNW) ; Gössner, Dr. Rolf
(Rechtsanwalt/Publizist); Grubba, Bernd (Büroleiter einer Anwaltskanzlei, Bonn); Grützmacher, Friedel (MdL, B90/Die Grünen); Guzzoni, Hendrijk (Fraktionsvorsitzender, Unabhängige Frauen und Linke Liste), Freiburg; Hartmann, Detlef (Rechtsanwalt); Heim, Michael (Rechtsanwalt); Heiming, Martin (Rechtsanwalt), Heidelberg; Hentges, Dr. Gudrun (Uni Köln); Herrmann, Martina (Unabhängige
Frauen, Freiburg); Hervé, Dr. Florence (Autorin); Heydenreich, Carl (Rechtsanwalt); Hübner, Carsten (MdB/PDS); Hummel, Dieter (Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen); Informationsstelle Kurdistan e.V. (ISKU); Internationaler Menschenrechtsverein Bremen e.V.; Junge Linke Wesel; Jungheim, Wolfgang (Pax-Christi, Nassau-Lahnstein); Karb, Doris (Mission-Entwicklung-Frieden St.-Martin, Lahnstein); Kastner, Manfred (DKP/VVN-BdA und ver.di); Kaygisiz, Hasan (Politologe); Keck, Silke (Unabhängige Frauen Freiburg);
Kelloglu, Dündar (Rechtsanwalt); Krause, Heike (Rechtsanwältin); Kulturprojekt nn-tv (Bonn); Kurdischer Student(inn)enverband (YXK);
Kurdisches Institut für Wissenschaft und Forschung e.V.; Kurdistan Informations-Zentrum e.V. (KIZ); Kurdistan Solidarity Committee
UK; Kutzmutz, Rolf (MdB(PDS); Lankisch, Heidi (medienagentur für menschenrechte – mfm); Leukefeld, Karin (Freie Journalistin); Lex,
Angelika (Rechtsanwältin, Deutsch-Kurdische-Gesellschaft e.V., München); Lippmann, Heidi (MdB/PDS); Lord Avebury (Mitglied des
britischen Oberhauses); Lord Rea (Mitglied des britischen Oberhauses); Luckenbach (Linke Liste, Freiburg); Luppa, Helmut (DGB); Midasch, Rüdiger; Moos, Michael (Rechtsanwalt und 1. Vorsitzender der Vereinigung baden-wüttembergischer Strafverteidiger); Narr,
Prof. Wolf-Dieter (Sprecher des Komitees für Grundrechte und Demokratie); Olbrich, Stefan (Rechtsanwalt); Ostermeier, Michaela
(ver.di); Paech, Prof. Norman (Hochschule für Wirtschaft und Politik Hamburg); Paris, Sabine (Rechtsanwältin); Pausch, Johannes
(Rechtsanwalt); Peace in Kurdistan Campaign (Großbritannien – UK); Penteker, Dr. Gisela (IPPNW); Pues, Anni (Rechtsanwältin); Putsche, Herwig (Flüchtlingsberater der Diakonischen Flüchtlingshilfe im Main-Kinzig-Kreis e.V.); Radermacher, Lilo (Gewerkschaftssekräterin); Ratzmann, Volker (Rechtsanwalt und Vorstandsmitglied der Vereinigung Berliner Strafverteidiger e.V.); Ritter, Manfred; RoederBode, A. (Mitarbeiter Anwaltskanzlei, Bonn); Rosa-Luxemburg-Bibliothek (Bonn); Roß, Klemens (Rechtsanwalt); Rote Hilfe (Ortsgruppe Duisburg); Rüdenburg, Dagmar (ver.di); Rudolf, Beate (Physiotherapeutin); Sahin, Mehmet; Sayan, Giyasettin (MdA/PDS); Schmidt,
Thomas (Mitarbeiter von amnesty international Berlin); Schmidt, Thomas (Rechtsanwalt); Schneider, Dr. Heinz-Jürgen (Rechtsanwalt);
Schneider, Thomas (Kolpingfamilie, Lahnstein, St.-Martin); Schudell, Hans-Georg (Rechtsanwalt); Schusterbauer, Dagmar (Pax-Christi,
Lahnstein); Seifert, Irene (Rechtsanwältin, Vorsitzende der Vereinigung demokratischer Juristinnen und Juristen e.V); Senol, Sengül
(PDS-Gruppe im Rat der Stadt Köln); Siglsteller, Sieglinde (ver.di); Sperling, Roland (PDS); Strutynski, Peter (Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag); Sturkenboom, A. (MOCAKAUK-Amsterdam); Tekce, Hidir (DGB); Treiber-Lehmann, Katja (PDS-Neuss);
Uca, Feleknas (MdEP/PDS); van Leemput, G. (Study centre on Turkey, Niederlanden); Viethen, Maria (Rechtsanwältin, B90/Die Grünen);
Vogel, Irene (Unabhängige Frauen Freiburg); Volhard, Barbara (Unabhängige Frauen, Freiburg); Waid, Jan (DGB); Wiese, Gisela (PaxChristi, Hamburg); Wildschut, Willem (Solidaritätsgruppe Kurdistan, Niederlande); Wolf, Dr. Winfried (MdB/PDS); Yildirim, Erol
(Rechtsanwalt); ZAG Redaktion; Zeitungsprojekt “Nullnummer” (Bonn)
Ich / Wir unterstütze/n den Aufruf
Name, Vorname
Organisation
Unterschrift
(Bitten unterschrieben zurückzusenden an YEK-KOM; Graf-Adolf-Str. 70a; 40210 Düsseldorf;
Tel: 0211 – 17 11 451; Fax: 0211 – 17 11 453; e-mail:e-mail: [email protected])
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FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 80/81, Oktober 2001
Geteilte Medizin
Geteilte Medizin
Ausländerrechtliche Aspekte
Bleiberecht für traumatisierte Flüchtlinge?
Dr. Holger Hoffmann, Rechtsanwalt, Fachanwalt für Verwaltungsrecht
Auf Initiative der niedersächsischen Fachkonferenz (eines bereits
seit den 80er Jahren bestehenden
Gremiums aus RechtsanwältInnen, FachreferentInnen der Verbände und SozialarbeiterInnen)
sind im ersten Halbjahr des Jahres
2001 in Hannover, Göttingen und
Stade mehrere Fachtagungen zum
Thema “Traumatisierung” durchgeführt worden. Ziel dieser Veranstaltungen war es u.a., gemeinsam
mit der Ärztekammer und anderen einschlägigen Berufsverbänden
über das Thema “Posttraumatisches Belastungssyndrom” zu informieren und ein Netzwerk von
MedizinerInnen zu etablieren, die
für Fragen des Flüchtlingsschutzes
die nötige Sensibilität und Fachkompetenz aufbringen. Eine Arbeitsgruppe der Fachkonferenz will
die Ergebnisse der Tagungen auswerten. Auch weiterhin sollen
strukturelle Defizite der ärztlichen Versorgung insbesondere bei
Traumatisierten und Folteropfern
thematisiert werden und ggfs. in
politische Initiativen münden. Gedacht wird beispielsweise an die
Durchführung einer Anhörung zu
der Forderung nach einem psychosozialen Zentrum. Zunächst einmal jedoch geht es um eine Bestandsaufnahme zur Situation in
Niedersachsen sowie zur Klärung
der Ausgangsbedingungen. RA
Holger Hoffmann hat hierzu in
Stade ein Referat über die ausländerrechtlichen Aspekte eines Bleiberechts für Traumatisierte gehalten, das wir im Folgenden dokumentieren. (Red.)
1.) Zunächst soll Begriffsklarheit
versucht werden: Was ist ein Abschiebungshindernis?
Als “Merkposten” ist wichtig,
dass Ausländer, deren Abschiebung ansteht, bereits kein Aufenthaltsrecht in Deutschland
mehr haben, d.h. ein Gericht
oder eine Behörde hat “unanfechtbar”/rechtskräftig festgestellt, dass die betroffene Person
ausgewiesen und zur Ausreise
verpflichtet ist. Diese Ausreisepflicht muss vollziehbar und ihre
freiwillige Erfüllung darf nicht
gesichert sein.
Bei der Frage nach einem “Abschiebungshindernis” geht es immer nur darum, ob die örtlich zuständige Ausländerbehörde bei
einem unanfechtbar ausreisepflichtigen Ausländer vorübergehend darauf verzichtet, ihn
zwangsweise in seinen Heimatstaat zurückzuführen.
93
Geteilte Medizin
Ein solcher Verzicht kann darauf
beruhen, dass die Abschiebung
aus rechtlichen oder tatsächlichen
Gründen unmöglich ist oder aus
bestimmten humanitären Gründen nicht durchgesetzt werden
soll. Während dieser Zeit hat der
betroffene Ausländer einen Anspruch darauf, eine schriftliche
Duldung ausgestellt zu erhalten.
Die Ausreisepflicht bleibt jedoch
bestehen. Der geduldete Aufenthalt gilt juristisch als “nicht legaler”, d. h. nicht genehmigter Aufenthalt. Grundsätzlich ergibt sich
daher nicht die Möglichkeit, ein
längerfristiges “gesichertes”/legales Aufenthaltsrecht noch zu
erhalten.
Die Duldung ist befristet. Sie soll
nicht länger als ein Jahr erteilt
werden. Die Ausländerbehörde
kann jeden Zeitraum zwischen einem Tag und einem Jahr wählen.
Regelmäßig werden Duldungen
für drei bis sechs Monate erteilt.
Gesetzlich vorgeschrieben ist
dies nicht, entspricht aber üblicher Verwaltungspraxis beinah aller
Ausländerbehörden
in
Deutschland.
Ein tatsächliches Abschiebungshindernis ist beispielsweise gegeben, wenn der Flughafen des Heimatstaates nicht erreichbar ist
(militärische Auseinandersetzungen o.ä.) oder die Verkehrsverbindungen allgemein unterbrochen
sind, wenn kein Pass oder andere
Identitätspapiere vorliegen oder
wegen Reiseunfähigkeit die
Durchführung der Abschiebung
unmöglich ist.
Aus Rechtsgründen ausgeschlossen ist die Abschiebung, wenn eines der Abschiebungsverbote
oder Abschiebungshindernisse
gemäß §§ 51, 52, 53 Abs. 1, 2
oder 4 AuslG vorliegt oder eine
Abschiebungssperre während eines Auslieferungsverfahrens besteht (§ 53 Abs. 3 S. 1 AuslG).
