politikorange. Mythos 68.
Transcrição
politikorange. Mythos 68.
68 mythos Dieses Bild von Günter Zint ist Teil der Ausstellung „68 - Brennpunkt Berlin“ EDITORIAL Studentenbewegung, Kommune und kreativer Widerstand – Schlagworte, die ein Lebensgefühl umreißen. 1968. 40 Jahre sind vergangen, mit den „68er“ verbinden wir mehr als nur eine Generation. 68 steht für Bewegung, einen Mythos. Doch was verbirgt sich dahinter? Um das herauszufinden, haben sich junge Medienmacher auf Spurensuche begeben. Idee und inhaltliche Vorbereitung zu dieser politikorange entstanden im Rahmen eines Studienprojektes der Humboldt-Universität zu Berlin und der FH Potsdam. Studierende der Europäischen Ethnologie und junge Medienmacher aus Berlin und ganz Deutschland haben hinter die Kulissen einer ganzen Generation geblickt. Sie haben nach den Ikonen der Zeit gesucht und Theorien hinterfragt. Sie erforschten gesellschaftliche Rahmenbedingungen von damals und die Auswirkungen der 68er auf heute. Im verklärenden Rückblick wird 68 oft zu einem Mythos. Der Blickwinkel von politikorange ist anders. Frisch, fruchtig, selbst gepresst – und immer schön kritisch. Viel Spaß beim Lesen wünscht Die Redaktion IMPRESSUM Herausgeber politikorange c/o Jugendpresse Deutschland e.V. Wöhlertstraße 18, D-10115 Berlin www.jugendpresse.de Team Lene Albrecht, Sandra Bieler, Anja Breljak, Robert Claus, Franziska Deregoski, Maxi Engel, Kathrin Friedrich, Lea Gerschwitz, Susanne Hauer, Tino Höfert, Markus Hujara, Sonja Knüppel, Holger Kulick, Lysette Laffin, Franziska Langner, Bea Marer, Yuca Meubrink, Sybille Pfeffer, Anne Pietzunka, Michael Sacher, Janna Schlender, Ulrike Schulz, Mimoza Troni, Wlada Ullmer, Ebbe Volquardsen, Christine Wehner, Nadja Wohlleben, Urszula Wozniak, Josephine Ziegler Chefredaktion (V.i.S.d.P.) Michael Metzger ([email protected]) Redaktionsleitung Jan an Haack ([email protected]) Michael Metzger ([email protected]) Sven Trojanowski ([email protected]) Redaktionelle Unterstützung Anja Breljak, Julian Görlitz, Matthias Stohr-Niklas Gestalterische Gesamtleitung Matthias Stohr-Niklas ([email protected]) Fotos Titelbild: Günter Zint (Bild ist Teil der Ausstellung „68 - Brennpunkt Berlin“) Josephine Scheibe ([email protected]), alle außer: bpb (S.4 li.), David Ausserhofer, FU Berlin (S.18) jugendfotos.de: Frederic Maximilian Bozada (S.2), Michaela Zimmermann (S.5), Gisela Gürtler (S.6), Marcel Bruhnke (S.10), Stephan Gagler (S.14), Barbara Reich (S.15), Loly Bayer (S.16), Kai Döhring (S.17 o.), Jan-David Günther (S.17 u.), Felix Heubaum (S.18) Matthias Riens (S.21), Michael Metzger (S.22), Daniela Uhrich (S.24) Layout & Satz Anja Breljak ([email protected]) & Matthias Stohr-Niklas Druck BVZ Berliner Zeitungsdruck GmbH, Berlin 20.000 Exemplare Organisation Michael Metzger (JPD), Falk Blask (HU Berlin) Alle namentlich gekennzeichneten Beiträge geben die Meinungen ihrer Verfasser wieder und stimmen nicht zwangsläufig mit den Auffassungen der Herausgeber überein. Für Inhalte genannter Quellen und Links übernimmt die Redaktion keine Haftung. Eine Online-Version gibt es auf www.politikorange.de und unter www.netzeitung.de/spezial/mythos68. informierend Studentenrevolte zum Angucken | 04 nation sucht Mythos | 04 reise in die Zeitgeschichte | 05 persönlich „ich bin ein wirklich richtiger 68er“ | 06 „spuren hinterlassen“ | 07 alltäglich immer müssen wir machen, was wir wollen die revolte in der revolte die sechziger: in mode die brave bravo heidschi bumbeidschi oder hello goodbye? sex, drugs and comics „die schönsten, die buntesten, die schnellsten, die klügsten“ | | | | | | | 08 08 09 09 10 10 11 international exportartikel: Sex, drugs, love & peace auf der suche nach dem duft der sommerwiese die zweite revolte am öresund allons enfants de la patrie! | | | | 14 14 15 16 theoretisch am ende auch praxis | 17 nach dem ende der utopie | 18 mythos68 blickt hinter die Kulissen einer ganzen Generation. Diese Ausgabe ist eine Kooperation der Jugendpresse Deutschland und der Bundeszentrale für politische Bildung. Die Themenausgabe von politikorange entstand im Rahmen eines Studienprojekts der Europäischen Ethnologie der Humboldt-Universität zu Berlin und der FH Potsdam. Ein Teil der Artikel sowie ergänzendes Text-, Bild- und Videomaterial wird von der Netzeitung unter www.netzeitung.de/spezial/mythos68 veröffentlicht. Die Redaktion arbeitet unabhängig, dies ist ein Prinzip der Arbeit von politikorange. Weitere Informationen: www.politikorange.de universitär kein nachschub aus der denkfabrik die mensafalle oder bist du politisch „im bloßen pflegen von ikonen kommen wir nicht weiter“ „burn, ware-house, burn!“ | | | | 19 20 20 21 gegenwärtig wenn subkultur zum mainstream wird | 22 1968. 1988. 2008. | 04 schaumschläger oder bombenleger | 05 www.jugendpresse.de www.bpb.de 04 informierend mythos68 | April 2008 Studentenrevolte zum Angucken Nation sucht Mythos Zahlreiche Ausstellungen über 68 sprießen dieser Tage aus dem Boden. Mit zweien davon haben wir uns ausführlich auseinandergesetzt. Von Bea Marer und Mimoza Troni Geschichte wird gemacht. Mythen auch. Nicht erst zum 40. Jubiläum ist 68 mediales Lieblingsthema. Längst ist der Mythosbegriff zum geflügelten Wort geworden. Von Robert Claus Gründungsakte und Traditionen verewigen sich in Mythen. Sie erhalten Deutungshoheit über die Geschichte der eigenen Gemeinschaft und bestimmen deren aktuelles Selbstverständnis. In Deutschland jedoch verbietet es sich aufgrund der nationalsozialistischen Verbrechen, eine ausschließlich positive nationale Tradition zu schreiben. Die „kulturelle Revolution“ der 68er arbeitete die NS-Vergangenheit ihrer Elterngeneration auf und brach mit deren Überlieferungen, ihren Mythen. Durch den von Rudi Dutschke ausgerufenen „Marsch durch die Institutionen“ gelangten viele der damaligen Protagonisten über die Jahre in höhere Positionen. Die ehemalige Studentenbewegung erhielt Macht und Einfluss in Medien, Kultur und Politik. Das Jahr 1968 bedeutet für linksliberale Kreise die Überwindung des postfaschistischen Miefs. Bis heute zehren Politiker dieser Generation vom Mythos, eine kulturell demokratische Gesellschaft in der BRD gegründet zu haben. Doch ist dieser Gründungsmythos seither stark umkämpft. Denn Konservative beschuldigen die 68er, heute wie damals, traditionelle Werte im Namen „feministischer Kuschelpädagogik“ zu verwahrlosen. Aus Parolen wie „High sein, frei sein, Terror muss dabei sein“ spräche blanker Realitätsverlust. Der hart erarbeitete Wohlstand des Wirtschaftsbooms in den 50ern sei den Studenten zu Kopf gestiegen, heißt es heute oft. Deutschland sucht seine Mythen – beide Seiten bringen ihre historischen Erfolge in Stellung. Was den einen 68, ist den anderen ihr Wirtschaftswunder. Verteufelung und Glorifizierung beherrschen die Diskussion. Verhandelt wird nicht weniger als die Grundlage eines zeitgemäßen nationalen Selbstverständnisses. Solange jedoch keine der beiden Seiten nachgibt, wird es kaum differenziertere Darstellungen geben. Das Amerika Haus 2008: Zur Ausstellungseröffnung, wenige Wochen später nach einer Farbbeutelattacke „Achtung, Achtung! Räumen Sie unverzüglich die Straße!“, dröhnt es aus den Lautsprechern des Wasserwerfers. Vor dem Amerika Haus am Bahnhof Zoo werden Passanten ins Jahr 1968 versetzt. Anfang 2008 hat hier die Bundeszentrale für politische Bildung /bpb ihre Ausstellung „’68 – Brennpunkt Berlin“ eröffnet. Ein halbes Jahr lang empfängt das historische Polizeifahrzeug nun die Besucher. Kernstück der Ausstellung ist eine Werkschau des Fotografen Günter Zint; das wissenschaftliche Konzept der Ausstellung stammt von Dr. Jürgen Reiche vom Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Für die Ausstellung ist das Amerika Haus ein historischer Ort. Es wurde einst eingerichtet, um den Nachkriegsdeutschen die US-amerikanische Kultur näherzubringen. 1968 fanden vor dem zentral gelegenen Gebäude Proteste gegen den Vietnamkrieg statt, Steine flogen gegen die Fenster. Heute hängen an den Wänden SchwarzWeiß-Photographien, Videos laufen, auf den Boden ist eine Zeitleiste mit den relevanten Ereignissen und Daten gedruckt, und Helme und Knüppel von damals sind Ausstellungsstücke innerhalb des Gebäudes statt Kampfarsenal auf der Straße davor. Schnell wird klar, dass diese Bewegung vielseitig gewesen sein muss. Die Einführung der Antibabypille veränderte das konservative Familienbild und die damaligen Moralvorstellungen. Und über dem Ausgang steht „Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment“ – ein Spruch aus den damaligen Kommunen. Vor allem Schulklassen und Studenten-Gruppen besuchen die Ausstellung. Heute sind auch Andrea Szatmary und Claudia Rücker dort. Sie interessieren sich derzeit besonders für das Thema 1968, denn sie planen für die zweite Jahreshälfte eine eigene Aus- stellung, die in Zusammenarbeit mit der Humboldt-Universität zu Berlin und der Fachhochschule Potsdam im Ephraim-Palais stattfindet. Auftraggeber ist die Stiftung Stadtmuseum. Noch eine Ausstellung zum Thema 68? Klar, in der 68er-Revolte gibt es entscheidende historische Wegmarken, auf die kein Rückblick, keine Ausstellung verzichten darf: Der Besuch des Schahs, der Schuss auf Benno Ohnesorg, die Kampagne der Springer-Presse. Und doch: Immer wieder gelingt es, unterschiedliche Schwerpunkte zu setzen. Eine Besonderheit bei Andrea Szatmary und Claudia Rücker ist das der Bezug zur Polizei: Einzelne Polizisten etablierten damals schon erste Formen der Deeskalations-Strategie. Ob Amerika Haus oder EphraimPalais: Damit ein historisches Ereignis zu einer lebendigen Ausstellung wird, muss eine Menge vorbereitet werden. Am Anfang recherchierten Andrea Szatmary und Claudia Rücker im Internet, dann in diversen Archiven. Die beiden arbeiteten sich durch Berge von Dokumenten. „Wir durchstöberten das APO-Archiv, das Hamburger Institut für Sozialforschung, das Archiv der Polizeihistorischen Sammlungen und das Stadtmuseum Berlin“, erinnert sich Andrea Szatmary. „Und wir führten Interviews mit ehemaligen Studenten und mit bekannten Personen der Zeit, zum Bespiel mit dem Grünen-Politiker Ströbele über den Tod von Benno Ohnesorg.“ Bis ein Ausstellungskonzept steht, vergeht viel Zeit. „Das ist vergleichbar mit einem Regisseur, der ein Drehbuch schreibt“, sagt Szatmary. Mit Hilfe von Designern, Grafikern, der Stiftung und in enger Zusammenarbeit mit Studenten der Humboldt-Universität werden ihre Pläne dann umgesetzt. Während Andrea Szatmary und Claudia Rücker noch in der Vorbe- reitung stecken, ist bei der bpb ein begleitendes Veranstaltungsprogramm bereits in vollem Gange. Eine Filmreihe zum Vietnamkrieg im Rahmen der Berlinale, zwei Wochenenden mit Filmen aus den späten 60er Jahren sowie eine Vielzahl von Podien- und Zeitzeugengesprächen, allesamt in der ersten Jahreshälfte, rahmen die Ausstellung und vertiefen die Auseinandersetzung mit der Geschichte. Neben Debatten über weiterhin strittige Aspekte der historischen Ereignisse selbst bietet die Frage nach den Langzeitfolgen der 68er-Revolte zentralen Diskussionsstoff. Die Entwicklung der Geschlechterbeziehungen seit 1968 wird in der Podienfolge ebenso in den Blick genommen wie die Auswirkungen von 68 auf Theater und Künste oder der Zusammenhang zwischen 68 und den Neuen Sozialen Bewegungen der 70er und 80er. Und auch der Besucher darf mitreden. Die Frage, ob die Auswirkungen von 68 auch heute noch zu spüren sind, kann per Knopfdruck beantwortet werden: Ja, Nein, Weiß nicht. So wird Geschichte auf den Punkt gebracht. Ausstellungsinfos 68 – Brennpunkt Berlin Amerika Haus Hardenbergstraße 22-24, 10623 Berlin 31. Januar bis 31. Mai 2008 Gruppen ab 10 Personen haben die Möglichkeit, sich für eine Führung anzumelden. Für Schülerund Jugendgruppen kostenfrei, für alle anderen 2,00 Euro pro Person. berlin68 – Sichten einer Revolte Ephraim-Palais Poststr. 16, 10178 Berlin 9. Juni bis 2. November 2008 Öffnungszeiten: Dienstag bis Sonntag 10 bis 18 Uhr, Mittwoch 12 bis 20 Uhr, montags geschlossen mythos68 | April 2008 informierend Reise in die zeitgeschichte Thomas Krüger (Jahrgang1959) ist seit Juni 2000 Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung /bpb. Deren Hauptaufgabe ist es, durch Veranstaltungen, Ausstellungen, Veröffentlichungen und Lehrmaterial zur aktiven Auseinandersetzung mit Politik anzuregen. Ein Interview über die aktuelle 68er-Ausstellung der bpb im Amerika Haus und das alte Lied von der damaligen und heutigen Jugend. Von Maxi Engel politikorange: 68 dürfte wohl im Moment das meist diskutierte geschichtliche Thema der Bundesrepublik sein. Zahlreiche Publikationen haben sich bereits mit der Zeit der Studentenrevolte auseinandergesetzt. Welche neuen Einblicke bringen die von Ihnen initiierte Ausstellung und die jetzige Publikationsreihe? Thomas Krüger: Wir möchten Anregungen geben, dass die Thematik 1968 als gesellschaftspolitischer Einschnitt in der Geschichte der Bundesrepublik, aber auch in der Geschichte der DDR wahrgenommen wird. Denn 68 hat nicht nur in Westeuropa stattgefunden, sondern auch in der DDR durch die Aufstände in Warschau und Prag entsprechende Zeitenwenden hervorgerufen und Veränderungen ausgelöst. Mit unserer Ausstellung im Berliner Amerika Haus und mit unseren Publikationen möchten wir zur Diskussion über die jüngere Zeitgeschichte anregen, die vor allem bei vielen jungen Menschen völlig aus dem Blickfeld geraten ist. Deren Eltern und Großeltern haben sie durchaus noch im Gedächtnis, diskutieren sie aber ideologisch sehr festgelegt. Die Diskussion zu öffnen und den Leuten die Möglichkeit zu geben, sich ein eigenes Urteil zu bilden: Das sind unsere Ziele. Hatten Sie manchmal den Eindruck, dass im Westen die Speerspitze der Bewegung zum Teil eine totalitäre Richtung einschlug? Die aktuelle Forschung weist darauf hin, dass dies ein sehr komplexes Feld ist. Die sogenannte Avantgarde oder Speerspitze stellte nur einen Teil der Leute dar, die jedoch nie die breite Mehrheit repräsentiert haben. Johano Strasser sagt beispielsweise, dass die Mehrheit der Leute, vor allem aus der 68er-Studentenbewegung, in die SPD eingetreten ist, und das kann man nicht als totalitär bezeichnen. Die ideologische Zuspitzung war natürlich da, und diese muss man auch entsprechend kritisch unter die Lupe nehmen, aber der gravierende Einschnitt hat kulturell stattgefunden: Das Distanzieren von der Elterngeneration durch die Einflüsse der Rockmusik, der Friedensbewegung, der Anti-Vietnambewegung. All das fand weltweit statt, und sehr viele junge Leute identifizierten sich damit. Im Anschluss daran pluralisierten und demokratisierten sie so die Gesellschaft. Beispiele dafür sind die Kinderladenbewegung, ein breiteres Verständnis von Erziehung, die Diskussion an den Universitäten. Die Bundesrepublik wurde zu einem Staat, der viel mehr Individualität ermöglichte. Das ist wahrscheinlich der markanteste Punkt, der 68 betrifft und der heute von weiten Teilen derer, die damals die Bewegung kritisierten, unbestritten ist. Mit dem Informationsangebot der bpb wollen Sie vor allem jüngere Menschen einladen, sich mit dem Thema 68 zu beschäftigen. Warum, glauben Sie, ist die damalige Zeit besonders für die heutige Jugend von Interesse? Die 68er-Bewegung war selbst eine Jugendbewegung, und man kann an Jugendbewegungen sowohl die ambivalenten Komponenten politischer Urteilsbildung ablesen als auch das Feuer, sich politisch zu engagieren. Wir wollen mit dieser Ausstellung und mit den Veranstaltungen junge Leute ansprechen, um das mit ihnen auch zu erörtern: Nicht nur mit dem Rückblick auf die 68er-Zeit, sondern auch mit Blick auf die Virulenz politischen Engagements heute. Gründe gibt es genug. Die Schere zwischen arm und reich geht auseinander, die Globalisierungsdebatte wird sehr kontrovers geführt; es liegen also viele politische Themen auf der Straße, und man hat aus verschiedenen Gründen mit einer Jugend zu tun, der man jedenfalls nicht in der Breite als politisierte Jugend begegnet. Man identifiziert sich heute in stärkerem Maße mit anderen Interessen als der Politik – vor allem auch mit dem Entertainment –, hat die eigene individuelle Karriere im Blick, und die politischen Komponenten spielen nur zum Teil eine Rolle. Unsere Ausstellung ist eine Art Staubsauger, um die Leute in den zeitgeschichtlichen Raum zu holen und dann zu diskutieren. Es gibt eine Reihe von Diskussionsveranstaltungen, die zu unserer Überraschung mindestens zur Hälfte von jungen Leuten besucht sind. Das heißt, das Interesse ist im Ansatz da. Was kann unsere Generation konkret aus der 68er-Zeit sowohl im Positiven als auch im Negativen lernen, wenn sie versucht, sich politisch zu engagieren und gegen Missstände zu rebellieren? Um mit dem Positiven anzufangen: die Haltung, die Kreativität des Protests, die Einbettung von Protestformen in die jugendkulturellen Kontexte sind Dinge, die 68 erfunden und ausprobiert wurden, von denen man sicherlich lernen kann und die uns bis heute beeinflussen. Ich selbst kann als ehemaliger Bürgerrechtler der DDR sagen, dass viele der Protestslogans und -formen, die wir damals 1989 realisiert haben, sehr viel mit 68 zu tun hatten und damit in Verbindung gebracht werden können. 