politikorange. Mythos 68.

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politikorange. Mythos 68.
68
mythos
Dieses Bild von Günter Zint ist Teil der Ausstellung „68 - Brennpunkt Berlin“
EDITORIAL
Studentenbewegung, Kommune und kreativer Widerstand – Schlagworte, die ein Lebensgefühl umreißen. 1968. 40 Jahre sind vergangen, mit den „68er“ verbinden wir mehr als nur eine Generation. 68
steht für Bewegung, einen Mythos. Doch was verbirgt sich dahinter? Um das herauszufinden, haben sich junge Medienmacher auf Spurensuche begeben.
Idee und inhaltliche Vorbereitung zu dieser politikorange entstanden im Rahmen eines Studienprojektes der Humboldt-Universität zu Berlin und der FH Potsdam. Studierende der Europäischen Ethnologie und junge Medienmacher aus Berlin und ganz Deutschland haben hinter die Kulissen einer ganzen Generation geblickt. Sie haben nach den Ikonen der Zeit gesucht und Theorien hinterfragt. Sie
erforschten gesellschaftliche Rahmenbedingungen von damals und die Auswirkungen der 68er auf heute.
Im verklärenden Rückblick wird 68 oft zu einem Mythos. Der Blickwinkel von politikorange ist anders. Frisch, fruchtig, selbst gepresst – und immer schön kritisch.
Viel Spaß beim Lesen wünscht
Die Redaktion
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politikorange c/o Jugendpresse Deutschland e.V.
Wöhlertstraße 18, D-10115 Berlin
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Gestalterische Gesamtleitung
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Fotos
Titelbild: Günter Zint (Bild ist Teil der Ausstellung „68 - Brennpunkt Berlin“)
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bpb (S.4 li.), David Ausserhofer, FU Berlin (S.18)
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Layout & Satz
Anja Breljak ([email protected]) & Matthias Stohr-Niklas
Druck
BVZ Berliner Zeitungsdruck GmbH, Berlin
20.000 Exemplare
Organisation
Michael Metzger (JPD), Falk Blask (HU Berlin)
Alle namentlich gekennzeichneten Beiträge geben die Meinungen ihrer Verfasser wieder und stimmen nicht zwangsläufig mit den Auffassungen der Herausgeber
überein. Für Inhalte genannter Quellen und Links übernimmt die Redaktion keine Haftung. Eine Online-Version gibt es auf www.politikorange.de und unter
www.netzeitung.de/spezial/mythos68.
informierend
Studentenrevolte zum Angucken | 04
nation sucht Mythos | 04
reise in die Zeitgeschichte | 05
persönlich
„ich bin ein wirklich richtiger 68er“ | 06
„spuren hinterlassen“ | 07
alltäglich
immer müssen wir machen, was wir wollen
die revolte in der revolte
die sechziger: in mode
die brave bravo
heidschi bumbeidschi oder hello goodbye?
sex, drugs and comics
„die schönsten, die buntesten, die schnellsten, die klügsten“
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09
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international
exportartikel: Sex, drugs, love & peace
auf der suche nach dem duft der sommerwiese
die zweite revolte am öresund
allons enfants de la patrie!
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theoretisch
am ende auch praxis | 17
nach dem ende der utopie | 18
mythos68 blickt hinter die Kulissen einer ganzen Generation. Diese Ausgabe ist eine
Kooperation der Jugendpresse Deutschland und der Bundeszentrale für politische Bildung.
Die Themenausgabe von politikorange entstand im Rahmen eines Studienprojekts der
Europäischen Ethnologie der Humboldt-Universität zu Berlin und der FH Potsdam.
Ein Teil der Artikel sowie ergänzendes Text-, Bild- und Videomaterial wird von der
Netzeitung unter www.netzeitung.de/spezial/mythos68 veröffentlicht.
Die Redaktion arbeitet unabhängig, dies ist ein Prinzip der Arbeit von politikorange.
Weitere Informationen: www.politikorange.de
universitär
kein nachschub aus der denkfabrik
die mensafalle oder bist du politisch
„im bloßen pflegen von ikonen kommen wir nicht weiter“
„burn, ware-house, burn!“
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gegenwärtig
wenn subkultur zum mainstream wird | 22
1968. 1988. 2008. | 04
schaumschläger oder bombenleger | 05
www.jugendpresse.de
www.bpb.de
04
informierend
mythos68 | April 2008
Studentenrevolte zum Angucken
Nation sucht Mythos
Zahlreiche Ausstellungen über 68 sprießen dieser Tage aus dem Boden. Mit zweien davon haben wir
uns ausführlich auseinandergesetzt. Von Bea Marer und Mimoza Troni
Geschichte wird gemacht.
Mythen auch. Nicht erst zum
40. Jubiläum ist 68 mediales
Lieblingsthema. Längst ist der
Mythosbegriff zum geflügelten
Wort geworden.
Von Robert Claus
Gründungsakte und Traditionen
verewigen sich in Mythen. Sie erhalten
Deutungshoheit über die Geschichte
der eigenen Gemeinschaft und bestimmen deren aktuelles Selbstverständnis.
In Deutschland jedoch verbietet es
sich aufgrund der nationalsozialistischen Verbrechen, eine ausschließlich positive nationale Tradition zu
schreiben.
Die „kulturelle Revolution“ der 68er
arbeitete die NS-Vergangenheit ihrer
Elterngeneration auf und brach mit
deren Überlieferungen, ihren Mythen.
Durch den von Rudi Dutschke ausgerufenen „Marsch durch die Institutionen“ gelangten viele der damaligen
Protagonisten über die Jahre in höhere
Positionen. Die ehemalige Studentenbewegung erhielt Macht und Einfluss
in Medien, Kultur und Politik.
Das Jahr 1968 bedeutet für linksliberale Kreise die Überwindung des
postfaschistischen Miefs. Bis heute
zehren Politiker dieser Generation
vom Mythos, eine kulturell demokratische Gesellschaft in der BRD
gegründet zu haben.
Doch ist dieser Gründungsmythos
seither stark umkämpft. Denn Konservative beschuldigen die 68er, heute wie
damals, traditionelle Werte im Namen
„feministischer Kuschelpädagogik“ zu
verwahrlosen. Aus Parolen wie „High
sein, frei sein, Terror muss dabei sein“
spräche blanker Realitätsverlust. Der
hart erarbeitete Wohlstand des Wirtschaftsbooms in den 50ern sei den
Studenten zu Kopf gestiegen, heißt
es heute oft.
Deutschland sucht seine Mythen –
beide Seiten bringen ihre historischen
Erfolge in Stellung. Was den einen 68,
ist den anderen ihr Wirtschaftswunder. Verteufelung und Glorifizierung
beherrschen die Diskussion. Verhandelt wird nicht weniger als die Grundlage eines zeitgemäßen nationalen
Selbstverständnisses. Solange jedoch
keine der beiden Seiten nachgibt, wird
es kaum differenziertere Darstellungen
geben.
Das Amerika Haus 2008: Zur Ausstellungseröffnung, wenige Wochen später nach einer Farbbeutelattacke
„Achtung, Achtung! Räumen Sie
unverzüglich die Straße!“, dröhnt es
aus den Lautsprechern des Wasserwerfers. Vor dem Amerika Haus am
Bahnhof Zoo werden Passanten ins
Jahr 1968 versetzt. Anfang 2008 hat
hier die Bundeszentrale für politische
Bildung /bpb ihre Ausstellung „’68
– Brennpunkt Berlin“ eröffnet. Ein
halbes Jahr lang empfängt das historische Polizeifahrzeug nun die Besucher.
Kernstück der Ausstellung ist eine
Werkschau des Fotografen Günter
Zint; das wissenschaftliche Konzept
der Ausstellung stammt von Dr. Jürgen
Reiche vom Haus der Geschichte der
Bundesrepublik Deutschland.
Für die Ausstellung ist das Amerika
Haus ein historischer Ort. Es wurde
einst eingerichtet, um den Nachkriegsdeutschen die US-amerikanische
Kultur näherzubringen. 1968 fanden
vor dem zentral gelegenen Gebäude
Proteste gegen den Vietnamkrieg statt,
Steine flogen gegen die Fenster. Heute
hängen an den Wänden SchwarzWeiß-Photographien, Videos laufen,
auf den Boden ist eine Zeitleiste mit
den relevanten Ereignissen und Daten
gedruckt, und Helme und Knüppel
von damals sind Ausstellungsstücke
innerhalb des Gebäudes statt Kampfarsenal auf der Straße davor. Schnell wird
klar, dass diese Bewegung vielseitig
gewesen sein muss. Die Einführung
der Antibabypille veränderte das
konservative Familienbild und die
damaligen Moralvorstellungen. Und
über dem Ausgang steht „Wer zweimal
mit derselben pennt, gehört schon
zum Establishment“ – ein Spruch aus
den damaligen Kommunen.
Vor allem Schulklassen und Studenten-Gruppen besuchen die Ausstellung. Heute sind auch Andrea Szatmary und Claudia Rücker dort. Sie
interessieren sich derzeit besonders für
das Thema 1968, denn sie planen für
die zweite Jahreshälfte eine eigene Aus-
stellung, die in Zusammenarbeit mit
der Humboldt-Universität zu Berlin
und der Fachhochschule Potsdam im
Ephraim-Palais stattfindet. Auftraggeber ist die Stiftung Stadtmuseum.
Noch eine Ausstellung zum Thema
68? Klar, in der 68er-Revolte gibt es
entscheidende historische Wegmarken, auf die kein Rückblick, keine
Ausstellung verzichten darf: Der
Besuch des Schahs, der Schuss auf
Benno Ohnesorg, die Kampagne der
Springer-Presse. Und doch: Immer
wieder gelingt es, unterschiedliche
Schwerpunkte zu setzen. Eine Besonderheit bei Andrea Szatmary und
Claudia Rücker ist das der Bezug zur
Polizei: Einzelne Polizisten etablierten damals schon erste Formen der
Deeskalations-Strategie.
Ob Amerika Haus oder EphraimPalais: Damit ein historisches Ereignis
zu einer lebendigen Ausstellung wird,
muss eine Menge vorbereitet werden.
Am Anfang recherchierten Andrea
Szatmary und Claudia Rücker im
Internet, dann in diversen Archiven.
Die beiden arbeiteten sich durch Berge
von Dokumenten. „Wir durchstöberten das APO-Archiv, das Hamburger
Institut für Sozialforschung, das
Archiv der Polizeihistorischen Sammlungen und das Stadtmuseum Berlin“,
erinnert sich Andrea Szatmary. „Und
wir führten Interviews mit ehemaligen
Studenten und mit bekannten Personen der Zeit, zum Bespiel mit dem
Grünen-Politiker Ströbele über den
Tod von Benno Ohnesorg.“
Bis ein Ausstellungskonzept steht,
vergeht viel Zeit. „Das ist vergleichbar
mit einem Regisseur, der ein Drehbuch
schreibt“, sagt Szatmary. Mit Hilfe von
Designern, Grafikern, der Stiftung und
in enger Zusammenarbeit mit Studenten der Humboldt-Universität werden
ihre Pläne dann umgesetzt.
Während Andrea Szatmary und
Claudia Rücker noch in der Vorbe-
reitung stecken, ist bei der bpb ein
begleitendes Veranstaltungsprogramm
bereits in vollem Gange. Eine Filmreihe zum Vietnamkrieg im Rahmen
der Berlinale, zwei Wochenenden mit
Filmen aus den späten 60er Jahren
sowie eine Vielzahl von Podien- und
Zeitzeugengesprächen, allesamt in
der ersten Jahreshälfte, rahmen die
Ausstellung und vertiefen die Auseinandersetzung mit der Geschichte.
Neben Debatten über weiterhin
strittige Aspekte der historischen
Ereignisse selbst bietet die Frage nach
den Langzeitfolgen der 68er-Revolte
zentralen Diskussionsstoff. Die Entwicklung der Geschlechterbeziehungen seit 1968 wird in der Podienfolge
ebenso in den Blick genommen wie
die Auswirkungen von 68 auf Theater
und Künste oder der Zusammenhang
zwischen 68 und den Neuen Sozialen
Bewegungen der 70er und 80er. Und
auch der Besucher darf mitreden.
Die Frage, ob die Auswirkungen von
68 auch heute noch zu spüren sind,
kann per Knopfdruck beantwortet
werden: Ja, Nein, Weiß nicht. So wird
Geschichte auf den Punkt gebracht.
Ausstellungsinfos
68 – Brennpunkt Berlin
Amerika Haus
Hardenbergstraße 22-24, 10623 Berlin
31. Januar bis 31. Mai 2008
Gruppen ab 10 Personen haben die Möglichkeit,
sich für eine Führung anzumelden. Für Schülerund Jugendgruppen kostenfrei, für alle anderen
2,00 Euro pro Person.
berlin68 – Sichten einer Revolte
Ephraim-Palais
Poststr. 16, 10178 Berlin
9. Juni bis 2. November 2008
Öffnungszeiten: Dienstag bis Sonntag 10 bis
18 Uhr, Mittwoch 12 bis 20 Uhr, montags
geschlossen
mythos68 | April 2008
informierend
Reise in die zeitgeschichte
Thomas Krüger (Jahrgang1959) ist seit Juni 2000 Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung /bpb. Deren
Hauptaufgabe ist es, durch Veranstaltungen, Ausstellungen,
Veröffentlichungen und Lehrmaterial zur aktiven Auseinandersetzung mit Politik anzuregen. Ein Interview über die aktuelle
68er-Ausstellung der bpb im Amerika Haus und das alte Lied
von der damaligen und heutigen Jugend.
Von Maxi Engel
politikorange: 68 dürfte wohl im Moment das
meist diskutierte geschichtliche Thema der
Bundesrepublik sein. Zahlreiche Publikationen
haben sich bereits mit der Zeit der Studentenrevolte auseinandergesetzt. Welche neuen
Einblicke bringen die von Ihnen initiierte Ausstellung und die jetzige Publikationsreihe?
Thomas Krüger: Wir möchten Anregungen geben, dass die Thematik 1968
als gesellschaftspolitischer Einschnitt
in der Geschichte der Bundesrepublik, aber auch in der Geschichte der
DDR wahrgenommen wird. Denn
68 hat nicht nur in Westeuropa stattgefunden, sondern auch in der DDR
durch die Aufstände in Warschau und
Prag entsprechende Zeitenwenden
hervorgerufen und Veränderungen
ausgelöst. Mit unserer Ausstellung
im Berliner Amerika Haus und mit
unseren Publikationen möchten wir
zur Diskussion über die jüngere Zeitgeschichte anregen, die vor allem bei
vielen jungen Menschen völlig aus dem
Blickfeld geraten ist. Deren Eltern und
Großeltern haben sie durchaus noch im
Gedächtnis, diskutieren sie aber ideologisch sehr festgelegt. Die Diskussion zu
öffnen und den Leuten die Möglichkeit
zu geben, sich ein eigenes Urteil zu
bilden: Das sind unsere Ziele.
Hatten Sie manchmal den Eindruck, dass im
Westen die Speerspitze der Bewegung zum Teil
eine totalitäre Richtung einschlug?
Die aktuelle Forschung weist darauf
hin, dass dies ein sehr komplexes Feld
ist. Die sogenannte Avantgarde oder
Speerspitze stellte nur einen Teil der
Leute dar, die jedoch nie die breite
Mehrheit repräsentiert haben. Johano
Strasser sagt beispielsweise, dass die
Mehrheit der Leute, vor allem aus
der 68er-Studentenbewegung, in die
SPD eingetreten ist, und das kann
man nicht als totalitär bezeichnen.
Die ideologische Zuspitzung war
natürlich da, und diese muss man auch
entsprechend kritisch unter die Lupe
nehmen, aber der gravierende Einschnitt hat kulturell stattgefunden: Das
Distanzieren von der Elterngeneration
durch die Einflüsse der Rockmusik, der
Friedensbewegung, der Anti-Vietnambewegung. All das fand weltweit statt,
und sehr viele junge Leute identifizierten sich damit. Im Anschluss daran
pluralisierten und demokratisierten
sie so die Gesellschaft. Beispiele dafür
sind die Kinderladenbewegung, ein
breiteres Verständnis von Erziehung,
die Diskussion an den Universitäten.
Die Bundesrepublik wurde zu einem
Staat, der viel mehr Individualität
ermöglichte. Das ist wahrscheinlich
der markanteste Punkt, der 68 betrifft
und der heute von weiten Teilen derer,
die damals die Bewegung kritisierten,
unbestritten ist.
Mit dem Informationsangebot der bpb wollen
Sie vor allem jüngere Menschen einladen, sich
mit dem Thema 68 zu beschäftigen. Warum,
glauben Sie, ist die damalige Zeit besonders für
die heutige Jugend von Interesse?
Die 68er-Bewegung war selbst eine
Jugendbewegung, und man kann an
Jugendbewegungen sowohl die ambivalenten Komponenten politischer
Urteilsbildung ablesen als auch das
Feuer, sich politisch zu engagieren.
Wir wollen mit dieser Ausstellung und
mit den Veranstaltungen junge Leute
ansprechen, um das mit ihnen auch zu
erörtern: Nicht nur mit dem Rückblick
auf die 68er-Zeit, sondern auch mit
Blick auf die Virulenz politischen Engagements heute. Gründe gibt es genug.
Die Schere zwischen arm und reich geht
auseinander, die Globalisierungsdebatte
wird sehr kontrovers geführt; es liegen
also viele politische Themen auf der
Straße, und man hat aus verschiedenen
Gründen mit einer Jugend zu tun,
der man jedenfalls nicht in der Breite
als politisierte Jugend begegnet. Man
identifiziert sich heute in stärkerem
Maße mit anderen Interessen als der
Politik – vor allem auch mit dem Entertainment –, hat die eigene individuelle
Karriere im Blick, und die politischen
Komponenten spielen nur zum Teil
eine Rolle. Unsere Ausstellung ist eine
Art Staubsauger, um die Leute in den
zeitgeschichtlichen Raum zu holen und
dann zu diskutieren. Es gibt eine Reihe
von Diskussionsveranstaltungen, die
zu unserer Überraschung mindestens
zur Hälfte von jungen Leuten besucht
sind. Das heißt, das Interesse ist im
Ansatz da.
Was kann unsere Generation konkret aus
der 68er-Zeit sowohl im Positiven als auch
im Negativen lernen, wenn sie versucht, sich
politisch zu engagieren und gegen Missstände
zu rebellieren?
Um mit dem Positiven anzufangen: die
Haltung, die Kreativität des Protests,
die Einbettung von Protestformen
in die jugendkulturellen Kontexte
sind Dinge, die 68 erfunden und
ausprobiert wurden, von denen man
sicherlich lernen kann und die uns bis
heute beeinflussen. Ich selbst kann als
ehemaliger Bürgerrechtler der DDR
sagen, dass viele der Protestslogans
und -formen, die wir damals 1989
realisiert haben, sehr viel mit 68 zu
tun hatten und damit in Verbindung
gebracht werden können. 89 ist ohne
68 schwer denkbar, und sowohl Prag
als auch die Sit-ins und Teach-ins aus
dem westlichen Europa haben dies
beeinflusst.
Und das Negative?
Der Fehler, den man vermeiden muss,
ist, zu schnell von der Rebellion in die
Manie, in ideologische Verkürzungen,
in ungerechtfertigte, ungerechte und
auch totalitäre Positionen überzuspringen. Und das ist auch ein Lerngegenstand, den man an 68 abarbeiten sollte.