Wenn beispielsweise durch ein
verwaltungsgerichtliches Urteil
rechtskräftig im Rahmen des
Asylverfahrens entschieden wurde, dass die Abschiebung zulässig
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ist, darf eine Duldung nur erteilt
werden, wenn die Abschiebung
aus rechtlichen oder tatsächlichen
Gründen unmöglich ist oder aufgrund einer bestimmten Erlassregelung, für die die Innenministerien der jeweiligen Bundesländer
zuständig sind, ausgesetzt werden
soll
(§ 55 Abs. 4 AuslG).
2.) Krankheit kann ein Abschiebungshindernis sein. Dabei geht
es nicht nur um die Frage, ob
“Reisefähigkeit” vorliegt. Dies
dürfte nach dem Stand der medizinischen Wissenschaft jedenfalls
in Deutschland im Prinzip immer
der Fall sein, weil notfalls auch
ein Patient, der an einer HerzLungen-Maschine angeschlossen
ist, mit ärztlicher und pflegerischer Begleitung per Flugzeug in
sein Heimatland gebracht werden
kann. Es lassen sich schwer Fälle
denken, in denen tatsächlich keine “Reisefähigkeit” besteht, wenn
medizinische Vorsorge- oder Begleitmaßnahmen getroffen werden.
Angesprochen ist damit selbstverständlich nur die Frage der
“technischen Durchführbarkeit”
einer Abschiebung. Für Ausländerbehörden, Sozialbetreuer und
Anwälte stellt sich sozusagen
“daneben” oder ergänzend dazu
stets die Frage nach der Verhältnismäßigkeit und/oder Zumutbarkeit, wenn zwar Reisefähigkeit
“hergestellt” werden kann (z. B.
Arzt oder Pfleger fliegen mit,
Medikamente werden mitgegeben), eine adäquate medizinische
Betreuung beim Empfang im
Heimatland jedoch nicht sichergestellt werden kann.
Bei der Frage, ob Krankheit ein
Abschiebungshindernis ist, geht
es in der Regel gerade darum, ob
eine bereits in Deutschland bestehende Erkrankung eines ausreisepflichtigen Ausländers in seinem
Heimatstaat wegen der dort unzureichenden Behandlungsmöglichkeiten sich verschlimmert und
zu einer erheblichen konkreten
Gefahr für Leib und Leben (im
Sinne von § 53 Abs. 6 S. 1 AuslG)
führt.
3.) Das Bundesverwaltungsgericht hat 1997 festgestellt, eine
Krankheit begründe jedenfalls
dann ein Abschiebungshindernis,
wenn wegen der im Heimatstaat
unzureichenden Behandlungsmöglichkeiten die Gefahr bestehe, dass die Krankheit sich verschlimmere und zu einer erheblichen konkreten Gefahr für Leib
und Leben, im Sinne des § 53
Abs. 6 S. 1 AuslG führe.
Für den Begriff “Gefahr” sei
unerheblich, ob diese sich ausschließlich aus einem Eingriff von
außen, einem störenden Verhalten oder aus einem Zusammenwirken mit anderen - auch anlagebedingten - Umständen ergäbe.
Die Gefahr der Verschlechterung
der Gesundheit könne auch
durch die individuelle Konstitution des Ausländers bedingt sein.
Der Begriff der Gefahr in § 53
Abs. 6 S. 1 AuslG sei nicht einschränkend auszulegen. Es genüge, wenn eine beachtliche Wahrscheinlichkeit dafür bestehe, dass
im Einzelfall eine erhebliche Gefährdungssituation bestehe. Erheblich sei eine solche Gefahr
beispielsweise dann, wenn sich
der Gesundheitszustand nach der
Rückkehr wesentlich oder gar lebensbedrohlich verschlechtere.
Konkret sei eine erhebliche Gefahr, wenn der Ausländer alsbald
nach der Rückkehr in diese Lage
gerate, weil er auf die unzureichenden Möglichkeiten zur Behandlung seines Leidens im Heimatland verwiesen sei und keine
wirksame Hilfe dort in Anspruch
nehmen
könne
(BverwG
25.11.1997 -9 C 58/96 und
29.07.1999 –9 C 2/99). Diese
Gefahr kann in einer drohenden
Verschlimmerung einer Krankheit wegen ihrer unzureichenden
medizinischen Behandlungsmöglichkeit im Zielstaat angenommen werden. Die Verschlimmerung muss “wesentlich” oder “lebensbedrohlich” sein und “alsbald” eintreten (BVerwG, Urteil
vom 25.11.1997).
Wichtig sind für unseren Zusammenhang die Elemente “indivi-
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 80/81, Oktober 2001
Geteilte Medizin
duell”, “konkret” und “erheblich”. Gefahren, die der Bevölkerung insgesamt oder bestimmten
Gruppen oder einer Vielzahl von
Personen im Zielstaat der Abschiebung drohen, gelten nicht
als ausreichend, um eine Abschiebung zu verhindern. Beispielsweise kann eine allgemein schlechte
Versorgungslage in einem bestimmten Staat nicht zu einem
Abschiebungshindernis führen,
selbst dann, wenn sie durch persönliche Umstände oder besondere Lebensverhältnisse des betroffenen Ausländers begründet
oder verstärkt wird.
Soweit es sich um typische Auswirkungen einer allgemeinen Gefahrenlage handelt (z.B. hohes
Alter, fehlende Wohnung, geminderte Erwerbsfähigkeit, fehlende
körperliche Widerstandskraft,
mangelndes Beziehungsgeflecht
zu Verwandten und Freunden)
führt dies nach der Rechtsprechung nicht zu einem Abschiebungshindernis
(BverwG
08.12.1998 – 9 C 4/98).
In der Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte wird diskutiert,
ob Abschiebungsschutz nur dann
zu gewähren ist, wenn die erforderliche medizinische Behandlung generell im Herkunftsstaat
nicht möglich ist. Dies impliziert,
dass Abschiebungsschutz verweigert werden dürfe, wenn sie dem
Betroffenen ausschließlich aufgrund seiner finanziellen Situation nicht zur Verfügung steht.
Fehlende finanzielle Leistungsfähigkeit bei objektiv bestehender
Behandlungsmöglichkeit im Heimatstaat begründet nach Auffassung einiger Verwaltungsgerichte
kein
Abschiebungshindernis.
Formuliert wird, es sei Aufgabe
des jeweiligen Staates, dafür zu
sorgen, dass seine Staatsangehörigen die für sie notwendige
und mögliche medizinische Versorgung auch dann erhalten,
wenn sie nur über ein geringes
oder gar kein Einkommen verfügen. Diese sozialpolitische Aufgabe könne nicht über die Annahme eines Abschiebungshin-
dernisses auf die Bundesrepublik
Deutschland “abgewälzt” werden
(z.B. VG Augsburg –Urteil vom
25.02.1999 –AU 7 K 98.30453).
4.) a) In der Rechtsprechung der
Oberverwaltungsgerichte wird eine ärztlich attestierte posttraumatische Belastungsstörung als Abschiebungshindernis im Sinne des
§ 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG seit längerer Zeit anerkannt (vgl. OVG
NRW – Beschluss vom 12.04.99
– 17 B 2232/98; OVG Niedersachen – Beschluss vom 22.01.1999
– 13 M 246/99 und Beschluss
vom 27.07.1999 – 11 M 2854/99
und Beschluss vom 28.03.2000 –
12 L 4205/97; OVG Saarland –
Beschluss vom 20.09.99 – 9 Q
286/98.A und Urteil vom
25.03.98 – 9 R 275/95).
Ferner hat beispielsweise das
OVG Niedersachen im Beschluss
vom 28.03.2000 (der eine Frau
aus dem Kosovo betraf, die dort
vergewaltigt worden war) den
Rechtsgrundsatz aufgestellt, dass
dann, wenn sich eine bestehende
Krankheit (hier Traumatisierung
aufgrund einer Vergewaltigung)
in dem Heimatstaat lebensbedrohend verschlimmern würde, weil
die Behandlungsmöglichkeiten
dort unzureichend seien, Abschiebungsschutz gemäß § 53
Abs. 6 Satz 1 AuslG zu gewähren
sei.
Vereinzelt ist in der Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte
ein Anspruch auf therapeutische
Behandlung in sicherer Umgebung herausgearbeitet worden,
weil eine traumatisierte Person
vor weiterer Traumatisierung
durch Rückkehr in die Umgebung, in der die traumatische Erfahrung stattgefunden hat, ausländerrechtlich geschützt werden
müsse (vgl. OVG Berlin – Beschluss vom 27.06.99 – OVG 8 S
23.98 und VG Neustadt – Urteil
vom 06.12.1999–11 K 1618/NW).
Das behördliche Ermessen sei in
einem derartigen Fall auf Null reduziert, wenn psychotherapeutische Gutachten ergäben, dass eine Rückkehr in das Herkunfts-
land die nach wie vor bestehende
posttraumatische Störung akut
verstärken und insbesondere zu
Angstanfällen und Depressivität
führen würde.
Nach der oben zitierten Rechtsprechung liegt ein “zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis”
vor, wenn die im Zielstaat der
Abschiebung zu erwartende
Rechtsgutbeeinträchtigung in der
Verschlimmerung einer Krankheit besteht, unter der der Ausländer/die Ausländerin bereits in
Deutschland leidet.
Eine solche Gefahr im Zielstaat
führt zu einer Duldung nach § 55
Abs. 2, 1. Alternative, wenn ein
zwingendes Abschiebungshindernis nach § 53 AuslG gegeben
ist. Ein Anspruch auf Duldung
besteht im übrigen gem. § 55
Abs. 2, 3. Variante, solange die
Abschiebung nach § 53 Abs. 6
AuslG ausgesetzt ist.
b) Gemäß der niedersächsischen
Erlasslage (NMI-Erlass vom
07.07.1995 “Verfahren bei Abschiebungshindernissen nach §
53 AuslG) ist dann, wenn die
Ausländerbehörde, das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge oder ein Verwaltungsgericht das Vorliegen eines Abschiebungshindernisses
nach § 53 AuslG festgestellt haben, auf der Grundlage des § 30
Abs. 3 AuslG eine Aufenthaltsbefugnis zu erteilen, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt sind und innerhalb der nächsten sechs Monate voraussichtlich nicht von einem Wegfall des
Abschiebungshindernisses ausgegangen werden kann.