89 ist ohne 68 schwer denkbar, und sowohl Prag als auch die Sit-ins und Teach-ins aus dem westlichen Europa haben dies beeinflusst. Und das Negative? Der Fehler, den man vermeiden muss, ist, zu schnell von der Rebellion in die Manie, in ideologische Verkürzungen, in ungerechtfertigte, ungerechte und auch totalitäre Positionen überzuspringen. Und das ist auch ein Lerngegenstand, den man an 68 abarbeiten sollte. Viele der Protagonisten der damaligen Zeit wurden in ihrem Überschwang zu Maoisten oder gründeten kommunistische Zellen, bar jeder Kenntnisnahme, dass umter Maos Regime Millionen Menschen umgebracht hatte und der Kommunismus eine totalitäre Gesellschaftsordnung war. Man hat die nachvollziehbare Einforderung von mehr Pluralität und Demokratie mit kommunistischen Alternativen angereichert. Bei aller Ambivalenz muss man sich damit kritisch auseinandersetzen und zu einem eigenen Urteil kommen. Um ein Beispiel zu geben: Sie sehen in unserer Ausstellung ein Video von einer großen Veranstaltung an der Freien Universität, auf der ein Kritiker der Bewegung versucht zu sprechen, nach den ersten Sätzen aber sofort vom Podium gerissen wird und hinter den Kulissen verschwindet. Die Meinungsfreiheit der 68er hatte eben auch ihre Grenzen. 05 06 persönlich mythos68 | April 2008 Ein roter Schal ist sein Markenzeichen: Hans-Christian Ströbele sitzt als Abgeordneter von Bündnis 90/Die Grünen im Deutschen Bundestag. Ein Interview von Ulrike Schulz Er hat maßgeblich an der Gründung der linken Tageszeitung taz und des Berliner Landesverbandes der Grünen mitgewirkt. Vielen gilt Hans-Christian Ströbele als Vorzeige-68er: Zusammen mit Horst Mahler, dem heutigen Holocaust-Leugner, schuf er 1969 das sozialistische Anwaltskollektiv. In den 70ern vertrat er die RAF-Gefangenen der ersten Generation. „Ich bin ein wirklich richtiger 68er“ politikorange: Wann fingen Sie an, sich politisch zu engagieren? Hans-Christian Ströbele: Bei mir war der 2. Juni 1967 ein Schlüsselerlebnis. Das war der Tag der Demonstration gegen den Schah-Besuch. Am nächsten Tag habe ich in der BZ das Foto einer blutüberströmten Frau mit der Überschrift: „Von Steinen der Chaoten getroffen“ gesehen. Aber dann sagte genau die selbe Frau: Von wegen, von einem Stein der Chaoten getroffen; ich wurde von einem Polizeiknüppel getroffen! Später hieß es, ein Polizist sei erstochen worden. Die Wahrheit war, dass ein völlig harmloser Mann namens Benno Ohnesorg von einem Polizisten erschossen wurde. Ich hab mich über beide Geschichten so empört, dass ich mich entschlossen habe, mich Horst Mahler, der damals der Anwalt der Studenten war, als juristischer Zuarbeiter zur Verfügung zu stellen. Von da an war ich Teil der Bewegung und der Außerparlamentarischen Opposition ... ... und damit Teil der 68er Revolution. Genau. Wir kamen zu der Überzeugung: Diese Gesellschaft wollen wir nicht! Nur die Revolution kann die Veränderung bringen. ikonen | Ich war davon total überzeugt. Damals antwortete ich auf die Frage nach einer Altersversicherung: Nee, brauche ich nicht, bis dahin hat die Revolution gesiegt. Ich habe die Revolution also nicht nur für notwendig, sondern für machbar und realistisch gehalten. Schön und gut, aber eine Revolution beginnt man, indem man sich gegen das etablierte System wendet. Sie wurden stattdessen Teil des Systems, spätestens mit Ihrem Eintritt in die SPD. Es bildete sich die Auffassung heraus, dass es mit ewigem Demonstrieren nicht weitergeht. Wir fingen an, die Frage der Gewalt zu diskutieren. Einige sind in den Untergrund gegangen, andere wählten den Gang durch die Institutionen. Ich bin deshalb 1970 in die SPD eingetreten. Dutschke predigte: Wir kämpfen weiter für unsere Ziele, aber eben überall. An den Werkstoren, im Gerichtssaal und in den Institutionen. Gewalt war ja ohnehin ein zentrales Thema damals. Wie haben Sie sich positioniert? Ich habe diese Gewaltdiskussion mitgemacht, aber dazu nicht Stellung genommen. Andere haben sich bewaff- net. Es gab die allgemeine Meinung, die Revolution sei angesagt. Man muss das auch über Deutschland hinaus sehen, es gab in vielen Ländern ähnliche Entwicklungen, man sah sich in einem weltweiten Zusammenhang. anders. Die APO hatte den Anspruch, Theorien und Vorstellungen darüber zu entwickeln: Was ist falsch, was ist die Ursache für den Faschismus, und wo muss es hingehen, dass so etwas nie wieder passiert? Es scheint, als sei heute von dieser weltweiten Bewegung wenig übrig geblieben – außer eines verklärten Rückblicks auf den Mythos 68. Finden Sie im Rückblick, dass Sie erfolgreich mit Ihren Zielen waren? 68 hat Spuren hinterlassen: Deutschland ist in vielen Bereichen liberaler geworden. Als ich als Anwalt anfing, war es beispielsweise strafbar, wenn zwei erwachsene Männer Geschlechtsverkehr hatten. Das hatte zur Folge, dass sich um die Homosexuellenszene Verbrechen und Erpressung bildeten. Heute ist Homosexualität gesellschaftlich akzeptiert. So gibt es eine ganze Reihe von Sachen, die sich durch das Infragestellen der etablierten Regeln verändert haben. Natürlich hätte man einiges anders machen können. Aber die Grundrichtung halte ich nach wie vor für so richtig, dass ich einen großen Teil meines jetzigen politischen Lebens dafür einsetze und mich an der Frage orientiere: Wie kann ich zu einer Veränderung der Welt zu gerechteren Verhältnissen beitragen? Ich bin sicher, dass ich da auch weitermachen werde, solange es meine Gesundheit zulässt. Sehen Sie heute noch revolutionäres Potential? Ich sehe das Potential darin, dass auch in Heiligendamm so viele junge Leute da waren. Ihnen fehlt aber ein theoretischer Unterbau. Das führt dazu, dass das Engagement relativ schnell wieder weg ist. Das war damals Der romantische Revolutionär Ernesto „Che“ Rafael Guevara de la Serna Wer war er? An der Seite von Fidel und Raoul Castro führte der gebürtige (1928 – 1967) Argentinier die Guerillakämpfer gegen das kubanische Regime von Fulgencia Batista. Resultat: Die Revolution siegte, und ab 1959 wurde Kuba „Seien wir realistisch, versuchen sozialistisch. „Comandante Che“ beteiligte sich maßgeblich an der sozialen wir das Unmögliche.“ Umgestaltung der Zuckerrohrinsel, war Chef der Nationalbank und knüpfte Kontakte zur DDR und Sowjetunion. Nebentätigkeiten: Arzt, Frauenheld, Zigarrenraucher. Und heute? Ein ungebrochener Mythos. Ob T-Shirts, Poster oder Taschentücher: Produkte mit Ches Konterfei werden heute immer noch millionenfach verkauft, vor allem an rebellierende Teenager und pseudolinke Promis. Warum wurde er von den 68ern verehrt? Der Revolutionsstar verband erstmals jugendliches Charisma mit kommunistischen Idealen. Zudem wollte er den „Neuen Menschen“ schaffen – und zwar mit Gewalt. Che war aber auch der träumerische Weltverbesserer, der erst Lateinamerika, danach den ganzen Planeten von Armut, Krankheit und Ausbeutung befreien wollte. Sein Versuch in Bolivien scheiterte: Am 9. Oktober 1967 wurde er von einem bolivischen Feldwebel erschossen. mythos68 | April 2008 persönlich 07 „Spuren hinterlassen“ Spuren hat Rudi Dutschke vor allem in der Partei DIE GRÜNEN hinterlassen, meint Marek. Wovon er spricht, sollte er wissen – er ist Rudi Dutschkes Sohn. Von Anne Pietzunka 2006 hatte der 27-Jährige selbst für die Grünen im Berliner Abgeordnetenhaus kandidiert, allerdings erfolglos. Seitdem ist es um den Erben des Revolutionärs etwas still geworden. Eigentlich ist Marek heute ein ganz normaler junger Mann, wären da nicht die ständigen Interviewanfragen. Mal sehen, welche Spuren er hinterlassen wird. politikorange: Erkennt deine Mutter Seiten von deinem Vater an dir? Marek Dutschke: Ich weiß es nicht. Gute Frage. Müsste man sie mal fragen. Gretchen Dutschke zog nach dem Tod ihres Lebensgefährten Rudi Dutschke in die Vereinigten Staaten. Dort bist du auch groß geworden. Wann hast du angefangen, dich mit deinem Vater auseinanderzusetzen? Relativ spät, würde ich sagen. Ungefähr mit 18, 19 Jahren. Mit 20, als ich nach Berlin ging, habe ich größere Schritte gemacht. Von meiner Mutter habe ich wenig erfahren, mehr von Bekannten, die hier in Berlin leben, oder durch Bücher. Ich habe allerdings mit 20 Jahren nur Positives sehen können. Ich war noch nicht bereit, mich damit kritisch auseinanderzusetzen. damals in Berlin auf den Straßen statt. Konfrontation zwischen völlig verschiedenen Meinungen kann nicht im Bundestag beschlossen werden. 68 ist es lautstark auf der Straße passiert. Vor sieben Jahren hast du das Buch „Die Spuren meines Vaters“ geschrieben. Dort erklärst du, dass du in der Partei Bündnis90/Die Grünen die Spuren deines Vaters am meisten wiedererkennst. Dabei soll es ziemlich autoritär zugegangen sein, erklärt der Historiker Götz Aly in seiner neuen Publikation „Unser Kampf“. Er glaubt totalitäre Aspekte des Nationalsozialismus in der 68er Bewegung wiederzuerkennen. Was denkst du darüber? Ja, das glaube ich auch. Sehr simpel gedacht, eigentlich. Aber Rudi Dutschke war ein Gründungsmitglied der Grünen. Politisch betrachtet, sind dort am ehesten Spuren von ihm erkennbar. Abgesehen von der Gründung der Grünen, warum waren die 68er so entscheidend für die Bundesrepublik Deutschland? Nach Meinung vieler Historiker haben die entscheidenden politischen Reformen, z.B. in der Sozialpolitik, schon früher stattgefunden. Das kann durchaus sein. Aber politische Reformen sind nicht alles. Es muss auch eine Auseinandersetzung in der Bevölkerung geben. Die fand Die 68er-Bewegung mit dem Nationalsozialismus zu vergleichen, scheint mir eine abwegige Interpretation zu sein. Es gab einmal eine Diskussion zwischen Ralf Dahrendorf, einem Liberalen der ersten Stunde, und Rudi Dutschke. Sie haben sich Stühle geschnappt und sich unter dem freien Himmel auf Autos gesetzt, um vor den umliegenden Studenten zu diskutieren. Das war urdemokratisch! Selbst Habermas hat Rudi Dutschke einmal als Linksfaschisten bezeichnet. Er hat es aber auch wieder zurückgenommen. der revolutionäre Rudi Rudi Dutschke (1940 – 1979) „Ich halte das bestehende parlamentarische System für unbrauchbar. Das heißt, wir haben in unserem Parlament keine Repräsentanten, die die Interessen unserer Bevölkerung – die wirklichen Interessen unserer Bevölkerung – ausdrücken.“ Wer war er? Rudi Dutschke wurde wegen seines Engagements in der evangelischen Jugend und der Verweigerung des Wehrdienstes in der DDR das Studium verwehrt. Kurz vor dem Mauerbau siedelte er nach West-Berlin über, studierte an der FU Soziologie. 1962 war er Mitbegründer der „Subversiven Aktion“. Die Gruppe schloss sich 1964 dem SDS an und übernahm an vielen Orten die Führerschaft. Und heute? Wie kaum eine andere Person steht der Name Rudi Dutschke für die Studentenbewegung. Sein Streifenpulli ist bis heute im Heimatmuseum von Luckenwalde, Rudis Geburtsort, zu bewundern. Gedenktafel für Rudi Dutschke am Kurfürstendamm ikonen | Warum wurde er von den 68ern verehrt? Rudi Dutschke wurde der in der Öffentlichkeit weitaus bekanntester Vertreter der radikalen linken Studentenbewegung, der durch seine utopischen, von religiösen Elementen nicht freien Entwürfe eines Sozialismus Sympathien weit über die Studentenbewegung hinaus erhielt. Das Attentat auf ihn 1968 überlebte Rudi Dutschke nur knapp; er lebte zeitweise mit seiner Familie in Großbritannien und Dänemark und starb 1979 an den Spätfolgen des Attentats. 08 alltäglich mythos68 | April 2008 Immer müssen wir machen, was wir wollen! Die Wände sind mit dicken roten Pinselstrichen beschmiert. Ein kleiner Junge drückt seine grünbemalten Hände gegen die weiße Tür. Drei Kinder rennen grölend einem schwarzen Kater hinterher und wirbeln dabei mit Puppen und Teddybären durch die Luft. Ein kleines, zottelhaariges Mädchen verschwindet mit ihrem Kopf in einem großen Nudeltopf Von Kathrin Friedrich „Deutschlands unartigste Kinder“ nannte ein Magazin vor 40 Jahren diese kleinen Rabauken aus den Berliner Kinderläden. Alles war erlaubt, was in Kindergärten streng verboten wurde: Wände bemalen, aus dem Fenster klettern, mit dem Essen spielen. Der Kinderladen sollte die APO der Kindergartenwelt werden. Der dort praktizierte antiautoritäre Erziehungsstil sorgte in bürgerlichen Kreisen für Entsetzen. Die ersten Berliner Kinderläden wurden auf Initiative des „Aktionsrates zur Befreiung der Frau“ 1968 gegründet. Sie sollten die Mütter entlasten und so ihre politische Arbeit im SDS fördern. „Bei uns war es immer laut und für Außenstehende wahrscheinlich fürchterlich chaotisch“, erzählt Heike, die 1969 selbst in einem Kinderladen in Wilmersdorf war. Sie erinnert sich an das Mao-Poster und die „Chinablätter“ des Vaters. Im Kinderladen ging es nicht gerade zimperlich zu. „Bei uns hat es erstmal geknallt, und dann hat man vielleicht darüber gesprochen“, erklärt Heike. Die Gemeinschaft stand immer im Mittelpunkt. Man war ständig DIE REVOLTE IN DER REVOLTE In der meist von Männern geführten Debatte über 68 tauchen Frauen höchstens am Rande auf. Ihre Rolle und Kritik an der Bewegung wird nur selten erwähnt. Doch was wäre 68 ohne die Frauen gewesen? Von Ulrike Schulz Weiterführende Lektüre: Ute Kätzel: Die 68erinnen. Berlin, 2002. zusammen, lieferte sich mit anderen Gruppen Rangeleien und ging mit den Eltern auf jede Demonstration. Rückblickend sieht Heike die Kinderladenzeit als das Experiment einer neuen Ordnung. Der neue Mensch sollte geschaffen werden, und da begannen die Väter und Mütter der Studentenrevolte gleich mal bei ihren eigenen Sprösslingen. Doch was ist von der Kinderladenbewegung geblieben? Auf der Suche nach einer Antwort habe ich den Kinderladen „Frischlinge“ besucht. Ein kleiner, gemütlicher Kinderladen im Berliner Wedding. 13 Kinder, zwei Betreuerinnen – ein Luxus, den heute nicht jedes Kindergartenkind genießen kann. Nachdem ich mich im Spielraum auf dem Antirutsch-Teppich niedergelassen habe, bin ich in kürzester Zeit von Eisenbahnschienen umzingelt. Drei kleine Jungs lassen ihre Lok stürmisch um mich kreisen. Die beiden Betreuerinnen Ines und Silke sind seit 15 Jahren dabei. Was ihnen gefalle, frage ich sie: „Im Kila ist man für sich selbst verantwortlich. Es ist familiärer, kleiner, und man kennt die Eltern viel besser.“ Jeder Tag beginnt mit einem Morgenkreis, der Ruhe in den Tag bringen soll. Danach kann munter gespielt, gebastelt und getobt werden. „Uns ist die individuelle Betreuung der Kinder sehr wichtig“, betont Silke. Doch was ist von dem antiautoritären Konzept von damals geblieben? „Es gibt gewisse Regeln und Strukturen, ganz klar. Aber wir folgen keinem striktem Tagesablauf.“ Heute organisieren die beiden den Kinderladen größtenteils selbst. Vor 15 Jahren war das noch ganz anders. Damals übernahmen die Eltern die Organisation: putzen, kochen, einkaufen. Heute kommt von montags bis donnerstags ein Bio-Lieferservice, manchmal gibt es auch Fleisch – in dieser Hinsicht ist man nicht mehr so strikt wie früher. Freitags kochen die Eltern noch selbst. Ein wenig Tradition muss auch gewahrt werden. Viele Eltern suchen heute zwar immer noch die Alternative zu Kindergärten, möchten aber nicht mehr so stark einbezogen werden wie früher. Als 2002 immer weniger Kinder kamen und die Kila vor dem finanziellen Aus stand, spürten Ines und Silke, dass sich das alte Kinderladensystem irgendwie ausgelebt hatte. „Wir haben gemerkt, dass die Eltern einfach keine Zeit mehr hatten, soviel Eigeninitiative in den Kila zu stecken“, erklärt Ines. So ließen sich die beiden in den Vorstand wählen und reduzierten die Pflichten der Eltern. Seitdem läuft es bei den „Frischlingen“ wieder rund. Silke glaubt, dass man sich langsam wieder auf die alten Werte zurückbesinne. Die Eltern treffen sich auch mal nach 16 Uhr im Kila, um zusammenzusitzen, sich auszutauschen und ihren Kindern beim Spielen zuzuschauen. Seit die ersten Kinderläden ihre Türen öffneten, hat sich viel verändert. Die Kinder sollen immer noch zu einem selbstbestimmten Leben herangeführt werden, jedoch behutsamer als noch vor 40 Jahren. Mag der Begriff „antiautoritär“ heute auch überholt sein, die Revolte in den Kindergärten hat eine freiere Pädagogik hervorgebracht. Die Kinderläden von heute sind nicht mehr nur das „Experiment einer neuen Ordnung“, sie haben sich ihren Platz in der Kindergartenlandschaft erkämpft und sind dort nicht mehr wegzudenken. „Tatsächlich waren wir selbst Akteurinnen und nicht etwa die Anhängsel von irgendwem“, sagt die ehemalige Hochschulreferentin des SDS, Susanne Schunter-Kleemann. Die Frauen beteiligten sich nicht nur an den Demos, sondern übernahmen eigene Aufgaben und bald auch das Wort. Eine kleine Auswahl: Annette Schwarzenau war Delegierte im „Zentralrat der Kinderläden“ und am Kacke-Attentat auf die Stern-Redaktion 1969 beteiligt. Sigrid Fronius war 1968 Vorsitzende des AStA und Mitbegründerin der Kritischen Universität. Sigrid Rüger war seit 1965 studentische Sprecherin im Akademischen Senat und zu der Zeit an der FU bekannter als Rudi Dutschke. Die Idee zur Gründung von Kommunen in Berlin hatte nicht Dieter Kunzelmann, sondern Gretchen Dutschke-Klotz, die über Versuche in den USA gelesen hatte. Das Ergebnis gefiel ihr aber nicht mehr, als Kunzelmann offene Beziehungsstrukturen forderte. Denn nun „sollte freie Sexualität bedeuten, dass die Frauen den Männern immer zur Verfügung stehen.