Viele der Protagonisten der damaligen
Zeit wurden in ihrem Überschwang
zu Maoisten oder gründeten kommunistische Zellen, bar jeder Kenntnisnahme, dass umter Maos Regime
Millionen Menschen umgebracht hatte
und der Kommunismus eine totalitäre
Gesellschaftsordnung war. Man hat
die nachvollziehbare Einforderung
von mehr Pluralität und Demokratie
mit kommunistischen Alternativen
angereichert. Bei aller Ambivalenz
muss man sich damit kritisch auseinandersetzen und zu einem eigenen Urteil
kommen. Um ein Beispiel zu geben:
Sie sehen in unserer Ausstellung ein
Video von einer großen Veranstaltung
an der Freien Universität, auf der ein
Kritiker der Bewegung versucht zu
sprechen, nach den ersten Sätzen aber
sofort vom Podium gerissen wird und
hinter den Kulissen verschwindet. Die
Meinungsfreiheit der 68er hatte eben
auch ihre Grenzen.
05
06
persönlich
mythos68 | April 2008
Ein roter Schal ist sein Markenzeichen: Hans-Christian Ströbele
sitzt als Abgeordneter von Bündnis 90/Die Grünen im Deutschen
Bundestag. Ein Interview von Ulrike Schulz
Er hat maßgeblich an der Gründung der linken Tageszeitung taz und des
Berliner Landesverbandes der Grünen mitgewirkt. Vielen gilt Hans-Christian
Ströbele als Vorzeige-68er: Zusammen mit Horst Mahler, dem heutigen
Holocaust-Leugner, schuf er 1969 das sozialistische Anwaltskollektiv. In den
70ern vertrat er die RAF-Gefangenen der ersten Generation.
„Ich bin ein wirklich richtiger 68er“
politikorange: Wann fingen Sie an, sich politisch zu engagieren?
Hans-Christian Ströbele: Bei mir
war der 2. Juni 1967 ein Schlüsselerlebnis. Das war der Tag der Demonstration gegen den Schah-Besuch. Am
nächsten Tag habe ich in der BZ das
Foto einer blutüberströmten Frau mit
der Überschrift: „Von Steinen der
Chaoten getroffen“ gesehen. Aber
dann sagte genau die selbe Frau: Von
wegen, von einem Stein der Chaoten
getroffen; ich wurde von einem Polizeiknüppel getroffen! Später hieß es,
ein Polizist sei erstochen worden. Die
Wahrheit war, dass ein völlig harmloser
Mann namens Benno Ohnesorg von
einem Polizisten erschossen wurde.
Ich hab mich über beide Geschichten
so empört, dass ich mich entschlossen
habe, mich Horst Mahler, der damals
der Anwalt der Studenten war, als
juristischer Zuarbeiter zur Verfügung
zu stellen. Von da an war ich Teil der
Bewegung und der Außerparlamentarischen Opposition ...
... und damit Teil der 68er Revolution.
Genau. Wir kamen zu der Überzeugung: Diese Gesellschaft wollen wir
nicht! Nur die Revolution kann die
Veränderung bringen.
ikonen |
Ich war davon total überzeugt.
Damals antwortete ich auf die Frage
nach einer Altersversicherung: Nee,
brauche ich nicht, bis dahin hat die
Revolution gesiegt. Ich habe die Revolution also nicht nur für notwendig,
sondern für machbar und realistisch
gehalten.
Schön und gut, aber eine Revolution beginnt
man, indem man sich gegen das etablierte
System wendet. Sie wurden stattdessen Teil
des Systems, spätestens mit Ihrem Eintritt
in die SPD.
Es bildete sich die Auffassung heraus,
dass es mit ewigem Demonstrieren
nicht weitergeht. Wir fingen an, die
Frage der Gewalt zu diskutieren.
Einige sind in den Untergrund gegangen, andere wählten den Gang durch
die Institutionen. Ich bin deshalb 1970
in die SPD eingetreten. Dutschke predigte: Wir kämpfen weiter für unsere
Ziele, aber eben überall. An den
Werkstoren, im Gerichtssaal und in
den Institutionen.
Gewalt war ja ohnehin ein zentrales Thema
damals. Wie haben Sie sich positioniert?
Ich habe diese Gewaltdiskussion
mitgemacht, aber dazu nicht Stellung
genommen. Andere haben sich bewaff-
net. Es gab die allgemeine Meinung,
die Revolution sei angesagt. Man muss
das auch über Deutschland hinaus
sehen, es gab in vielen Ländern ähnliche Entwicklungen, man sah sich in
einem weltweiten Zusammenhang.
anders. Die APO hatte den Anspruch,
Theorien und Vorstellungen darüber
zu entwickeln: Was ist falsch, was ist
die Ursache für den Faschismus, und
wo muss es hingehen, dass so etwas nie
wieder passiert?
Es scheint, als sei heute von dieser weltweiten
Bewegung wenig übrig geblieben – außer
eines verklärten Rückblicks auf den Mythos 68.
Finden Sie im Rückblick, dass Sie erfolgreich
mit Ihren Zielen waren?
68 hat Spuren hinterlassen: Deutschland ist in vielen Bereichen liberaler
geworden. Als ich als Anwalt anfing,
war es beispielsweise strafbar, wenn
zwei erwachsene Männer Geschlechtsverkehr hatten. Das hatte zur Folge,
dass sich um die Homosexuellenszene
Verbrechen und Erpressung bildeten.
Heute ist Homosexualität gesellschaftlich akzeptiert. So gibt es eine ganze
Reihe von Sachen, die sich durch das
Infragestellen der etablierten Regeln
verändert haben.
Natürlich hätte man einiges anders
machen können. Aber die Grundrichtung halte ich nach wie vor für
so richtig, dass ich einen großen Teil
meines jetzigen politischen Lebens
dafür einsetze und mich an der Frage
orientiere: Wie kann ich zu einer
Veränderung der Welt zu gerechteren
Verhältnissen beitragen? Ich bin sicher,
dass ich da auch weitermachen werde,
solange es meine Gesundheit zulässt.
Sehen Sie heute noch revolutionäres Potential?
Ich sehe das Potential darin, dass
auch in Heiligendamm so viele junge
Leute da waren. Ihnen fehlt aber ein
theoretischer Unterbau. Das führt
dazu, dass das Engagement relativ
schnell wieder weg ist. Das war damals
Der romantische Revolutionär
Ernesto „Che“ Rafael Guevara de la Serna Wer war er? An der Seite von Fidel und Raoul Castro führte der gebürtige
(1928 – 1967) Argentinier die Guerillakämpfer gegen das kubanische Regime von Fulgencia Batista. Resultat: Die Revolution siegte, und ab 1959 wurde Kuba
„Seien wir realistisch, versuchen sozialistisch. „Comandante Che“ beteiligte sich maßgeblich an der sozialen
wir das Unmögliche.“ Umgestaltung der Zuckerrohrinsel, war Chef der Nationalbank und knüpfte
Kontakte zur DDR und Sowjetunion. Nebentätigkeiten: Arzt, Frauenheld,
Zigarrenraucher.
Und heute? Ein ungebrochener Mythos. Ob T-Shirts,
Poster oder Taschentücher: Produkte mit Ches Konterfei
werden heute immer noch millionenfach verkauft, vor
allem an rebellierende Teenager und pseudolinke Promis.
Warum wurde er von den 68ern verehrt? Der
Revolutionsstar verband erstmals jugendliches Charisma mit kommunistischen
Idealen. Zudem wollte er den „Neuen
Menschen“ schaffen – und zwar mit
Gewalt. Che war aber auch der träumerische Weltverbesserer, der erst Lateinamerika, danach den ganzen Planeten von
Armut, Krankheit und Ausbeutung befreien
wollte. Sein Versuch in Bolivien scheiterte:
Am 9. Oktober 1967 wurde er von einem
bolivischen Feldwebel erschossen.
mythos68 | April 2008
persönlich
07
„Spuren
hinterlassen“
Spuren hat Rudi Dutschke vor allem in der
Partei DIE GRÜNEN hinterlassen, meint Marek.
Wovon er spricht, sollte er wissen – er ist Rudi
Dutschkes Sohn. Von Anne Pietzunka
2006 hatte der 27-Jährige selbst für
die Grünen im Berliner Abgeordnetenhaus kandidiert, allerdings erfolglos. Seitdem ist es um den Erben des
Revolutionärs etwas still geworden.
Eigentlich ist Marek heute ein ganz
normaler junger Mann, wären da nicht
die ständigen Interviewanfragen. Mal
sehen, welche Spuren er hinterlassen
wird.
politikorange: Erkennt deine Mutter Seiten von
deinem Vater an dir?
Marek Dutschke: Ich weiß es nicht.
Gute Frage. Müsste man sie mal
fragen.
Gretchen Dutschke zog nach dem Tod ihres
Lebensgefährten Rudi Dutschke in die Vereinigten Staaten. Dort bist du auch groß geworden.
Wann hast du angefangen, dich mit deinem
Vater auseinanderzusetzen?
Relativ spät, würde ich sagen. Ungefähr mit 18, 19 Jahren. Mit 20, als
ich nach Berlin ging, habe ich größere
Schritte gemacht. Von meiner Mutter
habe ich wenig erfahren, mehr von
Bekannten, die hier in Berlin leben,
oder durch Bücher. Ich habe allerdings
mit 20 Jahren nur Positives sehen
können. Ich war noch nicht bereit,
mich damit kritisch auseinanderzusetzen.
damals in Berlin auf den Straßen statt.
Konfrontation zwischen völlig verschiedenen Meinungen kann nicht im
Bundestag beschlossen werden. 68 ist
es lautstark auf der Straße passiert.
Vor sieben Jahren hast du das Buch „Die Spuren
meines Vaters“ geschrieben. Dort erklärst
du, dass du in der Partei Bündnis90/Die
Grünen die Spuren deines Vaters am meisten
wiedererkennst.
Dabei soll es ziemlich autoritär zugegangen
sein, erklärt der Historiker Götz Aly in seiner
neuen Publikation „Unser Kampf“. Er glaubt
totalitäre Aspekte des Nationalsozialismus in
der 68er Bewegung wiederzuerkennen. Was
denkst du darüber?
Ja, das glaube ich auch. Sehr
simpel gedacht, eigentlich. Aber Rudi
Dutschke war ein Gründungsmitglied der Grünen. Politisch betrachtet,
sind dort am ehesten Spuren von ihm
erkennbar.
Abgesehen von der Gründung der Grünen,
warum waren die 68er so entscheidend für die
Bundesrepublik Deutschland? Nach Meinung
vieler Historiker haben die entscheidenden
politischen Reformen, z.B. in der Sozialpolitik,
schon früher stattgefunden.
Das kann durchaus sein. Aber politische Reformen sind nicht alles. Es
muss auch eine Auseinandersetzung
in der Bevölkerung geben. Die fand
Die 68er-Bewegung mit dem Nationalsozialismus zu vergleichen, scheint
mir eine abwegige Interpretation zu
sein. Es gab einmal eine Diskussion
zwischen Ralf Dahrendorf, einem
Liberalen der ersten Stunde, und
Rudi Dutschke. Sie haben sich Stühle
geschnappt und sich unter dem freien
Himmel auf Autos gesetzt, um vor
den umliegenden Studenten zu diskutieren. Das war urdemokratisch!
Selbst Habermas hat Rudi Dutschke
einmal als Linksfaschisten bezeichnet.
Er hat es aber auch wieder zurückgenommen.
der revolutionäre Rudi
Rudi Dutschke
(1940 – 1979)
„Ich halte das bestehende
parlamentarische System für
unbrauchbar. Das heißt, wir
haben in unserem Parlament
keine Repräsentanten, die die
Interessen unserer Bevölkerung –
die wirklichen Interessen unserer
Bevölkerung – ausdrücken.“
Wer war er? Rudi Dutschke wurde wegen seines Engagements in der evangelischen Jugend und der Verweigerung des Wehrdienstes in der DDR das
Studium verwehrt. Kurz vor dem Mauerbau siedelte er nach West-Berlin
über, studierte an der FU Soziologie. 1962 war er Mitbegründer der „Subversiven Aktion“. Die Gruppe schloss sich 1964 dem SDS an und übernahm an
vielen Orten die Führerschaft.
Und heute? Wie kaum eine andere Person steht der Name Rudi Dutschke für
die Studentenbewegung. Sein Streifenpulli ist bis heute im Heimatmuseum
von Luckenwalde, Rudis Geburtsort, zu bewundern.
Gedenktafel für Rudi Dutschke am Kurfürstendamm
ikonen |
Warum wurde er von den 68ern verehrt? Rudi
Dutschke wurde der in der Öffentlichkeit
weitaus bekanntester Vertreter der radikalen
linken Studentenbewegung, der durch seine
utopischen, von religiösen Elementen nicht
freien Entwürfe eines Sozialismus Sympathien
weit über die Studentenbewegung hinaus
erhielt. Das Attentat auf ihn 1968 überlebte
Rudi Dutschke nur knapp; er lebte zeitweise
mit seiner Familie in Großbritannien und
Dänemark und starb 1979 an den Spätfolgen
des Attentats.
08
alltäglich
mythos68 | April 2008
Immer müssen wir machen, was wir wollen!
Die Wände sind mit dicken roten Pinselstrichen beschmiert. Ein kleiner Junge drückt seine grünbemalten Hände gegen die weiße
Tür. Drei Kinder rennen grölend einem schwarzen Kater hinterher und wirbeln dabei mit Puppen und Teddybären durch die Luft. Ein
kleines, zottelhaariges Mädchen verschwindet mit ihrem Kopf in einem großen Nudeltopf Von Kathrin Friedrich
„Deutschlands unartigste Kinder“
nannte ein Magazin vor 40 Jahren
diese kleinen Rabauken aus den Berliner Kinderläden. Alles war erlaubt,
was in Kindergärten streng verboten
wurde: Wände bemalen, aus dem
Fenster klettern, mit dem Essen
spielen. Der Kinderladen sollte die
APO der Kindergartenwelt werden.
Der dort praktizierte antiautoritäre
Erziehungsstil sorgte in bürgerlichen
Kreisen für Entsetzen.
Die ersten Berliner Kinderläden
wurden auf Initiative des „Aktionsrates
zur Befreiung der Frau“ 1968 gegründet. Sie sollten die Mütter entlasten
und so ihre politische Arbeit im SDS
fördern.
„Bei uns war es immer laut und
für Außenstehende wahrscheinlich
fürchterlich chaotisch“, erzählt Heike,
die 1969 selbst in einem Kinderladen
in Wilmersdorf war. Sie erinnert sich
an das Mao-Poster und die „Chinablätter“ des Vaters.
Im Kinderladen ging es nicht
gerade zimperlich zu. „Bei uns hat es
erstmal geknallt, und dann hat man
vielleicht darüber gesprochen“, erklärt
Heike. Die Gemeinschaft stand immer
im Mittelpunkt. Man war ständig
DIE REVOLTE IN DER REVOLTE
In der meist von Männern geführten
Debatte über 68 tauchen Frauen höchstens
am Rande auf. Ihre Rolle und Kritik an der
Bewegung wird nur selten erwähnt. Doch
was wäre 68 ohne die Frauen gewesen?
Von Ulrike Schulz
Weiterführende Lektüre:
Ute Kätzel: Die 68erinnen. Berlin, 2002.
zusammen, lieferte sich mit anderen
Gruppen Rangeleien und ging mit den
Eltern auf jede Demonstration.
Rückblickend sieht Heike die Kinderladenzeit als das Experiment einer
neuen Ordnung. Der neue Mensch
sollte geschaffen werden, und da
begannen die Väter und Mütter der
Studentenrevolte gleich mal bei ihren
eigenen Sprösslingen.
Doch was ist von der Kinderladenbewegung geblieben?
Auf der Suche nach einer Antwort
habe ich den Kinderladen „Frischlinge“
besucht. Ein kleiner, gemütlicher
Kinderladen im Berliner Wedding.
13 Kinder, zwei Betreuerinnen – ein
Luxus, den heute nicht jedes Kindergartenkind genießen kann.
Nachdem ich mich im Spielraum
auf dem Antirutsch-Teppich niedergelassen habe, bin ich in kürzester Zeit
von Eisenbahnschienen umzingelt.
Drei kleine Jungs lassen ihre Lok
stürmisch um mich kreisen.
Die beiden Betreuerinnen Ines und
Silke sind seit 15 Jahren dabei. Was
ihnen gefalle, frage ich sie: „Im Kila ist
man für sich selbst verantwortlich. Es
ist familiärer, kleiner, und man kennt
die Eltern viel besser.“
Jeder Tag beginnt mit einem Morgenkreis, der Ruhe in den Tag bringen
soll. Danach kann munter gespielt,
gebastelt und getobt werden. „Uns ist
die individuelle Betreuung der Kinder
sehr wichtig“, betont Silke. Doch was
ist von dem antiautoritären Konzept von damals geblieben? „Es gibt
gewisse Regeln und Strukturen, ganz
klar. Aber wir folgen keinem striktem
Tagesablauf.“
Heute organisieren die beiden den
Kinderladen größtenteils selbst. Vor
15 Jahren war das noch ganz anders.
Damals übernahmen die Eltern die
Organisation: putzen, kochen, einkaufen. Heute kommt von montags
bis donnerstags ein Bio-Lieferservice,
manchmal gibt es auch Fleisch – in
dieser Hinsicht ist man nicht mehr so
strikt wie früher. Freitags kochen die
Eltern noch selbst. Ein wenig Tradition muss auch gewahrt werden.
Viele Eltern suchen heute zwar
immer noch die Alternative zu Kindergärten, möchten aber nicht mehr
so stark einbezogen werden wie früher.
Als 2002 immer weniger Kinder kamen
und die Kila vor dem finanziellen Aus
stand, spürten Ines und Silke, dass sich
das alte Kinderladensystem irgendwie
ausgelebt hatte. „Wir haben gemerkt,
dass die Eltern einfach keine Zeit
mehr hatten, soviel Eigeninitiative in
den Kila zu stecken“, erklärt Ines. So
ließen sich die beiden in den Vorstand
wählen und reduzierten die Pflichten
der Eltern. Seitdem läuft es bei den
„Frischlingen“ wieder rund. Silke
glaubt, dass man sich langsam wieder
auf die alten Werte zurückbesinne. Die
Eltern treffen sich auch mal nach 16
Uhr im Kila, um zusammenzusitzen,
sich auszutauschen und ihren Kindern
beim Spielen zuzuschauen.
Seit die ersten Kinderläden ihre
Türen öffneten, hat sich viel verändert.
Die Kinder sollen immer noch zu
einem selbstbestimmten Leben herangeführt werden, jedoch behutsamer als
noch vor 40 Jahren.
Mag der Begriff „antiautoritär“
heute auch überholt sein, die Revolte
in den Kindergärten hat eine freiere
Pädagogik hervorgebracht.
Die Kinderläden von heute sind
nicht mehr nur das „Experiment einer
neuen Ordnung“, sie haben sich ihren
Platz in der Kindergartenlandschaft
erkämpft und sind dort nicht mehr
wegzudenken.
„Tatsächlich waren wir selbst Akteurinnen und nicht etwa die Anhängsel
von irgendwem“, sagt die ehemalige
Hochschulreferentin des SDS, Susanne
Schunter-Kleemann. Die Frauen beteiligten sich nicht nur an den Demos,
sondern übernahmen eigene Aufgaben
und bald auch das Wort. Eine kleine
Auswahl: Annette Schwarzenau war
Delegierte im „Zentralrat der Kinderläden“ und am Kacke-Attentat auf
die Stern-Redaktion 1969 beteiligt.
Sigrid Fronius war 1968 Vorsitzende
des AStA und Mitbegründerin der
Kritischen Universität. Sigrid Rüger
war seit 1965 studentische Sprecherin
im Akademischen Senat und zu der
Zeit an der FU bekannter als Rudi
Dutschke.