Allerdings ist nach diesem Erlass
weitere Voraussetzung, dass der
betroffene Ausländer einen gültigen Pass besitzt oder wenigstens
“zumutbare Bemühungen” unternimmt, um einen Pass zu beschaffen.
Die Aufenthaltsbefugnis ist auch
dann zu erteilen, wenn der Lebensunterhalt nicht durch eigene
Mittel gesichert ist, da ein festge95
Geteilte Medizin
stelltes Abschiebungsverbot als
besonderer Umstand angesehen
werden kann, der ein Abweichen
vom Regelversagungsgrund des §
7 Abs. 2 Nr. 2 AuslG rechtfertigt.
5.) Wendet man die unter Ziff. 4 a)
dargelegten Maßstäbe auf traumatisierte oder früher in Bosnien
internierte Flüchtlinge an, sind
folgende typische Gefahren zu
beachten:
a) Zum einen ist die Belastbarkeit
und Leistungsfähigkeit von Personen mit chronischen posttraumatischen psychischen Störungen nicht mit denen gesunder
Menschen zu vergleichen. Schon
durch den Wegfall der in
Deutschland vorhandenen medizinisch-psychotherapeutischen
Behandlung, verbunden mit dem
erzwungenen Umzug in eine Gesellschaft, welche diesen Flüchtlingen ablehnend gegenübersteht,
kann es zu einer Dekompensation mit schwerwiegenden Folgen
für die körperliche und geistige
Gesundheit kommen. Dieser Effekt wird noch verstärkt, wenn
die Existenzbedingungen im
Herkunftsland nicht gesichert
sind, weil es beispielsweise an
Wohnung und Arbeit fehlt und
soziale Verelendung droht.
b) Auch der jüngste Lagebericht
des Auswärtigen Amtes über die
Situation in Bosnien-Herzegowina kommt zu dem Ergebnis, dass
die Kapazitäten für eine Versorgung der dort bereits lebenden
Kranken fehlten. Bei schwer traumatisierten Bürgerkriegsflüchtlingen bestehe daher zur Zeit in
Bosnien unter Berücksichtigung
des Standes der medizinischen
Versorgung und der vielschichtigen psychischen Folgen der
Rückkehr unter dem Einfluss der
aktuellen sozialen, wirtschaftlichen und politischen Situation in
Bosnien-Herzegowina eine hohe
Wahrscheinlichkeit
erneuter
Traumatisierung, die noch größer
werde, wenn weitere Faktoren
wie Armut hinzukämen.
Rehabilitationszentren in dem
vom Bürgerkrieg noch vielerorts
96
zerstörten Lande seien schlecht
ausgestattet. Darüber hinaus seien die örtlichen Fachkräfte noch
nicht fortgebildet, um den durch
den Konflikt hervorgerufenen
Traumata und psychischen
Störungen wirkungsvoll begegnen zu können.
Einer Auskunft der Deutschen
Botschaft
Sarajevo
vom
13.04.2000 an den Caritas-Verband Wiesbaden vom 13.04.2000
ist zu entnehmen, dass zwar
fachärztliche Betreuung in kleinmedizinischen Einrichtungen
durch einen gastierenden Facharzt, der in der Regel ein- oder
zweimal wöchentlich Sprechstunde habe, erfolge. Die Behandlung
beschränke sich aber in den meisten Fällen auf ein 10-minütiges
Gespräch und Weiterverschreibung von Medikamenten. Eine
Psychotherapie im Sinne einer
Gesprächstherapie o. ä. finde
nicht statt.
Zwar gebe es neben den staatlichen medizinischen Einrichtungen, in denen hauptsächlich medikamentöse Therapie praktiziert
werde, in manchen Teilen Bosniens, hauptsächlich in großen
Städten, einige Hilfsorganisationen, die mit Traumatisierten arbeiten (vorrangig Frauenorganisationen). Rückkehrer finden
aber angesichts der gesellschaftlich abweisenden Einstellung ihnen gegenüber auch in solchen
Organisationen kaum Halt. Genannt werden in der Auskunft
fünf NGO’s, die mit Traumatisierten arbeiten. Die Botschaft
warnt davor, die Behandlungsmöglichkeiten Traumatisierter in
Bosnien überzubewerten.
c) Ferner kann es durch die Rückkehr in eine Umgebung, in der
die traumatische Erfahrung stattgefunden hat, zur Retraumatisierung mit einer Aktualisierung des
erlittenen Traumas und damit
einhergehenden schwerwiegenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen bis hin zur Gefahr des
Suizids kommen. Diese Gefahr
droht noch erhöht, wenn zu befürchten ist, dass der Flüchtling
in eine Umgebung zurückkehren
muss, in der erneut gewalttätige
Übergriffe drohen.
d) Wird daher durch ärztliche
oder psychologische Gutachten
bestätigt, dass eine der vorgenannten Gefahren droht, liegt ein
Abschiebungshindernis vor, welches nicht nur fakultativ ist gem.
§ 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG und damit eine (positive) Ermessensentscheidung der Ausländerbehörde
ermöglicht.
Die Innenministerkonferenz hat
am 24.11.2000 vor dem Hintergrund der schwierigen Situation
in Bosnien beschlossen, “bürgerkriegsbedingt unter schwerer posttraumatischer
Belastungsstörung leidenden Flüchtlingen
aus Bosnien und Herzegowina
den weiteren Aufenthalt im Bundesgebiet durch Erteilung einer
Aufenthaltsbefugnis zu ermöglichen”. Begründet wird dies mit
der Einmaligkeit “der besonderen
Bürgerkriegssituation in Bosnien
mit “ethnischen Säuberungen”,
Internierungslagern, Massenerschießungen und organisierten
Massenvergewaltigungen”. Aus
diesem Grunde sei eine “Gruppenregelung” gerechtfertigt.
Rechtstechnisch ist es so, dass
dieser politische Beschluss der
Innenministerkonferenz dann in
der Folgezeit durch entsprechende Ländererlasse gem. § 32 AuslG jeweils für die einzelnen Bundesländer (teilweise mit unterschiedlichen Voraussetzungen in
den Einzelheiten) umgesetzt wurden. Diese Erlasse ermöglichen
es den Ausländerbehörden, jetzt
von ihrem grundsätzlich bestehenden Ermessen in der Weise
Gebrauch zu machen, dass nur
noch geprüft wird, ob die im Erlass genannten Voraussetzungen
vorliegen. Ist dies der Fall, wird
das Ermessen der Ausländerbehörde auf die Entscheidung reduziert, dass die Befugnis zu erteilen ist.
In Niedersachsen ist es so, dass
Aufenthaltsbefugnisse erteilt werden sollen, wenn die Betroffenen
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 80/81, Oktober 2001
Geteilte Medizin
• vor dem 15.12.1995 bereits als währleisten, sollen fachärztliche
Bürgerkriegsflüchtlinge nach
Deutschland eingereist sind
und
bzw. psychotherapeutische Bescheinigungen mindestens folgende Angaben enthalten:
• sich wegen der durch Bürger- • Adressat und Zweck des Attekriegserlebnisse hervorgerufenen schweren Traumatisierung bereits mindestens seit
dem 01.01.2000 auf der
Grundlage eines längerfristig
angelegten Therapieplanes in
fachärztlicher oder psychotherapeutischer Behandlung befinden.
Niedersachsen hat darüber hinaus festgelegt, dass diese Befristung (01.01.2000) nicht ausschließe, dass eine Einzelfallprüfung
auch nach der genannten Frist
noch möglich bleibe.
Ferner müssen die Betroffenen
auch bisher schon auf Grund
landesrechtlicher Regelungen
oder Einzelfallentscheidungen
wegen geltendend gemachter
Traumatisierung geduldet worden sein.
Die Aufenthaltsbefugnisse gelten
für zwei Jahre und können nach
Ablauf von zwei Jahren auch
dann verlängert werden, wenn
das
Abschiebungshindernis
(Traumatisierung) entfallen ist, d.
h. wenn während dieser Frist eine
erfolgreiche Behandlung stattgefunden hat.
Im Kern bedeutet damit die Regelung den “Einstieg” für die betroffene Personengruppe in einen
“Daueraufenthalt in Deutschland”.
Mit einbezogen werden die mit
einem schwer traumatisierten in
häuslicher Lebensgemeinschaft
zusammenlebende Ehegatten sowie die minderjährigen oder bei
der Einreise noch minderjährigen
gemeinsamen Kinder. Für den
“Nachweis” der Traumatisierung
stellt der niedersächsische Erlass
klar: sie müsse durch die Bescheinigung eines Facharztes bzw. Psychotherapeuten oder Psychologen bestätigt sein. Um eine einheitliche Verfahrensweise zu ge-
stes,
• Diagnose,
• Zeitraum und Frequenz der
Behandlung,
• Befund und Anamnese,
ber hinaus wurden aus BadenWürttemberg, Berlin, Bremen
und Niedersachsen noch einmal
insgesamt 2.527 Personen benannt, die aus anderen Gründen
(z. B. Ex-Internierte) schutzbedürftig seien. Auch unter diesen
sei aber wiederum eine gewisse
Anzahl traumatisierter Flüchtlinge (vgl. Statistik des UNHCR
zum Pressegespräch “Zur sozialen Struktur der bosnischen
Flüchtlinge in der Bundesrepublik Deutschland”).
• Voraussichtliche Krankheits- UNHCR hat weiter darauf hinge/Therapiedauer,
• Geplante weitere Behandlung
(Therapieplan),
• “Besondere Probleme”.
Erfüllen fachärztliche Bescheinigungen diese Mindestanforderungen nicht oder bestehen begründete Zweifel an der vorgetragenen und ärztlich bescheinigen
Traumatisierung, soll die Ausländerbehörde den Sozialpsychiatrischen Dienst bei dem Gesundheitsamt beteiligen und eine gutachtliche Stellungnahme anfordern.
Die gleichen Regeln gelten auch
für Bürgerkriegsflüchtlinge aus
Bosnien, die zwar nicht traumatisiert sind, jedoch bereits am
15.12.1995 das 65. Lebensjahr
vollendet hatten. Dies gilt allerdings nur unter der Voraussetzung, dass sie in Bosnien keine
Familie mehr haben, aber in
Deutschland Angehörige mit
dauerhaftem Aufenthaltrecht leben und sichergestellt ist, dass
keine Sozialhilfe in Anspruch genommen wird.
e) Exaktes Zahlenmaterial aus allerneuester Zeit steht mir nicht
zur Verfügung. Nach einer Zusammenstellung des UNHCR
Berlin vom April 2000 hielten
sich zu jenem Zeitpunkt noch
9.958 traumatisierte bosnische
Flüchtlinge in Deutschland auf.
