TS Da Vinci V-1 4C.qxp

Transcrição

TS Da Vinci V-1 4C.qxp
Leonardo
da Vinci
Autor: Eugène Müntz
Übersetzung: Dr. Martin Goch
Layout:
Baseline Co Ltd
Fiditourist 3rd Floor
127-129A Nguyen Hue
District 1, Ho Chi Minh City
Vietnam
© Parkstone Press USA, New York
© Confidential Concepts, Worldwide, USA
Weltweit alle Rechte vorbehalten. Soweit nicht anders vermerkt, gehört
das Copyright der Arbeiten den jeweiligen Fotografen. Trotz intensiver
Nachforschungen war es aber nicht in jedem Fall möglich, die
Eigentumsrechte
festzustellen.
Gegebenenfalls
bitten
wir
um
Benachrichtigung.
ISBN: 978-1-78042-329-6
Anmerkung des Herausgebers
Aus Respekt vor der einzigartigen Arbeit des Autors wurde der Text nicht
aktualisiert, was die Änderungen bezüglich der Zuschreibungen und
Datierungen der Werke betrifft, die bisher unsicher waren und es in manchen Fällen immer noch sind.
2
INHALT
VORWORT
p. 4-5
LEONARDOS KINDHEIT
UND
SEINE ERSTEN WERKE
p. 6-95
DER HOF DER SFORZA
p. 96-155
DIE MADONNA
IN DER
FELSENGROTTE
UND DIE
MEISTERWERKE
AUS
SANTA MARIA
DELLE
GRAZIE
p. 156-221
LEONARDOS AKADEMIE
p. 222-249
ANMERKUNGEN
p. 250-251
LISTE
DER
MALER
p. 252
LISTE
DER
ABBILDUNGEN
p. 253-255
3
4
VORWORT
E
s gibt in den Annalen der Kunst und der Wissenschaft keinen berühmteren Namen als den Leonardo
da Vincis. Und dennoch existiert über dieses herausragende Genie keine Biographie, die ihn in all
seiner Vielseitigkeit bekannt macht.
Die überwiegende Anzahl seiner Zeichnungen ist niemals reproduziert worden, und kein Kritiker hat es
jemals versucht, diese Meisterwerke zu katalogisieren und zu klassifizieren. Ich habe mich zunächst dieser
Aufgabe zugewandt. So kann ich, neben anderen Resultaten, der Öffentlichkeit den ersten kritischen Katalog
der unvergleichlichen Sammlung von Zeichnungen der Königin von England in Windsor Castle präsentieren.
Der Leser wird in den zahlreichen früheren Schriften zu Leonardo vergeblich nach Details zur Entstehung
seiner Bilder, dem Prozess von der ersten Skizze bis zum letzten Pinselstrich suchen. Wie meine Forschungen
zeigen, erreichte Leonardo Perfektion nur durch unermüdliche Arbeit. Es lag an seiner mit ungeheurer
Sorgfalt durchgeführten Grundlagenarbeit, dass die Madonna in der Felsengrotte (S. 166), die Mona Lisa
(vgl. Vol. II, S. 163) und die Anna Selbdritt so voller Leben sind.
Vor allem aber war eine Zusammenfassung und eine Analyse der künstlerischen, literarischen und
wissenschaftlichen Manuskripte gefordert, deren erste vollständige Publikation in unserer Generation von
Gelehrten wie Richter, Charles Ravaisson-Mollien, Beltrami, Ludwig, Sabachnikoff und Rouveyre und den
Mitgliedern der römischen Akademie der “Lincei“ begonnen wurde.
Ich bin überzeugt, dank einer methodischen Untersuchung dieser Handschriften des Meisters tiefer in
das innere Leben meines Helden eingedrungen zu sein als meine Vorgänger. Ich möchte die Aufmerksamkeit
des Lesers besonders auf die Kapitel über Leonardos Einstellung gegenüber den okkulten Wissenschaften,
über seine literarische Bedeutung, seine religiösen Überzeugungen und moralischen Prinzipien sowie seine
– bislang bestrittenen – Studien antiker Modelle lenken.