Die Idee zur Gründung von Kommunen in Berlin hatte nicht Dieter
Kunzelmann, sondern Gretchen
Dutschke-Klotz, die über Versuche in
den USA gelesen hatte. Das Ergebnis
gefiel ihr aber nicht mehr, als Kunzelmann offene Beziehungsstrukturen
forderte. Denn nun „sollte freie
Sexualität bedeuten, dass die Frauen
den Männern immer zur Verfügung
stehen.“ Nur wenige Frauen, wie
Dagmar Pryztulla, wohnten fest in
der Kommune. Viele litten dort, weil
sie an dem Partner hingen, mit dem
sie eingezogen waren. Eifersucht galt
aber als bürgerliches Relikt, das zu
überwinden sei. Außerdem konnten
die Frauen die freie Liebe nicht im
gleichen Maße leben, weil die Männer, die ihnen gefielen, wegen der
Dominanz der Kommunarden dort
keinen Platz hatten. Mit den Folgen
der freien Liebe, sprich einer ungewollten Schwangerschaft, mussten sie
auch meist allein fertig werden. Den
größten Diskussionsbedarf gab es aber
– wie in einer Kleinfamilie – über die
alltäglichen Pflichten des Haushaltes,
denn die Kommunarden beteiligten
sich nur ungern an Abwasch und
Kinderversorgung.
Das Hauptproblem der Frauen mit
Kindern war der Zeitmangel. Helke
Sander gründete deshalb den „Aktionsrat zur Befreiung der Frauen“, aus dem
die ersten Kinderläden hervorgingen.
Die Frauen wollten abwechselnd auf
die Kinder aufpassen, um mehr Zeit
für Politik zu haben.
Mehr und mehr wurde ihnen ihre
eigene Unterdrückung bewusst. So
forderte Sander eine Diskussion im
SDS über ihre Situation. Der SDS war
zwar männerdominiert, und Gretchen
Dutschke-Klotz beschreibt, dass die
meisten Frauen ausgelacht wurden,
wenn sie sich zu Wort meldeten,
dennoch war er ein Stück egalitärer
als der Rest der Gesellschaft. Wenn
sich etwas am Geschlechterverhältnis
ändern konnte, dann hier. Als die
„Genossen“ sich aber auf der Frankfurter Delegiertenkonferenz im Herbst 68
weigerten, darüber zu reden, hagelte
es ein Tomaten. Die wütenden Studentinnen gründeten Frauengruppen.
Manche sagen, es sei das Ende des SDS
gewesen. Für die Frauenbewegung war
es jedenfalls ein Anfang.
mythos68 | April 2008
alltäglich
09
die sechziger: in mode
Op-Art
ein schwarz- weißer, geometrischer Stil, der auf Kontrasten aufbaut und, passend zu bewegten Zeiten, immer in Bewegung zu sein schien. Er spiegelte sich
in Kleidung und Schmuck, wie Ohrringen, Ringen, Plastik- und Glasbroschen
wieder.
Twiggy
Der Hungerwahn beginnt: lange, dünne Beine; flacher
Busen und die Betonung des Gesichtes mit möglichst
großen Augen – gepuscht von falschen Wimpern und
einem blass geschminkten Mund. Als umjubeltes Idol
sollte sie so kindlich und mädchenhaft wie möglich
sein.
Der Minirock
1961 erstmals in einer Kollektion präsentiert, wurde
der Mini erst mit der Vermarktung der Antibabypille
Mitte der Sechziger zum Symbol der sexuellen Freiheit und Rebellion. Nicht nur die Beine, sondern auch
die immer noch konservativen Moralvorstellungen der
Gesellschaft wurden mit ihm bloßgelegt.
Hippie
Als Protest gegen den Vietnam-Krieg kehrten junge Männer und Frauen dem konventionellen Kleidungstil den Rücken. Sie wandten sich nicht-westlichen Kulturen
und Religionen zu. Die bunte und flippige Mode als Symbol der Freiheit wurde in
den 70er Jahren vermarktet und ihrer eigentlichen Funktion beraubt.
Franziska Langner
Pop- Art
Bunte, fröhliche Mustermotive, unkonventionelle und zweckentfremdete Mode – wie zum Beispiel PVC-Regenmäntel als Sommerkleidung – prägten eine unkonventionelle Zeit.
Jacky Kennedy Stil
als First Lady von Amerika (1961-62) verkörpert sie das
modische Ideal und wurde unbewusst Trend-Setter der
Kostüme. Mit ihrer Kleidung „rockte“ sie das Weiße Haus,
trotz ihrer repräsentativen Position. 1962 wurde ihre
Lieblingsfarbe Rosa zur Modefarbe erklärt.
Die brave BRAVO
Sex, Drugs and Rock ’n’ roll? Pustekuchen. In den wilden Jahren war Deutschlands beliebteste Jugendzeitschrift mit
Moral und Frotté-Nachthemden gefüllt. Von Wlada Ullmer
Wo sind die schrillen Farben?
Die Sensations-Ankündigungen in
draller Schrift? Nackte Haut? Die
Aufmachung ist ungewohnt bieder.
Ein junger Roy Black lächelt verlegen
vom Cover, es gibt weder Extras noch
Gratisposter. Nur ein Stück Bein von
Barry Gibb für den Starschnitt. Doch
das ist sie tatsächlich.
Über Roys geschleckter Frisur
leuchten die fünf vertrauten Großbuchstaben: BRAVO. 52. Ausgabe,
28. Dezember 1968. Preis: Eine
Deutschmark.
Umblättern. Die LP von Tom Jones
ist die Platte der Woche, als Beilage
gibt es 50 Starfotos für die Geldbörse
und zehn neue Beatles-Texte. Doch
wo bleiben die Freizügigkeit und der
Freisinn der 68er?
Dr. Sommer heißt noch Dr. Vollmer
und ist stockkonservativ. In Schicksalsbriefen schildert er die „schwierigsten
Fälle aus seiner Praxis“. Einer 17-Jährigen, die eine heimliche Liebesbeziehung mit ihrer Freundin hat, rät er
Folgendes: „Mädchenfreundschaften
sind tief und ausschließlich. Doch mit
Liebe haben sie nichts zu tun.“ Früher
oder später werde sie schon den passenden Jungen kennen lernen. Petting
und Onanie sind zwar nicht mehr
tabu, aber auch nach der sexuellen
Revolution bleibt es dabei: Mädchen
lieben Jungs, Jungs lieben Mädchen.
Punkt.
Nicht, dass die BRAVO völlig
asexuell wäre. Nur: Sex heißt hier
Geschlechtsverkehr und ist ungefähr
so spannend wie Haferkleie. Die
Sonderbeilage „Entdecke deinen
Körper“ liest sich wie eine Mischung
aus Gebrauchsanweisung und medizinischem Fachbuch. „Die Serie, von der
man spricht“ – so ihr geheimnisvoller
Untertitel – glänzt mit Beiträgen
wie „Der gebändigte Instinkt – Vom
Fortpflanzungstrieb bei Mensch und
Tier.“
Die Kids von heute würden die
BRAVO nicht anrühren – selbst ihre
Biobücher sind aufregender. Während
sie bei „That’s me“ echte Nackedeis
zu sehen bekommen, musste sich die
Jugend von damals mit gemalten Kindern unidentifizierbaren Geschlechts
begnügen. Auch die Fragen waren
harmloser: „Mein Freund ist nicht
streng genug zu mir,“ sorgte sich 1968
eine 15-Jährige. 40 Jahre später fragt
ein junger Leser: „Habt ihr Tipps zum
One-Night-Stand?“
Während der wilden Jahre bleibt
die BRAVO überwiegend … brav.
Unter dem Titel „Träume in Spitze
und Rüschen“ präsentieren die Models
hochanständige Nachthemden, man
wirbt für Milch und Pickelsalbe. Die
Heldin der damals noch fotolosen
Love-Story geht zwar heimlich in den
„Beatschuppen“ und hat eine Liebelei
mit dem Rockstar David Blue. Die
erotische Seite ihrer Amouren bleibt
aber stets im Dunkeln.
Letzte Seite. Brigitte Bardot lächelt
schmollmundig zum Abschied. Sex,
Drugs and Rock ’n’ roll? Nicht gefunden. Die sexuelle Aufklärung passierte
in den 68ern sicher auf anderen
Wegen.
10
alltäglich
mythos68 | April 2008
Heidschi Bumbeidschi oder Hello Goodbye?
Neue Musikrichtungen wie der
Psychedelic Rock etablieren sich und
reißen eine ganze Jugendgeneration
in ihren Bann und Rausch. Die Songs
der 68er preisen, sicherlich auch durch
die Erfindung der Pille inspiriert,
sexuelle Hemmungslosigkeit, freie
Liebe, ekstatische Exzesse und die
Einnahme von bewusstseinserweiternden Substanzen. Vertreter wie
Janis Joplin, Jimi Hendrix, The Doors,
The Who oder Jefferson Airplane, die
für Aufregung und Empörung sorgen,
da sie als „Gefahr für Ordnung und
Sitte“ angesehen werden, schaffen es
in Deutschland zwar nie an die Spitze
der Charts, haben aber dennoch einen
gravierenden Einfluss auf die Jugendkultur der BRD im Jahre 68. Motiviert
Sex, Drugs and Comics
Als Schundliteratur verhöhnt, als gewaltverherrlichend und obszön verschrien: Comics. Zum
Ende der Sechziger sind sie der Inbegriff der
Pop Art. Allerdings nur in den USA. In Deutschland ist es still um die bunten Bildchen mit ihren
Sprechblasen, zumindest bis Alfred von Meysenbug 1968 als Mittel der Rebellion Bild und Text
vereint.
Von Anja Breljak
ikonen |
James Marshall „Jimi“ Hendrix
(1942 – 1970)
„Wenn die Macht der Liebe
die Liebe zur Macht übersteigt,
erst dann wird die Welt endlich
wissen, was Frieden heißt.“
1968 ist ein Jahr voller bedeutender Ereignisse und Veränderungen. Das spiegelt sich auch in der Musik wider.
Von Nadja Wohlleben
von den Ideologien der Beatniks
entwickelt sich schließlich Ende der
Sechziger auch in Deutschland eine
neue Musikrichtung – der „Krautrock“. Mit ihren deutschsprachigen
Texten transportierten Bands wie
Amon Düül den Revolutionsgedanken
auf die Tanzfläche.
Die deutschen Charts hingegen
werden von traditionellen Schlagern
und internationalem Pop überschattet.
Die Hitparade in Deutschland könnte
unterschiedlicher und farbenfroher
nicht sein: Der kleine Knirps Heintje
erfreut sich großer Beliebtheit und
begeistert Mütter und brave Mädels
mit Songs wie „Mama“, „Du sollst
nicht weinen“ oder „Heidschi Bumbeidschi“. Neben Heintje spielt unter
anderem der ehemalige StaubsaugerVertreter Tom „The Tiger“ Jones
mit „Delilah“ oder „Help Yourself“
ganz oben in der Hitparade mit. Der
Traumschwiegersohn der BRD Peter
Alexander beglückt Großmütterchen & Co. mit Hits wie „Der letzte
Walzer“, welcher auf heimischen Plattenspielern hoch und runter dudelt.
Neben ihm bringen die kalifornischen
Vorzeigejungs The Bee Gees, mit
dem Song „Massachusetts“ und mit
einem strahlenden Zahnpastalächeln
bewaffnet, Sonne und amerikanisches
Lebensgefühl in deutsche Wohnstuben. Frauenversteher und Fönwellenträger Roy Black hingegen stillt
mit schwülstigen Kraftballaden wie
„Bleib bei mir“ sehnsüchtig schmacht-
ende Herzen deutscher Frauen (und
Männer). Das bis dato erfolgreichste
Exportprodukt Großbritanniens
sind The Beatles – vier Pilzköpfe aus
Liverpool, die mit Hits wie „Hello
Goodbye“ oder „Hey Jude“ sowohl
die deutschen, als auch die weltweiten
Charts im Sturm erobern.
Verrückte Welt – verrückte Hitparade. So ist das 1968. Und obwohl
die Ikonen der Zeit zumeist schon im
Jenseits verweilen, führen sie auch im
Diesseits zu Recht noch einige Playlists
an. Vielleicht nicht gerade Heintje mit
seinem Tophit „Heidschi Bumbeidschi“, doch Musiklegenden wie die
Rolling Stones rollen immer noch,
und ihre Songs bleiben unsterblich.
Ihr Blick geht ins Leere. Verträumt
und hoffnungsvoll schaut sie aus dem
schwarzen Kasten heraus, verdeckt
mit dem linken Arm ihre nackten
Brüste, der rechte zieht am Reißverschluss, öffnet die Jeans und offenbart
einen auf ihrem Unterleib klebenden
500-Mark-Schein. „Die kleine Liebe
und das große Geschäft der Verkäuferin Jolly Boom“, heißt es in der
gezackten Sprechblase, schwarz auf
weiß. Sie, Jolly Boom, ist umgeben
von der Ware, die sie verkauft. Jolly
Boom wird allmählich selbst zur
Ware.
1968. Studentinnen und Studenten
demonstrieren, rebellieren gegen ihre
Eltern, gegen das System. Sie schmeißen Steine. Der 28-jährige Alfred von
Meysenbug hingegen malt Comics.
Jolly Boom erwacht in Meysenbugs
erstem Comic-Strip „Supermädchen“
zum Leben, als Rebellion gegen den
Kapitalismus und die unerbittliche
Konsumgesellschaft, die aus der
folgsamen Verkäuferin Jolly eine
Prostituierte macht. Ganz im Stil der
Pop Art zeichnet Meysenbug nach
Fotovorlagen, die er von Freunden
und Bekannten nachstellen lässt,
montiert Werbesprüche und politische
Flugblätter in die lockere Bilderfolge
und lässt somit Realität und Fantasie
verschmelzen. Daher brüllt auch jedes
Bild Jollys Worte: „Alles ist käuflich!“
Sie ist unverschämt nah am Leser,
fixiert mit dreisten Blicken die Außenwelt und sprengt alle Strukturregeln
der Comic-Kunst.
Ebenfalls 1968 erscheint der ComicBand „Glamour Girl“ – die Erzählstruktur noch wilder, die Bilder noch
pornografischer. Im Gegensatz zu
Jolly ist die Protagonistin in „Glamour Girl“, Carla Ehrlich, bereits
eine Prostituierte, die sich im Laufe
der Bilderfolge zur provozierenden
Künstlerin und Feministin entwickelt. Carlas Atem spürt man auf der
letzten Seite: zufriedene Augen, leicht
geöffneter Mund. Eine Nahaufnahme.
Sie wird bei einer Protestaktion des
Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) – dessen Mitglied auch
Meysenbug war – während einer
SPD-Veranstaltung verhaftet. „Jetzt
gehöre ich dazu!!“, schreit sie dem
Leser ins Gesicht. Und dann, mit dem
Zuklappen der letzten Seite, schließt
sich dieses Kapitel ihres Lebens.
Der geniale Gitarrengott
Wer war er? Der Mann, der als erster solch wilde, psychedelisch-verträumte
und innovative Töne einer Fender Stratocaster entlockte. Mit seinen Bands
wie „The Jimi Hendrix Experience“ veränderte der kreative Wuschelkopf
aus Amerika die Rockmusik nachhaltig. Seine sanften Harmonien, lyrischen
Texte und ekstatischen Soli fesselten weltweit zigtausende Fans. Kurz gesagt:
Hendrix war der vielleicht wichtigste Gitarrist aller Zeiten. Und ein visionärer Ausnahmemusiker, dessen exzessive Karriere ein jähes Ende fand: Mit
nur 27 Jahren erstickte er in einem Londoner Hotelzimmer an seinem eigenen Erbrochenen. Um es mit den Worten von Konzertveranstalter Fritz Rau
zu sagen: „Jimi war ein Ikarus des Blues, der in die Sterne flog, der Sonne zu
nah kam und verbrannte.“
Warum wurde er von den 68ern verehrt? Hendrix
spielte den perfekten Sound zur Revolte:
Mutig, rebellisch, glaubwürdig rockend. Auf
der Bühne gab er den „Wild Man of Rock“,
der die künstlerische Freiheit voll auslebte und
seine Gitarre geradezu zeremoniell verbrannte.
Mit seinen Songs wie „Are You Experienced?“
zeigte Jimi den verstaubten Rocktraditionen
den erhobenen Mittelfinger. Legendär: Seine
verstörende Interpretation der amerikanischen
Nationalhymne auf dem Woodstock Festival.
Und heute? Hendrix’ Musik hat nicht an Anziehungskraft eingebüßt: Jährlich werden Millionen CDs verkauft, immer wieder
findet sich unveröffentlichtes Material des Künstlers. Wirklich tot ist der ewig junge Hippieprinz noch nicht.
mythos68 | April 2008
alltäglich
„ Wir waren die Schönsten, die Buntesten,
die Schnellsten, die Klügsten“
Ein Interview mit Rainer Langhans. Von Kathrin Friedrich, Sonja Knüppel und Lystte Laffin
Rainer Langhans wurde 1940 in
Oschersleben geboren. Nachdem er
sich ein Jahr für den Militärdienst
verpflichtet hatte, begann er an der
FU Berlin Psychologie zu studieren.
Er wollte sich und die Menschen
besser verstehen lernen. Dieses Bestreben führte ihn im März 1967 in die
Kommune 1, in der er ein Jahr später
als Politstar und Freund Uschi Obermaiers berühmt wurde. Nachdem sich
die Kommune aufgelöst hatte, suchte
Langhans seinen Weg in der Spiritualität. Heute lebt Langhans in München
und experimentiert zusammen mit
vier Frauen an einem neuen sozialen
Projekt namens „Harem“. Im Februar
2008 erschien seine Autobiographie
„Ich bin’s. Die ersten 68 Jahre.“
Rainer, wenn du heute an die Studentenbewegung der 68er zurückdenkst, welcher Aspekt
fasziniert dich am meisten?
Es ist diese spirituelle Seite der
ganzen Geschichte, von der ich heute
meine, dass sie die wesentliche überhaupt ist. Sie vermag als Einzige zu
erklären, was wir damals erlebt haben.
Diesen merkwürdigen, historisch
einzigartigen Gefühlsaufstand, der
gleichzeitig auf der ganzen Welt stattfand. 1967 und nicht erst 68 war so
eine Art Urknall gewesen. 67 haben
wir wirklich geglaubt, so wird die
Welt. Die ganze Welt wird zu Kommunen, erstmal der SDS und dann
Westberlin. Die Kommune hat kein
Papier produziert, sondern Gefühle
und innere Entwicklungen, und
dadurch ist sie heute für die Historiker
kaum fassbar. Zugleich hatten wir aber
auch die größte Auswirkung. Bei der
Studentenrevolte haben sich die Leute
gefragt, ob die Studenten nicht ganz
dicht wären. Aber Sex, da weiß jeder
was das ist, das interessiert.
Aber die Leute haben bei dem Spruch „Wer
zweimal mit der Selben pennt, gehört schon
zum Establishment“ auch gedacht, ihr wärt
nicht mehr ganz dicht?
Ja, das war natürlich ein Spruch
der Presse. Niemals unserer. Diesen
Sexscheiß, den die immer im Kopf
haben, bis heute. Wir haben das
damals aber gewusst und gedacht,
dass sie sich ruhig etwas ausdenken
können – je schlimmer desto besser.
Die Bild-Zeitung haben wir uns auch
immer beschafft und überlegt, was wir
für Bilder und Shows liefern könnten,
die deutlicher machen, dass man freier
sein kann und dass es schön ist, liebevoll zu sein.
Es gibt heute noch Leute, auch aus
dem Kommunenumfeld, die sagen,
dass wir uns bei dem Rückenfoto das
erste Mal nackt gesehen haben und
eigentlich total verklemmt gewesen
wären. Scheiße nein! Wir waren in
einer gewissen Weise zärtlich miteinander, aber nicht nur auf dieser
sexuellen Ebene. Meiner Ansicht
nach ist Sexualität ein Sondergebiet
der größeren Liebe oder Zärtlichkeit.
Sofern es körperlich wird, ist es eher
ein Hindernis für Intimität.
Wenn es euch nicht um diesen ganzen „Sexscheiß“ ging, wie können wir uns dann das
Leben in der Kommune vorstellen?