In dieser Zahl sind auch die Familienangehörigen der Betroffenen bereits mitenthalten. Darü-
wiesen, dass beispielsweise Österreich bei einer Gesamteinwohnerzahl von 8,2 Mio. Menschen
66.000 Bosniern ein dauerhaftes
Aufenthaltsrecht gewährt hat. In
Schweden (Gesamteinwohnerzahl: 8,9 Mio.) haben 53.000 Bosnier ein Daueraufenthaltsrecht
erhalten, in Dänemark (5,3 Mio.)
27.000 und in der Schweiz (7,3
Mio.) ca. 8.000 Menschen.
6.) Letztlich ist nicht zu übersehen, dass die Frage, ob Traumatisierung als Abschiebungshindernis akzeptiert wird, auch und gerade vom “guten Willen” der
handelnden Sachbearbeiter bei
den Ausländerbehörden oder der
in Rechtsschutzverfahren entscheidenden Verwaltungsrichter
abhängt. Wie diese “Entscheidungsträger” sich verhalten hängt
wiederum nicht zuletzt davon ab,
welchen Informationsstand sowohl zur medizinischen Diagnostik und Therapie, als auch zu den
Behandlungsmöglichkeiten im
Herkunftsstaat sie haben. Hieraus
folgt, dass es sich jedenfalls lohnt,
argumentativ “zu kämpfen”.
Bloße Gefälligkeitsatteste “ohne
klare” Diagnostik und Therapievorschläge, die auch eine zeitliche
Dimension der Behandlung benennen, sind dabei selten hilfreich. Hingewiesen sei auf die
“Grundsätze des Gesundheitsamtes Bremen” zur Begutachtung von Migranten nach § 53
Abs. 6 AuslG.
97
Geteilte Medizin
Aachener Appell
zur Bedeutung ärztlicher Gutachten für die
Abschiebepraxis von Flüchtlingen
Schirmherrschaft: Priv. Doz. Dr. phil. Thea Bauriedl, Prof. Dr. Horst Eberhard Richter
I
m Herbst 2000 wurde der Aachener Friedenspreisträger,
Herr H. C., in die Türkei abgeschoben. Der Amtsarzt des Kreises Paderborn hatte ihn in einem
Gutachten für reisefähig erklärt,
obwohl psychiatrische Fachärzte
ihm zuvor bescheinigt hatten,
psychisch gefährdet und traumatisiert zu sein. Wir haben als Psychoanalytiker- und PsychotherapeutInnen, die über lange Erfahrung in ihrem Beruf verfügen,
das Gutachten des Amtsarztes
untersucht. Es stellte sich als
fachlich und ethisch unzureichend heraus (Beispiele s.u.). Wir
fordern daher eine erneute Begutachtung.
98
Abschiebunqen von Personen
befürwortet werden, die zuvor
von unabhängigen qualifizierten
Vorgutachtern als gefährdet/
traumatisiert bezeichnet wurden
und nach Rücksprache mit KollegInnen in ganz Deutschland, die
ähnliche Erfahrungen mit berufsethisch kaum hinnehmbaren
Gutachten gemacht haben, streben wir eine Verbesserung der
Begutachtung von evtl. traumatisierten Migranten/Flüchtlingen
an. Hierzu wollen wir zunächst
bindende Gutachter-Richtlinien
durchsetzen.
Wünschen entgegenzukommen,
frühzeitig und eindeutig entziehen müssen.
Um uns offensiv gegen Fehlentwicklungen wenden zu können,
bitten wir Sie um Unterstützung.
Teilen sie uns Ihren Namen und
Titel, e-Mail-Adresse mit.
Aachen, im Februar 2001
Dr. med. Hans Wolfgang Gierlichs, Arzt für Innere und Psychotherapeutische Medizin, Psychoanalytiker, Hahner Str. 29,
52076 Aachen, Tel. (+49) 02408
5585 oder 5589 privat, Fax 02408
959375, , e-mail [email protected]
Aus Sorge über eine Zunahme
ärztlicher Gutachten, in denen
Es erscheint uns wichtig, gerade
in Deutschland daran zu erinnern, dass Ärzte zu Unabhängigkeit und Sorgfalt verpflichtet sind
und sich der Tendenz, politischen
Prothesen verweigert
Altersfeststellung unmöglich
Mit Leib und Seele
Red. Das Sozialamt in Greiz
(Thüringen) verweigert einem
tschetschenischen Asylbewerber zwei Unterarmprothesen.
Der Tschetschene hat im Krieg
beide Unterarme verloren und
ist beim Toilettengang, beim
An- und Auskleiden sowie
beim Essen auf Hilfe angewiesen. Da er aber durch Ehefrau
und Mutter versorgt wird, ist
das Sozialamt der Auffassung,
dass „keine absolute Indikation
zur Prothesenversorgung“ besteht. Das Sozialamt beruft
sich dabei auf das AsylbLG,
wonach Leistungen nur gewährt werden sollen, die bei
Versagen zu weiteren Gesundheitsgefährdungen und störungen führen würden.
(Quelle: taz vom 4.7.01)
Red. Die Ärztekammer Hamburg
hat in einem offenen Brief das
Verfahren mit dem das Alter von
Flüchtlingskindern bestimmt werden soll, die keine Papiere vorweisen können, für unzulänglich erklärt. Niemand könne das Alter
von jungen Flüchtlingen sicher
feststellen, die Untersuchung von
Körpergröße, Bart- und Schamhaarwuchs sowie des Knochenund Zahnwachstums ließen keinen sicheren Schluß auf das Alter
zu. Ähnliche Einwände hatte auch
die Schweizerische Asylrekurskommission in einer Entscheidung im September 2000 erhoben. In Deutschland wird die ärztliche Analyse "zum Politikum,
wenn bestimmt werden soll, ob
der junge Flüchtling über 16 Jahre
alt ist. Dann nämlich wird er im
Asylverfahren wie ein Erwachsenener behandelt und bleibt ohne
Recht auf juristischen Beistand
und persönliche und pädagogische Betreuung." (taz 26.4.01)
Unter dem Titel “Mit Leib und
Seele – Lebensbedingungen
und Behandlung traumatisierter Flüchtlinge” ist die Dokumentation der auch von PRO
ASYL unterstützten Fachtagung der bundesweiten Arbeitsgemeinschaft der psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer und Refugio erschienen, die im Oktober
2000 stattfand. Die Dokumentation enthält verschiedene
Beiträge zur Bedeutung, Verarbeitung und Behandlung traumatischer Erfahrungen bei
Flüchtlingen. Der Schwerpunkt
liegt bei der Wiederherstellung
von Körperlichkeit der Betroffenen im therapeutischen Prozess. Die Dokumentation ist
kostenlos gegen Porto und Verpackung bei Refugio, Gothaer
Straße 19, 28215 Bremen, Fax
0421-3760722,
e-mail: [email protected]” zu bestellen.
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 80/81, Oktober 2001
Asylbewerberleistungsgesetz
Asylbewerberleistungsgesetz
ALDI nimmt keine Gutscheine von
Flüchtlingen mehr an
P E d e r U m t a u s c h -II n i t i a t i v e H i l d e s h e i m v o m ?
D
er Billiganbieter ALDI
nimmt ab heute keine Wertgutscheine von Flüchtlingen
mehr an. Wie die Firma Accor
bestätigte, kündigte ALDI zum
31.07. die Verträge. Accor wurde
vom LK Hildesheim beauftragt,
die Gutscheine zu drucken und
mit den Geschäften abzurechnen.
Für Flüchtlinge bedeutet der
Ausstieg von ALDI, dass sie in
Stadt und Landkreis Hildesheim
kaum noch die Möglichkeit haben, in billigen Supermärkten
einkaufen zu gehen, da die Gutscheine nur noch in einigen wenigen, zumeist teureren Geschäften
akzeptiert werden. Mehrere Supermarktketten verweigern inzwischen die Annahme von Gutscheinen: PLUS stieg im Januar
01 aus dem Gutscheinsystem aus,
bei HIT, LIDL, Netto und
Marktkauf war ein Einkauf mit
Gutscheinen noch nie möglich.
Der Grund sind zumeist die hohen Kosten, die die Geschäfte an
die Firma Accor für Verwaltung
und Abrechnung bezahlen müssen: bis zu 5 % wird ihnen bei
Einlösen des Gutscheins abgezogen. Hinzu kommt ein enormer
bürokratischer Aufwand.
Preisgünstiges Einkaufen wird
Flüchtlingen durch das Gutscheinsystem massiv erschwert
und ist in manchen Ortsteilen
überhaupt nicht mehr möglich.
In kleinen Gemeinden müssen
Flüchtlinge oft kilometerweite
Wege in Kauf nehmen, um überhaupt einen Laden zu finden, der
Gutscheine akzeptiert. Vor dem
Hintergrund, dass Flüchtlinge
ohnehin nur abgesenkte Sozialleistungen erhalten, d.h. 25% weniger als Sozialhilfe, bedeutet gerade der Wegfall von Billiganbietern eine weitere gravierende Verschärfung ihrer ökonomischen
Situation.
Stadt und Landkreis Hildesheim
mussten das Gutscheinsystem gegen ihren Willen im März 1999
auf Weisung des Landes Niedersachsen einführen. Stadt und
Landkreis sollten nun den Ausstieg von Plus und Aldi aus dem
Gutscheinsystem zum Anlass zu
nehmen, beim Land Niedersachsen die Abschaffung der Gutscheine und eine Umstellung auf
Bargeld zu fordern.
Potsdam fordert Abschaffung von
Gutscheinen
E
inen ersten ermutigenden
und
nachahmenswerten
Schritt in Richtung Abschaffung
von Gutscheinen machte die
Stadt Potsdam. In einem Beschluss vom 4.7.01 fordert die
Stadtverordnetenversammlung
von Potsdam die Brandenburgische Landesregierung auf,
"• den Runderlass zur Durchführung des Asylbewerberleistungsgesetzes so zu ändern,
dass die gesetzlichen Möglichkeiten ausgeschöpft werden,
um die Gewährung von Geldleistungen zu ermöglichen,
• eine Initiative zur bundesweiten
Abschaffung des Sachleistungsprinzips in Gang zu bringen."