“ Nur wenige Frauen, wie Dagmar Pryztulla, wohnten fest in der Kommune. Viele litten dort, weil sie an dem Partner hingen, mit dem sie eingezogen waren. Eifersucht galt aber als bürgerliches Relikt, das zu überwinden sei. Außerdem konnten die Frauen die freie Liebe nicht im gleichen Maße leben, weil die Männer, die ihnen gefielen, wegen der Dominanz der Kommunarden dort keinen Platz hatten. Mit den Folgen der freien Liebe, sprich einer ungewollten Schwangerschaft, mussten sie auch meist allein fertig werden. Den größten Diskussionsbedarf gab es aber – wie in einer Kleinfamilie – über die alltäglichen Pflichten des Haushaltes, denn die Kommunarden beteiligten sich nur ungern an Abwasch und Kinderversorgung. Das Hauptproblem der Frauen mit Kindern war der Zeitmangel. Helke Sander gründete deshalb den „Aktionsrat zur Befreiung der Frauen“, aus dem die ersten Kinderläden hervorgingen. Die Frauen wollten abwechselnd auf die Kinder aufpassen, um mehr Zeit für Politik zu haben. Mehr und mehr wurde ihnen ihre eigene Unterdrückung bewusst. So forderte Sander eine Diskussion im SDS über ihre Situation. Der SDS war zwar männerdominiert, und Gretchen Dutschke-Klotz beschreibt, dass die meisten Frauen ausgelacht wurden, wenn sie sich zu Wort meldeten, dennoch war er ein Stück egalitärer als der Rest der Gesellschaft. Wenn sich etwas am Geschlechterverhältnis ändern konnte, dann hier. Als die „Genossen“ sich aber auf der Frankfurter Delegiertenkonferenz im Herbst 68 weigerten, darüber zu reden, hagelte es ein Tomaten. Die wütenden Studentinnen gründeten Frauengruppen. Manche sagen, es sei das Ende des SDS gewesen. Für die Frauenbewegung war es jedenfalls ein Anfang. mythos68 | April 2008 alltäglich 09 die sechziger: in mode Op-Art ein schwarz- weißer, geometrischer Stil, der auf Kontrasten aufbaut und, passend zu bewegten Zeiten, immer in Bewegung zu sein schien. Er spiegelte sich in Kleidung und Schmuck, wie Ohrringen, Ringen, Plastik- und Glasbroschen wieder. Twiggy Der Hungerwahn beginnt: lange, dünne Beine; flacher Busen und die Betonung des Gesichtes mit möglichst großen Augen – gepuscht von falschen Wimpern und einem blass geschminkten Mund. Als umjubeltes Idol sollte sie so kindlich und mädchenhaft wie möglich sein. Der Minirock 1961 erstmals in einer Kollektion präsentiert, wurde der Mini erst mit der Vermarktung der Antibabypille Mitte der Sechziger zum Symbol der sexuellen Freiheit und Rebellion. Nicht nur die Beine, sondern auch die immer noch konservativen Moralvorstellungen der Gesellschaft wurden mit ihm bloßgelegt. Hippie Als Protest gegen den Vietnam-Krieg kehrten junge Männer und Frauen dem konventionellen Kleidungstil den Rücken. Sie wandten sich nicht-westlichen Kulturen und Religionen zu. Die bunte und flippige Mode als Symbol der Freiheit wurde in den 70er Jahren vermarktet und ihrer eigentlichen Funktion beraubt. Franziska Langner Pop- Art Bunte, fröhliche Mustermotive, unkonventionelle und zweckentfremdete Mode – wie zum Beispiel PVC-Regenmäntel als Sommerkleidung – prägten eine unkonventionelle Zeit. Jacky Kennedy Stil als First Lady von Amerika (1961-62) verkörpert sie das modische Ideal und wurde unbewusst Trend-Setter der Kostüme. Mit ihrer Kleidung „rockte“ sie das Weiße Haus, trotz ihrer repräsentativen Position. 1962 wurde ihre Lieblingsfarbe Rosa zur Modefarbe erklärt. Die brave BRAVO Sex, Drugs and Rock ’n’ roll? Pustekuchen. In den wilden Jahren war Deutschlands beliebteste Jugendzeitschrift mit Moral und Frotté-Nachthemden gefüllt. Von Wlada Ullmer Wo sind die schrillen Farben? Die Sensations-Ankündigungen in draller Schrift? Nackte Haut? Die Aufmachung ist ungewohnt bieder. Ein junger Roy Black lächelt verlegen vom Cover, es gibt weder Extras noch Gratisposter. Nur ein Stück Bein von Barry Gibb für den Starschnitt. Doch das ist sie tatsächlich. Über Roys geschleckter Frisur leuchten die fünf vertrauten Großbuchstaben: BRAVO. 52. Ausgabe, 28. Dezember 1968. Preis: Eine Deutschmark. Umblättern. Die LP von Tom Jones ist die Platte der Woche, als Beilage gibt es 50 Starfotos für die Geldbörse und zehn neue Beatles-Texte. Doch wo bleiben die Freizügigkeit und der Freisinn der 68er? Dr. Sommer heißt noch Dr. Vollmer und ist stockkonservativ. In Schicksalsbriefen schildert er die „schwierigsten Fälle aus seiner Praxis“. Einer 17-Jährigen, die eine heimliche Liebesbeziehung mit ihrer Freundin hat, rät er Folgendes: „Mädchenfreundschaften sind tief und ausschließlich. Doch mit Liebe haben sie nichts zu tun.“ Früher oder später werde sie schon den passenden Jungen kennen lernen. Petting und Onanie sind zwar nicht mehr tabu, aber auch nach der sexuellen Revolution bleibt es dabei: Mädchen lieben Jungs, Jungs lieben Mädchen. Punkt. Nicht, dass die BRAVO völlig asexuell wäre. Nur: Sex heißt hier Geschlechtsverkehr und ist ungefähr so spannend wie Haferkleie. Die Sonderbeilage „Entdecke deinen Körper“ liest sich wie eine Mischung aus Gebrauchsanweisung und medizinischem Fachbuch. „Die Serie, von der man spricht“ – so ihr geheimnisvoller Untertitel – glänzt mit Beiträgen wie „Der gebändigte Instinkt – Vom Fortpflanzungstrieb bei Mensch und Tier.“ Die Kids von heute würden die BRAVO nicht anrühren – selbst ihre Biobücher sind aufregender. Während sie bei „That’s me“ echte Nackedeis zu sehen bekommen, musste sich die Jugend von damals mit gemalten Kindern unidentifizierbaren Geschlechts begnügen. Auch die Fragen waren harmloser: „Mein Freund ist nicht streng genug zu mir,“ sorgte sich 1968 eine 15-Jährige. 40 Jahre später fragt ein junger Leser: „Habt ihr Tipps zum One-Night-Stand?“ Während der wilden Jahre bleibt die BRAVO überwiegend … brav. Unter dem Titel „Träume in Spitze und Rüschen“ präsentieren die Models hochanständige Nachthemden, man wirbt für Milch und Pickelsalbe. Die Heldin der damals noch fotolosen Love-Story geht zwar heimlich in den „Beatschuppen“ und hat eine Liebelei mit dem Rockstar David Blue. Die erotische Seite ihrer Amouren bleibt aber stets im Dunkeln. Letzte Seite. Brigitte Bardot lächelt schmollmundig zum Abschied. Sex, Drugs and Rock ’n’ roll? Nicht gefunden. Die sexuelle Aufklärung passierte in den 68ern sicher auf anderen Wegen. 10 alltäglich mythos68 | April 2008 Heidschi Bumbeidschi oder Hello Goodbye? Neue Musikrichtungen wie der Psychedelic Rock etablieren sich und reißen eine ganze Jugendgeneration in ihren Bann und Rausch. Die Songs der 68er preisen, sicherlich auch durch die Erfindung der Pille inspiriert, sexuelle Hemmungslosigkeit, freie Liebe, ekstatische Exzesse und die Einnahme von bewusstseinserweiternden Substanzen. Vertreter wie Janis Joplin, Jimi Hendrix, The Doors, The Who oder Jefferson Airplane, die für Aufregung und Empörung sorgen, da sie als „Gefahr für Ordnung und Sitte“ angesehen werden, schaffen es in Deutschland zwar nie an die Spitze der Charts, haben aber dennoch einen gravierenden Einfluss auf die Jugendkultur der BRD im Jahre 68. Motiviert Sex, Drugs and Comics Als Schundliteratur verhöhnt, als gewaltverherrlichend und obszön verschrien: Comics. Zum Ende der Sechziger sind sie der Inbegriff der Pop Art. Allerdings nur in den USA. In Deutschland ist es still um die bunten Bildchen mit ihren Sprechblasen, zumindest bis Alfred von Meysenbug 1968 als Mittel der Rebellion Bild und Text vereint. Von Anja Breljak ikonen | James Marshall „Jimi“ Hendrix (1942 – 1970) „Wenn die Macht der Liebe die Liebe zur Macht übersteigt, erst dann wird die Welt endlich wissen, was Frieden heißt.“ 1968 ist ein Jahr voller bedeutender Ereignisse und Veränderungen. Das spiegelt sich auch in der Musik wider. Von Nadja Wohlleben von den Ideologien der Beatniks entwickelt sich schließlich Ende der Sechziger auch in Deutschland eine neue Musikrichtung – der „Krautrock“. Mit ihren deutschsprachigen Texten transportierten Bands wie Amon Düül den Revolutionsgedanken auf die Tanzfläche. Die deutschen Charts hingegen werden von traditionellen Schlagern und internationalem Pop überschattet. Die Hitparade in Deutschland könnte unterschiedlicher und farbenfroher nicht sein: Der kleine Knirps Heintje erfreut sich großer Beliebtheit und begeistert Mütter und brave Mädels mit Songs wie „Mama“, „Du sollst nicht weinen“ oder „Heidschi Bumbeidschi“. Neben Heintje spielt unter anderem der ehemalige StaubsaugerVertreter Tom „The Tiger“ Jones mit „Delilah“ oder „Help Yourself“ ganz oben in der Hitparade mit. Der Traumschwiegersohn der BRD Peter Alexander beglückt Großmütterchen & Co. mit Hits wie „Der letzte Walzer“, welcher auf heimischen Plattenspielern hoch und runter dudelt. Neben ihm bringen die kalifornischen Vorzeigejungs The Bee Gees, mit dem Song „Massachusetts“ und mit einem strahlenden Zahnpastalächeln bewaffnet, Sonne und amerikanisches Lebensgefühl in deutsche Wohnstuben. Frauenversteher und Fönwellenträger Roy Black hingegen stillt mit schwülstigen Kraftballaden wie „Bleib bei mir“ sehnsüchtig schmacht- ende Herzen deutscher Frauen (und Männer). Das bis dato erfolgreichste Exportprodukt Großbritanniens sind The Beatles – vier Pilzköpfe aus Liverpool, die mit Hits wie „Hello Goodbye“ oder „Hey Jude“ sowohl die deutschen, als auch die weltweiten Charts im Sturm erobern. Verrückte Welt – verrückte Hitparade. So ist das 1968. Und obwohl die Ikonen der Zeit zumeist schon im Jenseits verweilen, führen sie auch im Diesseits zu Recht noch einige Playlists an. Vielleicht nicht gerade Heintje mit seinem Tophit „Heidschi Bumbeidschi“, doch Musiklegenden wie die Rolling Stones rollen immer noch, und ihre Songs bleiben unsterblich. Ihr Blick geht ins Leere. Verträumt und hoffnungsvoll schaut sie aus dem schwarzen Kasten heraus, verdeckt mit dem linken Arm ihre nackten Brüste, der rechte zieht am Reißverschluss, öffnet die Jeans und offenbart einen auf ihrem Unterleib klebenden 500-Mark-Schein. „Die kleine Liebe und das große Geschäft der Verkäuferin Jolly Boom“, heißt es in der gezackten Sprechblase, schwarz auf weiß. Sie, Jolly Boom, ist umgeben von der Ware, die sie verkauft. Jolly Boom wird allmählich selbst zur Ware. 1968. Studentinnen und Studenten demonstrieren, rebellieren gegen ihre Eltern, gegen das System. Sie schmeißen Steine. Der 28-jährige Alfred von Meysenbug hingegen malt Comics. Jolly Boom erwacht in Meysenbugs erstem Comic-Strip „Supermädchen“ zum Leben, als Rebellion gegen den Kapitalismus und die unerbittliche Konsumgesellschaft, die aus der folgsamen Verkäuferin Jolly eine Prostituierte macht. Ganz im Stil der Pop Art zeichnet Meysenbug nach Fotovorlagen, die er von Freunden und Bekannten nachstellen lässt, montiert Werbesprüche und politische Flugblätter in die lockere Bilderfolge und lässt somit Realität und Fantasie verschmelzen. Daher brüllt auch jedes Bild Jollys Worte: „Alles ist käuflich!“ Sie ist unverschämt nah am Leser, fixiert mit dreisten Blicken die Außenwelt und sprengt alle Strukturregeln der Comic-Kunst. Ebenfalls 1968 erscheint der ComicBand „Glamour Girl“ – die Erzählstruktur noch wilder, die Bilder noch pornografischer. Im Gegensatz zu Jolly ist die Protagonistin in „Glamour Girl“, Carla Ehrlich, bereits eine Prostituierte, die sich im Laufe der Bilderfolge zur provozierenden Künstlerin und Feministin entwickelt. Carlas Atem spürt man auf der letzten Seite: zufriedene Augen, leicht geöffneter Mund. Eine Nahaufnahme. Sie wird bei einer Protestaktion des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) – dessen Mitglied auch Meysenbug war – während einer SPD-Veranstaltung verhaftet. „Jetzt gehöre ich dazu!!“, schreit sie dem Leser ins Gesicht. Und dann, mit dem Zuklappen der letzten Seite, schließt sich dieses Kapitel ihres Lebens. Der geniale Gitarrengott Wer war er? Der Mann, der als erster solch wilde, psychedelisch-verträumte und innovative Töne einer Fender Stratocaster entlockte. Mit seinen Bands wie „The Jimi Hendrix Experience“ veränderte der kreative Wuschelkopf aus Amerika die Rockmusik nachhaltig. Seine sanften Harmonien, lyrischen Texte und ekstatischen Soli fesselten weltweit zigtausende Fans. Kurz gesagt: Hendrix war der vielleicht wichtigste Gitarrist aller Zeiten. Und ein visionärer Ausnahmemusiker, dessen exzessive Karriere ein jähes Ende fand: Mit nur 27 Jahren erstickte er in einem Londoner Hotelzimmer an seinem eigenen Erbrochenen. Um es mit den Worten von Konzertveranstalter Fritz Rau zu sagen: „Jimi war ein Ikarus des Blues, der in die Sterne flog, der Sonne zu nah kam und verbrannte.“ Warum wurde er von den 68ern verehrt? Hendrix spielte den perfekten Sound zur Revolte: Mutig, rebellisch, glaubwürdig rockend. Auf der Bühne gab er den „Wild Man of Rock“, der die künstlerische Freiheit voll auslebte und seine Gitarre geradezu zeremoniell verbrannte. Mit seinen Songs wie „Are You Experienced?“ zeigte Jimi den verstaubten Rocktraditionen den erhobenen Mittelfinger. Legendär: Seine verstörende Interpretation der amerikanischen Nationalhymne auf dem Woodstock Festival. Und heute? Hendrix’ Musik hat nicht an Anziehungskraft eingebüßt: Jährlich werden Millionen CDs verkauft, immer wieder findet sich unveröffentlichtes Material des Künstlers. Wirklich tot ist der ewig junge Hippieprinz noch nicht. mythos68 | April 2008 alltäglich „ Wir waren die Schönsten, die Buntesten, die Schnellsten, die Klügsten“ Ein Interview mit Rainer Langhans. Von Kathrin Friedrich, Sonja Knüppel und Lystte Laffin Rainer Langhans wurde 1940 in Oschersleben geboren. Nachdem er sich ein Jahr für den Militärdienst verpflichtet hatte, begann er an der FU Berlin Psychologie zu studieren. Er wollte sich und die Menschen besser verstehen lernen. Dieses Bestreben führte ihn im März 1967 in die Kommune 1, in der er ein Jahr später als Politstar und Freund Uschi Obermaiers berühmt wurde. Nachdem sich die Kommune aufgelöst hatte, suchte Langhans seinen Weg in der Spiritualität. Heute lebt Langhans in München und experimentiert zusammen mit vier Frauen an einem neuen sozialen Projekt namens „Harem“. Im Februar 2008 erschien seine Autobiographie „Ich bin’s. Die ersten 68 Jahre.“ Rainer, wenn du heute an die Studentenbewegung der 68er zurückdenkst, welcher Aspekt fasziniert dich am meisten? Es ist diese spirituelle Seite der ganzen Geschichte, von der ich heute meine, dass sie die wesentliche überhaupt ist. Sie vermag als Einzige zu erklären, was wir damals erlebt haben. Diesen merkwürdigen, historisch einzigartigen Gefühlsaufstand, der gleichzeitig auf der ganzen Welt stattfand. 1967 und nicht erst 68 war so eine Art Urknall gewesen. 