Die Kommune war eine Gemeinschaft der leidenschaftlich an sich
selbst Interessierten. Wir hießen ja
auch Horrorkommune, weil wir gemeinsam auf total intrapsychische
Erkundungen gegangen sind. Ich bin
in dieser Phase ziemlich am Schluss
dazugekommen. Du wurdest da nach
Strich und Faden auseinandergenommen, in Bezug auf deine Reflexe,
dein Denken, deine Reaktionen und
so weiter. Du warst ständig unter Beobachtung, nie allein, Tag und Nacht.
Durch unsere Aktionen ist diese innere
Arbeit dann natürlich völlig zu kurz
gekommen. Ich hab dann Ende 67
gesagt, dass wir dieses Innere weiter
erforschen müssen. Denn die Dritte
Welt oder der Krieg sind eigentlich in
unserem Inneren.
Wie war damals euer Verhältnis untereinander,
gab es hierarchische Strukturen?
Wir kannten uns einfach wahnsinnig
gut und mochten uns auch gerne. Es
gab natürlich Auseinandersetzungen.
Dieter Kunzelmann wollte immer der
Chef sein. Das war okay. Er war auch
der Erfahrenste. Wir beide waren ein
bisschen wie ein Ehepaar. Er war der
extrovertierte, ewige Action-Typ. Wie
ein Springteufelchen sprühte er voller
Ideen. Ich war der Intellektuelle, der
für die ganzen schlauen Typen, die
natürlich auch in unserem Umkreis
Das kiffende Kommunenmodel
Uschi Obermaier
(*1946)
„Ich habe viele Dummheiten
gemacht. Aber keine, die ich
bereue.“
Wer war sie? Uschi Obermaier wuchs ganz unspektakulär in einer bürgerlichen
Familie auf und hatte auch ein unspektakuläres Leben vor sich. Bis sie auf
den prachtlockigen Rainer Langhans traf, in die Kommune 1 einzog und
fortan öffentlichkeitswirksam für Emanzipation und freie Liebe eintrat.
Als begehrtes Model erschienen ihre Fotos in zahlreichen Illustrierten, wo
sie auch stolz von ihren Jointdrehkünsten und prominenten Affären, unter
anderem Mick Jagger und Jimi Hendrix, berichtete.
Und heute? Seit mehreren Jahren schon wohnt das einstige Groupie bei Los
Angeles und arbeitet als Schmuckdesignerin. Ihre Exzesse und Erfahrungen
wurden letztes Jahr mit dem eher belanglosen Streifen „Das wilde Leben“ auf
die Leinwand gebracht. Für Fotostrecken lässt die inzwischen 61-Jährige nur
noch selten ihre Hüllen fallen – zuletzt für den „Stern“.
waren, alles wunderbar gerechtfertigt
hat. Intellektuelle sind scheißängstlich
und immer spät dran. Wir waren
zusammen ein tolles Team. Deshalb
waren wir beiden die Autoritäten.
Dieter war fast eine andere Generation. Er wirkte so alt auf uns, mit
diesem Bart – wie ein Rübezahl. Ihm
ist übrigens Unrecht getan worden.
Er hat viel mehr Aufmerksamkeit verdient. Er hätte sie so gern gehabt – hat
sie nie bekommen.
Hast du heute eigentlich noch Kontakt zu den
ehemaligen Kommunarden?
Als ich meinen Weg in die Innerlichkeit und zur Spiritualität fand,
haben meine früheren Leute, die ich
so gut zu kennen glaubte, mit denen
ich mein ganzes Bewusstsein und
meine ganze Identität gebildet hatte,
gemeint, dass ich jetzt völlig durchgeknallt wäre.
Fritz Teufel war der Erste und Einzige, der sich bei mir nach 20 Jahren
gemeldet und gesagt hat, dass sie mir
unrecht getan hätten. Die anderen
haben das nicht gemacht. Die finden
mich nach wie vor scheiße und irgendwie blöde und durchgeknallt. Ich bin
ja der große Verräter für die.
ikonen |
Warum wurde sie von den 68ern verehrt?
Uschi wurde zum Sexsymbol einer
ganzen Generation, die sich nach
ungezügelter Freiheit sehnte. Das
Kommunenleben war für sie kein
Ausdruck gesellschaftlichen Protests,
sondern eine tabulose Partygemeinschaft mit Non-Stop-Drogenkonsum.
Mit jeder Menge Charme, nackter
Haut und frechen Sprüchen schaffte
sie es zur attraktiven Medienikone der
Revolte, ohne überhaupt irgendwie
politisch aktiv zu sein.
11
12
mythos68 | April 2008
Axel-Springer-Verlag
Am Stuttgarter Platz entstand in einer
Altbauwohnung die berühmt-berüchtigte Wohngemeinschaft „Kommune
1“. Rainer Langhans und andere Intellektuelle ließen sich hier während der
stürmischen Zeiten nieder. „Der Stutti
hatte einen zwielichtigen Ruf, das war
nicht gerade die Vorzeigeecke von
Charlottenburg. Dort gab’s deshalb
damals relativ große und günstige Altbauwohnungen“, so Eckhard Schmidt.
Im Spätsommer 68 zog die Kommune
dann in eine verlassene Fabrik in
der Stephanstraße 60 in Moabit. Mit
dieser zweiten Phase werden heute
vor allem Sex, Drogen und Musik
in Verbindung gebracht. Die alten
Fabrikräume wurden mittlerweile
renoviert und zu Ferienwohnungen
umgebaut, die man mieten kann. Auf
diesem Weg können auch schwäbische
Reisegruppen das wilde Leben der
Kommune nachspielen.
„Die Presse hat stark polemisiert“, kritisiert Schmidt. Wer damals einen Parka trug, sei schon
allein aufgrund der Kleidung als potenzieller Staatsfeind eingestuft worden. Auch das negative
Bild der Kommune 1 sei dadurch entstanden. Schmidt ist froh, dass im Zuge der Bewegung und
danach mehrere Verlage und Zeitungen gegründet wurden, die dem Springer-Monopol entgegentraten. Besonders durch die massive Hetze der Bildzeitung wurde der Konzern zum erklärten
Feind der 68er. „Als ein paar Leute von der Bewegung die Springerwagen auf dem Parkplatz
angezündet haben, das fand ich zum damaligen Zeitpunkt okay.“ Der Anschlag auf die Transporter der Bildzeitung ereignete sich Kochstraße/Lindenstraße. Umso grotesker ist es, dass ein Teil
der Kochstraße, der direkt am Gebäude des Axel-Springer-Verlags vorbeiführt, Anfang 2007 in
Rudi-Dutschke-Straße umbenannt wurde. Schmidt muss schmunzeln: „Das fand ich im Nachhinein interessant.“ Er habe sich in seinem Leben noch nie eine Bildzeitung gekauft.
Haus der ehemaligen Kommune 1
„Als Benno Ohnesorg von einem Berliner Polizisten
erschossen wurde, gab das dem Ganzen eine politische
Dimension“, erinnert sich Eckhard Schmidt. „Allmählich geriet die Situation außer Kontrolle.“ Das Radio
verbreitete die Nachricht über die Demonstration zum
nahenden Besuch des Schahs von Persien schnell. Der
Treffpunkt: die Deutsche Oper. Der damals Auszubildende beobachtete das Treiben von einer Baumkrone
aus, bis ein Polizist ihn freundlich aufforderte, herunterzukommen. Nach einem Schuss und dem Abtransport des Toten seien die wütenden Demonstranten
dann weiter zum Kurfürstendamm gezogen. Der historische Schuss fiel an der Ecke Krummestraße. Heute
steht hier ein Supermarkt. Die Cornflakes-Packungen
im Regal weisen jede Erinnerung an das tragische
Ereignis von sich.
Schauplatz des Todes von Benno Ohnesorg
13
mythos68 | April 2008
Kurfürstendamm
Im westlichen Zentrum Berlins, die Gegenwart: Menschenmassen strömen den Ku’damm entlang. Sie drängeln und schieben
sich an den Schaufensterauslagen vorbei und konsumieren. Für die Demonstranten der 68er-Bewegung war hier der Ort, um
möglichst viel Aufmerksamkeit zu erregen. „Man traf sich am Kranzler, setzte sich auf die Straße und dann ging gar nichts
mehr“, erinnert sich Eckhard Schmidt heute. „In den Tagen nach dem Tod von Benno Ohnesorg ging die Demo ab. Die Wut der
jungen Leute wurde durch dieses Ereignis schnell entfacht. In den nächsten Tagen hatten die Glaser viel zu tun.“ Eine Menge
Schaufensterscheiben seien zu Bruch gegangen. Insbesondere das Kaufhaus des Westens, kurz KaDeWe, am Wittenbergplatz
wurde zur Zielscheibe des Zorns. „Das KaDeWe war die Inkarnation des Kapitalismus, es war Symbol für die Dekadenz
der Gesellschaft“, beschreibt Schmidt. „Protestaktionen richteten sich immer gegen Institutionen, auch gegen das Amerika
Haus.“ Ursprünglich zur Vermittlung amerikanischer Kultur eingerichtet, wurde das Zentrum in der Hardenbergstraße zum
Treffpunkt militanter Demonstranten gegen den Vietnamkrieg. Zur Zeit ist in dem Gebäude die 68er-Ausstellung der Bundeszentrale für politische Bildung zu besichtigen.
Kaufhaus des Westens
Amerika Haus
spurensuche
Was bleibt übrig? Auf Spurensuche im
Berlin der 68er
Von Lea Gerschwitz und Lene Albrecht
Die Einrichtung der „Dicken
Wirtin“ wirkt wie ein Spagat zwischen
den Zeiten: Ein glänzender PlasmaBildschirm steht inmitten einer dunklen, alten Holzvertäfelung. Die Kneipe
am Savignyplatz hat viele Jahrzehnte
hinter sich. Hier in Charlottenburg,
wo heute die Bürgerlichen West-Berlins durch die Straßen flanieren, war
früher der Szene-Treff der Studenten.
Damals nahm Eckhard Schmidt
gerne hier am Tresen Platz, um über
Hochschule, Politik oder Weltverbesserung zu diskutieren. Heute sitzt er
wieder hier und erinnert sich. Nachdem er vom Gymnasium geflogen
war, machte Schmidt zunächst eine
Ausbildung zum Automechaniker.
Später holte er sein Abitur nach, studierte und arbeitete als Lehrer. Heute
unterrichtet er an einer Berufsschule.
Der damals 17-Jährige hat die 68erBewegung hautnah miterlebt. Im
Gespräch mit ihm begeben wir uns
auf Spurensuche in das Berlin dieser
aufregenden Zeit.
In der „Dicken Wirtin“, nahe des S-Bahnhofs Savignyplatz, lauschte Schmidt damals den
Gesprächen der politisch engagierten Studenten des Otto-Suhr-Instituts der Freien Universität. Auch
Rudi Dutschke und die späteren RAF-Terroristen Andreas Baader und Gudrun Ensslin diskutierten
hier mit. Politik ist immer noch ein zentrales Gesprächsthema: „Joschka Fischer ist kriminell“,
dröhnt es aus einer Ecke der Kneipe. Ein ergrauter Herr hat es sich dort mit einem Bier gemütlich
gemacht und kann nun mit politischen Parolen nicht an sich halten. Zwei Tische weiter wird wild
über die Situation des „kleinen Bürgers“ in der Bundesrepublik diskutiert. Es sind nicht nur die alten
Holztische, die in der „Dicken Wirtin“ ein wenig Nostalgie der 68er versprühen.
Die „Dicke Wirtin“
14
international
mythos68 | April 2008
EXPORTARTIKEL: SEX, DRUGS, LOVE & PEACE
„Sit-ins“, Straßenkrawalle, sexuelle Revolution: Kaum eine andere Protestkultur hat die deutsche Studentenbewegung so sehr beeinflusst wie die der
USA. Doch im „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“ steht 1968 auch für gescheiterte Träume und blutige Konflikte. Von Tino Höfert
Wie antiamerikanisch war die deutsche 68er-Bewegung? Betrachtet man
die vielen Proteste, die sich Ende
der sechziger Jahre gegen die USA
richteten, scheint die Antwort offensichtlich: Die zentrale Parole auf den
Antikriegsdemos lautete: „Amis raus
aus Vietnam!“ Dutzende Male flogen
Eier gegen das Berliner Amerika Haus,
beim legendären Pudding-Attentat
bekam US-Vizepräsident Hubert H.
Humphrey die Kritik der deutschen
Studenten am eigenen Leibe zu spüren.
Und für die Kommune 1 waren die
Amerikaner „arme Schweine, die ihr
Coca-Cola-Blut im vietnamesischen
Dschungel verspritzen“. Die Welt-
macht USA war ein klares Feindbild,
der infame Superlativ des westlichen
Kapitalismus.
Was dabei meist übersehen wird:
Was wären die 68er ohne ihre großen
Vorbilder aus den US-Universitäten
gewesen? Die revolutionären Ideen
importierte man zweifelsohne aus der
amerikanischen Gegenkultur: Emanzipation, sexuelle Freiheit, Aufstand
gegen verstaubte Traditionen. Schon
ab 1964 veranstalteten Studenten
aus Berkeley und New York „Sit-ins“,
besetzten Rektorate und Verwaltungsgebäude. Überregionale Hochschulgruppen wie „Free Speech Movement“
und „Students for a Democratic
Society“ organisierten Workshops,
Diskussionsrunden und zahlreiche
Konzerte. Während die westdeutsche
Studentenbewegung noch auf eine
Initialzündung wartete, brach die
kulturelle Umwälzung in den USA
wie eine Welle über das Land herein
– getragen von den psychedelischen
Revolutionsklängen der kalifornischen
Blumenkinder, die ihre Botschaft von
„Make Love, Not War!“ in die gesamte
Welt verbreiteten. Sex, Drugs, Love
& Peace entwickelten sich zu hervorragenden Exportartikeln – auch nach
Deutschland.
Doch die Träume von Liebe und
Frieden fanden ein jähes Ende: Am
Abend des 4. April 1968 wurde Martin
Luther King von einem weißen Attentäter in Memphis niedergeschossen.
Mit dem Tod des schwarzen Bürgerrechtlers starben die Hoffnungen
von Millionen Afroamerikanern auf
Gleichberechtigung. Wie so oft gipfelte
die Wut in fataler Gewalt: Plünderungen, Straßenschlachten, unschuldige Opfer. Knapp zwei Monate später
das zweite Attentat: Der demokratische
Präsidentschaftskandidat Robert F.
Kennedy wurde erschossen. Amerikas
Obrigkeit schien machtlos – und auch
die studentische Protestkultur musste
in diesen Tagen die Grenzen ihrer
Weltverbesserungsträume erkennen.
Auf der Suche nach dem Duft der Sommerwiese
San Francisco zwischen Hippie und Heute. Von Markus Hujara
An manchen besonderen Tagen
kannst du sie noch sehen. Im GoldenGate-Park zwischen den großen alten
Bäumen. Dort, wo nur schmale bleiche
Sonnenstrahlen durch den Nebel blinzeln. Folge dem Geruch einer frisch
gemähten Sommerwiese, und dann
stehen sie plötzlich vor dir. Seine Haare
wild, die Instrumente selten. Ihr Busen
blank und Blumen im Haar. Und von
irgendwoher fährt ein Einradler quer
durch das Panorama.
Sicher, der Tanz des verrückten AltHippie-Paares, er darf nicht fehlen
– wie das wohlige Schein-Schrecken
von Alcatraz, die Freiheits-Brise auf der
Golden-Gate-Bridge und die Ledertunte im Schwulenviertel Castro, die
genüsslich an einem Melonen-Martini
schlürft.
Doch was ist geworden aus dem
Traum einer Generation, einem
Lebensstil, der doch gerade die Negation von Marke, das Gegenteil von
Schublade sein wollte, wenn „Hippie-
ikonen |
Martin Luther King Jr.
(1929 – 1968)
„Ich habe einen Traum, dass
meine vier Kinder eines Tages in
einer Nation leben
werden, in der
man sie nicht nach
ihrer Hautfarbe,
sondern nach
ihrem Charakter
beurteilen wird.“
Culture“ gleich neben der Bimmelbahn als besonderes Highlight der
Touri-Tour angepriesen wird?
Tatsächlich hat diese Stadt den Duft
der Freiheit zu lange inhaliert. Er steckt
zu tief in ihren Poren, als dass sie ihn
jemals wieder auswaschen könnte.
Sie begleitet, nein, sie bestimmt ihr
Schicksal. Ohne ihn wäre die Emanzipation kaum zu denken, die SchwulenBewegung kaum zu verstehen. Diese
Stadt – sie ist die Stadt des gelebten
Ego-Imperativs: SEI, WIE DU SEIN
WILLST! Die anderen schauen dir
dabei zu. Oder eben auch nicht. Wie
selbstverständlich die Bewohner von
„The City“ mit all den Freidenkern
und Aussteigern, Durchgeknallten und
Verrückten, Gescheiterten und Hilfesuchenden gleichermaßen umgehen
– es ist beeindruckend. Die Grenzen
zwischen bedingungsloser Liberalität
und gesellschaftlicher Gleichgültigkeit
sind dabei fließend. Natürlich darf
musiziert werden, was die fernöst-
lichen Instrumente hergeben, doch
genauso stört sich niemand am zum
Himmel stinkenden Obdachlosen, der
täglich vom Sozialamts-Sicherheitsdienst zurück auf die Straße geschickt
wird. Einmal gut durchlüften, einmal
das Duftspray kräftig in den Wartesaal
halten, und alles war nur ein böser,
nasaler Traum.
So ist San Francisco nicht nur
gelebte Freiheit, sondern auch eine
ganz normale US-amerikanische
Metropole mit ihren sozialen Ungerechtigkeiten, ignorierten Problemen und natürlich ihrem ureigenen
Kapitalismus. Kult und Mythos, das
ist eben auch Mehrwert und Profit.
Und so ist Haight-Ashbury, jenes
legendäre Straßenkreuz, wo der Ruf
der Hippies zum ersten Mal vernommen und in die Welt hinaus gesendet
wurde, inzwischen eingekreist von
„hippen“ Designerläden. Wer hier in
den pseudo-alternativen Shops einkauft, muss für das Batik-Shirt tief in
die Tasche greifen, um sich so frei und
unbeschwert zu fühlen wie die Vertreter einer früheren Generation, denen
scheinbar noch Liebe, Frieden, eine
verstimmte Gitarre und ein bisschen
LSD zum Glück gereichte.
Doch wie wunderbar lässt sich das
alles vergessen, wenn im Park wieder
die Bühnen aufgebaut, die Peace, Pace,
Rainbow und Earth-Fahnen gehisst
werden, die Jongleure kommen, die
Veggie-Burger bruzzeln, die Kinder
tanzen und bunte Seifenblasen blasen.
Der Hippie braucht wohl in allen
Zeiten das Ereignis, das Gemeinschaftsgefühl. Er sucht die Masse, um
das Freisein zu finden.
Die Verstärker drehen auf. Ist es
Reggae oder Rock ‘n’ Roll – egal. Du
bist glücklich. Und langsam, ganz langsam steigt er an dir hinauf, du kannst
ihn spüren, um dich, in dir. Du atmest
ihn tief ein, immer tiefer, den Duft
einer frisch gemähten Sommerwiese.
Der friedliche Friedensstifter
Wer war er? Der Pastorensohn aus Atlanta entwickelte sich in den 60er Jahren
zur Galionsfigur der schwarzen Bürgerrechtsbewegung. Der brillante Rhetoriker – er hielt bis zu 200 Reden pro Jahr – organisierte dutzende Demos
und Protestaktionen für die Rechte der Afroamerikaner. Und zwar mit
Erfolg: 1964 wurde das Gesetz zur Aufhebung der Rassentrennung verkündet. Obwohl die Kennedy-Brüder zu seinen größten Förderern gehörten,
geriet King immer wieder ins Fadenkreuz von FBI, Justiz und Ku-Klux-Klan.