Aus ihrer Begründung:
"In vielen Beschlüssen hat sich die
Stadt Potsdam dazu bekannt, einen aktiven Beitrag gegen Rechtsextremismus und Rassismus zu
leisten. So beteiligt sich die Stadt
u.a. an der "Aktion Noteingang",
an "Potsdam bekennt Farbe" und
"Kein Platz für Rassismus".
99
Asylbewerberleistungsgesetz
Dieses Engagement darf sich
nicht darauf beschränken, öffentlich rassistisch und rechtsextremistisch motivierte Übergriffe und
Tendenzen zu verurteilen. Es bedarf auch der praktischen Unterstützung von Opfern rechter Gewalt und der Schaffung von
Strukturen, die die soziale Stellung von Flüchtlingen in der Gesellschaft stärken und die Möglichkeiten für eine Integration
verbessern.
Die Ausgabe von Wertgutscheinen statt Bargeld diskriminiert
Flüchtlinge. Da die Gutscheine
nur in wenigen Geschäften, für
bestimmte Mengen bestimmter
Waren gelten, schränken sie
Flüchtlinge in ihrem Lebensalltag
erheblich ein. Die meisten
Flüchtlinge sind jahrelang in Heimen außerhalb der Innenstädte
untergebracht und verfügen über
keine Arbeitserlaubnis. Die Beratung durch einen Rechtsanwalt
oder der Besuch von Kulturveranstaltungen u.v.a. kann mit
Wertgutscheinen nicht bezahlt
werden und ist allein aus dem
monatlichen Taschengeld (Erwachsene 80,-/Kinder 40,- DM)
kaum zu finanzieren. Dadurch ist
es für Flüchtlinge sehr schwer, ihre Rechte durchzusetzen und soziale Kontakte zur Gesellschaft
außerhalb der Asylbewerberheime zu knüpfen.
Diesen Nachteilen für die Flüchtlinge steht für die Stadt Potsdam
nicht einmal ein erkennbarer Vorteil gegenüber. Vielmehr entstanden der Stadt Potsdam im Jahr
2000 Mehrkosten von 23.775,DM."
Sozialhilfe für Firmenprofite
Red. Die deutschen Marktführer
bei der sozialen Ausgrenzung
und Diskriminierung von Flüchtlingen mit Hilfe von "Sachleistungen" nach dem AsylbLG
sind im Gutscheinbereich die
französischen Großkonzerne
"Accor" (Hotels weltweit: IBIS,
Mercure u.a.) und "Sodexho".
Beide Konzerne versuchen derzeit auch auf dem britischen
Markt in die dort neue Gutscheinversorgung für Flüchtlinge
einzusteigen. Sodexho wirbt bei
Lebensmittelhändlern mit folgenden Worten: "Verpassen Sie nicht
diese gewinnbringende Gelegenheit. ... Sie müssen kein Wechselgeld auszahlen, aber Sie werden
den vollen Wert des Gutschein
erhalten." Neben der Berliner
Chipkarte liefert Sodexho auch
Gutscheine an viele Sozialämter
in Brandenburg und bundesweit.
Die Berliner Chipkartenfirma
"Infracard" wurde inzwischen
teilweise oder ganz (?) vom Sodexho-Konzern übernommen.
Sie liefert Chipkarten u.a. auch an
das Sozialamt Osnabrück. Accor
liefert Gutscheine an das Sozialamt Berlin-Neukölln, an das Sozialamt Hildesheim u.a..
In Frankreich ist Accor auch unmittelbar an Abschiebungen beteiligt. Zimmer der Hotelkette
IBIS wurden an das französische
Innenministerium vermietet, das
diese als Wartezonen für Abschiebungen nutzt. Die Accor
Wagons-Lits Travel reserviert
Plätze in Zügen und Flugzeugen
für Abschiebungen.
Unterstützung bekam Accor vor
kurzem von deutschen PolitikerInnen. Abgeordnete der CDU,
SPD, FDP und PDS beteiligten
sich am 17.6.01 an einer Werbekampagne der Accor Hotellerie
Deutschland. Schirmherrin des
ganzen war Kanzlergattin Doris
Schröder-Kröpf.
Der bundesweite Marktführer im
Fresspaketebereich
ist
die
bayerisch-thüringische
Firma
"Meigo" bzw. "Weigl". Die Firma
ist bekannt durch konstant unzureichenden Wert (regelmäßig nur
60 % des Sollwerts des AsylbLG)
sowie unzureichende und unproportionale Zusammensetzung
(Mangelernährung) ihrer Pakete.
Anpassung der Asylbewerberleistungen
Red. Seit dem Inkrafttreten 1993
wurden die Beträge nach dem
Asylbewerberleistungsgesetz
nicht mehr erhöht. Acht Jahre
lang stiegen die allgemeinen Lebenshaltungskosten und mit ihnen Löhne, Gehälter und die sozialen Transferleistungen - nur
AsylbewerberInnen erhielten keinen Pfennig mehr.
100
Dies ändert sich jetzt: Anlässlich
der Erhöhung der Leistungen
nach dem Bundessozialhilfegesetz werden zu Beginn des Jahres
2002 nunmehr auch die Beträge
nach dem Asylbewerberleistungsgesetz angepasst, verkünden die
Grünen stolz. Wieviel das letztendlich ausmacht blieb offen.
Nach wie vor wird es zu wenig
sein. Eine Anpassung an die
Preissteigerung von 1993 bis
2001 würde zum 1.1.2002 eine
Erhöhung von deutlich über 10
% beinhalten, eine Anpassung an
die Erhöhungen der Sozialhilfesätze seit 1993 eine Erhöhung um
8,8 %.
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 80/81, Oktober 2001
Service
Brief eines Flüchtlings an die
Sozialämter in Eschede und Celle
Sehr geehrte Damen und Herren,
seit 9 Jahren sind wir in Deutschland. Wir haben einen Asylantrag gestellt. Jetzt haben wir seit über 3 Jahren den Duldungs-Status und warten auf eine Entscheidung über unseren Asylfolgeantrag. Seit über 4
Jahren bekommen wir unsere Sozialleistungen mit Wertgutscheinen ausbezahlt. In anderen niedersächischen Landkreisen erhalten Flüchtlinge, die seit über 3 Jahren in Deutschland sind, Bargeld, wie z.B. im
Landkreis Hannover.
Die gleiche Situation gibt es auch in anderen Gemeinden des Landkreises Celle, wie z.B. in Beedenbostel,
Lachendorf usw.. In Eschede sind es nur 2 Einwohner, die länger als 3 Jahre in Deutschland leben und
die immer noch Wertgutscheine erhalten.
Mit den Wertgutscheinen wird sogar die Sozialhilfe gekürzt und die Preise in den Läden steigen. Es gibt
Situationen, in denen man Lebensmittel kaufen muss, die teurer als in anderen Läden sind, weil man den
Gutschein vollkriegen muss.
Oftmals fahren wir nach Celle um einzukaufen, wir haben dabei Schwierigkeiten den Bus und die Zugfahrkarten zu bezahlen. Man kann keine Fahrkarten, Medikamente, Batterien für Hörgeräte mit Wertgutscheinen kaufen.
Mit Wertgutscheinen fühlen wir uns diskriminiert.
Service
Erlasse
Erlasse der BfA vom 19.2.2001
sowie vom 16.3.2001: Kindergeld für Kriegsflüchtlinge aus
dem ehemaligen Jugoslawien
und weitere Ausländer ohne
Aufenthaltserlaubnis oder -berechtigung
Alle aktuellen KG-Infos für Türkinnen und JugoslawInnen, darunter beide KG-Erlasse der Bundesanstalt für Arbeit aus 2001 sowie links zu den amtlichen KGAntragsformularen, zum amtlichen
KG
Merkblatt
usw. sind unter folgender Internet-Adresse zum download online zusammengestellt:
http://www.bndlg.de/~wplarre/kindergeld1-010316.htm
Wer nicht über einen InternetAnschluss verfügt, kann sich die
entsprechenden Unterlagen gegen Unkostenerstattung von der
Geschäftsstelle schicken lassen.
Erlass des MI vom 4.4.2001 betr. IRAK:
Das MI teilt mit, dass
“grundsätzlich die freiwillige
Rückkehr von irakischen Staatsangehörigen über das Gebiet der
Türkei nach Erteilung eines Transitvisums auch mit der Ausstellung eines deutschen Reisedokuments möglich” sei. Die Botschaft der Republik Türkei habe
mitgeteilt, “dass für die Erteilung
dieser Visa für Inhaber eines Reisedokuments die zentralen zuständigen Behörden in Ankara
um entsprechende Genehmigung
angesucht [?] werden können”.
Soll damit eine Verweigerung von
Leistungen nach §2 AsylbLG wegen einer angeblich bestehenden
Möglichkeit zur “freiwilligen
Rückkehr” begründet werden?
Erlass vom 04.05.2001: Durchführung des Asylbewerberleistungsgesetzes (AsylbLG); Leistungen in besonderen Fällen
gemäß §2 AsylbLG
Der Erlass beinhaltet eine überfällige Revision des alten Erlasses
vom 28.04.2000 zur Anwendung
des §2 Abs. 1 AsylbLG, der vielfach auf Kritik stieß und durch
verschiedene Verwaltungsgerichte sowie des OVG Lüneburg für
rechtswidrig erklärt worden war.
101
Service
Das MI gibt nunmehr seine bisherige Auffassung auf, wonach
geduldete Flüchtlinge nur dann
die Leistungen gem. §2 Abs. 1
AsylbLG (d.h. Leistungen analog
BSHG in bar) erhalten können,
wenn der Aufenthalt nach §55
Abs. 2 AuslG geduldet wird und
die Tatbestandsvoraussetzungen
des §30 Abs. 3 und 4 vorliegen.
Mit dem neuen Erlass stellt das
MI nunmehr klar: “Wenn die ausländerrechtliche Duldung aus humanitären, rechtlichen oder persönlichen Gründen oder wegen
eines öffentlichen Interesses erteilt wurde, und eine Abschiebung deshalb nicht stattfindet,
dürfte dies auch regelmäßig einer
freiwilligen Ausreise entgegen
stehen. In diesen Fällen ist davon
auszugehen, dass die Ausreise
nicht erfolgen kann, weil sie unzumutbar ist.” Wenn die Ausreise
aus “tatsächlichen Gründen”
nicht möglich ist, erfolgt dagegen
keine Besserstellung, “es sei
denn, es handelte sich zugleich
auch um einen humanitären, persönlichen oder rechtlichen
Grund (vgl. hierzu auch OVG
Lüneburg,
Beschluss
vom
18.10.2000 [zu Afghanistan] sowie Beschluss vom 17.01.2001)”
[betr. Roma aus dem Kosovo].