67 haben wir wirklich geglaubt, so wird die Welt. Die ganze Welt wird zu Kommunen, erstmal der SDS und dann Westberlin. Die Kommune hat kein Papier produziert, sondern Gefühle und innere Entwicklungen, und dadurch ist sie heute für die Historiker kaum fassbar. Zugleich hatten wir aber auch die größte Auswirkung. Bei der Studentenrevolte haben sich die Leute gefragt, ob die Studenten nicht ganz dicht wären. Aber Sex, da weiß jeder was das ist, das interessiert. Aber die Leute haben bei dem Spruch „Wer zweimal mit der Selben pennt, gehört schon zum Establishment“ auch gedacht, ihr wärt nicht mehr ganz dicht? Ja, das war natürlich ein Spruch der Presse. Niemals unserer. Diesen Sexscheiß, den die immer im Kopf haben, bis heute. Wir haben das damals aber gewusst und gedacht, dass sie sich ruhig etwas ausdenken können – je schlimmer desto besser. Die Bild-Zeitung haben wir uns auch immer beschafft und überlegt, was wir für Bilder und Shows liefern könnten, die deutlicher machen, dass man freier sein kann und dass es schön ist, liebevoll zu sein. Es gibt heute noch Leute, auch aus dem Kommunenumfeld, die sagen, dass wir uns bei dem Rückenfoto das erste Mal nackt gesehen haben und eigentlich total verklemmt gewesen wären. Scheiße nein! Wir waren in einer gewissen Weise zärtlich miteinander, aber nicht nur auf dieser sexuellen Ebene. Meiner Ansicht nach ist Sexualität ein Sondergebiet der größeren Liebe oder Zärtlichkeit. Sofern es körperlich wird, ist es eher ein Hindernis für Intimität. Wenn es euch nicht um diesen ganzen „Sexscheiß“ ging, wie können wir uns dann das Leben in der Kommune vorstellen? Die Kommune war eine Gemeinschaft der leidenschaftlich an sich selbst Interessierten. Wir hießen ja auch Horrorkommune, weil wir gemeinsam auf total intrapsychische Erkundungen gegangen sind. Ich bin in dieser Phase ziemlich am Schluss dazugekommen. Du wurdest da nach Strich und Faden auseinandergenommen, in Bezug auf deine Reflexe, dein Denken, deine Reaktionen und so weiter. Du warst ständig unter Beobachtung, nie allein, Tag und Nacht. Durch unsere Aktionen ist diese innere Arbeit dann natürlich völlig zu kurz gekommen. Ich hab dann Ende 67 gesagt, dass wir dieses Innere weiter erforschen müssen. Denn die Dritte Welt oder der Krieg sind eigentlich in unserem Inneren. Wie war damals euer Verhältnis untereinander, gab es hierarchische Strukturen? Wir kannten uns einfach wahnsinnig gut und mochten uns auch gerne. Es gab natürlich Auseinandersetzungen. Dieter Kunzelmann wollte immer der Chef sein. Das war okay. Er war auch der Erfahrenste. Wir beide waren ein bisschen wie ein Ehepaar. Er war der extrovertierte, ewige Action-Typ. Wie ein Springteufelchen sprühte er voller Ideen. Ich war der Intellektuelle, der für die ganzen schlauen Typen, die natürlich auch in unserem Umkreis Das kiffende Kommunenmodel Uschi Obermaier (*1946) „Ich habe viele Dummheiten gemacht. Aber keine, die ich bereue.“ Wer war sie? Uschi Obermaier wuchs ganz unspektakulär in einer bürgerlichen Familie auf und hatte auch ein unspektakuläres Leben vor sich. Bis sie auf den prachtlockigen Rainer Langhans traf, in die Kommune 1 einzog und fortan öffentlichkeitswirksam für Emanzipation und freie Liebe eintrat. Als begehrtes Model erschienen ihre Fotos in zahlreichen Illustrierten, wo sie auch stolz von ihren Jointdrehkünsten und prominenten Affären, unter anderem Mick Jagger und Jimi Hendrix, berichtete. Und heute? Seit mehreren Jahren schon wohnt das einstige Groupie bei Los Angeles und arbeitet als Schmuckdesignerin. Ihre Exzesse und Erfahrungen wurden letztes Jahr mit dem eher belanglosen Streifen „Das wilde Leben“ auf die Leinwand gebracht. Für Fotostrecken lässt die inzwischen 61-Jährige nur noch selten ihre Hüllen fallen – zuletzt für den „Stern“. waren, alles wunderbar gerechtfertigt hat. Intellektuelle sind scheißängstlich und immer spät dran. Wir waren zusammen ein tolles Team. Deshalb waren wir beiden die Autoritäten. Dieter war fast eine andere Generation. Er wirkte so alt auf uns, mit diesem Bart – wie ein Rübezahl. Ihm ist übrigens Unrecht getan worden. Er hat viel mehr Aufmerksamkeit verdient. Er hätte sie so gern gehabt – hat sie nie bekommen. Hast du heute eigentlich noch Kontakt zu den ehemaligen Kommunarden? Als ich meinen Weg in die Innerlichkeit und zur Spiritualität fand, haben meine früheren Leute, die ich so gut zu kennen glaubte, mit denen ich mein ganzes Bewusstsein und meine ganze Identität gebildet hatte, gemeint, dass ich jetzt völlig durchgeknallt wäre. Fritz Teufel war der Erste und Einzige, der sich bei mir nach 20 Jahren gemeldet und gesagt hat, dass sie mir unrecht getan hätten. Die anderen haben das nicht gemacht. Die finden mich nach wie vor scheiße und irgendwie blöde und durchgeknallt. Ich bin ja der große Verräter für die. ikonen | Warum wurde sie von den 68ern verehrt? Uschi wurde zum Sexsymbol einer ganzen Generation, die sich nach ungezügelter Freiheit sehnte. Das Kommunenleben war für sie kein Ausdruck gesellschaftlichen Protests, sondern eine tabulose Partygemeinschaft mit Non-Stop-Drogenkonsum. Mit jeder Menge Charme, nackter Haut und frechen Sprüchen schaffte sie es zur attraktiven Medienikone der Revolte, ohne überhaupt irgendwie politisch aktiv zu sein. 11 12 mythos68 | April 2008 Axel-Springer-Verlag Am Stuttgarter Platz entstand in einer Altbauwohnung die berühmt-berüchtigte Wohngemeinschaft „Kommune 1“. Rainer Langhans und andere Intellektuelle ließen sich hier während der stürmischen Zeiten nieder. „Der Stutti hatte einen zwielichtigen Ruf, das war nicht gerade die Vorzeigeecke von Charlottenburg. Dort gab’s deshalb damals relativ große und günstige Altbauwohnungen“, so Eckhard Schmidt. Im Spätsommer 68 zog die Kommune dann in eine verlassene Fabrik in der Stephanstraße 60 in Moabit. Mit dieser zweiten Phase werden heute vor allem Sex, Drogen und Musik in Verbindung gebracht. Die alten Fabrikräume wurden mittlerweile renoviert und zu Ferienwohnungen umgebaut, die man mieten kann. Auf diesem Weg können auch schwäbische Reisegruppen das wilde Leben der Kommune nachspielen. „Die Presse hat stark polemisiert“, kritisiert Schmidt. Wer damals einen Parka trug, sei schon allein aufgrund der Kleidung als potenzieller Staatsfeind eingestuft worden. Auch das negative Bild der Kommune 1 sei dadurch entstanden. Schmidt ist froh, dass im Zuge der Bewegung und danach mehrere Verlage und Zeitungen gegründet wurden, die dem Springer-Monopol entgegentraten. Besonders durch die massive Hetze der Bildzeitung wurde der Konzern zum erklärten Feind der 68er. „Als ein paar Leute von der Bewegung die Springerwagen auf dem Parkplatz angezündet haben, das fand ich zum damaligen Zeitpunkt okay.“ Der Anschlag auf die Transporter der Bildzeitung ereignete sich Kochstraße/Lindenstraße. Umso grotesker ist es, dass ein Teil der Kochstraße, der direkt am Gebäude des Axel-Springer-Verlags vorbeiführt, Anfang 2007 in Rudi-Dutschke-Straße umbenannt wurde. Schmidt muss schmunzeln: „Das fand ich im Nachhinein interessant.“ Er habe sich in seinem Leben noch nie eine Bildzeitung gekauft. Haus der ehemaligen Kommune 1 „Als Benno Ohnesorg von einem Berliner Polizisten erschossen wurde, gab das dem Ganzen eine politische Dimension“, erinnert sich Eckhard Schmidt. „Allmählich geriet die Situation außer Kontrolle.“ Das Radio verbreitete die Nachricht über die Demonstration zum nahenden Besuch des Schahs von Persien schnell. Der Treffpunkt: die Deutsche Oper. Der damals Auszubildende beobachtete das Treiben von einer Baumkrone aus, bis ein Polizist ihn freundlich aufforderte, herunterzukommen. Nach einem Schuss und dem Abtransport des Toten seien die wütenden Demonstranten dann weiter zum Kurfürstendamm gezogen. Der historische Schuss fiel an der Ecke Krummestraße. Heute steht hier ein Supermarkt. Die Cornflakes-Packungen im Regal weisen jede Erinnerung an das tragische Ereignis von sich. Schauplatz des Todes von Benno Ohnesorg 13 mythos68 | April 2008 Kurfürstendamm Im westlichen Zentrum Berlins, die Gegenwart: Menschenmassen strömen den Ku’damm entlang. Sie drängeln und schieben sich an den Schaufensterauslagen vorbei und konsumieren. Für die Demonstranten der 68er-Bewegung war hier der Ort, um möglichst viel Aufmerksamkeit zu erregen. „Man traf sich am Kranzler, setzte sich auf die Straße und dann ging gar nichts mehr“, erinnert sich Eckhard Schmidt heute. „In den Tagen nach dem Tod von Benno Ohnesorg ging die Demo ab. Die Wut der jungen Leute wurde durch dieses Ereignis schnell entfacht. In den nächsten Tagen hatten die Glaser viel zu tun.“ Eine Menge Schaufensterscheiben seien zu Bruch gegangen. Insbesondere das Kaufhaus des Westens, kurz KaDeWe, am Wittenbergplatz wurde zur Zielscheibe des Zorns. „Das KaDeWe war die Inkarnation des Kapitalismus, es war Symbol für die Dekadenz der Gesellschaft“, beschreibt Schmidt. „Protestaktionen richteten sich immer gegen Institutionen, auch gegen das Amerika Haus.“ Ursprünglich zur Vermittlung amerikanischer Kultur eingerichtet, wurde das Zentrum in der Hardenbergstraße zum Treffpunkt militanter Demonstranten gegen den Vietnamkrieg. Zur Zeit ist in dem Gebäude die 68er-Ausstellung der Bundeszentrale für politische Bildung zu besichtigen. Kaufhaus des Westens Amerika Haus spurensuche Was bleibt übrig? Auf Spurensuche im Berlin der 68er Von Lea Gerschwitz und Lene Albrecht Die Einrichtung der „Dicken Wirtin“ wirkt wie ein Spagat zwischen den Zeiten: Ein glänzender PlasmaBildschirm steht inmitten einer dunklen, alten Holzvertäfelung. Die Kneipe am Savignyplatz hat viele Jahrzehnte hinter sich. Hier in Charlottenburg, wo heute die Bürgerlichen West-Berlins durch die Straßen flanieren, war früher der Szene-Treff der Studenten. Damals nahm Eckhard Schmidt gerne hier am Tresen Platz, um über Hochschule, Politik oder Weltverbesserung zu diskutieren. Heute sitzt er wieder hier und erinnert sich. Nachdem er vom Gymnasium geflogen war, machte Schmidt zunächst eine Ausbildung zum Automechaniker. Später holte er sein Abitur nach, studierte und arbeitete als Lehrer. Heute unterrichtet er an einer Berufsschule. Der damals 17-Jährige hat die 68erBewegung hautnah miterlebt. Im Gespräch mit ihm begeben wir uns auf Spurensuche in das Berlin dieser aufregenden Zeit. In der „Dicken Wirtin“, nahe des S-Bahnhofs Savignyplatz, lauschte Schmidt damals den Gesprächen der politisch engagierten Studenten des Otto-Suhr-Instituts der Freien Universität. Auch Rudi Dutschke und die späteren RAF-Terroristen Andreas Baader und Gudrun Ensslin diskutierten hier mit. Politik ist immer noch ein zentrales Gesprächsthema: „Joschka Fischer ist kriminell“, dröhnt es aus einer Ecke der Kneipe. Ein ergrauter Herr hat es sich dort mit einem Bier gemütlich gemacht und kann nun mit politischen Parolen nicht an sich halten. Zwei Tische weiter wird wild über die Situation des „kleinen Bürgers“ in der Bundesrepublik diskutiert. Es sind nicht nur die alten Holztische, die in der „Dicken Wirtin“ ein wenig Nostalgie der 68er versprühen. Die „Dicke Wirtin“ 14 international mythos68 | April 2008 EXPORTARTIKEL: SEX, DRUGS, LOVE & PEACE „Sit-ins“, Straßenkrawalle, sexuelle Revolution: Kaum eine andere Protestkultur hat die deutsche Studentenbewegung so sehr beeinflusst wie die der USA. Doch im „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“ steht 1968 auch für gescheiterte Träume und blutige Konflikte. Von Tino Höfert Wie antiamerikanisch war die deutsche 68er-Bewegung? Betrachtet man die vielen Proteste, die sich Ende der sechziger Jahre gegen die USA richteten, scheint die Antwort offensichtlich: Die zentrale Parole auf den Antikriegsdemos lautete: „Amis raus aus Vietnam!“ Dutzende Male flogen Eier gegen das Berliner Amerika Haus, beim legendären Pudding-Attentat bekam US-Vizepräsident Hubert H. Humphrey die Kritik der deutschen Studenten am eigenen Leibe zu spüren. Und für die Kommune 1 waren die Amerikaner „arme Schweine, die ihr Coca-Cola-Blut im vietnamesischen Dschungel verspritzen“. Die Welt- macht USA war ein klares Feindbild, der infame Superlativ des westlichen Kapitalismus. Was dabei meist übersehen wird: Was wären die 68er ohne ihre großen Vorbilder aus den US-Universitäten gewesen? Die revolutionären Ideen importierte man zweifelsohne aus der amerikanischen Gegenkultur: Emanzipation, sexuelle Freiheit, Aufstand gegen verstaubte Traditionen. Schon ab 1964 veranstalteten Studenten aus Berkeley und New York „Sit-ins“, besetzten Rektorate und Verwaltungsgebäude. Überregionale Hochschulgruppen wie „Free Speech Movement“ und „Students for a Democratic Society“ organisierten Workshops, Diskussionsrunden und zahlreiche Konzerte. Während die westdeutsche Studentenbewegung noch auf eine Initialzündung wartete, brach die kulturelle Umwälzung in den USA wie eine Welle über das Land herein – getragen von den psychedelischen Revolutionsklängen der kalifornischen Blumenkinder, die ihre Botschaft von „Make Love, Not War!“ in die gesamte Welt verbreiteten. Sex, Drugs, Love & Peace entwickelten sich zu hervorragenden Exportartikeln – auch nach Deutschland. Doch die Träume von Liebe und Frieden fanden ein jähes Ende: Am Abend des 4. April 1968 wurde Martin Luther King von einem weißen Attentäter in Memphis niedergeschossen. Mit dem Tod des schwarzen Bürgerrechtlers starben die Hoffnungen von Millionen Afroamerikanern auf Gleichberechtigung. Wie so oft gipfelte die Wut in fataler Gewalt: Plünderungen, Straßenschlachten, unschuldige Opfer. Knapp zwei Monate später das zweite Attentat: Der demokratische Präsidentschaftskandidat Robert F. Kennedy wurde erschossen. Amerikas Obrigkeit schien machtlos – und auch die studentische Protestkultur musste in diesen Tagen die Grenzen ihrer Weltverbesserungsträume erkennen. Auf der Suche nach dem Duft der Sommerwiese San Francisco zwischen Hippie und Heute. Von Markus Hujara An manchen besonderen Tagen kannst du sie noch sehen. Im GoldenGate-Park zwischen den großen alten Bäumen. Dort, wo nur schmale bleiche Sonnenstrahlen durch den Nebel blinzeln. Folge dem Geruch einer frisch gemähten Sommerwiese, und dann stehen sie plötzlich vor dir. Seine Haare wild, die Instrumente selten. Ihr Busen blank und Blumen im Haar. Und von irgendwoher fährt ein Einradler quer durch das Panorama. Sicher, der Tanz des verrückten AltHippie-Paares, er darf nicht fehlen – wie das wohlige Schein-Schrecken von Alcatraz, die Freiheits-Brise auf der Golden-Gate-Bridge und die Ledertunte im Schwulenviertel Castro, die genüsslich an einem Melonen-Martini schlürft. Doch was ist geworden aus dem Traum einer Generation, einem Lebensstil, der doch gerade die Negation von Marke, das Gegenteil von Schublade sein wollte, wenn „Hippie- ikonen | Martin Luther King Jr. (1929 – 1968) „Ich habe einen Traum, dass meine vier Kinder eines Tages in einer Nation leben werden, in der man sie nicht nach ihrer Hautfarbe, sondern nach ihrem Charakter beurteilen wird.“ Culture“ gleich neben der Bimmelbahn als besonderes Highlight der Touri-Tour angepriesen wird? Tatsächlich hat diese Stadt den Duft der Freiheit zu lange inhaliert. Er steckt zu tief in ihren Poren, als dass sie ihn jemals wieder auswaschen könnte. Sie begleitet, nein, sie bestimmt ihr Schicksal. Ohne ihn wäre die Emanzipation kaum zu denken, die SchwulenBewegung kaum zu verstehen. Diese Stadt – sie ist die Stadt des gelebten Ego-Imperativs: SEI, WIE DU SEIN WILLST! Die anderen schauen dir dabei zu. Oder eben auch nicht. Wie selbstverständlich die Bewohner von „The City“ mit all den Freidenkern und Aussteigern, Durchgeknallten und Verrückten, Gescheiterten und Hilfesuchenden gleichermaßen umgehen – es ist beeindruckend. Die Grenzen zwischen bedingungsloser Liberalität und gesellschaftlicher Gleichgültigkeit sind dabei fließend. Natürlich darf musiziert werden, was die fernöst- lichen Instrumente hergeben, doch genauso stört sich niemand am zum Himmel stinkenden Obdachlosen, der täglich vom Sozialamts-Sicherheitsdienst zurück auf die Straße geschickt wird. Einmal gut durchlüften, einmal das Duftspray kräftig in den Wartesaal halten, und alles war nur ein böser, nasaler Traum. So ist San Francisco nicht nur gelebte Freiheit, sondern auch eine ganz normale US-amerikanische Metropole mit ihren sozialen Ungerechtigkeiten, ignorierten Problemen und natürlich ihrem ureigenen Kapitalismus. Kult und Mythos, das ist eben auch Mehrwert und Profit. Und so ist Haight-Ashbury, jenes legendäre Straßenkreuz, wo der Ruf der Hippies zum ersten Mal vernommen und in die Welt hinaus gesendet wurde, inzwischen eingekreist von „hippen“ Designerläden. Wer hier in den pseudo-alternativen Shops einkauft, muss für das Batik-Shirt tief in die Tasche greifen, um sich so frei und unbeschwert zu fühlen wie die Vertreter einer früheren Generation, denen scheinbar noch Liebe, Frieden, eine verstimmte Gitarre und ein bisschen LSD zum Glück gereichte. Doch wie wunderbar lässt sich das alles vergessen, wenn im Park wieder die Bühnen aufgebaut, die Peace, Pace, Rainbow und Earth-Fahnen gehisst werden, die Jongleure kommen, die Veggie-Burger bruzzeln, die Kinder tanzen und bunte Seifenblasen blasen. Der Hippie braucht wohl in allen Zeiten das Ereignis, das Gemeinschaftsgefühl. Er sucht die Masse, um das Freisein zu finden. Die Verstärker drehen auf. Ist es Reggae oder Rock ‘n’ Roll – egal. Du bist glücklich. Und langsam, ganz langsam steigt er an dir hinauf, du kannst ihn spüren, um dich, in dir. Du atmest ihn tief ein, immer tiefer, den Duft einer frisch gemähten Sommerwiese. Der friedliche Friedensstifter Wer war er? Der Pastorensohn aus Atlanta entwickelte sich in den 60er Jahren zur Galionsfigur der schwarzen Bürgerrechtsbewegung. Der brillante Rhetoriker – er hielt bis zu 200 Reden pro Jahr – organisierte dutzende Demos und Protestaktionen für die Rechte der Afroamerikaner. Und zwar mit Erfolg: 1964 wurde das Gesetz zur Aufhebung der