Am 4. April 1968 wurde dem Friedensnobelpreisträger sein mutiges Engagement zum Verhängnis: Auf dem Balkon eines Motels in Memphis fiel er
einem Attentat zum Opfer.
Warum wurde er von den 68ern verehrt? Als
„Schwarzer Gandhi“ bewies King eindrucksvoll, dass man durch friedlichen Widerstand
politische Veränderungen erreichen kann. Ob
der Busboykott von Montgomery oder der
berühmte Marsch nach Washington: Kings
Aktionen stärkten nicht nur das Selbstbewusstsein von Millionen Schwarzen, sondern
beeinflussten auch die studentische Protestkultur.
Und heute? Fest steht: Ohne King hätte Präsidentschaftskandidat Barack Obama wohl niemals eine Chance, ins Weiße Haus
einzuziehen. Erst Jahrzehnte später erkannte Amerikas Obrigkeit die historische Bedeutung des Bürgerrechtlers an. Pikant: Sein
Tod wurde nie vollständig aufgeklärt.
mythos68 | April 2008
international
15
Die zweite Revolte am Öresund
Ausgang des „Freistaat Christiania“: Autonomes Gebiet mit eigenen Regeln
Als der junge Politaktivist Jacob
Ludvigsen im September 1971
den Freistaat Christiania auf einem
verlassenen Kasernengelände im
Kopenhagener Hafen ausrief, war
die studentische Protestbewegung
auch in Dänemark bereits in vollem
Gange. Im April 1968 hatten rund
100 Psychologiestudenten Teile der
Kopenhagener Universität besetzt, um
gegen die hierarchischen Strukturen
innerhalb des Hochschulsystems zu
protestieren. Dem Studenten Finn
Ejnar Madsen gelang es gar, während des jährlichen Universitätsfests
das Rednerpult zu erobern und in
Anwesenheit der Königsfamilie eine
flammende Rede gegen die Klassengesellschaft zu halten.
So gesehen kann auch in Dänemark
das Jahr 1968 als Geburtsstunde der
Studentenbewegung gesehen werden,
die zeitgleich in den USA und in
großen Teilen Europas eine ganze
Generation politisierte. Dennoch
wird in Dänemark nur selten von „den
68ern“ gesprochen. Ein Grund dafür
mag sein, dass die entscheidenden
Ereignisse des dänischen „Jugendaufruhrs“, wie die Bewegung in der
dänischen Sprache zumeist bezeichnet
wird, einige Jahre später stattfanden.
Stark vom Woodstock-Geist inspiriert zogen im Sommer 1970 tausende
vor allem aus der Hauptstadt stammende junge Leute nach Thy, einem
entlegenen Landstrich im nördlichen
Jütland, um das erste dänische Rockfestival zu besuchen. Viele blieben,
lebten fortan eine Art Kommunenleben in der freien Natur und huldigten
dem einfachen Lebensstil und der
freien Sexualmoral.
Das bedeutendste Ereignis innerhalb der dänischen Bewegung ist
jedoch die Besetzung der Kopenhagener „Bådmandsstrædes Kaserne“ im
September 1971, die bis heute weit
über die Grenzen Dänemarks hinaus
unter dem Namen „Freistaat Christiania“ bekannt ist. Die Christianiter, wie
sich die Bewohner des Areals nennen,
betrachten ihren Freistaat als ein autonomes Gebiet mit eigenen Regeln und
Gesetzen. Obwohl das Gelände immer
noch dem Staat Dänemark gehört,
wurde das bunte Treiben in dem
naturschön gelegenen Alternatividyll
von offizieller Seite rund 30 Jahre lang
toleriert. Die Bewohner errichteten
eigene Häuser, die seither Architekten aus aller Welt inspiriert haben.
Werkstätten, Lokale und Geschäfte
wurden eröffnet. Weltweite berühmt
ist der Freistaat nicht zuletzt deswegen,
weil bis vor kurzem der Verkauf von
Cannabis auf dem Gelände toleriert
wurde. Christiania gilt als eine der
beliebtesten Tourismusattraktionen
der dänischen Hauptstadt und hat
maßgeblich dazu beigetragen, dass
Dänemark über Jahrzehnte hinweg in
weiten Teilen der Welt als besonders
liberales Land wahrgenommen wurde.
Und auch manch ein Kopenhagener,
der sich nicht unbedingt zur linken
Szene zählen würde, genießt insgeheim
Spaziergänge auf dem naturbelassenen
Uferareal inmitten der Großstadt.
37 Jahre nach der Besetzung der
Kaserne ist es nicht mehr vorrangig
der liberale Umgang mit alternativen Freiräumen wie Christiania, der
das Bild vom politischen Dänemark
prägt. Brennende Dänenflaggen
und Botschaften in den arabischen
Ländern haben sich in den Vordergrund gedrängt. Doch es wäre zu
kurz gegriffen, diese Geschehnisse
lediglich als Protest gegen die provokanten Mohammed-Karikaturen
einer dänischen Tageszeitung zu
interpretieren. Die politische Kultur
des einst liberalen Musterlandes im
In seiner Neujahrsansprache vom Jahr 2002 kündigte der neu
gewählte dänische Ministerpräsident Anders Fogh Rasmussen der
aus seiner Sicht „linken Meinungstyrannei“ den Kampf an. Doch
längst nicht alle Dänen sind mit dem neokonservativen Kurs der
Rechtsregierung einverstanden. Spätestens seit dem Abriss des
alternativen Jugendzentrums „Ungdomshuset“ in Kopenhagen
vor gut einem Jahr formiert sich eine neue kritische Jugendbewegung. Die jungen Leute verteidigen Normen und Werte, die
ihre Eltern in den Jahren nach 1968 erstritten haben.
Von Ebbe Volquardsen
Norden befindet sich spätestens seit
der Parlamentswahl von 2001 im
radikalen Wandel.
Nur wenige Monate nach seiner
Wahl blies Ministerpräsident Anders
Fogh Rasmussen, dessen rechtsliberalkonservative Minderheitsregierung
sich seither auf die Stimmen der
rechtspopulistischen Dänischen Volkspartei stützt, zum Kulturkampf. Damit
ist nicht nur die Auseinandersetzung
mit der muslimischen Minderheit
im Land gemeint, die sich nach Verabschiedung des europaweit restriktivsten Zuwanderungsgesetzes sowie
der Etablierung immer härterer und
zuweilen offen rassistischer Debatten
in Teilen zunehmend radikal gebärt.
Vielmehr bemüht sich der Regierungschef des über Jahrzehnte hinweg sozialdemokratisch geprägten Dänemarks,
die seiner Ansicht nach linkslastige
Bildungselite zu einer grundsätzlichen
Wertedebatte herauszufordern.
Ein Freiraum wie Christiania findet
keinen Platz im Kulturverständnis
der Rechtsregierung. Durch intensive
Razzien wurde der laxen Drogenpolitik der Christianiter ein Riegel
vorgeschoben. Auch die Existenzberechtigung des gesamten Projekts
wurde immer wieder in Frage gestellt.
Bald schon werden die ersten Häuser
auf dem besetzten Kasernengelände
neuen Appartements mit Meeresblick
weichen.
In einer Linie mit der ChristianiaPolitik der dänischen Regierung
steht der Abriss des Kopenhagener
Jugendzentrums „Ungdomshuset“ vor
gut einem Jahr. Wie Christiania war
auch das „Ungdomshuset“ eine der
Institutionen linker Alternativkultur
in Dänemark. Auch in den deutschen
Nachrichten wurde ausführlich über
die manchmal gewalttätigen Proteste
im Zusammenhang mit der Räu-
mung berichtet. In der Tat lieferten
sich junge Leute aus der autonomen
Szene mehrere Tage in Folge Straßenschlachten mit der Polizei. Was
angesichts der Bilder von brennenden
Autos und zerschmetterten Schaufenstern zumeist übersehen wurde, waren
die vielen friedlich demonstrierenden
Menschen, die in jenen Tagen ihrer
Unzufriedenheit nicht nur mit der
Räumung, sondern mit der gesamten
politischen Situation zum Ausdruck
brachten. Der Abriss des „Ungdomshuset“ ist somit lediglich als Auslöser,
nicht jedoch als Ursache für das Aufkeimen dieser neuen Jugendbewegung
zu bewerten.
Es wird vermutet, dass die gewalttätigen Ausschreitungen im Zuge der
Räumung manchem dänischen Innenpolitiker nicht ungelegen kamen.
Auf diese Weise war es möglich, die
Demonstranten als chaotische Krawallmacher abzustempeln, derer man
schnell Herr werden musste. Doch
die friedlichen Proteste dauerten an.
So sah man auch in den folgenden
Wochen 15-jährige Jugendliche Seit
an Seit mit ihren Eltern für mehr
kommunale Mitbestimmung und
kulturelle Freiräume demonstrieren.
Ein gutes Jahr nach den Demonstrationen für das „Ungdomshuset“ ist
festzustellen, dass die dänische Jugend,
wie schon einmal vor 40 Jahren, politisiert ist. Nach sieben Jahren nationalkonservativer Kulturpolitik scheint
es, als sähen viele junge Leute den
liberalen Zeitgeist, für den ihre Eltern
in den Jahren nach 1968 auf die Straße
gingen, in Gefahr. Viele sind offenbar
bereit, die damals erstrittenen Werte
zu verteidigen. Die oftmals beklagte
Politikverdrossenheit der Jugend ist
zumindest in Dänemark zu einem
Kapitel in den Geschichtsbüchern
geworden.
16
international
mythos68 | April 2008
Allons enfants de la patrie!
Von Franziska Deregoski
Die politisch orientierten Studenten
Frankreichs gehörten nicht zu jenen,
die eine sexuelle Revolution planten.
Ihr erklärtes Ziel war, die Menschen
dieses Landes von den Ideen der
„revisionistischen Führer“ loszureißen,
ihnen die Augen zu öffnen. Die Revisionisten, das waren die Vertreter der
Kommunistischen Partei Frankreichs
unter Waldeck Rochet, die dem Kurs
der Regierung folgten; in den Augen
der Studenten unglaubwürdige Verrä-
ikonen |
Ho Chi Minh
(1890 – 1969)
„Nichts ist kostbarer als
Unabhängigkeit und Freiheit.“
ter, die die Lehren Marx, Lenins und
Mao Zedongs vernachlässigten.
Der erste Schritt zur Verwirklichung der Ziele der Studenten war
die Gründung der Kommunistischen
Marxistisch-Leninistischen Partei
Frankreichs (FCML). Wie in der proletarischen Kulturrevolution Chinas
wollten die marxistisch-leninistischen
Studenten im Gegensatz zu Frankreichs alteingesessenen Kommunisten
durch Generalstreiks eine Diktatur des
Proletariats errichten. Zwei Parteien
gleicher politischer Orientierung also,
die ihr Dogma vom „Kommunismus“
jedoch sehr verschieden auslegten.
Am 11. März 1968 standen die
Revolutionäre auf der Rue Gay-Lussac
im Quartier Latin und blickten auf
das, was von den Kämpfen der vergangenen Nacht noch übrig war. In
der „Nacht der Barrikaden“ hatten
sie dem Staat die Stirn geboten, bis
die Ordnungshüter sie mit Tränengas
zurückdrängten. Einige von ihnen
wurden verhaftet, viele verletzt. Auf
Dauer, propagierten sie, wird die Herrschaft der „kapitalistischen Monopolbourgeoisie“ durch den Ansturm des
Volkes hinweggefegt werden. Sowohl
Studenten als auch Arbeiter wollten
weiterkämpfen, um Frankreich eine
zweite Revolution zu bringen.
Der vietnamesische Volksheld
Wer war er? Aus einfachen Verhältnissen stammend, erkannte der junge Ho Chi
früh die Ungerechtigkeit der französischen Kolonialbesatzung Vietnams. Auf
seiner mehrjährigen Weltreise studierte er an der Moskauer Universität und
lernte französische Sozialisten kennen, die ihn mit den Schriften von Marx
und Lenin vertraut machten. Als eifriger Jungrevolutionär zurückgekehrt,
gründete Minh 1930 die Kommunistische Partei Vietnams und zog mit der
ländlichen Bevölkerung in den bewaffneten Widerstand. 1945 wurde Nordvietnam unabhängig, und der Freiheitsheld blieb bis zu seinem Tod Präsident.
Warum wurde er von den 68ern verehrt? Ho Chi
Minh war der Prototyp Che Guevaras – nur
ohne Zigarren und Barett. Der vietnamesische Revolutionär etablierte als erster den
Kommunismus außerhalb der Sowjetunion.
Sein politisches Hauptziel: Der konsequente
Kampf gegen westlichen Kapitalismus, Kolonialismus und Vietnams Teilung.
Und heute? In seiner asiatischen Heimat wird der einstige „Vater der Nation“ – der selbst jedoch nie Kinder hatte – immer noch
wie ein Heiliger verehrt. Aber in Europa? Fast in der Bedeutungslosigkeit verschwunden. Für eine posthume Karriere als Vermarktungssymbol fehlte dem Mann mit dem markanten Kinnbart wohl einfach der jugendliche Charme.
Fotograf
Kameramann
Redakteur
Moderator
Journalist
Medienmacher .
www.jugendpresse.de
mythos68 | April 2008
theoretisch
17
Am Ende auch Praxis
Was ein Diskussionsabend über das Selbstverständnis der 68er lehrt. Von Urszula Wozniak und Josephine Ziegler
„Das Kapital“ von Karl Marx, Herbert Marcuses „Der eindimensionale
Mensch“ oder Wilhelm Reichs „Die
Funktion des Orgasmus“ – stapelweise
türmten sich diese und andere Bücher
in den Zimmern der 68er. Die Seiten
sind abgegriffen und haben unzählige
Eselsohren. Bis tief in die Nacht
diskutierten die Studierenden in
Lesezirkeln. So jedenfalls will es das
gängige Klischee.
„Bücher spielten für das Selbstverständnis der Bewegung eine zentrale
Rolle“, sagt über diese Zeit auch der
Sozialphilosoph Oskar Negt. Gemeinsam mit dem Politikwissenschaftler
Heinrich Oberreuter sollte er am 13.
März über das theoretische Selbstverständnis der 68er diskutieren. Die
Veranstaltung unter dem Titel „Am
Ende nur Praxis?“ fand im Rahmen
der Ausstellung „68 – Brennpunkt
Berlin“ der Bundeszentrale für politische Bildung im Amerika Haus
statt. Um Berlin aber geht es an
diesem Abend wenig. Und auch die
ANZEIGE_FLUTER_MÄRZ08
28.03.2008
Theorie hat es, angesichts manch weit
ausholender Schilderung Oberreuters,
seinerzeit wissenschaftlicher Mitarbeiter am Geschwister-Scholl-Institut
der Universität München, manches
Mal schwer, sich zu behaupten. Auch
Negt, der damals Assistent von Jürgen
Habermas in Frankfurt/Main war,
zeigt sich als erinnerungsreicher Zeitzeuge. Eine kontroverse Diskussion
zwischen den beiden mag aber nicht
so recht in Gang kommen.
Dennoch erfährt mensch einiges
über das „Selbstverständnis der 68er“.
Schnell wird klar, dass dieses Selbstverständnis nicht vor den gut gefüllten
Sitzreihen der Bühne Halt macht. Im
Gegenteil: Einleitend stellt der Journalist Stefan Reinecke, der den Abend
moderiert, Themen und Bücher der
68er vor. Er nennt Schlagworte wie
Kritische Theorie, Demokratisierung
und Feminismus. Das Publikum
protestiert sogleich ungefragt: „Was
ist mit Ernst Bloch?“, „Schon mal
was von Karl Marx gehört?“ Die
15:04 Uhr
Seite 1
Zwischenrufer, alle älteren Semesters,
scheinen sich um einige Aspekte ihrer
ganz persönlichen Lektüre von damals
betrogen zu fühlen. Sehr biografisch
geprägt sind auch die nächsten Wortmeldungen aus dem Publikum.
„Worin aber besteht die Aktualität
der theoretischen Vordenker der
Bewegung?“ Stefan Reinecke versucht
noch einmal, die Diskussion auf dem
Podium in Gang zu bringen. Oskar
Negt fällt sogleich sein eigenes Buch
„Öffentlichkeit und Erfahrung“ ein,
das ja wohl nicht ohne Grund eben erst
ins Französische übersetzt worden sei.
Darüber hinaus seien Marx’ Thesen
aktueller denn je: „Zum ersten Mal in
der Geschichte haben wir heute einen
funktionierenden Kapitalismus, so wie
Marx ihn beschrieben hat.“ Oberreuter pflichtet dem bei und spricht
mit Sorge über die zunehmende
Ökonomisierung aller Lebensbereiche.
„Entfremdung“ und „Eindimensionalität“, das sind für Negt und Oberreuter keine verstaubten Vokabeln.
fluter.de
Das Jugendmagazin „fluter“
erscheint vier Mal im Jahr. Das
Online-Magazin „fluter.de“ präsentiert täglich neue Beiträge
und Diskussionen, wöchentlich
Film- und Buchbesprechungen,
Aktuelles und monatliche
Themenschwerpunkte.
Es sind Symptome, wie sie in unserer
heutigen, vermeintlich pluralistischen,
Gesellschaft auftreten. So verstanden
tritt Theorie als alltägliche Praxis auf,
als „Kritik mit dem Glauben an Veränderung“, so Negt.
Etwa als die Praxis eines Publikums,
das sein Rederecht einfordert. Und
dies umso lauter, als der Moderator
um knappe Fragen bittet. „Warum
wird das Publikum zum Fragesteller
degradiert?“ – „Ist es nicht journalistische Bequemlichkeit, sich nur mit
dem deutschen Kontext zu beschäftigen?“ Und „warum sind es immer
nur die Männer“, die ihre Stimmen
zum Thema erheben? Das „nur“ im
Veranstaltungstitel kann getrost ersetzt
werden: Am Ende auch Praxis.
„Es gab die Theorie genauso wenig
wie die 68er“, so Oberreuter. Dass die
Experten zu 68 nicht nur auf der Bühne
zu suchen sind und sich die Theorien
über den Köpfen vieler verstreuten, das
zeigte der Abend allemal.
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theoretisch
mythos68 | April 2008
Nach dem Ende der Utopie
Der Sozialphilosoph Herbert Marcuse war für
die deutsche und die amerikanische Studentenbewegung von zentraler Bedeutung. 40 Jahre
nach 68 ist seine Warnung vor dem „eindimensionalen Menschen“ immer noch aktuell – und
weitgehend vergessen.
Von Franziska Langner, Janna Schlender,
Urszula Wozniak
40 Jahre später:
Eindimensionaler Mensch oder
gelungene Befreiung?
ikonen |
Die Sozialforscher der
„Frankfurter Schule“
„Die rastlose Selbstzerstörung der Aufklärung
zwingt das Denken dazu,
sich auch die letzte
Arglosigkeit gegenüber
den Gewohnheiten und
Richtungen des Zeitgeistes
zu verbieten.“
(Theodor W. Ad)
2008. Pia ist aufgeregt, ihr ist
schlecht. An den Schläfen spürt sie
ein heißes Kribbeln. Sie studiert
Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin und steht kurz vor ihrer
Zwischenprüfung. Eigentlich hätte sie
sich damit lieber noch Zeit gelassen,
aber auf diese Weise ist sie schneller als
viele ihrer Kommilitonen – und unter
der Regelstudienzeit.
Mehr leisten müssen, um mehr
erreichen zu können. Ein Mantra, das
heutzutage nicht nur Pia antreibt, während sie zielstrebig auf das Schwarze
Brett zusteuert, um sich durch das
Dickicht der Praktikumsangebote zu
kämpfen.