Beispielhaft zählt das MI Gründe
auf, die zu einer leistungsrechtlichen Besserstellung führen können:
Humanitäre und persönliche
Gründe:
Absehbare Beendigung einer medizin. Behandlung, absehbare Beendigung einer Schul- oder Berufsausbildung, unmittelbar bevorstehende Eheschließung, fortgeschrittene Schwangerschaft,
vorübergehende Betreuung eines
schwerkranken nahen Angehörigen.
Öffentliches Interesse:
Person wird als Zeuge benötigt,
Staatsanwalt verweigert Einvernehmen zur Abschiebung, Petition mit aufschiebender Wirkung
(wenn keine Gerichtsentscheidung vorliegt), Abschiebungsstopp
102
Rechtliche Gründe:
Abschiebungshindernisse nach
§§51,53 AuslG, Grundrechte,
Grundsatz der Verhältnismäßigkeit; beachtliche Asylfolgeanträge; vorläufiger Rechtsschutz
Nicht zu einer Besserstellung
führen tatsächliche Gründe,
wenn keine sonstigen Gründe
vorliegen. Zu solchen Gründen
zählt das MI z.B.:
Unerreichbarkeit des Heimatlandes (keine Flugverbindungen);
Reiseunfähigkeit; Ablehnung der
Beförderung durch die Fluggesellschaft; fehlende Heimreisepapiere, gestaffelte Abschiebungen
wegen fehlender Kapazitäten
oder aus Rücksicht auf das Herkunftsland (Kosovo).
Kosovo-Albaner/innen fallen in
der Lesart des MI also nicht unter
§2 AsylbLG. Anders verhält es
sich jedoch bei Angehörigen ethnischer Minderheiten wie z.B.
Roma. Ausdrücklich stellt das MI
nunmehr fest, es stehe “hier mit
der Rücksichtnahme auf die fehlende Sicherheit ein humanitärer
Grund im Vordergrund, der auch
einer freiwilligen Rückkehr entgegenstehen dürfte (so auch OVG
Lüneburg,
Beschluss
vom
19.01.2001)”.
Eine ausführliche Kritik des Erlasses von Bernd Tobiassen findet sich im “Informationsdienst
Migrationsarbeit in Niedersachsen” Nr. 2/2001, Rundsendung
Mai 2001, S. 10ff. Tobiassen weist
auf einige kritische Punkte des
Erlasses hin, beispielsweise den
Ausschluss von AsylfolgeantragstellerInnen, solange über den
Antrag auf Durchführung des
Asylverfahrens noch nicht entschieden ist. Auch das Vorliegen
von Reiseunfähigkeit kann
womöglich auf eine schwere
Krankheit verweisen, deren
Berücksichtigung als humanitärer
Grund für die Aussetzung der
Abschiebung zu werten wäre.
Passlosigkeit ist nicht nur ein
tatsächliches Hindernis (so der
12. Senat des OVG Lüneburg, s.
Beschluss vom 27.3.2001 - 12
MA 1012/01 -), sondern u.U.
auch ein rechtlicher Grund, der
einer Abschiebung oder freiwilligen Ausreise entgegensteht (so
der 4. Senat des OVG Lüneburg
am 28.8.2000 - 4 M 2854/00 -,
Beschluss vom 08.02.2001 - 4 M
3889/00 -). Hier werden noch einige gerichtliche Klärungen erfolgen müssen. Für die Praxis wäre
allerdings schon viel gewonnen,
wenn die Regelungen dieses Erlasses vor Ort eingehalten würden: In vielen niedersächsischen
Kommunen werden beispielsweise ganz selbstverständlich weiterhin Leistungskürzungen bei Roma-Flüchtlingen aus dem Kosovo vorgenommen.
Erlass des MI vom 22.Mai
2001: Anordnung nach §32
AuslG zur Erteilung von Aufenthaltsbefugnissen an erwerbstätige Flüchtlinge aus
Bosnien und Herzegowina
und der Bundesrepublik Jugoslawien (Serbien einschl.
Kosovo und Montenegro)
Gemäß dem Beschluss der Innenminister vom 10.05.2001
(Quelle:
www.mi.sachsen-anhalt.de/imk/i_beschl_2001.htm)
erhalten erwerbstätige ausreisepflichtige Staatsangehörige der
o.g. Länder eine Aufenthaltsbefugnis, wenn sie sich mindestens
seit dem 16.2.1995 ununterbrochen im Bundesgebiet aufhalten
und seit mehr als 2 Jahren in einem dauerhaften Beschäftigungsverhältnis stehen. Die Familienangehörigen erhalten auch dann
eine Befugnis, wenn sie erst nach
dem 16.2.1995 eingereist sind
oder bereits zurückgekehrt waren. Auch die mittlerweile volljährig gewordenen unverheirateten Kinder erhalten eine Aufenthaltsbefugnis, wenn “erkennbar
ist, dass sie sich auf Grund ihrer
bisherigen Ausbildung und Lebensweise dauerhaft integrieren
werden”. Versagungsgründe sind
Straffälligkeit und “vorsätzliche
Hinauszögerung” von Abschiebungen. Flüchtlinge aus Jugoslawien, die vor dem 10.5.1936 geboren wurden und vor Vollendung ihres 65. Lebensjahrs zu
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 80/81, Oktober 2001
Service
ihren in Deutschland mit dauerhaftem Aufenthaltsrecht lebenden Verwandten eingereist sind,
können eine Aufenthaltsbefugnis
erhalten, sofern keine Sozialhilfeleistungen in Anspruch genommen werden. Anträge auf Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis
nach dieser Regelung sind nur
noch bis zum 30.09.2001 für Personen aus der Bundesrepublik Jugoslawien möglich! Für Flüchtlinge aus Bosnien und Herzegowina
ist die Frist bereits am 30.06.2001
abgelaufen.
Der Erlass ist - auch per e-mail bei der Geschäftsstelle abrufbar.
Erlass des MI vom 23.05.2001:
Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen nach §5 Nr. 10 der Arbeitsaufenthalteverordnung
(AAV) an Berufssportlerinnen, sportler, -trainerinnen und -trainer
Der Erlass regelt Visumsverfahren, Mindestgehalt und Sachbezüge, Mindestalter, Auflagen, Familiennachzug und Aufenthaltsverfestigung für den o.g. Personenkreis
Erlass des MI vom 26.07.2001:
Wiederaufnahme der Rückführungen in die Bundesrepublik Jugoslawien (Serbien und
Montenegro)
Das MI teilt mit, dass Abschiebungen
nach
Jugoslawien
grundsätzlich wieder möglich
sind. Grundlage hierfür ist vor-
läufig noch das Rückübernahmeabkommen aus dem Jahre 1996
mit einigen Modifikationen, die
Ergebnis einer neuen Runde
deutsch-jugoslawischer
Gespräche zu Fragen der Rückführung und Rückübernahme
ausreisepflichtiger deutscher und
jugoslawischer Staatsangehöriger
sind, die vom 19. bis 20. Juni
2001 in Berlin stattgefunden hat.
Jugoslawische Staatsangehörige
mit noch gültigen blauen jugoslawischen Pässen können ohne
spezielles Rücknahmeersuchen
zurückgeführt werden. In Fällen,
in denen eine Rückübernahmezusage bereits vorliegt (aus der Zeit
vor Beginn des Flugembargos),
gibt es nur noch ein auf möglichst 7 Tage verkürztes Prüfungsverfahren durch die diplomatisch-konsularischen Vertretungen. Rückführungen können
künftig mit deutschen und jugoslawischen Verkehrsunternehmen,
mit Charter- und Linienflügen,
mit und ohne Begleitung erfolgen. Vor dem Flugembargo hatte
das Monopol hierfür die jugoslawische Fluggesellschaft JAT.
Bei einer weiteren Gesprächsrunde bereits im August/September
2001 in Belgrad soll ein neues
Rückübernahmeabkommen abgeschlossen werden. “Im Rahmen
dieser Gespräche soll auch der Frage näher getreten werden, ob Angehörige ethnischer Minderheiten
aus dem Kosovo auch in das übrige
Gebiet der Bundesrepublik Jugoslawien zurückgeführt werden können.” (aus dem Erlass des MI)
Lageberichte des
Auswärtigen Amtes
Berichte des Auswärtigen Amtes über die asylund abschieberelevante Lage in einzelnen Ländern (Lageberichte):
Das MI weist darauf hin, dass eine freiwillige Rückkehr “nach wie
vor” Vorrang vor Zwangsmaßnahmen haben sollte. Bis zum
31.12.2001 würden nach Maßgabe des Erlasses vom 07.12.2000
zusätzliche Fördermittel nach
GARP
bereitgestellt.
Die
Rückreise könnte auch auf dem
Landweg erfolgen. Duldungen
seien aufgrund des zu erwartenden Zeitbedarfs für eine erforderliche Erklärung der “Rückübernahmebereitschaft” durch die jugoslawischen Stellen angemessen
zu verlängern, ein Abschiebungstermin sei grundsätzlich anzukündigen. Vorrangig sollten
Straftäter und Flüchtlinge abgeschoben werden, für die bereits
eine Rückübernahmezusage vorliegt. Vor jeder Abschiebung sei
zu prüfen, ob rechtliche oder
tatsächliche Abschiebungshindernisse vorliegen. Für Flüchtlinge,
die bis 1992 nach altem Recht ihr
Asylverfahren durchlaufen haben, ist für die Prüfung von zielstaatsbezogenen Abschiebungshindernissen nach § 53 AuslG die
Ausländerbehörde und nicht das
Bundesamt zuständig.
Die abgestimmte Niederschrift
der
deutsch-jugoslawischen
Rückführungsgespräche
im
Wortlaut kann von der homepage
von PRO ASYL (Info-Dienst
Asyl Nr. 51) runtergeladen werden. Der vollständige Erlass ist auch als Email - über den Flüchtlingsrat beziehbar.