Rassentrennung verkündet. Obwohl die Kennedy-Brüder zu seinen größten Förderern gehörten, geriet King immer wieder ins Fadenkreuz von FBI, Justiz und Ku-Klux-Klan. Am 4. April 1968 wurde dem Friedensnobelpreisträger sein mutiges Engagement zum Verhängnis: Auf dem Balkon eines Motels in Memphis fiel er einem Attentat zum Opfer. Warum wurde er von den 68ern verehrt? Als „Schwarzer Gandhi“ bewies King eindrucksvoll, dass man durch friedlichen Widerstand politische Veränderungen erreichen kann. Ob der Busboykott von Montgomery oder der berühmte Marsch nach Washington: Kings Aktionen stärkten nicht nur das Selbstbewusstsein von Millionen Schwarzen, sondern beeinflussten auch die studentische Protestkultur. Und heute? Fest steht: Ohne King hätte Präsidentschaftskandidat Barack Obama wohl niemals eine Chance, ins Weiße Haus einzuziehen. Erst Jahrzehnte später erkannte Amerikas Obrigkeit die historische Bedeutung des Bürgerrechtlers an. Pikant: Sein Tod wurde nie vollständig aufgeklärt. mythos68 | April 2008 international 15 Die zweite Revolte am Öresund Ausgang des „Freistaat Christiania“: Autonomes Gebiet mit eigenen Regeln Als der junge Politaktivist Jacob Ludvigsen im September 1971 den Freistaat Christiania auf einem verlassenen Kasernengelände im Kopenhagener Hafen ausrief, war die studentische Protestbewegung auch in Dänemark bereits in vollem Gange. Im April 1968 hatten rund 100 Psychologiestudenten Teile der Kopenhagener Universität besetzt, um gegen die hierarchischen Strukturen innerhalb des Hochschulsystems zu protestieren. Dem Studenten Finn Ejnar Madsen gelang es gar, während des jährlichen Universitätsfests das Rednerpult zu erobern und in Anwesenheit der Königsfamilie eine flammende Rede gegen die Klassengesellschaft zu halten. So gesehen kann auch in Dänemark das Jahr 1968 als Geburtsstunde der Studentenbewegung gesehen werden, die zeitgleich in den USA und in großen Teilen Europas eine ganze Generation politisierte. Dennoch wird in Dänemark nur selten von „den 68ern“ gesprochen. Ein Grund dafür mag sein, dass die entscheidenden Ereignisse des dänischen „Jugendaufruhrs“, wie die Bewegung in der dänischen Sprache zumeist bezeichnet wird, einige Jahre später stattfanden. Stark vom Woodstock-Geist inspiriert zogen im Sommer 1970 tausende vor allem aus der Hauptstadt stammende junge Leute nach Thy, einem entlegenen Landstrich im nördlichen Jütland, um das erste dänische Rockfestival zu besuchen. Viele blieben, lebten fortan eine Art Kommunenleben in der freien Natur und huldigten dem einfachen Lebensstil und der freien Sexualmoral. Das bedeutendste Ereignis innerhalb der dänischen Bewegung ist jedoch die Besetzung der Kopenhagener „Bådmandsstrædes Kaserne“ im September 1971, die bis heute weit über die Grenzen Dänemarks hinaus unter dem Namen „Freistaat Christiania“ bekannt ist. Die Christianiter, wie sich die Bewohner des Areals nennen, betrachten ihren Freistaat als ein autonomes Gebiet mit eigenen Regeln und Gesetzen. Obwohl das Gelände immer noch dem Staat Dänemark gehört, wurde das bunte Treiben in dem naturschön gelegenen Alternatividyll von offizieller Seite rund 30 Jahre lang toleriert. Die Bewohner errichteten eigene Häuser, die seither Architekten aus aller Welt inspiriert haben. Werkstätten, Lokale und Geschäfte wurden eröffnet. Weltweite berühmt ist der Freistaat nicht zuletzt deswegen, weil bis vor kurzem der Verkauf von Cannabis auf dem Gelände toleriert wurde. Christiania gilt als eine der beliebtesten Tourismusattraktionen der dänischen Hauptstadt und hat maßgeblich dazu beigetragen, dass Dänemark über Jahrzehnte hinweg in weiten Teilen der Welt als besonders liberales Land wahrgenommen wurde. Und auch manch ein Kopenhagener, der sich nicht unbedingt zur linken Szene zählen würde, genießt insgeheim Spaziergänge auf dem naturbelassenen Uferareal inmitten der Großstadt. 37 Jahre nach der Besetzung der Kaserne ist es nicht mehr vorrangig der liberale Umgang mit alternativen Freiräumen wie Christiania, der das Bild vom politischen Dänemark prägt. Brennende Dänenflaggen und Botschaften in den arabischen Ländern haben sich in den Vordergrund gedrängt. Doch es wäre zu kurz gegriffen, diese Geschehnisse lediglich als Protest gegen die provokanten Mohammed-Karikaturen einer dänischen Tageszeitung zu interpretieren. Die politische Kultur des einst liberalen Musterlandes im In seiner Neujahrsansprache vom Jahr 2002 kündigte der neu gewählte dänische Ministerpräsident Anders Fogh Rasmussen der aus seiner Sicht „linken Meinungstyrannei“ den Kampf an. Doch längst nicht alle Dänen sind mit dem neokonservativen Kurs der Rechtsregierung einverstanden. Spätestens seit dem Abriss des alternativen Jugendzentrums „Ungdomshuset“ in Kopenhagen vor gut einem Jahr formiert sich eine neue kritische Jugendbewegung. Die jungen Leute verteidigen Normen und Werte, die ihre Eltern in den Jahren nach 1968 erstritten haben. Von Ebbe Volquardsen Norden befindet sich spätestens seit der Parlamentswahl von 2001 im radikalen Wandel. Nur wenige Monate nach seiner Wahl blies Ministerpräsident Anders Fogh Rasmussen, dessen rechtsliberalkonservative Minderheitsregierung sich seither auf die Stimmen der rechtspopulistischen Dänischen Volkspartei stützt, zum Kulturkampf. Damit ist nicht nur die Auseinandersetzung mit der muslimischen Minderheit im Land gemeint, die sich nach Verabschiedung des europaweit restriktivsten Zuwanderungsgesetzes sowie der Etablierung immer härterer und zuweilen offen rassistischer Debatten in Teilen zunehmend radikal gebärt. Vielmehr bemüht sich der Regierungschef des über Jahrzehnte hinweg sozialdemokratisch geprägten Dänemarks, die seiner Ansicht nach linkslastige Bildungselite zu einer grundsätzlichen Wertedebatte herauszufordern. Ein Freiraum wie Christiania findet keinen Platz im Kulturverständnis der Rechtsregierung. Durch intensive Razzien wurde der laxen Drogenpolitik der Christianiter ein Riegel vorgeschoben. Auch die Existenzberechtigung des gesamten Projekts wurde immer wieder in Frage gestellt. Bald schon werden die ersten Häuser auf dem besetzten Kasernengelände neuen Appartements mit Meeresblick weichen. In einer Linie mit der ChristianiaPolitik der dänischen Regierung steht der Abriss des Kopenhagener Jugendzentrums „Ungdomshuset“ vor gut einem Jahr. Wie Christiania war auch das „Ungdomshuset“ eine der Institutionen linker Alternativkultur in Dänemark. Auch in den deutschen Nachrichten wurde ausführlich über die manchmal gewalttätigen Proteste im Zusammenhang mit der Räu- mung berichtet. In der Tat lieferten sich junge Leute aus der autonomen Szene mehrere Tage in Folge Straßenschlachten mit der Polizei. Was angesichts der Bilder von brennenden Autos und zerschmetterten Schaufenstern zumeist übersehen wurde, waren die vielen friedlich demonstrierenden Menschen, die in jenen Tagen ihrer Unzufriedenheit nicht nur mit der Räumung, sondern mit der gesamten politischen Situation zum Ausdruck brachten. Der Abriss des „Ungdomshuset“ ist somit lediglich als Auslöser, nicht jedoch als Ursache für das Aufkeimen dieser neuen Jugendbewegung zu bewerten. Es wird vermutet, dass die gewalttätigen Ausschreitungen im Zuge der Räumung manchem dänischen Innenpolitiker nicht ungelegen kamen. Auf diese Weise war es möglich, die Demonstranten als chaotische Krawallmacher abzustempeln, derer man schnell Herr werden musste. Doch die friedlichen Proteste dauerten an. So sah man auch in den folgenden Wochen 15-jährige Jugendliche Seit an Seit mit ihren Eltern für mehr kommunale Mitbestimmung und kulturelle Freiräume demonstrieren. Ein gutes Jahr nach den Demonstrationen für das „Ungdomshuset“ ist festzustellen, dass die dänische Jugend, wie schon einmal vor 40 Jahren, politisiert ist. Nach sieben Jahren nationalkonservativer Kulturpolitik scheint es, als sähen viele junge Leute den liberalen Zeitgeist, für den ihre Eltern in den Jahren nach 1968 auf die Straße gingen, in Gefahr. Viele sind offenbar bereit, die damals erstrittenen Werte zu verteidigen. Die oftmals beklagte Politikverdrossenheit der Jugend ist zumindest in Dänemark zu einem Kapitel in den Geschichtsbüchern geworden. 16 international mythos68 | April 2008 Allons enfants de la patrie! Von Franziska Deregoski Die politisch orientierten Studenten Frankreichs gehörten nicht zu jenen, die eine sexuelle Revolution planten. Ihr erklärtes Ziel war, die Menschen dieses Landes von den Ideen der „revisionistischen Führer“ loszureißen, ihnen die Augen zu öffnen. Die Revisionisten, das waren die Vertreter der Kommunistischen Partei Frankreichs unter Waldeck Rochet, die dem Kurs der Regierung folgten; in den Augen der Studenten unglaubwürdige Verrä- ikonen | Ho Chi Minh (1890 – 1969) „Nichts ist kostbarer als Unabhängigkeit und Freiheit.“ ter, die die Lehren Marx, Lenins und Mao Zedongs vernachlässigten. Der erste Schritt zur Verwirklichung der Ziele der Studenten war die Gründung der Kommunistischen Marxistisch-Leninistischen Partei Frankreichs (FCML). Wie in der proletarischen Kulturrevolution Chinas wollten die marxistisch-leninistischen Studenten im Gegensatz zu Frankreichs alteingesessenen Kommunisten durch Generalstreiks eine Diktatur des Proletariats errichten. Zwei Parteien gleicher politischer Orientierung also, die ihr Dogma vom „Kommunismus“ jedoch sehr verschieden auslegten. Am 11. März 1968 standen die Revolutionäre auf der Rue Gay-Lussac im Quartier Latin und blickten auf das, was von den Kämpfen der vergangenen Nacht noch übrig war. In der „Nacht der Barrikaden“ hatten sie dem Staat die Stirn geboten, bis die Ordnungshüter sie mit Tränengas zurückdrängten. Einige von ihnen wurden verhaftet, viele verletzt. Auf Dauer, propagierten sie, wird die Herrschaft der „kapitalistischen Monopolbourgeoisie“ durch den Ansturm des Volkes hinweggefegt werden. Sowohl Studenten als auch Arbeiter wollten weiterkämpfen, um Frankreich eine zweite Revolution zu bringen. Der vietnamesische Volksheld Wer war er? Aus einfachen Verhältnissen stammend, erkannte der junge Ho Chi früh die Ungerechtigkeit der französischen Kolonialbesatzung Vietnams. Auf seiner mehrjährigen Weltreise studierte er an der Moskauer Universität und lernte französische Sozialisten kennen, die ihn mit den Schriften von Marx und Lenin vertraut machten. Als eifriger Jungrevolutionär zurückgekehrt, gründete Minh 1930 die Kommunistische Partei Vietnams und zog mit der ländlichen Bevölkerung in den bewaffneten Widerstand. 1945 wurde Nordvietnam unabhängig, und der Freiheitsheld blieb bis zu seinem Tod Präsident. Warum wurde er von den 68ern verehrt? Ho Chi Minh war der Prototyp Che Guevaras – nur ohne Zigarren und Barett. Der vietnamesische Revolutionär etablierte als erster den Kommunismus außerhalb der Sowjetunion. Sein politisches Hauptziel: Der konsequente Kampf gegen westlichen Kapitalismus, Kolonialismus und Vietnams Teilung. Und heute? In seiner asiatischen Heimat wird der einstige „Vater der Nation“ – der selbst jedoch nie Kinder hatte – immer noch wie ein Heiliger verehrt. Aber in Europa? Fast in der Bedeutungslosigkeit verschwunden. Für eine posthume Karriere als Vermarktungssymbol fehlte dem Mann mit dem markanten Kinnbart wohl einfach der jugendliche Charme. Fotograf Kameramann Redakteur Moderator Journalist Medienmacher . www.jugendpresse.de mythos68 | April 2008 theoretisch 17 Am Ende auch Praxis Was ein Diskussionsabend über das Selbstverständnis der 68er lehrt. Von Urszula Wozniak und Josephine Ziegler „Das Kapital“ von Karl Marx, Herbert Marcuses „Der eindimensionale Mensch“ oder Wilhelm Reichs „Die Funktion des Orgasmus“ – stapelweise türmten sich diese und andere Bücher in den Zimmern der 68er. Die Seiten sind abgegriffen und haben unzählige Eselsohren. Bis tief in die Nacht diskutierten die Studierenden in Lesezirkeln. So jedenfalls will es das gängige Klischee. „Bücher spielten für das Selbstverständnis der Bewegung eine zentrale Rolle“, sagt über diese Zeit auch der Sozialphilosoph Oskar Negt. Gemeinsam mit dem Politikwissenschaftler Heinrich Oberreuter sollte er am 13. März über das theoretische Selbstverständnis der 68er diskutieren. Die Veranstaltung unter dem Titel „Am Ende nur Praxis?“ fand im Rahmen der Ausstellung „68 – Brennpunkt Berlin“ der Bundeszentrale für politische Bildung im Amerika Haus statt. Um Berlin aber geht es an diesem Abend wenig. Und auch die ANZEIGE_FLUTER_MÄRZ08 28.03.2008 Theorie hat es, angesichts manch weit ausholender Schilderung Oberreuters, seinerzeit wissenschaftlicher Mitarbeiter am Geschwister-Scholl-Institut der Universität München, manches Mal schwer, sich zu behaupten. Auch Negt, der damals Assistent von Jürgen Habermas in Frankfurt/Main war, zeigt sich als erinnerungsreicher Zeitzeuge. Eine kontroverse Diskussion zwischen den beiden mag aber nicht so recht in Gang kommen. Dennoch erfährt mensch einiges über das „Selbstverständnis der 68er“. Schnell wird klar, dass dieses Selbstverständnis nicht vor den gut gefüllten Sitzreihen der Bühne Halt macht. Im Gegenteil: Einleitend stellt der Journalist Stefan Reinecke, der den Abend moderiert, Themen und Bücher der 68er vor. Er nennt Schlagworte wie Kritische Theorie, Demokratisierung und Feminismus. Das Publikum protestiert sogleich ungefragt: „Was ist mit Ernst Bloch?“, „Schon mal was von Karl Marx gehört?“ Die 15:04 Uhr Seite 1 Zwischenrufer, alle älteren Semesters, scheinen sich um einige Aspekte ihrer ganz persönlichen Lektüre von damals betrogen zu fühlen. Sehr biografisch geprägt sind auch die nächsten Wortmeldungen aus dem Publikum. „Worin aber besteht die Aktualität der theoretischen Vordenker der Bewegung?“ Stefan Reinecke versucht noch einmal, die Diskussion auf dem Podium in Gang zu bringen. Oskar Negt fällt sogleich sein eigenes Buch „Öffentlichkeit und Erfahrung“ ein, das ja wohl nicht ohne Grund eben erst ins Französische übersetzt worden sei. Darüber hinaus seien Marx’ Thesen aktueller denn je: „Zum ersten Mal in der Geschichte haben wir heute einen funktionierenden Kapitalismus, so wie Marx ihn beschrieben hat.“ Oberreuter pflichtet dem bei und spricht mit Sorge über die zunehmende Ökonomisierung aller Lebensbereiche. „Entfremdung“ und „Eindimensionalität“, das sind für Negt und Oberreuter keine verstaubten Vokabeln. fluter.de Das Jugendmagazin „fluter“ erscheint vier Mal im Jahr. Das Online-Magazin „fluter.de“ präsentiert täglich neue Beiträge und Diskussionen, wöchentlich Film- und Buchbesprechungen, Aktuelles und monatliche Themenschwerpunkte. Es sind Symptome, wie sie in unserer heutigen, vermeintlich pluralistischen, Gesellschaft auftreten. So verstanden tritt Theorie als alltägliche Praxis auf, als „Kritik mit dem Glauben an Veränderung“, so Negt. Etwa als die Praxis eines Publikums, das sein Rederecht einfordert. Und dies umso lauter, als der Moderator um knappe Fragen bittet. „Warum wird das Publikum zum Fragesteller degradiert?“ – „Ist es nicht journalistische Bequemlichkeit, sich nur mit dem deutschen Kontext zu beschäftigen?“ Und „warum sind es immer nur die Männer“, die ihre Stimmen zum Thema erheben? Das „nur“ im Veranstaltungstitel kann getrost ersetzt werden: Am Ende auch Praxis. „Es gab die Theorie genauso wenig wie die 68er“, so Oberreuter. Dass die Experten zu 68 nicht nur auf der Bühne zu suchen sind und sich die Theorien über den Köpfen vieler verstreuten, das zeigte der Abend allemal. Kostenloses Jahresabo fluter Ja, ich will die nächsten vier Ausgaben der Zeitschrift fluter kostenlos an meine nachstehende Adresse frei Haus zugestellt bekommen: Name Vorname Institution, falls Lieferanschrift Straße und Hausnummer/Postfach PLZ / Ort Land Ort, Datum Unterschrift an i Ch e e gab nt i D us ei r A ch me s er om 8 S 0 im 20 Diesen Coupon abtrennen und an folgende Adresse senden: Bonifatius Druck Buch Verlag GmbH fluter-Leserservice Postfach 1269 33042 Paderborn Per E-Mail: [email protected] oder im Web unter www.fluter.de/abo 18 theoretisch mythos68 | April 2008 Nach dem Ende der Utopie Der Sozialphilosoph Herbert Marcuse war für die deutsche und die amerikanische Studentenbewegung von zentraler Bedeutung. 40 Jahre nach 68 ist seine Warnung vor dem „eindimensionalen Menschen“ immer noch aktuell – und weitgehend vergessen. Von Franziska Langner, Janna Schlender, Urszula Wozniak 40 Jahre später: Eindimensionaler Mensch oder gelungene Befreiung? ikonen | Die Sozialforscher der „Frankfurter Schule“ „Die rastlose Selbstzerstörung der Aufklärung zwingt das Denken dazu, sich auch die letzte Arglosigkeit gegenüber den Gewohnheiten und Richtungen des Zeitgeistes zu verbieten.