Die Anforderungen möglicher
Arbeitgeber sind vielfältig: Praktika,
Fremdsprachenkenntnisse, Auslandserfahrung. Pia möchte als nächstes nach
Shanghai. „Dann stehen mir wirklich
alle Türen offen“, meint sie. In den
hohen Ansprüchen dieser Tage sieht
sie Möglichkeiten.
„Sie können jede Farbe haben,
solange es schwarz ist“, hat Henry Ford
einmal gesagt. Für den Philosophen
Herbert Marcuse war dieser Satz
Ausdruck seiner Theorie vom „eindimensionalen Menschen“, der glaubt,
alles haben zu können, am Ende aber
nur an die Gesellschaft angepasst lebt.
Hätte Pia gut 40 Jahre früher an der
FU studiert, wäre sie Herbert Marcuse
vielleicht begegnet.
So wie Luise, die an einem warmen
Julitag im Jahr 1967 im brechendvollen Hörsaal sitzt. Auch sie ist
aufgeregt, aber schlecht ist ihr nicht.
Wochenlang hat sie zusammen mit
dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund SDS Flyer gedruckt, über
Nächte hinweg an Fragen und Formulierungen gefeilt. Auch Luise will
etwas erreichen, aber nicht innerhalb
des Systems, in dem sie lebt. Sie will
es verändern.
Endlich, nach langer Vorbereitung,
betritt Marcuse das Podium. Vier
Abende in Folge spricht er zu und
mit den Studenten. Über die Utopie,
die eigene Gesellschaft grundlegend
verändern zu können, über die Unfähigkeit, Veränderungen umzusetzen.
Er wird nicht müde, die Studenten zu
ermuntern, selbst ihre Beiträge zu leisten, und er diskutiert mit ihnen seine
Theorien. „Wogegen ist die Studentenopposition gerichtet?“, fragt Marcuse, da wir doch scheinbar in einem
freien, demokratischen Land leben.
Gegen die herrschenden Institutionen,
durch deren Interessen unsere wahren
Bedürfnisse unterdrückt werden, antwortet er im selben Atemzug. Aber
anders als viele radikalere Denker sieht
er einen Teil der Schuld bei jenen, die
sich freiwillig unterdrücken lassen.
Mehr als alles andere predigt Marcuse
die Vernunft. Luise ist fasziniert von
seinen Worten. Hunderte Male hat
sie seinen Aufsatz Repressive Toleranz
gelesen und stimmt mit ihm überein,
dass wir allzu bereitwillig an die Freiheit der Entscheidung glauben, ohne
zu hinterfragen, ob es diese wirklich
gibt.
Herbert Marcuse spielte für Luise
und die Studentenbewegung der 60er
eine entscheidende Rolle. Er wünschte
sich eine Welt, in der Technik und
Kunst, Arbeit und Spiel miteinander
einhergehen, stellt Freude und Glück
über die Angst vor Veränderungen.
Aber er weiß auch, wie angenehm und
sicher es scheint, die bestehende Gesellschaft nicht zu hinterfragen.
Pia hat heute, 40 Jahre später, von
Marcuse noch nie etwas gehört. Sie
glaubt, alle Freiheiten zu haben, um
ihre Zukunftswünsche zu verwirklichen. Wie tausend andere nimmt sie
unbezahlte Praktika, verschulte und
verwirtschaftlichte Studiengänge als
selbstverständlich hin, als Notwendigkeit, den späteren Traumjob zu
bekommen. Für Pia wären Luises
Vorstellungen und ihre Wünsche
nach der Veränderung der eigenen
Gesellschaft utopisch. Das waren sie
für Marcuse und Luise auch. Aber
Herbert Marcuse war sich sicher, dass
man aufhören muss, tiefgreifende
gesellschaftliche Veränderungen als
Utopie zu bezeichnen. Nur mit einem
solchen „Ende der Utopie“ bestand für
ihn die Möglichkeit zum Wandel.
Die Chefideologen
Wer waren sie? Als „Frankfurter Schule“ wird der intellektuelle Kreis von Soziologen und Philosophen bezeichnet,
der sich kritisch mit den Missständen der modernen
Industriegesellschaft auseinandersetzte. Zu den einflussreichsten und bekanntesten Vertretern gehörten Max
Horkheimer (1895 – 1973), Herbert Marcuse (1898 –
1979), Theodor W. Adorno (1903 – 1969) und Jürgen
Habermas (*1929). Der Name geht zurück auf den geografischen Ursprung der Gesellschaftskritiker, das Institut
für Sozialforschung in Frankfurt. Kern ihrer Forschungen
war die Auseinandersetzung mit Ideen des Marxismus in
Bezug auf die veränderten gesellschaftlichen Verhältnisse.
Als Hauptwerke der Frankfurter Schule gelten „Dialektik
der Aufklärung“, „Der eindimensionale Mensch“ und
„Minima Moralia“.
Und heute? Inzwischen gehören die Texte von Marcuse und Co. zum Standardrepertoire der Gesellschaftswissenschaften. Doch gibt es ein greifbares Erbe? Wohl, dass nachfolgende Generationen immer aufs Neue ihr soziales
Umfeld kritisch betrachten und hinterfragen.
Warum wurden sie von den 68ern verehrt? Straßenkrawalle zu führen und Uni-Rektorate zu
besetzen war das eine – klare Vorstellungen
einer besseren Welt zu vertreten und zu
diskutieren etwas anderes. In den Essays und
Vorträgen der Sozialforscher erkannte die
Studentenbewegung von 68, wovon sich die
Gesellschaft befreien müsse: Kapitalismus,
Naturbeherrschung, autoritäre Strukturen.
Auf vielen Vortragsreisen ermutigten sie die
Studenten dazu, die Umgestaltung ihrer
Lebenswelt selbst in die Hand zu nehmen.
Die Theorien der Frankfurter Schule hatten
entscheidenden Einfluss auf den SDS und die
APO. So vermerkte Rudi Dutschke einmal in
seinem Tagebuch: „Unsere Strömung ohne ihn
[Marcuse] – wer kann es sich ganz denken?
Ging uns bei Ernst Bloch ähnlich, beide aber
werden unsere Generation nie verlassen.“
mythos68 | April 2008
19
universitär
Freie Universität, Studentenprotest – ohne die Hochschulen wäre
68 nicht denkbar gewesen. Und heute? Wir begeben uns auf
Spurensuche an die Quelle der Studentenbewegung, zum OttoSuhr-Institut. Von Josephine Ziegler
Der erste Takt verwirrt die Studenten noch. Verdis Requiem erhebt
sich pathetisch und erfüllt den Hörsaal.
Vielleicht haben sie Ton Steine Scherben erwartet, gewiss keine Klassik.
Feierlich tritt eine kleine Prozession
ins Blickfeld. Würdevoll schauen die
jungen Frauen und Männer drein,
sie tragen schwarze Anzüge und
Blazer, ihr Haar ist geschniegelt. Als
die Musik verstummt, beginnt ihr
Anführer zur Vollversammlung zu
sprechen. Er betont, wie gut sich die
Freie Universität Berlin (FU) unter
der Führung ihres Präsidenten Dieter
Lenzen entwickelt hat. In einer Grafik
ist zu sehen, wie die Eliteförderung
noch weitergehen soll: die Anzahl der
Studenten auf Dauer mindern, den
niederen Bachelor nur noch an der
Humboldt-Uni abnehmen. Die Studenten lachen. Sie verstehen die Ironie
des Dieter-Lenzen-Fanclubs, der hier
auftritt. Aber die Essenz seiner Worte
ist bitterernst.
Die Konzepte des Präsidiums sind
es, gegen die sich dieser Aktionstag an
der FU im Januar 2008 richtet: verschärfte Zulassungsbedingungen, Leistungsdruck und Fächerzwang durch
Bachelor und Master, Schließung von
Instituten, auslaufende Studiengänge,
Wegrationalisieren von Büchermassen.
Die Studenten begehren gegen die
fortschreitende Verwirtschaftlichung
der Uni auf. „Tu nichts Unnützes“,
„Denk an deinen Lebenslauf“, „Schalte
deine Konkurrenz aus“ – so geben
Aufkleber überall auf dem Campus
in Dahlem dem Unmut der Studis
Ausdruck. Sie wollen weiter selbstbestimmt und nicht an einer „Denkfabrik“ studieren, die Nachschub für
die Wirtschaft liefert. Die Reformen
gehen für sie in die falsche Richtung.
Es sind zu viele, die zu schnell und
ohne Mitbestimmung der rund 30.000
Studenten vorangetrieben werden.
Schon beim Protest der FU-Studenten seit 1967 spielten Reformen
eine Rolle. In ihren Augen war es
längst überfällig, die Strukturen und
Konventionen zu erneuern. „Was das
Ganze zu einer Bewegung machte,
waren die Reaktionen derer, die wir das
Establishment nannten“, erinnert sich
Bodo Zeuner, emeritierter Professor
des Otto-Suhr-Instituts für Politikwissenschaft (OSI), damals Assistent. Kritische Vorträge an der FU verhinderte
der damalige Hochschulrektor Herbert
Lüers, und die Polizei reagierte nicht
nur bei Demos über, sondern auch,
als sie massenhaft Studenten aus dem
Henry-Ford-Bau trug, um das erste
Sit-in Deutschlands aufzulösen.
Lichtdurchflutet steht der 50erJahre Bau in der Wintersonne 2008.
Vier Männer fallen auf. Sie stehen in
und vor dem Bau, drehen ab und an
eine Runde. „Zivilpolizisten“ munkelt man in der Fachschaftsinitiative
des OSI. Ganz in der Nähe trifft sie
die letzten Vorbereitungen für den
Aktionstag. Etwa hundert bunte Luftballons hängen unter der niedrigen
Decke im Roten Café, einer besetzten
und alternativ bewirtschafteten Villa.
Die Ballons sollen im Henry-FordBau steigen. Doch wie reinkommen?
Zwei Eingänge sind abgeschlossen, die
anderen scheinen bewacht. Drei junge
Männer erklären sich zum Ablenkungsmanöver bereit. Vermummt
rennen sie los. Mit gerunzelter Stirn
schaut ein vermeintlicher Zivilpolizist
ihnen nach. Die Szene hat nichts
Kriminelles mehr, als kurz darauf die
bunten Ballons in der Morgensonne
steigen. Harmlos und fröhlich hängen
sie unter der hohen Decke zwischen
den Bildern berühmter FUler, darunter
Rudi Dutschke. Ernst blickt er auf die
Papierstudenten, die, an jedem Ballon
erhängt, dann doch den Protest in der
Spaßaktion entlarven.
Meist sind es die Politikstudenten,
die aktiv werden. Auch die Wahlbeteiligung zum Studierendenparlament
(StuPa) ist am Fachbereich überdurchschnittlich hoch. Insgesamt liegt sie an
der FU nur bei 11 Prozent, und das seit
Jahren. „Die Resignation in Bezug auf
die Frage, ob man durch eigenes Handeln überhaupt etwas verändern kann,
ist wohl gestiegen“, sagt Bodo Zeuner.
In der Tat gehen die Mitbestimmungsrechte des StuPa heute gegen null.
Dabei ist es das letzte Rudiment des
Modells Gruppenuniversität.
Als 1968 das OSI aus Protest gegen
die Notstandsgesetze besetzt war,
nutzten alle Beteiligten, von den
Studenten bis zum Institutsrektor, die
Situation, um die „verknöcherten Universitätsstrukturen“ zu reformieren.
Weitreichende Mitbestimmungsrechte
für Studenten wurden erkämpft. Das
Modell diente als Vorbild für das
neue Hochschulgesetz von 1969,
ist heute aber wieder weitgehend
abgeschafft. Die Tradition, in der die
FU steht – 1948 von Studenten aus
Protest gegen die von den Sowjets
indoktrinierte Hochschullehre der
heutigen Humboldt-Universität ins
Leben gerufen – sie scheint nicht mehr
präsent zu sein.
Ist die neue Studentengeneration
wirklich so unpolitisch? Viele wollen
sich nicht einer politischer Richtung
zuordnen lassen. Parteipräferenzen
Kein Nachschub aus
der Denkfabrik
sind ihnen zu dogmatisch. Zeuner
kritisiert: „Wenn sich Studenten
engagieren, dann häufig für sehr isolierte Ziele, die nicht in gesamtgesellschaftliche Programmatik eingebettet
werden.“ Die etwa 300 anwesenden
Studenten in der Vollversammlung
2008 beschließen, das Sommersemester zum Protestsemester zu erklären.
Ein Rahmen ist damit gesteckt. Nun
ist es an den Studenten, sich auf ihr
Erbe zu besinnen.
fruchtfleisch |
Was ist politisch?
„Im Konsens regeln“
„Standpunkt beziehen“
Nina, 20, Medizin,
Marburg
Lea, 21, Gesellschaftsund Wirtschaftskommunikation, Dresden
Politisch ist alles, was die
Gesellschaft betrifft. Die
Art und Weise, wie man
mit Problemen umgeht,
sie im Konsens zu regeln
und das in den öffentlichen Raum zu tragen.
In meinen Augen ist auch
jemand politisch, der sich
interessiert und seinen
Standpunkt bezieht. Man
muss nicht in irgendeinem
Ortsverband tätig sein.
Bist du politisch?
„Ich bewege einiges“
„Jeder ist politisch“
Christopher, 29, BWL,
Berlin
Dennis, 21, studiert
Medizin in Langenfeld
Jeder ist politisch. Trotzdem versuche ich, mich
rauszuhalten. Man weiß
nie, was für Auswirkungen das hat, was man
tut. Aber andere nutzen
dieses Machtvakuum aus.
Auf jeden Fall! Ich bin
zwar nicht parteipolitisch,
aber ich organisier mich
in der Fachschaft. Dort
bewege ich einiges. Auch
in der Schule war ich
schon aktiv gewesen.
Welche Themen sind dir wichtig?
„Das soziale Leben“
„Steuern, Geld, Bafög“
Tillmann, 22, Mathematik
und Psychologie, Berlin
Gerald, 23, Chemie,
Storkow
Sachen, die das persönliche Leben betreffen,
wie das soziale Leben
in meinem Gegend. Ich
würde mir wünschen, daß
ich da besser Einfluss
nehmen könnte.
Natürlich in erster Linie
die Themen, die mich
selber betreffen. Die Uni,
weil ick nun mal Student
bin. Und die Themen, die
meine Zukunft betreffen:
Steuern, Geld, Bafög.
20
universitär
mythos68 | April 2008
Die Mensafalle oder Bist du politisch?
Ist der heutige Student zwar politisch interessiert, jedoch politisch nicht
aktiv? Die gesammelten Gedanken
und Befindlichkeiten der Befragten
wollen wir, Berliner Studenten der
Europäischen Ethnologie, in einem
kurzen Film präsentieren, der im
Rahmen unseres Studienprojektes
„Mythos 1968“ entsteht. Dort diskutieren wir seit einigen Monaten
die verschiedensten Blickwinkel auf
die Zeit der großen Studentenrevolte
und lernen auch, dass damals nur
eine kleine Minderheit der Studenten
wirklich politisch engagiert war. Die
damaligen Ereignisse jähren sich nun
zum 40. Mal.
Wir zählen erneut die Namen auf
unserer Liste. Es fehlen immer noch
drei. Insgesamt 15 Studenten möchten wir heute für unsere Umfrage
gewinnen. Die meisten Studenten
machen einen großen Bogen um uns.
Wir fragen „Was ist politisch?“ und
dann: „Bist Du politisch?“ Die junge
Studentin mit den langen offenen
Haaren hat nun einen leicht gequälten
Gesichtsausdruck. Hätte sie bloß nicht
den Blick erwidert und wäre wie all die
anderen schnell an der Kamera vorbei-
gehuscht. Doch sie besinnt sich, sagt,
sie sei politisch interessiert, informiere
sich über das politische Geschehen.
Selbst engagiert, nein, das sei sie nicht.
Eine Antwort, die wir während des
Drehs noch oft hören werden.
Was aber interessiert die Studenten
heute, welche Vorbilder haben sie, für
welche Themen können sie sich begeistern? Wir wollen es wissen und so
stehen wir eine Woche später erneut
ausgerüstet mit der Kamera und
einem ermunternden Lächeln mitten
im Strom der Studenten, die es zur
Mittagszeit in die Mensa zieht.
Diesmal sind wir an die Freie Universität gefahren, Ende der sechziger
Jahre einer der Hauptschauplätze
des studentischen Aufbegehrens.
Wir haben aus den letzten Umfragen
gelernt. Geduldig bleiben, lieber
Einzelne statt Gruppen ansprechen,
nicht sofort die Kamera präsentieren.
Trotzdem ergreift sie uns wieder, die
„Angst des Forschers vor dem Feld“.
Zudem haben wir Bedenken, die
Studenten mit dem Thema Politik
abzuschrecken. Zugegeben, unsere
Fragen sind unbequem, sie rühren
am Selbstverständnis und fordern
„Politik? Nee, ich bin Naturwissenschaftler!“ „Macht doch nichts!“,
rufen wir dem davoneilenden Studenten hinterher. Doch da ist er
auch schon in der Menge verschwunden, die hungrig in die Mensa
der Humboldt-Universität strömt.
Von Susanne Hauer, Michael Sacher, Christine Wehner
eine persönliche Positionierung ein.
Was bedeutet es, politisch zu sein?
Es ist wie bei so vielen Gedanken
und Gefühlen, die man im Stillen
in sich trägt – kommt es darauf an
sie konkret zu definieren, gerät man
schnell in Schwierigkeiten, sucht nach
geeigneten Worten. Manchmal gibt
es die nicht, zumal vor einer Kamera.
Um so mehr freuen wir uns, wenn sich
die Studenten ganz offen auf unsere
Fragen einlassen und ihr politisches
Denken und Handeln im Alltag
beschreiben. Bei der Frage nach persönlichen Vorbildern nennen viele ihre
eigene Großmutter lieber als bekannte
Gesellschaftsveränderer.
Ob das vor 40 Jahren auch so gewesen wäre? Am wichtigsten scheint es
den Studenten jedoch, die eigene Individualität zu wahren und niemandem
nachzueifern. Mit fast jeder Antwort
kommen auch wir wieder ins Grübeln,
erfahren neue Sichtweisen auf Politik
und Beweggründe, sich politisch zu
engagieren oder nicht.
Ist jeder politisch? Es ist schwer,
Haltungen zu Dingen zu entwickeln.
Einige Studenten haben eine politische
Meinung, nennen Missstände in der
Gesellschaft. Andere wenden sich
bewusst von der Politik ab, sehen für
sich keinen Raum, politisch aktiv zu
werden. Die Fragen erwischen manche
eiskalt, sie kommen ins Grübeln. Und
wieder andere scheinen sich noch
lange mit unseren Fragen zu beschäftigen. Im Laufe des Drehtages an der
FU kommt ein Student noch zweimal
zu uns und möchte noch etwas in
die Kamera sagen. Er wirkt froh, ja
fast erleichtert, dass wir ihm unsere
Fragen gestellt haben. Auch wir haben
das Gefühl, dass einen die Fragen,
einmal gestellt, nicht so schnell wieder
loslassen.
Die Drehtermine sind vorbei, als
nächstes kommt der schwierige Prozess
des Filmschneidens. Trotz der vielen
unterschiedlichen Antworten zeichnet
sich doch eine Tendenz unter den
befragten Studenten ab: Politisches
Engagement manifestiert sich bei den
meisten als eine „aktive Passivität“,
so lässt es sich vielleicht am besten
beschreiben.
Ein Berliner Geschichtsstudent der
Humboldt-Universität drückt es so
aus: „Ich bin passiver Beobachter, das
aber sehr viel“.