Äthiopien 11/2000, Afghanistan 4/2001, Albanien
4/2001, Angola 5/2001, Armenien 4/2001, Aserbaidschan 5/2001, Bangladesch 4/2001, Georgien
4/2001, Indien 3/2000, Irak 2/2001, Iran 4/2001,
Jemen 4/2001, Jugoslawien 5/2001, Kongo
3/2001, Mazedonien 6/2001 und ad-hoc-Bericht
26.4.20001,Nigeria 12/2000, Russ. Föderation
(Tschetschenien) 4/2001, Sri Lanka 3/2001, Sudan 4/2001, Syrien 2/2001, Togo 4/2001, Türkei
7/2001, Weissrussland (Belorus) 4/2001,
Bezug über Nds. Flüchtlingsrat
103
Service
Material, Veranstaltungen, Aktionen
Dokumentation "Reden über
sexuelle Folter kann strafbar
sein - Gerichtsverfahren in der
Türkei" vom Feministischen Archiv e.V. (Freiburg) und dem
Frauenrechtsbüro gegen sexuelle
Folter e.V. (Berlin) über ein Verfahren vor dem Istanbuler Strafgericht. Dort sind 18 Frauen und
ein Mann angeklagt, den türkischen Staat und die Sicherheitsorgane verunglimpft und verleumdet zu haben. Vorgeworfen wird
ihnen, im Juni 2000 einen Kongress zum Thema sexuelle Folter
organisiert, dort als Betroffene
berichtet, im Namen von Betroffenen gesprochen oder als
Rechtsanwältinnen deren Interessen vertreten zu haben. Die Anklageschrift, ein Bericht über den
Prozessbeginn und Interviews
mit mehreren Angeklagten finden sich in der Dokumentation,
die zum Preis von DM 6,- pro
Exemplar zu bestellen ist bei:
Feministisches Archiv e.V., Adlerstraße 12, 79098 Freiburg, e-mail:
[email protected]"
http://www.mediensyndikat.de/
prozess/content02.htm
iz3w - Sonderheft (September
2001):
Gegenverkehr Soziale Bewegungen im globalen Kapitalismus
Nicht nur die Demonstrationen
von Seattle, Göteborg oder Genua zeigen es:
Soziale Bewegungen sind wieder
zu einer wichtigen politischen
Kraft geworden. Der Protest gegen die globale Durchsetzung der
kapitalistischen Ökonomie und
die damit verbundene Marginalisierung großer Bevölkerungsgruppen in Nord wie Süd hat
ganz unterschiedliche Formen
angenommen. Das Sonderheft
fragt nach den Gründen für die
erneute Attraktivität sozialer Bewegungen, präsentiert Beispiele
aus verschiedenen Ländern und
104
diskutiert die jeweiligen politischen Ansätze.
Für 10 DM oder 5 Euro zu bestellen bei: iz3w, Postfach 5328,
79020 Freiburg, Tel: 0761-74003,
Fax:
0761-709866,
email:
[email protected], Internet:
www.iz3w.org
"Willkommen in Deutschland
- Entwicklung des Ausländerund Asylrechts in der BRD"
Broschüre von Tine Beck, Heide
Meyer und Susanne Klauke; zu
beziehen bei: edition bodoni, linienstr. 65, 10119 Berlin [email protected]
Traumatisierte Flüchtlinge.
Zwischen Vergangenheit und
Zukunft - Bosnische Bürgerkriegsflüchtlinge in Deutschland. DIM-Net-Schriftenreihe 1.
Zu Beziehen bei: DIM-Net e.V.,
Nonnenstrombergstr. 55, 53757
Sankt
Augustin,
Tel.:
02241/931621,
Fax:
02241/931622; e-mail: [email protected], Internet:
www.dim-net.de
Broschüre "Angola: Öl, Diamanten, ... Krieg"
Die von Connection e.V. herausgegebene Broschüre berichtet
umfangreich über den Krieg in
Angola und über die Unterstützung der Kriegsparteien durch
die Industrieländer. Ein besonderer Schwerpunkt wurde auf Berichte über Aktivitäten gegen den
Krieg gelegt. So kommen verschieden Personen und Gruppen
aus Angola zu Wort. Der in Berlin lebende Emanuel Matondo
von der selbstorganisierten
Angolanischen Antimilitaristischen Menschenrechtsinitiative
berichtet über Desertion und
Kriegsdienstverweigerung. Ergänzt wird dies durch Beiträge
zur Flüchtlingspolitik in Deutschland. Connection e.V. hat diese
Broschüre im Zusammenhang
mit einer Kampagne für angolanische Kriegsdienstverweigerer
herausgegeben. Nähere Informationen dazu im Internet:
www.Connection-eV.de oder per
Post: Connection e.V., Gerberstr.5, 63065 Offenbach, Tel.: 06982375534, Fax: 069-82375535, email: [email protected].
Dort kann auch die Broschüre
für 5 DM + Porto bezogen werden.
invisible walls - provinzielle
Antiflüchtlingspolitik
Der Reader der "Projektgruppe
Flucht und Migration im neuen
Europa" an der Uni Oldenburg
setzt sich mit den Themen Lagerpolitik
und
"Innere
Sicherheit"/Soziale Ausgrenzung
auseinander, dabei wird insbesondere die Situation in Oldenburg
beleuchtet. Der Reader kostet 5
DM und ist zu beziehen bei: Projekt F & M, c/o Asta, Uhlhornsweg 49-55, 26111 Oldenburg
Der Rundbrief des Flüchtlingsrat NRW vom Juni 2001
hat das Thema "Demokratische
Republik Kongo" als Schwerpunkt. Zu Beziehen beim Verein
zur Förderung der Flüchtlingsarbeit in NRW e.V., Postfach 1229,
48233 Dülmen, Tel.: 02594-98 6
43, Fax: 0 25 94 - 98 6 98, mail:
[email protected], home: www.fluechtlingsrat.de
Ratgeber für Asylberechtigte
und Konventionsflüchtlinge
2. völlig überarbeitete Auflage
vom Juli 2001, ISBN 3-93400406-7
Hrsg.:
Info-Verbund
Asyl/ZDWF e.V. Fax: 02284221130, e-mail: [email protected]; Verlag und Vertrieb: IBIS
e.V., Alexanderstr. 48, 26121 Oldenburg, Tel.: 0441-88 40 16,
Fax: 0441- 9 84 96 06, e-mail:
[email protected]
Am 30.03.2001 hat die Interkulturelle Bühne Frankfurt das
Theaterstück "Regenblume" uraufgeführt. In "Regenblume"
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 80/81, Oktober 2001
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wird geschildert, welche Furcht
und Einsamkeit gefolterte Menschen auch noch im nachhinein
erleben. Gerade für gefolterte
Frauen ist es sehr oft schwer über
ihre Erfahrung und Demütigung
zu sprechen. "Regenblume" ist eine wahre Geschichte einer Frau die Aufführung in verschiedenen
Sprachen löst die Geschichte
vom Hintergrund einer bestimmten Gesellschaft oder Kultur.
Es werden Gruppen oder Einzelpersonen gesucht, die bereit sind,
in ihrer Stadt einen Auftritt für
"Regenblume" bis etwa Dezember 2001 zu organisieren. Das
Theaterstück selbst benötigt nur
sehr wenig Platz, da es von nur einer Schauspielerin gespielt wird.
Nach den Aufführungen können
Diskussionen mit der Schauspielerin und dem Regisseur geführt
werden, so daß auch noch die
Themen Flucht, Asyl und frauenspezifische
Fluchtgründe
berührt werden können.
AnsprechpartnerIn für die Planung ist Terre des femmes, Sabine Hensel, Referat Frauenrechte
in islamischen Gesellschaften,
Konrad-Adenauer-Str. 40, 72072
Tübingen, Tel.: 07071/79 73-0,
Fax -22, e-mail: [email protected]
Ausstellungen
• Labyrinth Europa - Clandestino illegal
Thema: Einwanderer ohne
Papiere in Europa
• Labyrinth Fluchtweg
Thema: Migration, Flucht und
Bleiberecht
Die Erlebnisausstellungen nehmen die BesucherInnen mit auf
den Weg, versetzen sie in eine
fremde Rolle. Dieser Perspektivenwechsel führt zu einer ganz
neuen Sichtweise.
Besonders junge Leute sprechen
diese multimedialen Ausstellungen an. Eingebaut in GroßraumTrucks sind sie sehr flexibel und
immer ein Medienereignis für
Aktionswochen und Projekttage.
Ausleihe und Vorabinformation
gibt's beim VNB, dem Bildungswerk der niedersächsichen
NROs: Bahnhofstr. 16, 49406
Barnstorf, Fon 05442-991027,
Fax
05442-2241,
e-mail:
[email protected] , Internet:
www. vnb-barnstorf.de und
www.CLANDESTINO-ILLEGAL.de
CD-ROM "Infonetz Asyl
2000" (Hg. PRO ASYL), Neuausgabe kann ab sofort bei PRO
ASYL für 10 DM, zzgl. Versandkosten bestellt werden. Die CDROM enthält eine Vielzahl von
Dokumenten und erläuternden
Kurztexten zu Flüchtlingsthemen
und eine komfortable Suchmaschine. Die enthaltenen Dokumente (einschließlich der des
Jahrgangs 1999) können mit jedem html-Browser bzw. dem
Adobe Acrobat-Reader gelesen
werden.
Pro Asyl, Postfach 16 06 24 in
60069 Frankfurt/M., Tel.: 069 23 06 88 oder im Internet
www.proasyl.de
Deportation-class-Kinospot
Am 28.5.1999 stirbt der sudanesische Flüchtling Aamir Ageeb an
Bord des Lufthansa-Fluges LH
558 an den Mißhandlungen der
begleitenden
Bundesgrenzschutz-Beamten.
Er ist nicht das erste Todesopfer
auf einem Lufthansa-Flug. Im
August 1994 starb der Nigerianer
Kola Bankole - gefesselt, geknebelt und "medikamentös ruhiggestellt". Konsequenzen für die
BGS-Beamten: bisher keine. Und
auch die Lufthansa ist mit rund
der Hälfte aller Abschiebungen
weiterhin der treueste Handlanger dieser tödlichen Abschiebepraxis. Dagegen richtet sich die
deportation-class-Kampagne von
kein mensch ist illegal.