“ (Theodor W. Ad) 2008. Pia ist aufgeregt, ihr ist schlecht. An den Schläfen spürt sie ein heißes Kribbeln. Sie studiert Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin und steht kurz vor ihrer Zwischenprüfung. Eigentlich hätte sie sich damit lieber noch Zeit gelassen, aber auf diese Weise ist sie schneller als viele ihrer Kommilitonen – und unter der Regelstudienzeit. Mehr leisten müssen, um mehr erreichen zu können. Ein Mantra, das heutzutage nicht nur Pia antreibt, während sie zielstrebig auf das Schwarze Brett zusteuert, um sich durch das Dickicht der Praktikumsangebote zu kämpfen. Die Anforderungen möglicher Arbeitgeber sind vielfältig: Praktika, Fremdsprachenkenntnisse, Auslandserfahrung. Pia möchte als nächstes nach Shanghai. „Dann stehen mir wirklich alle Türen offen“, meint sie. In den hohen Ansprüchen dieser Tage sieht sie Möglichkeiten. „Sie können jede Farbe haben, solange es schwarz ist“, hat Henry Ford einmal gesagt. Für den Philosophen Herbert Marcuse war dieser Satz Ausdruck seiner Theorie vom „eindimensionalen Menschen“, der glaubt, alles haben zu können, am Ende aber nur an die Gesellschaft angepasst lebt. Hätte Pia gut 40 Jahre früher an der FU studiert, wäre sie Herbert Marcuse vielleicht begegnet. So wie Luise, die an einem warmen Julitag im Jahr 1967 im brechendvollen Hörsaal sitzt. Auch sie ist aufgeregt, aber schlecht ist ihr nicht. Wochenlang hat sie zusammen mit dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund SDS Flyer gedruckt, über Nächte hinweg an Fragen und Formulierungen gefeilt. Auch Luise will etwas erreichen, aber nicht innerhalb des Systems, in dem sie lebt. Sie will es verändern. Endlich, nach langer Vorbereitung, betritt Marcuse das Podium. Vier Abende in Folge spricht er zu und mit den Studenten. Über die Utopie, die eigene Gesellschaft grundlegend verändern zu können, über die Unfähigkeit, Veränderungen umzusetzen. Er wird nicht müde, die Studenten zu ermuntern, selbst ihre Beiträge zu leisten, und er diskutiert mit ihnen seine Theorien. „Wogegen ist die Studentenopposition gerichtet?“, fragt Marcuse, da wir doch scheinbar in einem freien, demokratischen Land leben. Gegen die herrschenden Institutionen, durch deren Interessen unsere wahren Bedürfnisse unterdrückt werden, antwortet er im selben Atemzug. Aber anders als viele radikalere Denker sieht er einen Teil der Schuld bei jenen, die sich freiwillig unterdrücken lassen. Mehr als alles andere predigt Marcuse die Vernunft. Luise ist fasziniert von seinen Worten. Hunderte Male hat sie seinen Aufsatz Repressive Toleranz gelesen und stimmt mit ihm überein, dass wir allzu bereitwillig an die Freiheit der Entscheidung glauben, ohne zu hinterfragen, ob es diese wirklich gibt. Herbert Marcuse spielte für Luise und die Studentenbewegung der 60er eine entscheidende Rolle. Er wünschte sich eine Welt, in der Technik und Kunst, Arbeit und Spiel miteinander einhergehen, stellt Freude und Glück über die Angst vor Veränderungen. Aber er weiß auch, wie angenehm und sicher es scheint, die bestehende Gesellschaft nicht zu hinterfragen. Pia hat heute, 40 Jahre später, von Marcuse noch nie etwas gehört. Sie glaubt, alle Freiheiten zu haben, um ihre Zukunftswünsche zu verwirklichen. Wie tausend andere nimmt sie unbezahlte Praktika, verschulte und verwirtschaftlichte Studiengänge als selbstverständlich hin, als Notwendigkeit, den späteren Traumjob zu bekommen. Für Pia wären Luises Vorstellungen und ihre Wünsche nach der Veränderung der eigenen Gesellschaft utopisch. Das waren sie für Marcuse und Luise auch. Aber Herbert Marcuse war sich sicher, dass man aufhören muss, tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen als Utopie zu bezeichnen. Nur mit einem solchen „Ende der Utopie“ bestand für ihn die Möglichkeit zum Wandel. Die Chefideologen Wer waren sie? Als „Frankfurter Schule“ wird der intellektuelle Kreis von Soziologen und Philosophen bezeichnet, der sich kritisch mit den Missständen der modernen Industriegesellschaft auseinandersetzte. Zu den einflussreichsten und bekanntesten Vertretern gehörten Max Horkheimer (1895 – 1973), Herbert Marcuse (1898 – 1979), Theodor W. Adorno (1903 – 1969) und Jürgen Habermas (*1929). Der Name geht zurück auf den geografischen Ursprung der Gesellschaftskritiker, das Institut für Sozialforschung in Frankfurt. Kern ihrer Forschungen war die Auseinandersetzung mit Ideen des Marxismus in Bezug auf die veränderten gesellschaftlichen Verhältnisse. Als Hauptwerke der Frankfurter Schule gelten „Dialektik der Aufklärung“, „Der eindimensionale Mensch“ und „Minima Moralia“. Und heute? Inzwischen gehören die Texte von Marcuse und Co. zum Standardrepertoire der Gesellschaftswissenschaften. Doch gibt es ein greifbares Erbe? Wohl, dass nachfolgende Generationen immer aufs Neue ihr soziales Umfeld kritisch betrachten und hinterfragen. Warum wurden sie von den 68ern verehrt? Straßenkrawalle zu führen und Uni-Rektorate zu besetzen war das eine – klare Vorstellungen einer besseren Welt zu vertreten und zu diskutieren etwas anderes. In den Essays und Vorträgen der Sozialforscher erkannte die Studentenbewegung von 68, wovon sich die Gesellschaft befreien müsse: Kapitalismus, Naturbeherrschung, autoritäre Strukturen. Auf vielen Vortragsreisen ermutigten sie die Studenten dazu, die Umgestaltung ihrer Lebenswelt selbst in die Hand zu nehmen. Die Theorien der Frankfurter Schule hatten entscheidenden Einfluss auf den SDS und die APO. So vermerkte Rudi Dutschke einmal in seinem Tagebuch: „Unsere Strömung ohne ihn [Marcuse] – wer kann es sich ganz denken? Ging uns bei Ernst Bloch ähnlich, beide aber werden unsere Generation nie verlassen.“ mythos68 | April 2008 19 universitär Freie Universität, Studentenprotest – ohne die Hochschulen wäre 68 nicht denkbar gewesen. Und heute? Wir begeben uns auf Spurensuche an die Quelle der Studentenbewegung, zum OttoSuhr-Institut. Von Josephine Ziegler Der erste Takt verwirrt die Studenten noch. Verdis Requiem erhebt sich pathetisch und erfüllt den Hörsaal. Vielleicht haben sie Ton Steine Scherben erwartet, gewiss keine Klassik. Feierlich tritt eine kleine Prozession ins Blickfeld. Würdevoll schauen die jungen Frauen und Männer drein, sie tragen schwarze Anzüge und Blazer, ihr Haar ist geschniegelt. Als die Musik verstummt, beginnt ihr Anführer zur Vollversammlung zu sprechen. Er betont, wie gut sich die Freie Universität Berlin (FU) unter der Führung ihres Präsidenten Dieter Lenzen entwickelt hat. In einer Grafik ist zu sehen, wie die Eliteförderung noch weitergehen soll: die Anzahl der Studenten auf Dauer mindern, den niederen Bachelor nur noch an der Humboldt-Uni abnehmen. Die Studenten lachen. Sie verstehen die Ironie des Dieter-Lenzen-Fanclubs, der hier auftritt. Aber die Essenz seiner Worte ist bitterernst. Die Konzepte des Präsidiums sind es, gegen die sich dieser Aktionstag an der FU im Januar 2008 richtet: verschärfte Zulassungsbedingungen, Leistungsdruck und Fächerzwang durch Bachelor und Master, Schließung von Instituten, auslaufende Studiengänge, Wegrationalisieren von Büchermassen. Die Studenten begehren gegen die fortschreitende Verwirtschaftlichung der Uni auf. „Tu nichts Unnützes“, „Denk an deinen Lebenslauf“, „Schalte deine Konkurrenz aus“ – so geben Aufkleber überall auf dem Campus in Dahlem dem Unmut der Studis Ausdruck. Sie wollen weiter selbstbestimmt und nicht an einer „Denkfabrik“ studieren, die Nachschub für die Wirtschaft liefert. Die Reformen gehen für sie in die falsche Richtung. Es sind zu viele, die zu schnell und ohne Mitbestimmung der rund 30.000 Studenten vorangetrieben werden. Schon beim Protest der FU-Studenten seit 1967 spielten Reformen eine Rolle. In ihren Augen war es längst überfällig, die Strukturen und Konventionen zu erneuern. „Was das Ganze zu einer Bewegung machte, waren die Reaktionen derer, die wir das Establishment nannten“, erinnert sich Bodo Zeuner, emeritierter Professor des Otto-Suhr-Instituts für Politikwissenschaft (OSI), damals Assistent. Kritische Vorträge an der FU verhinderte der damalige Hochschulrektor Herbert Lüers, und die Polizei reagierte nicht nur bei Demos über, sondern auch, als sie massenhaft Studenten aus dem Henry-Ford-Bau trug, um das erste Sit-in Deutschlands aufzulösen. Lichtdurchflutet steht der 50erJahre Bau in der Wintersonne 2008. Vier Männer fallen auf. Sie stehen in und vor dem Bau, drehen ab und an eine Runde. „Zivilpolizisten“ munkelt man in der Fachschaftsinitiative des OSI. Ganz in der Nähe trifft sie die letzten Vorbereitungen für den Aktionstag. Etwa hundert bunte Luftballons hängen unter der niedrigen Decke im Roten Café, einer besetzten und alternativ bewirtschafteten Villa. Die Ballons sollen im Henry-FordBau steigen. Doch wie reinkommen? Zwei Eingänge sind abgeschlossen, die anderen scheinen bewacht. Drei junge Männer erklären sich zum Ablenkungsmanöver bereit. Vermummt rennen sie los. Mit gerunzelter Stirn schaut ein vermeintlicher Zivilpolizist ihnen nach. Die Szene hat nichts Kriminelles mehr, als kurz darauf die bunten Ballons in der Morgensonne steigen. Harmlos und fröhlich hängen sie unter der hohen Decke zwischen den Bildern berühmter FUler, darunter Rudi Dutschke. Ernst blickt er auf die Papierstudenten, die, an jedem Ballon erhängt, dann doch den Protest in der Spaßaktion entlarven. Meist sind es die Politikstudenten, die aktiv werden. Auch die Wahlbeteiligung zum Studierendenparlament (StuPa) ist am Fachbereich überdurchschnittlich hoch. Insgesamt liegt sie an der FU nur bei 11 Prozent, und das seit Jahren. „Die Resignation in Bezug auf die Frage, ob man durch eigenes Handeln überhaupt etwas verändern kann, ist wohl gestiegen“, sagt Bodo Zeuner. In der Tat gehen die Mitbestimmungsrechte des StuPa heute gegen null. Dabei ist es das letzte Rudiment des Modells Gruppenuniversität. Als 1968 das OSI aus Protest gegen die Notstandsgesetze besetzt war, nutzten alle Beteiligten, von den Studenten bis zum Institutsrektor, die Situation, um die „verknöcherten Universitätsstrukturen“ zu reformieren. Weitreichende Mitbestimmungsrechte für Studenten wurden erkämpft. Das Modell diente als Vorbild für das neue Hochschulgesetz von 1969, ist heute aber wieder weitgehend abgeschafft. Die Tradition, in der die FU steht – 1948 von Studenten aus Protest gegen die von den Sowjets indoktrinierte Hochschullehre der heutigen Humboldt-Universität ins Leben gerufen – sie scheint nicht mehr präsent zu sein. Ist die neue Studentengeneration wirklich so unpolitisch? Viele wollen sich nicht einer politischer Richtung zuordnen lassen. Parteipräferenzen Kein Nachschub aus der Denkfabrik sind ihnen zu dogmatisch. Zeuner kritisiert: „Wenn sich Studenten engagieren, dann häufig für sehr isolierte Ziele, die nicht in gesamtgesellschaftliche Programmatik eingebettet werden.“ Die etwa 300 anwesenden Studenten in der Vollversammlung 2008 beschließen, das Sommersemester zum Protestsemester zu erklären. Ein Rahmen ist damit gesteckt. Nun ist es an den Studenten, sich auf ihr Erbe zu besinnen. fruchtfleisch | Was ist politisch? „Im Konsens regeln“ „Standpunkt beziehen“ Nina, 20, Medizin, Marburg Lea, 21, Gesellschaftsund Wirtschaftskommunikation, Dresden Politisch ist alles, was die Gesellschaft betrifft. Die Art und Weise, wie man mit Problemen umgeht, sie im Konsens zu regeln und das in den öffentlichen Raum zu tragen. In meinen Augen ist auch jemand politisch, der sich interessiert und seinen Standpunkt bezieht. Man muss nicht in irgendeinem Ortsverband tätig sein. Bist du politisch? „Ich bewege einiges“ „Jeder ist politisch“ Christopher, 29, BWL, Berlin Dennis, 21, studiert Medizin in Langenfeld Jeder ist politisch. Trotzdem versuche ich, mich rauszuhalten. Man weiß nie, was für Auswirkungen das hat, was man tut. Aber andere nutzen dieses Machtvakuum aus. Auf jeden Fall! Ich bin zwar nicht parteipolitisch, aber ich organisier mich in der Fachschaft. Dort bewege ich einiges. Auch in der Schule war ich schon aktiv gewesen. Welche Themen sind dir wichtig? „Das soziale Leben“ „Steuern, Geld, Bafög“ Tillmann, 22, Mathematik und Psychologie, Berlin Gerald, 23, Chemie, Storkow Sachen, die das persönliche Leben betreffen, wie das soziale Leben in meinem Gegend. Ich würde mir wünschen, daß ich da besser Einfluss nehmen könnte. Natürlich in erster Linie die Themen, die mich selber betreffen. Die Uni, weil ick nun mal Student bin. Und die Themen, die meine Zukunft betreffen: Steuern, Geld, Bafög. 20 universitär mythos68 | April 2008 Die Mensafalle oder Bist du politisch? Ist der heutige Student zwar politisch interessiert, jedoch politisch nicht aktiv? Die gesammelten Gedanken und Befindlichkeiten der Befragten wollen wir, Berliner Studenten der Europäischen Ethnologie, in einem kurzen Film präsentieren, der im Rahmen unseres Studienprojektes „Mythos 1968“ entsteht. Dort diskutieren wir seit einigen Monaten die verschiedensten Blickwinkel auf die Zeit der großen Studentenrevolte und lernen auch, dass damals nur eine kleine Minderheit der Studenten wirklich politisch engagiert war. Die damaligen Ereignisse jähren sich nun zum 40. Mal. Wir zählen erneut die Namen auf unserer Liste. Es fehlen immer noch drei. Insgesamt 15 Studenten möchten wir heute für unsere Umfrage gewinnen. Die meisten Studenten machen einen großen Bogen um uns. Wir fragen „Was ist politisch?“ und dann: „Bist Du politisch?“ Die junge Studentin mit den langen offenen Haaren hat nun einen leicht gequälten Gesichtsausdruck. Hätte sie bloß nicht den Blick erwidert und wäre wie all die anderen schnell an der Kamera vorbei- gehuscht. Doch sie besinnt sich, sagt, sie sei politisch interessiert, informiere sich über das politische Geschehen. Selbst engagiert, nein, das sei sie nicht. Eine Antwort, die wir während des Drehs noch oft hören werden. Was aber interessiert die Studenten heute, welche Vorbilder haben sie, für welche Themen können sie sich begeistern? Wir wollen es wissen und so stehen wir eine Woche später erneut ausgerüstet mit der Kamera und einem ermunternden Lächeln mitten im Strom der Studenten, die es zur Mittagszeit in die Mensa zieht. Diesmal sind wir an die Freie Universität gefahren, Ende der sechziger Jahre einer der Hauptschauplätze des studentischen Aufbegehrens. Wir haben aus den letzten Umfragen gelernt. Geduldig bleiben, lieber Einzelne statt Gruppen ansprechen, nicht sofort die Kamera präsentieren. Trotzdem ergreift sie uns wieder, die „Angst des Forschers vor dem Feld“. Zudem haben wir Bedenken, die Studenten mit dem Thema Politik abzuschrecken. Zugegeben, unsere Fragen sind unbequem, sie rühren am Selbstverständnis und fordern „Politik? Nee, ich bin Naturwissenschaftler!“ „Macht doch nichts!“, rufen wir dem davoneilenden Studenten hinterher. Doch da ist er auch schon in der Menge verschwunden, die hungrig in die Mensa der Humboldt-Universität strömt. Von Susanne Hauer, Michael Sacher, Christine Wehner eine persönliche Positionierung ein. Was bedeutet es, politisch zu sein? Es ist wie bei so vielen Gedanken und Gefühlen, die man im Stillen in sich trägt – kommt es darauf an sie konkret zu definieren, gerät man schnell in Schwierigkeiten, sucht nach geeigneten Worten. Manchmal gibt es die nicht, zumal vor einer Kamera. Um so mehr freuen wir uns, wenn sich die Studenten ganz offen auf unsere Fragen einlassen und ihr politisches Denken und Handeln im Alltag beschreiben. Bei der Frage nach persönlichen Vorbildern nennen viele ihre eigene Großmutter lieber als bekannte Gesellschaftsveränderer. Ob das vor 40 Jahren auch so gewesen wäre? Am wichtigsten scheint es den Studenten jedoch, die eigene Individualität zu wahren und niemandem nachzueifern. Mit fast jeder Antwort kommen auch wir wieder ins Grübeln, erfahren neue Sichtweisen auf Politik und Beweggründe, sich politisch zu engagieren oder nicht. Ist jeder politisch? Es ist schwer, Haltungen zu Dingen zu entwickeln. Einige Studenten haben eine politische Meinung, nennen Missstände in der Gesellschaft. Andere wenden sich bewusst von der Politik ab, sehen für sich keinen Raum, politisch aktiv zu werden. Die Fragen erwischen manche eiskalt, sie kommen ins Grübeln. Und wieder andere scheinen sich noch lange mit unseren Fragen zu beschäftigen. Im Laufe des Drehtages an der FU kommt ein Student noch zweimal zu uns und möchte noch etwas in die Kamera sagen. Er wirkt froh, ja fast erleichtert, dass wir ihm unsere Fragen gestellt haben. Auch wir haben das Gefühl, dass einen die Fragen, einmal gestellt, nicht so schnell wieder loslassen. Die Drehtermine sind vorbei, als nächstes kommt der schwierige Prozess des Filmschneidens. Trotz der vielen unterschiedlichen Antworten zeichnet sich doch eine Tendenz unter den befragten Studenten ab: Politisches Engagement manifestiert sich bei den meisten als eine „aktive Passivität“, so lässt es sich vielleicht am besten beschreiben. Ein Berliner Geschichtsstudent der Humboldt-Universität drückt es so aus: „Ich bin passiver Beobachter, das aber sehr viel“. Die Videodokumentation der Umfrage: www.netzeitung.de/spezial/mythos68 „MIT BLOßEM PFLEGEN VON IKONEN KOMMEN WIR NICHT WEITER“ Der Kern der Protestbewegung von 68 konzentrierte sich im Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) – bis dieser sich 1970 auflöste. 