Die Videodokumentation der Umfrage:
www.netzeitung.de/spezial/mythos68
„MIT BLOßEM PFLEGEN VON IKONEN KOMMEN WIR NICHT WEITER“
Der Kern der Protestbewegung von 68 konzentrierte sich im Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) – bis dieser sich 1970 auflöste. 2007
gründeten Linkspartei-Mitglieder den Hochschulverband „Die Linke.SDS“. Ein nostalgischer Wiederbelebungsversuch? Parallelen seien erkennbar, der
Rahmen aber habe sich verändert, so Georg Frankl von der Berliner SDS-Gruppe im Interview. Von Tino Höfert
Im kommenden Mai veranstalten die Hochschulgruppen des neuen SDS – jetzt mit dem
Namen „Sozialistisch-demokratischer Studierendenverband“ – einen Kongress in Berlin
unter dem Motto „40 Jahre 1968 – Die letzte
Schlacht gewinnen wir“. Wollt ihr zu den Straßenkämpfen der Sechziger zurückkehren?
Auf dem Kongress wollen wir
uns eingehend mit dem Phänomen
1968 befassen, das mehr war als nur
eine Revolte von Studierenden. In
dieser Zeit wurden weltweit antikapitalistische und antiimperialistische
Kämpfe ausgetragen: Pariser Mai,
Prager Frühling, Vietnam. Natürlich
spielt für uns auch die deutsche Studierendenbewegung eine wichtige Rolle.
Von Konservativen wird ihr heute die
Verrohung von Werten und Sitten
vorgeworfen, andere beanspruchen die
Vollendung von 1968 mit der Bildung
der rot-grünen Bundesregierung für
sich. Wir lehnen beide Interpretationen ab und wollen nirgendwohin
zurückkehren. Wir wollen herausfinden, wie die erfolgreichste deutsche
Studierendenbewegung entstand und
scheiterte und was wir im Kampf
gegen Kapitalismus und für Frieden
heute daraus lernen können.
Wollt ihr mit diesem Kampf also an die Tradition
des SDS von damals anknüpfen?
Klar. Aber der Rahmen, in dem wir
heute handeln, hat sich stark verändert. Im Gegensatz zu den Sechziger
Jahren sind wir heute in einer Phase
wirtschaftlicher Instabilität, welche
die gesellschaftlichen Widersprüche
zuspitzt: Wohlstand für wenige,
Armut für viele.
Auch die Hochschulen haben sich
verändert – heute kämpfen wir gegen
den Elitewahn, gegen jegliche Form
von Studiengebühren und gegen die
zu hohe Arbeitsbelastung, weil all dies
nicht im Sinne der großen Mehrheit
der Studierenden ist. Dazu setzen wir
uns unter anderem für eine Demokratisierung der Hochschulen, für
einen freien Masterzugang und für
die Stärkung der kritischen Wissenschaften ein.
Große inhaltliche Differenzen zum
damaligen SDS sehe ich nicht, jedoch
müssen wir den veränderten Rahmen
auf der Suche nach Antworten und
Strategien berücksichtigen.
Neue Herausforderungen schreien nach neuen
Vorbildern. Präsentiert uns „Die Linke.SDS“
bald einen neuen Rudi Dutschke?
Der SDS von 68 betrachtete die
Hochschulen als Teil der Gesellschaft,
den man nur verändern kann, wenn
man die ganze Gesellschaft verändert.
Der Kampf für Demokratie sowie
gegen Krieg und Kapitalismus ist
damals wie heute ein Kampf auch für
die Freiheit der Wissenschaft. Rudi
Dutschke war hier ein bedeutender
Protagonist, und vielleicht können
wir einiges von ihm lernen, aber mit
bloßem Pflegen von Ikonen kommen
wir sicher nicht weiter.
mythos68 | April 2008
21
universitär
„Burn, Ware-House, burn!“
Die Frankfurter Kaufhausbrandstiftungen im April 1968 markieren den Beginn des RAF-Kampfes gegen das System BRD. Doch wo kam dieser radikale Idealismus her?
Liegen die Wurzeln des linken Terrorismus in der Protestkultur von 68? Wie aus Studenten Staatsfeinde wurden: Eine Spurensuche.
Es ist die Nacht vom 2. auf den 3.
April 1968. Kurz nach Mitternacht
meldet ein Unbekannter der Deutschen Presseagentur in Frankfurt am
Main: „Gleich brennt’s bei Schneider
und im Kaufhof. Es ist ein politischer
Racheakt.“ Minuten nach diesem
Anruf fressen sich die Feuerflammen
bereits lichterloh durch das Mobiliar
der besagten Einkaufspaläste in der
Mainmetropole. Die angerückte Feuerwehr hat die Brände zwar schnell
unter Kontrolle, doch durch die
eingeschalteten Sprinkler überfluten
tausende Liter Löschwasser die Kaufhausetagen. Der Sachschaden beträgt
fast 700.000 Mark. Schnell steht
fest: Es handelt sich um Brandstiftung. Insgesamt drei kleine Bomben
– zusammengebastelt aus Benzin,
Weckern und Tesafilm – wurden zuvor
in Schränken versteckt und lösten
um 24 Uhr die Feuer aus. Nur zwei
Tage später werden vier Verdächtige
festgenommen: Allesamt Mitte 20
und mit Kontakten zur Studentenbewegung. Unter ihnen sind auch zwei
Personen, die Jahre später die deutsche
Geschichte entscheidend mitprägen
sollten. Ihre Namen: Andreas Baader
und Gudrun Ensslin, die Mitbegründer der Roten Armee Fraktion.
Ein Brandanschlag auf Einkaufspaläste – war das die Antwort auf
gesellschaftliche Repressionen und
Polizeigewalt? Auf die bürgerliche
Spießigkeit, von der sich so zahlreiche Jugendliche und Studierende
abgrenzen wollten? Klar ist: Nach
dem tödlichen Polizeischuss auf
Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967
radikalisierten sich die Studentenvereinigungen in Berlin, Frankfurt,
München und anderen deutschen
Städten immer mehr. Die Aktionen
wurden zunehmend provokanter, der
Ton härter. Und so wurde auch diskutiert, ob man „Gewalt gegen Sachen“
als legitimes Mittel des politischen
Protests anerkennen könne. Andreas
Baader, 24, und die Pfarrerstochter
Gudrun Ensslin, 28 und Germanistikstudentin an der FU Berlin,
bekommen all diese Entwicklungen
mit. Ob der Vietnamkongress oder
Demos für mehr Mitbestimmung:
Beide waren sie dabei. Zu dieser Zeit
hatte Ensslin auch erste Kontakte zu
Rudi Dutschke und anderen SDSMitgliedern geknüpft. Baader war
weniger als typischer Linker, sondern
vielmehr als draufgängerischer Macho
bekannt. Die Härte der deutschen
Staatsordnung bekam der gebürtige
Münchner früh zu spüren: Im Juni
1962 kam es bei den Schwabinger
Krawallen zu harten Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Jugendlichen. Anneliese Baader erinnert sich
an den Kommentar ihres Sohnes:
„Weißt du, Mutter: In einem Staat,
wo Polizei mit Gummiknüppeln gegen
singende junge Leute vorgeht, da ist
etwas nicht in Ordnung.“
Anfang 1968 sind Andreas Baader
und Gudrun Ensslin schon länger ein
Paar. Ihr gemeinsamer Hass auf das
Establishment vereint sich in dem
Eifer, etwas zu verändern. Nur: Die
bisherigen Protestaktionen waren
für sie nicht genug. Durch bloßes
Diskutieren könne keine Revolution
ausgelöst werden, der SDS wäre schon
längst „zu einem lahmen Verein abgesackt“. Der Schritt in die Illegalität
also als logische Konsequenz?
Bereits im Mai 1967 brannte ein
Kaufhaus – allerdings nicht in Frankfurt oder Berlin, sondern in Brüssel.
Bei dem Feuer im „A l´Innovation“
starben mehr als 200 Menschen. Als
Reaktion auf die Katastrophe gestaltete
die Berliner Kommune 1 um Werner
Langhans ein Flugblatt. Die Toten
wurden zwar bedauert, doch andererseits verglich man ihr Leid mit dem
der Napalmopfer im Vietnam: „Ein
brennendes Kaufhaus mit brennenden
Menschen vermittelte zum ersten Mal
in einer europäischen Großstadt jenes
knisternde Vietnamgefühl, das wir in
Berlin bislang noch missen müssen.“
Noch deutlicher wurde der Ton im
Flugblatt Nr. 2: „Wenn es irgendwo
brennt in der nächsten Zeit, [...]
seid bitte nicht überrascht. Brüssel
hat uns die einzige Antwort darauf
gegeben: Burn, ware-house, burn!“
Waren diese Worte die Legitimation
für Gewalt gegen Sachen, um Brandbomben in deutsche Kaufhäuser zu
legen? Dass Baader und Ensslin das
Flugblatt gelesen haben, erscheint
denkbar. Inwieweit es sie jedoch bei
Der mächtige Maoist
Mao Zedong
(1893 – 1976)
„Alles, was der Feind bekämpft,
müssen wir unterstützen. Alles,
was der Feind unterstützt,
müssen wir bekämpfen.“
Wer war er? Als ländlicher Guerillaführer befreite Mao China von jahrzehntelanger
Besatzung. Nach der erfolgreichen Revolution gegen die national-demokratische
Regierung proklamierte Mao 1949 die Volksrepublik China. Als Staatsoberhaupt und Chef der Kommunistischen Partei bestimmte er fast 30 Jahre lang die
Politik des Landes, seine autoritäre Herrschaftsform ging als „Maoismus“ in die
Geschichte ein. Im Rahmen seiner Kulturrevolution wurde ganz China umgewälzt, reaktionäre Kräfte zerschlagen und jegliche Kunst zensiert.
Und heute? Maos Geist beeinflusst die politischen Geschicke der wirtschaftlich
aufstrebenden Volksrepublik immer noch stark. So wären die diesjährigen
Olympischen Spiele in Peking und ihre bombastische Inszenierung wohl ganz
nach dem Geschmack des Machthabers gewesen.
ihrer eigenen Aktion beeinflusst hat,
ist rein spekulativ.
Im späteren Prozess – der sich
mit munteren Angeklagten und
dutzenden Sympathisanten eher zu
einem „Justizhappening“ entwickelt
– unterstreicht Gudrun Ensslin den
politischen Hintergrund der Tat: „Ich
interessiere mich nicht für ein paar
verbrannte Schaumstoffmatratzen,
ich rede von verbrannten Kindern
in Vietnam.“ Das Urteil: Drei Jahre
Zuchthaus. Nach acht Monaten Haft
kommen die Angeklagten auf freien
Fuß, da deren Anwalt, der späterer
Holocaust-Leugner Horst Mahler,
Revision eingelegt hat.
Diese ist noch nicht entschieden,
da befinden sich Ensslin und Baader
schon auf der Flucht, Richtung Paris.
Sie tauchen unter. Nur ein knappes
Jahr später, im Sommer 1970, lässt
sich das Paar zusammen mit anderen
späteren RAF-Begründern in einem
jordanischen Camp militärisch ausbilden. Der Beginn einer neuen Ideologie: Von nun an sollten keine Bomben
mehr auf Kaufhäuser geworfen werden
– sondern auf Menschen.
Von Tino Höfert
Weiterführende Lektüre im Programm der bpb:
Anne Siemens: Für die RAF war er das System, für
mich der Vater. Bereitstellungspauschale €4,00.
Bestellnummer 1651.
ikonen |
Warum wurde er von den 68ern verehrt?
Für Mao konnte der Kapitalismus
nur durch eine Veränderung des
Menschen überwunden werden.
Seine „Mao-Bibel“ war für viele
linke Studenten revolutionäre
Pflichtlektüre. Dass infolge seiner
politischen „Säuberungskampagnen“ und seines diktatorischen
Machtstrebens mehr als 30 Millionen Chinesen den Tod fanden,
wurde dabei meistens kritiklos
übersehen.
22
gegenwärtig
mythos68 | April 2008
Wenn Subkultur zum Mainstream wird
40 Jahre nach 68 ist die Subkultur in der Masse aufgegangen.
Aus einem überschaubaren sozialen Experiment wird eine
Massenbewegung. Viele der damaligen Ideale scheinen verloren
Trotzdem gibt’s ein fettes Dankeschön an 68.
Von Sybille Pfeffer
Erst waren es nur einige wenige,
und sie hatten eine Vision. Spirituelle
Werte, wie der Glaube an Frieden,
Liebe und absolute individuelle Freiheit, fanden über junge Leute mit
Blumen im Haar plötzlich den Weg
in eine wohlstandsorientierte und
vor Sicherheitsdenken blinde Gesellschaft. Die sogenannten Hippies
propagierten ein von bürgerlichen
Tabus befreites Leben. Gemeinsam
mit der 68er-Bewegung war ihnen
das Auflehnen gegen die bürgerlichspießigen Strukturen. Im Vergleich zu
ihren revolutionsorientierten Altersgenossen dominierten dabei stärker individualistische Selbstverwirklichung
als gesellschaftspolitische Konzepte.
Gemeinsam hatten Hippies und 68er
dennoch viel. Die Jugend suchte sich
selbst in der Bewusstseinserweiterung
und ihr Glück in der freien Liebe. Und
wie das eben ist mit Menschen, die
den Mut haben, neue Wege zu gehen,
sie ziehen andere Menschen geradezu
magisch an. Wenn eine Bewegung den
Hedonismus zum Lebensinhalt erklärt
und sexuelle Tabus zu einem Tabu,
dann muss sie nicht lange warten,
bis sie Zulauf findet. Denn wer sehnt
sich nicht – damals wie heute – nach
einem Leben ohne Begrenzung und
Druck, nach Selbstverwirklichung
und persönlicher Akzeptanz? So wird
aus einem überschaubaren sozialen
Experiment schon nach kurzer Zeit
eine Massenbewegung.
Doch schon zeigt sich die Kehrseite der Medaille: Traumtänzer und
Drogensüchtige wandeln in bunten
Gewändern durch die Städte. Der
Aufruf zu mehr Solidarität und gegenseitiger Unterstützung mutiert zur
plumpen Ausrede, um die mangelnde
Bereitschaft, sich selbst produktiv in
die Gemeinschaft einzubringen, zu
1968. 1988. 2008.
Irgendwie verrückt. Alle feiern 68.
Genau 40 Jahre danach, und das,
obwohl richtige Jubiläen erst nach 50
Jahren begangen werden. Und wie sehr
68 heroisiert wird! „Unser Kampf“ tönt
da beispielsweise der damals 21-jährige
Götz Aly von den Bestsellerlisten – die
Titel-Anlehnung an „Mein Kampf“
von 1924 ist bewusst unglücklich
gewählt. Sicher, das war schon was:
„Unser erfolgreicher Kampf“ gegen
den Vietnamkrieg, den Schah von
Persien, gegen Spießbürgerlichkeit,
Altnazis, BILD und sexuelle Verklemmtheit. Schade nur, dass es Bild
immer noch so meinungsmanipulativ
wie damals gibt. Und auch Spießbürgerlichkeit ist, sogar unter Alt-68ern,
nicht ausgestorben. Von Alt- sowie
Neunazis ganz zu schweigen.
Irgendwo muss aber ein Sinn liegen,
dass so viele Medien derzeit einem
Hype erliegen, eine Generation zu
feiern, die justamente das Pensionsalter
erreicht. Das muss man diesen Alten
lassen: ihre Selbstvermarktung ist hemmungslos. Welche andere Generation
danach hat ähnliches vollbracht?
Rechnen wir nach. Als am 11.
April 1968 in Berlin die drei fatalen
Schüsse auf Rudi Dutschke abgegeben wurden, war der 1940 geborene
Studentenführer gerade 28 Jahre alt
und die, die ihm in Hörsälen und auf
der Straße folgten, so zwischen 17
und 30. Und wer regierte die Straße
20 Jahre später, also 1988 in der
„next generation“? Richtig: keiner.
Oder doch: Zumindest im Osten
war die Bürgerrechtsbewegung der
DDR gerade auf dem Weg, mal eben
die friedliche Revolution 89 zu vollbringen, aber im Westen interessierte
das nachhaltig wenig. Dort gab ein
anderer ab dieser Zeit den Ton auf
der Straße an: Matthias Roeingh.
Der damals 29-Jährige wuchs aus
dem Nichts zum Straßenkämpfer für
vertuschen. Was die Visionäre zuvor
noch in letzter Konsequenz versuchen
umzusetzen, verkommt immer mehr
zu einem oberflächlichen Medienspektakel unreifer Teenager. Die Musikindustrie nutzt ihre Chance und nutzt
professionelle Marketinginstrumente
und ausgeklügelte PR-Strategien,
um die Idole der Generation noch
gewinnbringender zu vermarkten. So
ist anzunehmen, dass es nicht immer
der Ausdruck innerer Überzeugung
ist, wie sich die Bands und Liedermacher präsentierten. Es ist oftmals
nichts anderes als knallhartes Marketing – oder Corporate Identity, wie
wir heute sagen – mit dem einzigen
Ziel, die Verkaufszahlen noch weiter
zu steigern.
Am 6. Oktober 1967 – also schon
zwei Jahre vor dem legendären Woodstock-Festival – wurde der Hippie und
seine Kultur in einem riesigen Sarg
symbolisch zu Grabe getragen. Der
festliche Umzug durch Haight-Ashbury in San Francisco, der Keimzelle
der Flower-Power-Subkultur, war ein
Auflehnen gegen ihre immer stärkere
Kommerzialisierung und Fehlinterpretation.
Fatalisten mögen behaupten, das
alternative Lebensmodell der 68erGeneration sei gescheitert und in
einer Welt der freien Marktwirtschaft
schlicht nicht praktikabel. Im neuen
Jahrtausend finden wir uns in einer
globalen Gesellschaft wieder, die sich
mehr denn je an den Maximen des
Profits ausrichtet, sinnlose Kriege führt
und vor sozialer Ungleichheit strotzt.
Vielleicht ist ein Zusammenleben in
Frieden und Solidarität tatsächlich
(noch) nicht massentauglich.
Doch mitunter haben wir es dieser
Generation von Visionären zu verdanken, dass wir heute als einzelne
Individuen die Wahl haben, wie wir
in dieser kapitalistischen Welt leben
wollen. Ob mono- oder polygam, lesbisch, schwul, mit Fetisch oder ohne,
meditierend, betend, atheistisch: Die
Allgemeinheit ist toleranter geworden,
offener, vielleicht sogar menschlicher.
Gescheitert oder nicht, eines steht
jedenfalls fest: Die Blumenkinder
haben den gesellschaftlichen Horizont
erweitert. Und dafür haben sie ein
dickes fettes Dankeschön verdient!
Who‘s next? Ein Zwischenruf. Von Holger Kulick
alle, die 1960 und später das Licht
der Welt erblickten. Er führte im Juli
1989 als „Dr. Motte“ getarnt die erste
„Loveparade“ über den Ku‘damm.
Zunächst nur mit 150 TechnoGetreuen, später mit zwei Millionen.
Seine „Tanzbewegung“ applaudierte
jedes Jahr den abgehobenen Reden
ihres Gurus, der zu Füßen der Berliner
Siegessäule ernsthaft „Friede, Freude,
Eierkuchen“ postulierte und nebenher
dem Demonstrationsrecht ein neues
Gesicht verlieh: Seine markenrechtlich
geschützte Kommerz-“Loveparade“
wurde als politische Demonstration
anerkannt. Durch wen? Wahrscheinlich Alt-68er, die als Juristen in den
zuständigen Institutionen saßen.
Aber Roeingh und sein Ruhm sind
trotzdem verpufft, und die Alt-68er
können umso stolzer zeigen: „Ätsch,
wir sind immer noch da!“ Doch: for
what? Denn was ist heute? Stellt sich
denen 40 Jahre später niemand ent-
gegen und setzt überfällige Impulse
für die kommende Zeit? Wo ist anno
2008 die eigene Generation versteckt?
Genießt sie ganz einfach nur jene
Freiheit, die 68er für sie eroberten?