Um den Kino-Spot einer möglichst breiten Öffentlichkeit zu
zeigen, macht es Sinn, die örtlichen Kinos anzusprechen. Viele
sind bereit, diesen und ähnliche
Spots (kostenlos) in den Werbeblock aufzunehmen, wenn sie
nett gefragt werden. Die Kosten
für die 35-mm-Kopien müssen
die Gruppen jedoch selbst aufbringen. Begleitend zum KinoSpot gibt's eine Postkarte / einen
Aufkleber, ebenfalls über obige
mail-Adresse zu bestellen (100
Stück = 20.- DM).
Kurzvideo: Erste Kommentare
von Flüchtlingen zum SchilyEntwurf
"Flüchtlinge sind die Bauernopfer" - so der Kommentar von Pro
Asyl auf den Schily-Entwurf für
ein Zuwanderungsgesetz. Ein
Kurzvideo mit ersten Stellungnahmen von Flüchtlingen der
Flüchtlingsinitiative Brandenburg
zum Gesetz bei Umbruch-Bildarchiv. Weiteres: http://www.umbruch-bildarchiv.de/video/gesetze/schilyentwurf.html
Eine Bildernachlese zum
Grenzcamp 2001 in Frankfurt
bei Umbruch-Bildarchiv
Weiteres: http://www.umbruchbildarchiv.de/bildarchiv/ereignis/grenzcamp2001.html
Bilder von u.a. antirassistischen
Aktionen gibt es im Internet unter www.arbeiterfotografie.com
Der 50-Sekunden-Kino-Spot ist
in verschiedenen Formaten über
[email protected] zu bestellen: VHS-Kopie 20.- DM, SVHS-Kopie 25.- DM, 35-mm-Kino-Kopie 100.- DM
Ask your local cinema:
105
Service
Mitglieder
106
FLÜCHTLINGSRAT - Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen, Heft 80/81, Oktober 2001
Materialliste Niedersächsischer Flüchtlingsrat
1996
FLÜCHTLINGSRAT Ausgabe 31/32 (Heimliche Menschen - Illegalisierte Flüchtlinge)
6,00 DM
2,00 DM
FLÜCHTLINGSRAT Ausgabe 38/39 (Flüchtlingsalltag und Flüchtlingsarbeit in Niedersachsen)
„Katalog zur Ausstellung mit Texten zu Migration, Rassismus und Flüchtlingsarbeit sowie 48 Bilddokumenten“
1997
FLÜCHTLINGSRAT Ausgabe 41 (Festung Europa - Ausländerrecht - „Rückführung“)
4,00 DM
FLÜCHTLINGSRAT Ausgabe 42/43 (Bürgerkriegsflüchtlinge - Bosnien - Kosovo)
vergriffen
FLÜCHTLINGSRAT Ausgabe 44/45 (Kurdenverfolgung - Kirchenasyl - Härtefallregelung)
vergriffen
FLÜCHTLINGSRAT Ausgabe 46/47 (AVE MARIA für die Menschlichkeit) „Kirchenasyl“
vergriffen
FLÜCHTLINGSRAT Ausgabe 48/49 (Kein Mensch ist illegal) Bilanz der nds. Flüchtlings-Sozialpolitik 1997
vergriffen
1998
FLÜCHTLINGSRAT Ausgabe 50 (Forderungen an die neue Landesregierung)
vergriffen
FLÜCHTLINGSRAT Ausgabe 51 (Kriegsdienstverweigerung und Asyl in Europa)
4,00 DM
FLÜCHTLINGSRAT Ausgabe 52 (Rassismus und Strategien gegen Rassismus)
vergriffen
FLÜCHTLINGSRAT Ausgabe 53/54 (Einmal Folter und zurück)
6,00 DM
FLÜCHTLINGSRAT Ausgabe 55 (Die Grenze) „Flüchtlingsjagd in Schengenland“
8,00 DM
FLÜCHTLINGSRAT Ausgabe 56/57 (20 DM für Kirchenasyl !?)
6,00 DM
1999
FLÜCHTLINGSRAT Ausgabe 58 (Ausländerrecht) Grundlagen für die Praxis
6,00 DM
FLÜCHTLINGSRAT Ausgabe 59 (Das Leistungsrecht) Grundlagen für die Praxis
6,00 DM
FLÜCHTLINGSRAT Ausgabe 60/61 (Grenzen auf für Flüchtlinge)
vergriffen
FLÜCHTLINGSRAT Ausgabe 62 (Die soziale und rechtliche Situation von Flüchtlingen)
6,00 DM
FLÜCHTLINGSRAT Ausgabe 63 (Reise in den Tod)
4,00 DM
FLÜCHTLINGSRAT Ausgabe 64/65 (JAHRTAUSENDWENDE)
6,00 DM
2000
FLÜCHTLINGSRAT Ausgabe 66 (Leitfaden für Flüchtlinge)
(Kopie des vergriffenen Originals)
10,00 DM
FLÜCHTLINGSRAT Ausgabe 67 (Anhörung zum Asylbewerberleistungsgesetz in Niedersachsen)
6,00 DM
FLÜCHTLINGSRAT Ausgabe 68 (Geteilte Medizin)
vergriffen
FLÜCHTLINGSRAT Ausgabe 69/70 (Debatten: Rassismus - Asyl - Einwanderung)
6,00 DM
FLÜCHTLINGSRAT Ausgabe 71/72 (Bestandsaufnahme: Flüchtlinge in Niedersachsen)
6,00 DM
FLÜCHTLINGSRAT Ausgabe 73 (Leit-/Leidkultur)
4,00 DM
2001
FLÜCHTLINGSRAT Ausgabe 74 (Migrationsarbeit - Flüchtlingssozialarbeit)
12,00 DM
FLÜCHTLINGSRAT Ausgabe 75/76 (Modernes Migrationsregime - Umkämfte (T)Räume)
12,00 DM
FLÜCHTLINGSRAT Ausgabe 77 (Turkey and Refugees)
12,00 DM
FLÜCHTLINGSRAT Ausgabe 78/79 (Staatenlose KurdInnen aus dem Libanon) (Kopie des vergriffenen Originals)
10,00 DM
Dreierpack: FLÜCHTLINGSRAT Ausgaben 58, 59 und 62
15,00 DM
Sechserpack: FLÜCHTLINGSRAT Ausgaben 41, 56/57, 63, 64/65, 69/70 und 73
20,00 DM
107
Schon in der Mailingliste?
Wir sind dabei eine Mailingliste aufzubauen, über die wir Aktuelles wie Presseerklärungen, Aufrufe, Dokumente
etc. verschicken. Wer in die Mailingliste aufgenommen werden möchte schicke bitte eine e-mail an [email protected] mit dem Vermerk mailingliste.
Bestellbare Materialien
Folgende Materialien können als Datei- oder Papierversion (mit Kopier- und Portokosten) unter Angabe der Nummer bei der Geschäftsstelle bestellt werden ([email protected] oder Tel.:05121-15605):
80.1. Schilys Entwurf eines Gesetzes zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung (ZuwG)
80.2. Begründung zum Zuwanderungsgesetzesentwurf
80.3. Teil II der Stellungnahme von Pro Asyl:
Anmerkungen zum Referentenentwurf des Zuwanderungsgesetzes von Hubert Heinhold
80.4. Erlass des nds. MI zur Erteilung von Aufenthaltsbefugnissen an erwerbstätige Flüchtlinge aus Bosnien und
Herzegowina und der Bundesrepublik Jugoslawien (Serbien einschl. Kosovo und Montenegro) vom 22. Mai 2001
80.5. Erlass des nds. MI vom 26.7.01: Wiederaufnahme der Rückführungen in die Bundesrepublik Jugoslawien
(Serbien und Montenegro)
80.6. Protokoll einer BGS-Kontrolle im Intercity
80.7. Delegationsbericht des IPPNW
80.8. Stellungnahme des Flüchtlingsrats zu den Integrationskonzepten von Bündnis 90/ Die Grünen und der CDU
80.9. Situation in Liberia. Informationen vom UNHCR, Africa News Online und allAfrica.com
80.10. Abschlusserklärung der Konferenz "Papiere jetzt!" am 23.6.01 in Bochum
80.11. Merkblatt für ärztli. Bescheinigungen oder Gutachten
80.12. PE zum Verfahren gegen das südbadische Aktionsbündnis gegen Abschiebungen wegen angeblichen Verstosses gegen das Rechtsberatungsgesetzes
Neue e-mail-Adressen des Flüchtlingsrats
[email protected]
für Gutscheinumtausch-Initiativen
[email protected]
für Abrechnungen, Formalia, Verwaltungsfragen
[email protected]
für Bestellungen des Rundbriefs oder anderer Veröffentlichungen
[email protected]
für Post an den Vorstand
[email protected]
für fachliche Beratung
[email protected]
für alle den Rundbrief betreffenden Anfragen, Artikel, Kommentare, etc.
[email protected]
für alles, was mit dem Türkei-Projekt zusammenhängt
[email protected]
für unspezifische Sachen und alles, was sonst nicht ankommt
Zu den per mail erreichbaren MitarbeiterInnen des Flüchtlingsrats zählen:
Kai Weber, Geschäftsführung
[email protected]
Seyit Gül, Türkei-Projekt
[email protected]
Claudia Gayer, Türkei-Projekt
[email protected]
Annli von Alvensleben, Türkei-Projekt [email protected]
Dietmar Lousée, Verwaltung
[email protected]
Edith Diewald, Rundbrief-Redaktion
[email protected]
Vorstand des Fördervereins Nds. Flüchtlingsrat
Norbert Grehl-Schmitt, Mitarbeiter im Caritasverband Diözese Osnabrück [email protected]
Anke Egblomassé, Mitarbeiterin des Vereins Nds. Bildungsinitiativen
[email protected]
Dr. Matthias Lange, Mitarbeiter der Stadt Göttingen
[email protected]
Dr. Gisela Penteker, Ärztin und Delegierte im AK Flüchtlinge des IPPNW [email protected]
Dündar Kelloglu, Rechtsanwalt
[email protected]
Weitere redaktionelle Mitarbeiterin des Rundbriefs:
Bettina Stang, Journalistin
[email protected]
Die Mitglieder der Ausländerkommission:
Ziad El Salhat, Flüchtlingshilfe Wolfsburg
Dündar Kelloglu, Rechtsanwalt
[email protected]
[email protected]
Vertreterin in der Landeesmedienkommission ist:
Graziella Boaro-Titze
[email protected]
Die Homepage des Flüchtlingsrats betreut:
Klaus Thorn
Homepage des Flüchtlingsrats:
[email protected]
www.nds-fluerat.org