2007 gründeten Linkspartei-Mitglieder den Hochschulverband „Die Linke.SDS“. Ein nostalgischer Wiederbelebungsversuch? Parallelen seien erkennbar, der Rahmen aber habe sich verändert, so Georg Frankl von der Berliner SDS-Gruppe im Interview. Von Tino Höfert Im kommenden Mai veranstalten die Hochschulgruppen des neuen SDS – jetzt mit dem Namen „Sozialistisch-demokratischer Studierendenverband“ – einen Kongress in Berlin unter dem Motto „40 Jahre 1968 – Die letzte Schlacht gewinnen wir“. Wollt ihr zu den Straßenkämpfen der Sechziger zurückkehren? Auf dem Kongress wollen wir uns eingehend mit dem Phänomen 1968 befassen, das mehr war als nur eine Revolte von Studierenden. In dieser Zeit wurden weltweit antikapitalistische und antiimperialistische Kämpfe ausgetragen: Pariser Mai, Prager Frühling, Vietnam. Natürlich spielt für uns auch die deutsche Studierendenbewegung eine wichtige Rolle. Von Konservativen wird ihr heute die Verrohung von Werten und Sitten vorgeworfen, andere beanspruchen die Vollendung von 1968 mit der Bildung der rot-grünen Bundesregierung für sich. Wir lehnen beide Interpretationen ab und wollen nirgendwohin zurückkehren. Wir wollen herausfinden, wie die erfolgreichste deutsche Studierendenbewegung entstand und scheiterte und was wir im Kampf gegen Kapitalismus und für Frieden heute daraus lernen können. Wollt ihr mit diesem Kampf also an die Tradition des SDS von damals anknüpfen? Klar. Aber der Rahmen, in dem wir heute handeln, hat sich stark verändert. Im Gegensatz zu den Sechziger Jahren sind wir heute in einer Phase wirtschaftlicher Instabilität, welche die gesellschaftlichen Widersprüche zuspitzt: Wohlstand für wenige, Armut für viele. Auch die Hochschulen haben sich verändert – heute kämpfen wir gegen den Elitewahn, gegen jegliche Form von Studiengebühren und gegen die zu hohe Arbeitsbelastung, weil all dies nicht im Sinne der großen Mehrheit der Studierenden ist. Dazu setzen wir uns unter anderem für eine Demokratisierung der Hochschulen, für einen freien Masterzugang und für die Stärkung der kritischen Wissenschaften ein. Große inhaltliche Differenzen zum damaligen SDS sehe ich nicht, jedoch müssen wir den veränderten Rahmen auf der Suche nach Antworten und Strategien berücksichtigen. Neue Herausforderungen schreien nach neuen Vorbildern. Präsentiert uns „Die Linke.SDS“ bald einen neuen Rudi Dutschke? Der SDS von 68 betrachtete die Hochschulen als Teil der Gesellschaft, den man nur verändern kann, wenn man die ganze Gesellschaft verändert. Der Kampf für Demokratie sowie gegen Krieg und Kapitalismus ist damals wie heute ein Kampf auch für die Freiheit der Wissenschaft. Rudi Dutschke war hier ein bedeutender Protagonist, und vielleicht können wir einiges von ihm lernen, aber mit bloßem Pflegen von Ikonen kommen wir sicher nicht weiter. mythos68 | April 2008 21 universitär „Burn, Ware-House, burn!“ Die Frankfurter Kaufhausbrandstiftungen im April 1968 markieren den Beginn des RAF-Kampfes gegen das System BRD. Doch wo kam dieser radikale Idealismus her? Liegen die Wurzeln des linken Terrorismus in der Protestkultur von 68? Wie aus Studenten Staatsfeinde wurden: Eine Spurensuche. Es ist die Nacht vom 2. auf den 3. April 1968. Kurz nach Mitternacht meldet ein Unbekannter der Deutschen Presseagentur in Frankfurt am Main: „Gleich brennt’s bei Schneider und im Kaufhof. Es ist ein politischer Racheakt.“ Minuten nach diesem Anruf fressen sich die Feuerflammen bereits lichterloh durch das Mobiliar der besagten Einkaufspaläste in der Mainmetropole. Die angerückte Feuerwehr hat die Brände zwar schnell unter Kontrolle, doch durch die eingeschalteten Sprinkler überfluten tausende Liter Löschwasser die Kaufhausetagen. Der Sachschaden beträgt fast 700.000 Mark. Schnell steht fest: Es handelt sich um Brandstiftung. Insgesamt drei kleine Bomben – zusammengebastelt aus Benzin, Weckern und Tesafilm – wurden zuvor in Schränken versteckt und lösten um 24 Uhr die Feuer aus. Nur zwei Tage später werden vier Verdächtige festgenommen: Allesamt Mitte 20 und mit Kontakten zur Studentenbewegung. Unter ihnen sind auch zwei Personen, die Jahre später die deutsche Geschichte entscheidend mitprägen sollten. Ihre Namen: Andreas Baader und Gudrun Ensslin, die Mitbegründer der Roten Armee Fraktion. Ein Brandanschlag auf Einkaufspaläste – war das die Antwort auf gesellschaftliche Repressionen und Polizeigewalt? Auf die bürgerliche Spießigkeit, von der sich so zahlreiche Jugendliche und Studierende abgrenzen wollten? Klar ist: Nach dem tödlichen Polizeischuss auf Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 radikalisierten sich die Studentenvereinigungen in Berlin, Frankfurt, München und anderen deutschen Städten immer mehr. Die Aktionen wurden zunehmend provokanter, der Ton härter. Und so wurde auch diskutiert, ob man „Gewalt gegen Sachen“ als legitimes Mittel des politischen Protests anerkennen könne. Andreas Baader, 24, und die Pfarrerstochter Gudrun Ensslin, 28 und Germanistikstudentin an der FU Berlin, bekommen all diese Entwicklungen mit. Ob der Vietnamkongress oder Demos für mehr Mitbestimmung: Beide waren sie dabei. Zu dieser Zeit hatte Ensslin auch erste Kontakte zu Rudi Dutschke und anderen SDSMitgliedern geknüpft. Baader war weniger als typischer Linker, sondern vielmehr als draufgängerischer Macho bekannt. Die Härte der deutschen Staatsordnung bekam der gebürtige Münchner früh zu spüren: Im Juni 1962 kam es bei den Schwabinger Krawallen zu harten Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Jugendlichen. Anneliese Baader erinnert sich an den Kommentar ihres Sohnes: „Weißt du, Mutter: In einem Staat, wo Polizei mit Gummiknüppeln gegen singende junge Leute vorgeht, da ist etwas nicht in Ordnung.“ Anfang 1968 sind Andreas Baader und Gudrun Ensslin schon länger ein Paar. Ihr gemeinsamer Hass auf das Establishment vereint sich in dem Eifer, etwas zu verändern. Nur: Die bisherigen Protestaktionen waren für sie nicht genug. Durch bloßes Diskutieren könne keine Revolution ausgelöst werden, der SDS wäre schon längst „zu einem lahmen Verein abgesackt“. Der Schritt in die Illegalität also als logische Konsequenz? Bereits im Mai 1967 brannte ein Kaufhaus – allerdings nicht in Frankfurt oder Berlin, sondern in Brüssel. Bei dem Feuer im „A l´Innovation“ starben mehr als 200 Menschen. Als Reaktion auf die Katastrophe gestaltete die Berliner Kommune 1 um Werner Langhans ein Flugblatt. Die Toten wurden zwar bedauert, doch andererseits verglich man ihr Leid mit dem der Napalmopfer im Vietnam: „Ein brennendes Kaufhaus mit brennenden Menschen vermittelte zum ersten Mal in einer europäischen Großstadt jenes knisternde Vietnamgefühl, das wir in Berlin bislang noch missen müssen.“ Noch deutlicher wurde der Ton im Flugblatt Nr. 2: „Wenn es irgendwo brennt in der nächsten Zeit, [...] seid bitte nicht überrascht. Brüssel hat uns die einzige Antwort darauf gegeben: Burn, ware-house, burn!“ Waren diese Worte die Legitimation für Gewalt gegen Sachen, um Brandbomben in deutsche Kaufhäuser zu legen? Dass Baader und Ensslin das Flugblatt gelesen haben, erscheint denkbar. Inwieweit es sie jedoch bei Der mächtige Maoist Mao Zedong (1893 – 1976) „Alles, was der Feind bekämpft, müssen wir unterstützen. Alles, was der Feind unterstützt, müssen wir bekämpfen.“ Wer war er? Als ländlicher Guerillaführer befreite Mao China von jahrzehntelanger Besatzung. Nach der erfolgreichen Revolution gegen die national-demokratische Regierung proklamierte Mao 1949 die Volksrepublik China. Als Staatsoberhaupt und Chef der Kommunistischen Partei bestimmte er fast 30 Jahre lang die Politik des Landes, seine autoritäre Herrschaftsform ging als „Maoismus“ in die Geschichte ein. Im Rahmen seiner Kulturrevolution wurde ganz China umgewälzt, reaktionäre Kräfte zerschlagen und jegliche Kunst zensiert. Und heute? Maos Geist beeinflusst die politischen Geschicke der wirtschaftlich aufstrebenden Volksrepublik immer noch stark. So wären die diesjährigen Olympischen Spiele in Peking und ihre bombastische Inszenierung wohl ganz nach dem Geschmack des Machthabers gewesen. ihrer eigenen Aktion beeinflusst hat, ist rein spekulativ. Im späteren Prozess – der sich mit munteren Angeklagten und dutzenden Sympathisanten eher zu einem „Justizhappening“ entwickelt – unterstreicht Gudrun Ensslin den politischen Hintergrund der Tat: „Ich interessiere mich nicht für ein paar verbrannte Schaumstoffmatratzen, ich rede von verbrannten Kindern in Vietnam.“ Das Urteil: Drei Jahre Zuchthaus. Nach acht Monaten Haft kommen die Angeklagten auf freien Fuß, da deren Anwalt, der späterer Holocaust-Leugner Horst Mahler, Revision eingelegt hat. Diese ist noch nicht entschieden, da befinden sich Ensslin und Baader schon auf der Flucht, Richtung Paris. Sie tauchen unter. Nur ein knappes Jahr später, im Sommer 1970, lässt sich das Paar zusammen mit anderen späteren RAF-Begründern in einem jordanischen Camp militärisch ausbilden. Der Beginn einer neuen Ideologie: Von nun an sollten keine Bomben mehr auf Kaufhäuser geworfen werden – sondern auf Menschen. Von Tino Höfert Weiterführende Lektüre im Programm der bpb: Anne Siemens: Für die RAF war er das System, für mich der Vater. Bereitstellungspauschale €4,00. Bestellnummer 1651. ikonen | Warum wurde er von den 68ern verehrt? Für Mao konnte der Kapitalismus nur durch eine Veränderung des Menschen überwunden werden. Seine „Mao-Bibel“ war für viele linke Studenten revolutionäre Pflichtlektüre. Dass infolge seiner politischen „Säuberungskampagnen“ und seines diktatorischen Machtstrebens mehr als 30 Millionen Chinesen den Tod fanden, wurde dabei meistens kritiklos übersehen. 22 gegenwärtig mythos68 | April 2008 Wenn Subkultur zum Mainstream wird 40 Jahre nach 68 ist die Subkultur in der Masse aufgegangen. Aus einem überschaubaren sozialen Experiment wird eine Massenbewegung. Viele der damaligen Ideale scheinen verloren Trotzdem gibt’s ein fettes Dankeschön an 68. Von Sybille Pfeffer Erst waren es nur einige wenige, und sie hatten eine Vision. Spirituelle Werte, wie der Glaube an Frieden, Liebe und absolute individuelle Freiheit, fanden über junge Leute mit Blumen im Haar plötzlich den Weg in eine wohlstandsorientierte und vor Sicherheitsdenken blinde Gesellschaft. Die sogenannten Hippies propagierten ein von bürgerlichen Tabus befreites Leben. Gemeinsam mit der 68er-Bewegung war ihnen das Auflehnen gegen die bürgerlichspießigen Strukturen. Im Vergleich zu ihren revolutionsorientierten Altersgenossen dominierten dabei stärker individualistische Selbstverwirklichung als gesellschaftspolitische Konzepte. Gemeinsam hatten Hippies und 68er dennoch viel. Die Jugend suchte sich selbst in der Bewusstseinserweiterung und ihr Glück in der freien Liebe. Und wie das eben ist mit Menschen, die den Mut haben, neue Wege zu gehen, sie ziehen andere Menschen geradezu magisch an. Wenn eine Bewegung den Hedonismus zum Lebensinhalt erklärt und sexuelle Tabus zu einem Tabu, dann muss sie nicht lange warten, bis sie Zulauf findet. Denn wer sehnt sich nicht – damals wie heute – nach einem Leben ohne Begrenzung und Druck, nach Selbstverwirklichung und persönlicher Akzeptanz? So wird aus einem überschaubaren sozialen Experiment schon nach kurzer Zeit eine Massenbewegung. Doch schon zeigt sich die Kehrseite der Medaille: Traumtänzer und Drogensüchtige wandeln in bunten Gewändern durch die Städte. Der Aufruf zu mehr Solidarität und gegenseitiger Unterstützung mutiert zur plumpen Ausrede, um die mangelnde Bereitschaft, sich selbst produktiv in die Gemeinschaft einzubringen, zu 1968. 1988. 2008. Irgendwie verrückt. Alle feiern 68. Genau 40 Jahre danach, und das, obwohl richtige Jubiläen erst nach 50 Jahren begangen werden. Und wie sehr 68 heroisiert wird! „Unser Kampf“ tönt da beispielsweise der damals 21-jährige Götz Aly von den Bestsellerlisten – die Titel-Anlehnung an „Mein Kampf“ von 1924 ist bewusst unglücklich gewählt. Sicher, das war schon was: „Unser erfolgreicher Kampf“ gegen den Vietnamkrieg, den Schah von Persien, gegen Spießbürgerlichkeit, Altnazis, BILD und sexuelle Verklemmtheit. Schade nur, dass es Bild immer noch so meinungsmanipulativ wie damals gibt. Und auch Spießbürgerlichkeit ist, sogar unter Alt-68ern, nicht ausgestorben. Von Alt- sowie Neunazis ganz zu schweigen. Irgendwo muss aber ein Sinn liegen, dass so viele Medien derzeit einem Hype erliegen, eine Generation zu feiern, die justamente das Pensionsalter erreicht. Das muss man diesen Alten lassen: ihre Selbstvermarktung ist hemmungslos. Welche andere Generation danach hat ähnliches vollbracht? Rechnen wir nach. Als am 11. April 1968 in Berlin die drei fatalen Schüsse auf Rudi Dutschke abgegeben wurden, war der 1940 geborene Studentenführer gerade 28 Jahre alt und die, die ihm in Hörsälen und auf der Straße folgten, so zwischen 17 und 30. Und wer regierte die Straße 20 Jahre später, also 1988 in der „next generation“? Richtig: keiner. Oder doch: Zumindest im Osten war die Bürgerrechtsbewegung der DDR gerade auf dem Weg, mal eben die friedliche Revolution 89 zu vollbringen, aber im Westen interessierte das nachhaltig wenig. Dort gab ein anderer ab dieser Zeit den Ton auf der Straße an: Matthias Roeingh. Der damals 29-Jährige wuchs aus dem Nichts zum Straßenkämpfer für vertuschen. Was die Visionäre zuvor noch in letzter Konsequenz versuchen umzusetzen, verkommt immer mehr zu einem oberflächlichen Medienspektakel unreifer Teenager. Die Musikindustrie nutzt ihre Chance und nutzt professionelle Marketinginstrumente und ausgeklügelte PR-Strategien, um die Idole der Generation noch gewinnbringender zu vermarkten. So ist anzunehmen, dass es nicht immer der Ausdruck innerer Überzeugung ist, wie sich die Bands und Liedermacher präsentierten. Es ist oftmals nichts anderes als knallhartes Marketing – oder Corporate Identity, wie wir heute sagen – mit dem einzigen Ziel, die Verkaufszahlen noch weiter zu steigern. Am 6. Oktober 1967 – also schon zwei Jahre vor dem legendären Woodstock-Festival – wurde der Hippie und seine Kultur in einem riesigen Sarg symbolisch zu Grabe getragen. Der festliche Umzug durch Haight-Ashbury in San Francisco, der Keimzelle der Flower-Power-Subkultur, war ein Auflehnen gegen ihre immer stärkere Kommerzialisierung und Fehlinterpretation. Fatalisten mögen behaupten, das alternative Lebensmodell der 68erGeneration sei gescheitert und in einer Welt der freien Marktwirtschaft schlicht nicht praktikabel. Im neuen Jahrtausend finden wir uns in einer globalen Gesellschaft wieder, die sich mehr denn je an den Maximen des Profits ausrichtet, sinnlose Kriege führt und vor sozialer Ungleichheit strotzt. Vielleicht ist ein Zusammenleben in Frieden und Solidarität tatsächlich (noch) nicht massentauglich. Doch mitunter haben wir es dieser Generation von Visionären zu verdanken, dass wir heute als einzelne Individuen die Wahl haben, wie wir in dieser kapitalistischen Welt leben wollen. Ob mono- oder polygam, lesbisch, schwul, mit Fetisch oder ohne, meditierend, betend, atheistisch: Die Allgemeinheit ist toleranter geworden, offener, vielleicht sogar menschlicher. Gescheitert oder nicht, eines steht jedenfalls fest: Die Blumenkinder haben den gesellschaftlichen Horizont erweitert. Und dafür haben sie ein dickes fettes Dankeschön verdient! Who‘s next? Ein Zwischenruf. Von Holger Kulick alle, die 1960 und später das Licht der Welt erblickten. Er führte im Juli 1989 als „Dr. Motte“ getarnt die erste „Loveparade“ über den Ku‘damm. Zunächst nur mit 150 TechnoGetreuen, später mit zwei Millionen. Seine „Tanzbewegung“ applaudierte jedes Jahr den abgehobenen Reden ihres Gurus, der zu Füßen der Berliner Siegessäule ernsthaft „Friede, Freude, Eierkuchen“ postulierte und nebenher dem Demonstrationsrecht ein neues Gesicht verlieh: Seine markenrechtlich geschützte Kommerz-“Loveparade“ wurde als politische Demonstration anerkannt. Durch wen? Wahrscheinlich Alt-68er, die als Juristen in den zuständigen Institutionen saßen. Aber Roeingh und sein Ruhm sind trotzdem verpufft, und die Alt-68er können umso stolzer zeigen: „Ätsch, wir sind immer noch da!