Und wenn ja, wie füllt sie diese
aus? Mit Komasaufen, freundlichen
G8-Besuchen, Konsumterror und
Endlos-Chatten im Netz? Ein Lichtblick verspricht das Jugendfestival
Berlin 08 zu werden. Mehrere Tausend
junger Leute treffen sich ein Wochenende lang in der Berliner Wuhlheide,
um über Politik und Gesellschaft
zu diskutieren. Wer weiß: Vielleicht
treten sie eine neue Jugendbewegung
in Gang. Denn es ist nicht mehr 1968.
Es ist 2008. Es ist an der Zeit.
Ausführliche Informationen über Berlin 08 unter
http://www.du-machst.de/berlin08
mythos68 | April 2008
Bezeichnung für die antiautoritäre Protestbewegung, die in der Bundesrepublik Deutschland Mitte bis Ende der 60er
Jahre Jahre vor allem von Studenten und Jugendlichen getragen wurde und die versuchte, (neue radikale) politische
Vorstellungen und gesellschaftliche Reformen (z.T. mittels provokativer Protestaktionen) durchzusetzen bzw. restriktive
Maßnahmen zu verhindern (z.B. Notstandsgesetzgebung). Vergleichbare Protestbewegungen gab es in anderen westlichen Ländern. Die APO wurde durch die Schwäche der parlamentarischen Opposition nach 1966 zu einer wichtigen
politischen Kraft und verlor nach Ende der Großen Koalition (1969) rasch an politischer Bedeutung.
Quelle: Schubert, Klaus/Martina Klein: Das Politiklexikon 4., aktual. Aufl. Bonn: Dietz 2006.
Gruppe 47
Die Gruppe 47 war eine von Hans Werner Richter 1947 gegründete Vereinigung von Autoren und Literaturkritikern.
Sie strebten in ihrem literarischen Schreiben eine Reinigung der durch den Nationalsozialismus verseuchten Sprache an
und wollten zu neuen, realistischen und betont nüchternen Beschreibungskategorien gelangen. Bei den regelmäßigen
Herbsttreffen der Gruppe lasen die meisten bedeutenden Schriftsteller der Bundesrepublik ihre Manuskripte vor und
stellten sich der Kritik des Kreises. Seit 1950 wurde in unregelmäßigen Abständen der „Preis der Gruppe 47“ vergeben.
Die Treffen, auf denen auch wichtige Verleger anwesend waren, wurden zur tonangebenden Literaturmesse. Den Forderungen nach einem klaren politischen Standpunkt, wie er in den 60er Jahren von jüngeren Schriftstellern vertreten
wurde, konnte die Gruppe 47 nicht mehr entsprechen. Das letzte öffentliche Treffen fand 1967 statt.
Quelle: Axel Schildt: Rebellion und Reform. Die Bundesrepublik der Sechzigerjahre, Bonn 2005.
Aus der bpb-Reihe „Zeitbilder“.
Notstandsgesetze
Die sogenannten Notstandsgesetze gehen zurück auf eine Forderung der Alliierten nach dem Ende des Zweiten
Weltkriegs, die ihre dort stationierten Truppen geschützt sehen wollten. Diese gesetzlichen Vorbehalte wurden im Besatzungsstatut von 1949 und im Deutschlandvertrag von 1952 geregelt, bis die Bundesrepublik 1955 ihre volle staatliche
Souveränität erhielt. Das Grundgesetz hatte ursprünglich mit Rücksicht auf die schlechten Erfahrungen aus der Zeit der
Weimarer Republik nur wenige und lückenhafte Bestimmungen enthalten, auf deren Grundlage die staatlichen Organe
Notstandssituationen – Unruhen, Spannungen etc. – begegnen konnten. Heftige Auseinandersetzungen entwickelten
sich in den 60er Jahren vor allem deshalb, weil unter Federführung des Innenministeriums – zunächst – geheime
Pläne („Schubladengesetze“) entwickelt wurden. Danach sollte im Verteidigungsfall, im „Spannungsfall“, beim inneren
Notstand und im Katastrophenfall die gesetzgebende Gewalt auf die Bundesregierung übergehen. Die sozialdemokratische Opposition im Bundestag hatte die Notstandsgesetze deshalb strikt abgelehnt. In den Verhandlungen zur Bildung
der Großen Koalition wurde dagegen vereinbart, dass der Bundestag in einem Rumpfparlament von 33 Abgeordneten
gemäß seiner politischen Zusammensetzung als Kontrollorgan vorzusehen sei. Das Notstandsgesetz wurde als 17.
Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes am 24. Juni 1968 mit den Stimmen der Parteien der Großen Koalition gegen
einige Abweichler aus den Reihen der SPD und gegen die Stimmen der FDP-Fraktion mit der notwendigen ZweidrittelMehrheit verabschiedet.
Quelle: Axel Schildt: Rebellion und Reform. Die Bundesrepublik der Sechzigerjahre, Bonn 2005.
Aus der bpb-Reihe „Zeitbilder“.
Prager Frühling
wurde nach dem Zweiten Weltkrieg als Studentenorganisation der SPD gegründet. Zahlreiche spätere Parteifunktionäre, etwa Helmut Schmidt, begannen ihre politische Karriere im SDS. Nach der Verabschiedung des sozialdemokratischen Godesberger Programms 1959 begann sich der SDS – im schroffen Gegensatz zur SPD – immer weiter nach
links zu wenden, woraufhin die SPD ihren Studentenverband ausschloss. In den folgenden Jahren wurde der SDS
zum Sammelbecken verschiedener linker Strömungen, die jeweils die relativ kleinen Gruppen der Universitätsstädte
dominierten: Vertreter einer sozialistischen Neuen Linken zwischen Sozialdemokratie und Kommunismus, Mitglieder
der illegalen Kommunistischen Partei und zunehmend Anhänger einer antiautoritären Bewegung, die nicht mehr im
Proletariat, sondern in gesellschaftlichen Randgruppen, etwa den noch nicht ins „System“ integrierten Studenten, das
Subjekt revolutionärer Veränderungen erblickten. Vor allem die zuletzt genannte antiautoritäre Strömung wurde zum
Kern der spektakulären Jugendproteste, die das letzte Drittel der 60er Jahre prägten, obwohl sie wohl nur etwa die
Hälfte der wiederum 2 000 bis maximal 4 000 Mitglieder des SDS stellte.
Quelle: Axel Schildt: Rebellion und Reform. Die Bundesrepublik der Sechzigerjahre, Bonn 2005.
Aus der bpb-Reihe „Zeitbilder“.
„Spiegel“-Affäre
Die als „Spiegel“-Affäre bekannte Episode war in Wirklichkeit eine Strauß-Affäre. Am 10. Oktober 1962 analysierte
ein „Spiegel“-Artikel unter dem Titel „Bedingt abwehrbereit“ das NATO-Stabsmanöver „Fallex 61“. Er kam zu dem
Schluß, daß die Verteidigung der Bundesrepublik im Falle eines Angriffs des Warschauer Pakts keineswegs gesichert sei
und daß das Konzept des vorbeugenden Schlages den Frieden eher gefährdete als sicherte.
In der Nacht vom 26. zum 27. Oktober 1962, achtzehn Tage nach dem Erscheinen des Artikels, wurden die Redaktionsräume des „Spiegel“ in Hamburg, die „Spiegel“-Redaktion in Bonn und mehrere Privatwohnungen im Hamburg von
Beamten des Bundeskriminalamtes und der Hamburger Polizei durchsucht. Der eigentlich zuständige Bundesjustizminister Wolfgang Stammberger (FDP) wurde ebenso wie der Hamburger Innensenator Helmut Schmidt (SPD) gar nicht
oder erst verspätet informiert. Die Verhaftung des Artikelschreibers Conrad Ahlers während seines Urlaubs in Spanien
hatte – wie sich später herausstellte – Verteidigungsminister Strauß unter Umgehung des Auswärtigen Amtes über den
Militärattaché an der deutschen Botschaft in Madrid veranlasst.
Der „Spiegel“-Herausgeber Rudolf Augstein, der Ver
lagsdirektor und mehrere leitende Redakteure wurden verhaftet. Angeordnet hatte diese Maßnahmen die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe, nachdem ein von ihr angefordertes Gutachten des Bundesverteidigungsministeriums am
19. Oktober zu dem Ergebnis gekommen war, daß der „Spiegel“-Artikel „Bedingt abwehrbereit“ geheimzuhaltende
Tatsachen veröffentlicht habe, die er durch Verrat von Angehörigen des Bundesverteidigungsministeriums erhalten
habe. Die Begründungen für die Haftbefehle lauteten auf Tatverdacht des Landesverrats, der landesverräterischen
Fälschung und der aktiven Bestechung.
Die „Spiegel“-Affäre führte zu einer Regierungskrise: Die FDP-Fraktion forderte wie die SPD den Rücktritt von Verteidigungsminister Strauß und zog ihre fünf Minister aus der Regierung zurück. Bundeskanzler Konrad Adenauer bildete
am 14. Dezember ein neues Kabinett, dem Strauß nicht mehr angehörte, und kündigte seinen Rücktritt für den Herbst
1963 an. Darüber hinaus hatte die „Spiegel“-Krise weitreichende Folgen für die politische Kultur der Bundesrepublik
Deutschland.
Quelle: Informationen zur politischen Bildung: Zeiten des Wandels (Heft 258)
Vietnamkrieg
Dieser Begriff kennzeichnet den Versuch der neuen Parteiführung der tschechoslowakischen Kommunisten unter Alexander Dubcek von Januar bis August 1968, einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ zu verwirklichen, d.h., unter
Vorbehalt der „führenden Rolle der Partei“ bürgerliche Freiheiten (Versammlungsfreiheit, Pressefreiheit usw.) zu realisieren. Die Sowjetunion betrachtete den Prager Frühling jedoch als eine Gefahr für die Einheitlichkeit des Ostblocks. Auch
die Einheitspartei der DDR, die SED, griff den Kurs der neuen tschechoslowakischen Parteiführung als konterrevolutionär
und friedensgefährdend an. Durch den Einmarsch von Truppen der Sowjetunion und weiterer Staaten des Warschauer
Pakts (Truppen der Nationalen Volksarmee der DDR überschritten die Grenze nicht) am 20./21. August 1968 wurde das
Reformexperiment gewaltsam beendet.
Quelle: Axel Schildt: Rebellion und Reform. Die Bundesrepublik der Sechzigerjahre, Bonn 2005.
Aus der bpb-Reihe „Zeitbilder“.
Weiterführende Lektüre im Programm der bpb
zu bestellen unter www.bpb.de/shop
Norbert Frei: 1968. Jugendrevolte und globaler Protest
(Mitte April 2008)
Bestellnummer: 1699 Bereitstellungspauschale: 4,00 €
Axel Schildt: Zeitbilder: Rebellion und Reform –
Die Bundesrepublik der Sechzigerjahre (2005)
Bestellnummer: 3962 Bereitstellungspauschale: 2,00 €
Bernd Greiner: Krieg ohne Fronten – Die USA in
Vietnam (2007)
Bestellnummer: 1648 Bereitstellungspauschale: 6,00 €
Stefan Wolle: Zeitbilder: Aufbruch in die Stagnation –
Die DDR in den Sechzigerjahren (2005)
Bestellnummer: 3961 Bereitstellungspauschale: 2,00 €
Götz Aly: Unser Kampf. 1968 – Ein irritierter Blick
zurück (Mai 2008)
Bestellnummer: 1696 Bereitstellungspauschale: 4,00 €
Stefan Wolle: Die heile Welt der Diktatur (1999)
Bestellnummer: 1349 Bereitstellungspauschale: 2,00 €
Weitere Informationen unter: www.bpb.de/1968
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Der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS)
APO – Außerparlamentarische Opposition
Peter Schneider: Rebellion und Wahn. Mein 68 –
Eine autobiographische Erzählung (2008)
Bestellnummer: 1701 Bereitstellungspauschale: 4,00 €
Glossar
Aus Politik und Zeitgeschichte 14-15/2008: 1968
Bestellnummer 7814
Aus Politik und Zeitgeschichte 20/08: Prager Frühling
Bestellnummer 7820 (Mitte Mai 2008)
Nach der Niederlage der französischen Truppen gegen die kommunistisch geführte Unabhängigkeitsbewegung in
Vietnam 1954 verfestigte sich die Trennung des ehemals französischen Kolonialbesitzes in zwei Staaten: den kommunistischen Norden und den bald von korrupten Diktatoren geführten Süden. Amerikanische Truppen engagierten sich
zunehmend in Südvietnam. Sie wollten die dort im Untergrund kämpfenden Vietcong-Rebellen bekämpfen, die sich
für eine Vereinigung mit dem kommunistischen Norden aussprachen und von diesem unterstützt wurden. Mitte der
60er traten die USA auch offiziell in den Krieg ein und suchten eine Entscheidung durch ein Flächenbombardement
Nordvietnams. Auch im Süden setzten die US-Truppen die Strategie großflächiger Entlaubung von Dschungelgebieten
ein, um dem Vietcong sein Operationsfeld zu nehmen. Dennoch dominierten diese seit einer großen Offensive 1968
das Kriegsgeschehen. Der grausam geführte Krieg gilt als erster Fernsehkrieg der Geschichte. Seine Bilder ließen
in den USA auch angesichts von 40.000 eigenen Opfern selbst eine mächtige Antikriegsbewegung entstehen. Der
Vietnamkrieg galt für die jugendliche Protestbewegung in der gesamten westlichen Welt als Beweis für den Verrat aller
humanitären Ideale durch die westlichen Kriegsparteien.
Quelle: Axel Schildt: Rebellion und Reform. Die Bundesrepublik der Sechzigerjahre, Bonn 2005.
Aus der bpb-Reihe „Zeitbilder“.
Die 68er: Ausstellung in Frankfurt
Das Jahr steht als Chiffre für die Studentenproteste in der zweiten Hälfte der 60er Jahre Jahre, für ihre Vorgeschichte und ihre lange
Wirkung bis heute. Es markiert eine der nachhaltigsten Zäsuren der Nachkriegsgeschichte. Frankfurt am Main war neben Berlin der
wichtigste Schauplatz der Revolte in Deutschland. 2008 findet in Frankfurt eine umfassende Ausstellung zum Thema statt – eingebettet in
einen vielseitigen Veranstaltungssommer zu 1968. Die Ausstellung ist als groß angelegtes Erinnerungspanorama multimedial aufgebaut.
Präsentiert werden auf 700 qm ca. 700 Originaldokumente wie Flugblätter, Zeitschriften, Transparente, oder Wandzeitungen, Fotografien,
Alltagsobjekte, Ton- und Videoaufnahmen, Musikbeispiele sowie Interviews mit Protagonisten.
„Die 68er“ findet im Historischen Museum, Saalgasse 19, Frankfurt am Main statt. Die Ausstellung ist geöffnet vom 1. Mai bis 31. August
2008, Dienstag bis Sonntag von 10 bis 18 Uhr, Mittwoch von 10 bis 21 Uhr. Der Eintritt beträgt 6 Euro (ermäßigt 3 Euro). Führung nach
Anmeldung möglich. Weitere Informationen unter www.die-68er.de.
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gegenwärtig
mythos68 | April 2008
Schaumschläger oder Bombenleger?
Was heutige Medien bewegt.
Medien und 68. Vielschichtig ist diese nunmehr 40 Jahre andauernde Beziehung
schon immer gewesen. Von Sandra Bieler
Während die BILD-Zeitung kein
gutes Haar an Dutschke & Co. ließ,
setzten die jungen Rebellen kurzerhand auf eine Gegenöffentlichkeit.
Prächtig verstanden sie es, sich in
Szene zu setzen. Eine der berühmtesten
Fotografien von damals: Ein Bild, auf
dem die Kommunarden nackt an einer
Wand posieren.
Auch heute noch ziert dieses Bild
zahlreiche Medien. Verändert allerdings hat sich das Ausmaß an Öffentlichkeit, das die 68er heute genießen.
In einem scheint man sich einig zu
sein: Wer zum 40jährigen Jubiläum
der Jugendrevolte hip sein will, bringt
die 68er auf den Titel. Sie begegneten uns in informativ-ironischen
Artikelserien beim SPIEGEL oder
detailreichen Sonderausgaben in der
ZEIT. Mit aufreizenden Fotokollagen
will der Stern die Sinne reizen, der
Fernsehsender ARTE versucht dasselbe
mit seinem musikreichen ´Summer of
Love`. Unter den Top Ten des medialen Schlagabtauschs: freie Liebe, die
heutige Bedeutung von 68 und die
Gewaltfrage.
Für die einen ist die Erinnerung an
die 68er und ihre Ziele sehr unbequem,
für die anderen einfach ein Quotenfänger mit Vorführeffekt. Angesichts des
medialen 68er-Overkills sind außergewöhnliche Ideen willkommen. So
lässt der SPIEGEL beispielsweise die
ergrauten Kommune-1-Bewohner
auf einem Friedhof zusammentreffen.
Einer von ihnen, bemerkt der Autor
dabei süffisant, sehe heute so aus „wie
einer jener Rentner, die er 40 Jahre
zuvor auf dem Ku´damm erschreckt
hat“. Ironie und Distanz – das ist die
Antwort der ehemaligen Stimme der
kritischen Gegenöffentlichkeit beim
Rückblick ins eigene Antlitz. Die
Frage nach dem Erreichten ist eben
umstritten. Ein „Weltereignis“, das
muss die noch junge WELT ONLINE
feststellen, war 1968 allemal. Im selben
Atemzug schreibt das digitale Medium:
„Wer mag sie noch hören, die Veteranenerinnerungen? Sie sind so langweilig wie anderer Leute Träume.“
Nicht alle Medien denken so. Für
viele sind Zeitzeugen das Fenster in die
Vergangenheit. Mit deren Hilfe sollen
68 und spätere Phänomene wie der
RAF-Terrorismus verstanden werden.
Denn wer 68 reflektiert, kommt um
die heikle Gewaltfrage nicht herum.
„Die Debatte über die Gewalt gegen
Sachen begab sich auf einen Weg, an
dessen Ende die Billigung des Terrors
stand“, vermutet die ZEIT. Scheint
dieses Argument noch verständlich,
so führt es der Historiker Götz Aly ad
absurdum. In der FRANKFURTER
RUNDSCHAU betitelt er als „Väter
der 68er“ Nazis wie Goebbels und
sieht Gemeinsames in „Propagandatechnik“ und Kritik am konservativen
Uniwesen.
Die Berichterstattung über 68 wird
auch zur Auseinandersetzung der
Medien mit sich selbst. Nach einem
Schlagzeilen-Ping-Pong im deutschen
Zeitungs-Dickicht färbte die FR das
Verquere wieder schön: Aly „geht die
Sache sportlich an“, als „knackige Polemik“. Dank Web 2.0 diskutieren die
Leser online derweil fleißig mit. 2008
funktioniert Mediendemokratie, 1968
hätte das wohl niemand für möglich
gehalten.
Egal ob verherrlichend oder kritisch,
objektiv berichtend oder populistisch: Der Medienrummel um 68
ist in vollem Gange. Wer sich dem
ganzen entziehen will, hat nur eine
Möglichkeit: BILD lesen. Der flammende Revolutionsgegner von einst
ist erstaunlich ruhig geworden. Mit
keiner Zeile würdigt die Boulevardzeitung dieses Jubiläum. Was übrig
bleibt, sind gewohnt platte Titel wie
„Bumsen statt Bomben“ oder der
Traum von der „romantischen Revoluzzerin zum Verknallen“. Warum das
so ist, verrät uns ein Blick in die BERLINER MORGENPOST: Es ist eben
immer noch einfacher über „Hippies,
Haschisch, Happenings und natürlich
Flower-Power!“ zu schreiben als über
„diesen ewigen 68er-Mist“.
Weiterführende Lektüre im Programm der bpb:
Martin Klimke/ Joachim Scharloth (Hrsg.): 1968.
Handbuch zur Kultur- und Mediengeschichte der
Studentenbewegung (2007). Bereitstellungspauschale 4,00 €. Bestellnr. 1697