“ Doch: for what? Denn was ist heute? Stellt sich denen 40 Jahre später niemand ent- gegen und setzt überfällige Impulse für die kommende Zeit? Wo ist anno 2008 die eigene Generation versteckt? Genießt sie ganz einfach nur jene Freiheit, die 68er für sie eroberten? Und wenn ja, wie füllt sie diese aus? Mit Komasaufen, freundlichen G8-Besuchen, Konsumterror und Endlos-Chatten im Netz? Ein Lichtblick verspricht das Jugendfestival Berlin 08 zu werden. Mehrere Tausend junger Leute treffen sich ein Wochenende lang in der Berliner Wuhlheide, um über Politik und Gesellschaft zu diskutieren. Wer weiß: Vielleicht treten sie eine neue Jugendbewegung in Gang. Denn es ist nicht mehr 1968. Es ist 2008. Es ist an der Zeit. Ausführliche Informationen über Berlin 08 unter http://www.du-machst.de/berlin08 mythos68 | April 2008 Bezeichnung für die antiautoritäre Protestbewegung, die in der Bundesrepublik Deutschland Mitte bis Ende der 60er Jahre Jahre vor allem von Studenten und Jugendlichen getragen wurde und die versuchte, (neue radikale) politische Vorstellungen und gesellschaftliche Reformen (z.T. mittels provokativer Protestaktionen) durchzusetzen bzw. restriktive Maßnahmen zu verhindern (z.B. Notstandsgesetzgebung). Vergleichbare Protestbewegungen gab es in anderen westlichen Ländern. Die APO wurde durch die Schwäche der parlamentarischen Opposition nach 1966 zu einer wichtigen politischen Kraft und verlor nach Ende der Großen Koalition (1969) rasch an politischer Bedeutung. Quelle: Schubert, Klaus/Martina Klein: Das Politiklexikon 4., aktual. Aufl. Bonn: Dietz 2006. Gruppe 47 Die Gruppe 47 war eine von Hans Werner Richter 1947 gegründete Vereinigung von Autoren und Literaturkritikern. Sie strebten in ihrem literarischen Schreiben eine Reinigung der durch den Nationalsozialismus verseuchten Sprache an und wollten zu neuen, realistischen und betont nüchternen Beschreibungskategorien gelangen. Bei den regelmäßigen Herbsttreffen der Gruppe lasen die meisten bedeutenden Schriftsteller der Bundesrepublik ihre Manuskripte vor und stellten sich der Kritik des Kreises. Seit 1950 wurde in unregelmäßigen Abständen der „Preis der Gruppe 47“ vergeben. Die Treffen, auf denen auch wichtige Verleger anwesend waren, wurden zur tonangebenden Literaturmesse. Den Forderungen nach einem klaren politischen Standpunkt, wie er in den 60er Jahren von jüngeren Schriftstellern vertreten wurde, konnte die Gruppe 47 nicht mehr entsprechen. Das letzte öffentliche Treffen fand 1967 statt. Quelle: Axel Schildt: Rebellion und Reform. Die Bundesrepublik der Sechzigerjahre, Bonn 2005. Aus der bpb-Reihe „Zeitbilder“. Notstandsgesetze Die sogenannten Notstandsgesetze gehen zurück auf eine Forderung der Alliierten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, die ihre dort stationierten Truppen geschützt sehen wollten. Diese gesetzlichen Vorbehalte wurden im Besatzungsstatut von 1949 und im Deutschlandvertrag von 1952 geregelt, bis die Bundesrepublik 1955 ihre volle staatliche Souveränität erhielt. Das Grundgesetz hatte ursprünglich mit Rücksicht auf die schlechten Erfahrungen aus der Zeit der Weimarer Republik nur wenige und lückenhafte Bestimmungen enthalten, auf deren Grundlage die staatlichen Organe Notstandssituationen – Unruhen, Spannungen etc. – begegnen konnten. Heftige Auseinandersetzungen entwickelten sich in den 60er Jahren vor allem deshalb, weil unter Federführung des Innenministeriums – zunächst – geheime Pläne („Schubladengesetze“) entwickelt wurden. Danach sollte im Verteidigungsfall, im „Spannungsfall“, beim inneren Notstand und im Katastrophenfall die gesetzgebende Gewalt auf die Bundesregierung übergehen. Die sozialdemokratische Opposition im Bundestag hatte die Notstandsgesetze deshalb strikt abgelehnt. In den Verhandlungen zur Bildung der Großen Koalition wurde dagegen vereinbart, dass der Bundestag in einem Rumpfparlament von 33 Abgeordneten gemäß seiner politischen Zusammensetzung als Kontrollorgan vorzusehen sei. Das Notstandsgesetz wurde als 17. Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes am 24. Juni 1968 mit den Stimmen der Parteien der Großen Koalition gegen einige Abweichler aus den Reihen der SPD und gegen die Stimmen der FDP-Fraktion mit der notwendigen ZweidrittelMehrheit verabschiedet. Quelle: Axel Schildt: Rebellion und Reform. Die Bundesrepublik der Sechzigerjahre, Bonn 2005. Aus der bpb-Reihe „Zeitbilder“. Prager Frühling wurde nach dem Zweiten Weltkrieg als Studentenorganisation der SPD gegründet. Zahlreiche spätere Parteifunktionäre, etwa Helmut Schmidt, begannen ihre politische Karriere im SDS. Nach der Verabschiedung des sozialdemokratischen Godesberger Programms 1959 begann sich der SDS – im schroffen Gegensatz zur SPD – immer weiter nach links zu wenden, woraufhin die SPD ihren Studentenverband ausschloss. In den folgenden Jahren wurde der SDS zum Sammelbecken verschiedener linker Strömungen, die jeweils die relativ kleinen Gruppen der Universitätsstädte dominierten: Vertreter einer sozialistischen Neuen Linken zwischen Sozialdemokratie und Kommunismus, Mitglieder der illegalen Kommunistischen Partei und zunehmend Anhänger einer antiautoritären Bewegung, die nicht mehr im Proletariat, sondern in gesellschaftlichen Randgruppen, etwa den noch nicht ins „System“ integrierten Studenten, das Subjekt revolutionärer Veränderungen erblickten. Vor allem die zuletzt genannte antiautoritäre Strömung wurde zum Kern der spektakulären Jugendproteste, die das letzte Drittel der 60er Jahre prägten, obwohl sie wohl nur etwa die Hälfte der wiederum 2 000 bis maximal 4 000 Mitglieder des SDS stellte. Quelle: Axel Schildt: Rebellion und Reform. Die Bundesrepublik der Sechzigerjahre, Bonn 2005. Aus der bpb-Reihe „Zeitbilder“. „Spiegel“-Affäre Die als „Spiegel“-Affäre bekannte Episode war in Wirklichkeit eine Strauß-Affäre. Am 10. Oktober 1962 analysierte ein „Spiegel“-Artikel unter dem Titel „Bedingt abwehrbereit“ das NATO-Stabsmanöver „Fallex 61“. Er kam zu dem Schluß, daß die Verteidigung der Bundesrepublik im Falle eines Angriffs des Warschauer Pakts keineswegs gesichert sei und daß das Konzept des vorbeugenden Schlages den Frieden eher gefährdete als sicherte. In der Nacht vom 26. zum 27. Oktober 1962, achtzehn Tage nach dem Erscheinen des Artikels, wurden die Redaktionsräume des „Spiegel“ in Hamburg, die „Spiegel“-Redaktion in Bonn und mehrere Privatwohnungen im Hamburg von Beamten des Bundeskriminalamtes und der Hamburger Polizei durchsucht. Der eigentlich zuständige Bundesjustizminister Wolfgang Stammberger (FDP) wurde ebenso wie der Hamburger Innensenator Helmut Schmidt (SPD) gar nicht oder erst verspätet informiert. Die Verhaftung des Artikelschreibers Conrad Ahlers während seines Urlaubs in Spanien hatte – wie sich später herausstellte – Verteidigungsminister Strauß unter Umgehung des Auswärtigen Amtes über den Militärattaché an der deutschen Botschaft in Madrid veranlasst. Der „Spiegel“-Herausgeber Rudolf Augstein, der Ver lagsdirektor und mehrere leitende Redakteure wurden verhaftet. Angeordnet hatte diese Maßnahmen die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe, nachdem ein von ihr angefordertes Gutachten des Bundesverteidigungsministeriums am 19. Oktober zu dem Ergebnis gekommen war, daß der „Spiegel“-Artikel „Bedingt abwehrbereit“ geheimzuhaltende Tatsachen veröffentlicht habe, die er durch Verrat von Angehörigen des Bundesverteidigungsministeriums erhalten habe. Die Begründungen für die Haftbefehle lauteten auf Tatverdacht des Landesverrats, der landesverräterischen Fälschung und der aktiven Bestechung. Die „Spiegel“-Affäre führte zu einer Regierungskrise: Die FDP-Fraktion forderte wie die SPD den Rücktritt von Verteidigungsminister Strauß und zog ihre fünf Minister aus der Regierung zurück. Bundeskanzler Konrad Adenauer bildete am 14. Dezember ein neues Kabinett, dem Strauß nicht mehr angehörte, und kündigte seinen Rücktritt für den Herbst 1963 an. Darüber hinaus hatte die „Spiegel“-Krise weitreichende Folgen für die politische Kultur der Bundesrepublik Deutschland. Quelle: Informationen zur politischen Bildung: Zeiten des Wandels (Heft 258) Vietnamkrieg Dieser Begriff kennzeichnet den Versuch der neuen Parteiführung der tschechoslowakischen Kommunisten unter Alexander Dubcek von Januar bis August 1968, einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ zu verwirklichen, d.h., unter Vorbehalt der „führenden Rolle der Partei“ bürgerliche Freiheiten (Versammlungsfreiheit, Pressefreiheit usw.) zu realisieren. Die Sowjetunion betrachtete den Prager Frühling jedoch als eine Gefahr für die Einheitlichkeit des Ostblocks. Auch die Einheitspartei der DDR, die SED, griff den Kurs der neuen tschechoslowakischen Parteiführung als konterrevolutionär und friedensgefährdend an. Durch den Einmarsch von Truppen der Sowjetunion und weiterer Staaten des Warschauer Pakts (Truppen der Nationalen Volksarmee der DDR überschritten die Grenze nicht) am 20./21. August 1968 wurde das Reformexperiment gewaltsam beendet. Quelle: Axel Schildt: Rebellion und Reform. Die Bundesrepublik der Sechzigerjahre, Bonn 2005. Aus der bpb-Reihe „Zeitbilder“. Weiterführende Lektüre im Programm der bpb zu bestellen unter www.bpb.de/shop Norbert Frei: 1968. Jugendrevolte und globaler Protest (Mitte April 2008) Bestellnummer: 1699 Bereitstellungspauschale: 4,00 € Axel Schildt: Zeitbilder: Rebellion und Reform – Die Bundesrepublik der Sechzigerjahre (2005) Bestellnummer: 3962 Bereitstellungspauschale: 2,00 € Bernd Greiner: Krieg ohne Fronten – Die USA in Vietnam (2007) Bestellnummer: 1648 Bereitstellungspauschale: 6,00 € Stefan Wolle: Zeitbilder: Aufbruch in die Stagnation – Die DDR in den Sechzigerjahren (2005) Bestellnummer: 3961 Bereitstellungspauschale: 2,00 € Götz Aly: Unser Kampf. 1968 – Ein irritierter Blick zurück (Mai 2008) Bestellnummer: 1696 Bereitstellungspauschale: 4,00 € Stefan Wolle: Die heile Welt der Diktatur (1999) Bestellnummer: 1349 Bereitstellungspauschale: 2,00 € Weitere Informationen unter: www.bpb.de/1968 23 Der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) APO – Außerparlamentarische Opposition Peter Schneider: Rebellion und Wahn. Mein 68 – Eine autobiographische Erzählung (2008) Bestellnummer: 1701 Bereitstellungspauschale: 4,00 € Glossar Aus Politik und Zeitgeschichte 14-15/2008: 1968 Bestellnummer 7814 Aus Politik und Zeitgeschichte 20/08: Prager Frühling Bestellnummer 7820 (Mitte Mai 2008) Nach der Niederlage der französischen Truppen gegen die kommunistisch geführte Unabhängigkeitsbewegung in Vietnam 1954 verfestigte sich die Trennung des ehemals französischen Kolonialbesitzes in zwei Staaten: den kommunistischen Norden und den bald von korrupten Diktatoren geführten Süden. Amerikanische Truppen engagierten sich zunehmend in Südvietnam. Sie wollten die dort im Untergrund kämpfenden Vietcong-Rebellen bekämpfen, die sich für eine Vereinigung mit dem kommunistischen Norden aussprachen und von diesem unterstützt wurden. Mitte der 60er traten die USA auch offiziell in den Krieg ein und suchten eine Entscheidung durch ein Flächenbombardement Nordvietnams. Auch im Süden setzten die US-Truppen die Strategie großflächiger Entlaubung von Dschungelgebieten ein, um dem Vietcong sein Operationsfeld zu nehmen. Dennoch dominierten diese seit einer großen Offensive 1968 das Kriegsgeschehen. Der grausam geführte Krieg gilt als erster Fernsehkrieg der Geschichte. Seine Bilder ließen in den USA auch angesichts von 40.000 eigenen Opfern selbst eine mächtige Antikriegsbewegung entstehen. Der Vietnamkrieg galt für die jugendliche Protestbewegung in der gesamten westlichen Welt als Beweis für den Verrat aller humanitären Ideale durch die westlichen Kriegsparteien. Quelle: Axel Schildt: Rebellion und Reform. Die Bundesrepublik der Sechzigerjahre, Bonn 2005. Aus der bpb-Reihe „Zeitbilder“. Die 68er: Ausstellung in Frankfurt Das Jahr steht als Chiffre für die Studentenproteste in der zweiten Hälfte der 60er Jahre Jahre, für ihre Vorgeschichte und ihre lange Wirkung bis heute. Es markiert eine der nachhaltigsten Zäsuren der Nachkriegsgeschichte. Frankfurt am Main war neben Berlin der wichtigste Schauplatz der Revolte in Deutschland. 2008 findet in Frankfurt eine umfassende Ausstellung zum Thema statt – eingebettet in einen vielseitigen Veranstaltungssommer zu 1968. Die Ausstellung ist als groß angelegtes Erinnerungspanorama multimedial aufgebaut. Präsentiert werden auf 700 qm ca. 700 Originaldokumente wie Flugblätter, Zeitschriften, Transparente, oder Wandzeitungen, Fotografien, Alltagsobjekte, Ton- und Videoaufnahmen, Musikbeispiele sowie Interviews mit Protagonisten. „Die 68er“ findet im Historischen Museum, Saalgasse 19, Frankfurt am Main statt. Die Ausstellung ist geöffnet vom 1. Mai bis 31. August 2008, Dienstag bis Sonntag von 10 bis 18 Uhr, Mittwoch von 10 bis 21 Uhr. Der Eintritt beträgt 6 Euro (ermäßigt 3 Euro). Führung nach Anmeldung möglich. Weitere Informationen unter www.die-68er.de. 24 gegenwärtig mythos68 | April 2008 Schaumschläger oder Bombenleger? Was heutige Medien bewegt. Medien und 68. Vielschichtig ist diese nunmehr 40 Jahre andauernde Beziehung schon immer gewesen. Von Sandra Bieler Während die BILD-Zeitung kein gutes Haar an Dutschke & Co. ließ, setzten die jungen Rebellen kurzerhand auf eine Gegenöffentlichkeit. Prächtig verstanden sie es, sich in Szene zu setzen. Eine der berühmtesten Fotografien von damals: Ein Bild, auf dem die Kommunarden nackt an einer Wand posieren. Auch heute noch ziert dieses Bild zahlreiche Medien. Verändert allerdings hat sich das Ausmaß an Öffentlichkeit, das die 68er heute genießen. In einem scheint man sich einig zu sein: Wer zum 40jährigen Jubiläum der Jugendrevolte hip sein will, bringt die 68er auf den Titel. Sie begegneten uns in informativ-ironischen Artikelserien beim SPIEGEL oder detailreichen Sonderausgaben in der ZEIT. Mit aufreizenden Fotokollagen will der Stern die Sinne reizen, der Fernsehsender ARTE versucht dasselbe mit seinem musikreichen ´Summer of Love`. Unter den Top Ten des medialen Schlagabtauschs: freie Liebe, die heutige Bedeutung von 68 und die Gewaltfrage. Für die einen ist die Erinnerung an die 68er und ihre Ziele sehr unbequem, für die anderen einfach ein Quotenfänger mit Vorführeffekt. Angesichts des medialen 68er-Overkills sind außergewöhnliche Ideen willkommen. So lässt der SPIEGEL beispielsweise die ergrauten Kommune-1-Bewohner auf einem Friedhof zusammentreffen. Einer von ihnen, bemerkt der Autor dabei süffisant, sehe heute so aus „wie einer jener Rentner, die er 40 Jahre zuvor auf dem Ku´damm erschreckt hat“. Ironie und Distanz – das ist die Antwort der ehemaligen Stimme der kritischen Gegenöffentlichkeit beim Rückblick ins eigene Antlitz. Die Frage nach dem Erreichten ist eben umstritten. Ein „Weltereignis“, das muss die noch junge WELT ONLINE feststellen, war 1968 allemal. Im selben Atemzug schreibt das digitale Medium: „Wer mag sie noch hören, die Veteranenerinnerungen? Sie sind so langweilig wie anderer Leute Träume.“ Nicht alle Medien denken so. Für viele sind Zeitzeugen das Fenster in die Vergangenheit. Mit deren Hilfe sollen 68 und spätere Phänomene wie der RAF-Terrorismus verstanden werden. Denn wer 68 reflektiert, kommt um die heikle Gewaltfrage nicht herum. „Die Debatte über die Gewalt gegen Sachen begab sich auf einen Weg, an dessen Ende die Billigung des Terrors stand“, vermutet die ZEIT. Scheint dieses Argument noch verständlich, so führt es der Historiker Götz Aly ad absurdum. In der FRANKFURTER RUNDSCHAU betitelt er als „Väter der 68er“ Nazis wie Goebbels und sieht Gemeinsames in „Propagandatechnik“ und Kritik am konservativen Uniwesen. Die Berichterstattung über 68 wird auch zur Auseinandersetzung der Medien mit sich selbst. Nach einem Schlagzeilen-Ping-Pong im deutschen Zeitungs-Dickicht färbte die FR das Verquere wieder schön: Aly „geht die Sache sportlich an“, als „knackige Polemik“. Dank Web 2.0 diskutieren die Leser online derweil fleißig mit. 2008 funktioniert Mediendemokratie, 1968 hätte das wohl niemand für möglich gehalten. Egal ob verherrlichend oder kritisch, objektiv berichtend oder populistisch: Der Medienrummel um 68 ist in vollem Gange. Wer sich dem ganzen entziehen will, hat nur eine Möglichkeit: BILD lesen. Der flammende Revolutionsgegner von einst ist erstaunlich ruhig geworden. Mit keiner Zeile würdigt die Boulevardzeitung dieses Jubiläum. Was übrig bleibt, sind gewohnt platte Titel wie „Bumsen statt Bomben“ oder der Traum von der „romantischen Revoluzzerin zum Verknallen“. Warum das so ist, verrät uns ein Blick in die BERLINER MORGENPOST: Es ist eben immer noch einfacher über „Hippies, Haschisch, Happenings und natürlich Flower-Power!“ zu schreiben als über „diesen ewigen 68er-Mist“. Weiterführende Lektüre im Programm der bpb: Martin Klimke/ Joachim Scharloth (Hrsg.): 1968. Handbuch zur Kultur- und Mediengeschichte der Studentenbewegung (2007). Bereitstellungspauschale 4,00 €. Bestellnr. 1697