Ich habe mich ferner bemüht, die Gesellschaft, in der Leonardo lebte und arbeitete, zu beschreiben, vor
allem den Hof von Ludovico il Moro in Mailand, jenes faszinierende und anregende Zentrum, das eine so
große Bedeutung für die italienische Renaissance hatte. Meine ausgedehnte Lektüre hat mich in die Lage
versetzt, bei zahlreichen Bildern und Zeichnungen neue Bedeutungen zu entschlüsseln und den wahren Sinn
vieler Notizen in den Manuskripten aufzuzeigen. Ich bilde mir nicht ein, alle Probleme gelöst zu haben. Ein
Unternehmen wie das vorliegende erfordert die Zusammenarbeit einer ganzen Generation Gelehrter. Die
Bemühungen eines Einzelnen konnten nicht ausreichen. Aber ich kann zumindest beanspruchen, Ansichten,
die ich nicht teilen kann, ausgewogen und höflich erörtert zu haben, weshalb ich vom Leser eine gewisse
Nachsicht erwarten kann.
Mir bleibt noch die angenehme Pflicht, den zahlreichen Freunden und Menschen, mit denen ich
korrespondiert habe, für ihre Hilfe im Verlauf meiner langen und arbeitsreichen Untersuchung zu danken.
Sie sind zu zahlreich, als dass ich Sie hier jeweils nennen könnte, aber ich habe mich im Buch selbst bemüht,
anzuzeigen, wo ich ihnen etwas verdanke.
1. Selbstporträt, ca. 1512.
EUGÈNE MÜNTZ
PARIS, im Oktober 1898
Rötel auf Papier, 33,3 x 21,3 cm.
Biblioteca Reale, Turin.
5
6
LEONARDOS KINDHEIT UND
ERSTEN WERKE
SEINE
L
eonardo da Vinci ist der vollkommenste Vertreter des modernen Intellekts, die großartigste
Verkörperung der Hochzeit von Kunst und Wissenschaft: der Denker, der Dichter, der Zauberer,
dessen Faszination unerreicht ist. Wir finden beim Studium seiner unvergleichlich vielfältigen Kunst
sogar in seinen launenhaften Werken, um Edgar Quintets gelungenen Ausdruck ein wenig abzuwandeln,
“…die Gesetze der italienischen Renaissance und die Geometrie der universalen Schönheit“.
Es ist leider wahr, dass, wenn man die wenigen vollendeten Werke – die Madonna in der Felsengrotte, Das
Abendmahl (S. 194-195), Anna Selbdritt und die Mona Lisa – einmal ausklammert, Leonardos Errungenschaften
als Maler und Bildhauer vor allem in Form großartiger Fragmente vorliegen. Wir müssen uns seinen Zeichnungen
zuwenden, um die Zartheit seines Herzens und den Reichtum seiner Vorstellungskraft zu verstehen.
Zwei Abschnitte des menschlichen Lebens scheinen Leonardo besonders fasziniert zu haben: die Jugend
und das Alter. Die Kindheit und das Erwachsenenleben scheinen ihn weniger interessiert zu haben. Er hat uns
eine ganze Serie von Abbildungen von Jugendlichen hinterlassen, einige träumerisch, andere leidenschaftlich.
Ich kenne in der gesamten modernen Kunst keine Werke, die so frei, großartig und spontan, in einem
Wort göttlich sind und die man den Wundern des Altertums gegenüber stellen könnte. Dank Leonardos
Genie beschwören diese Gestalten, beflügelt, durchscheinend, aber gleichzeitig im höchsten Sinn wahr, eine
Perfektion herauf und transportieren uns auf ihre Ebene. Nehmen wir als Beispiel zwei Köpfe aus dem
Louvre. Wenn ich mich nicht irre, illustrieren sie die klassische Schönheit und das Schönheitsideal der
Renaissance. Der erste zeigt einen Jugendlichen mit einem Profil, das so pur und korrekt ist wie das einer
griechischen Kamee. Sein Hals ist nackt, und in sein langes, kunstvoll gelocktes Haar ist ein Lorbeerkranz
geflochten. Der zweite Kopf zeigt denselben Typus, ist aber im italienischen Stil, kraftvoller und lebendiger,
gehalten. Das Haar ist von einer kleinen Kappe bedeckt und um die Schultern findet sich eine Andeutung
eines bis zum Hals zugeknöpften Wamses. Die Locken fallen natürlich und ungekünstelt. Wer kann in diesen
beiden Köpfen nicht den Kontrast zwischen der klassischen, im Kern idealistischen und der Form
gewidmeten Kunst und der modernen Kunst erkennen, die freier, spontaner und lebhafter ist?
Leonardos Darstellungen erwachsener Menschen sind kraftvoll und voller Energie und Willen. Sein Ideal
ist ein Mann wie eine Eiche. Einen solchen zeigt die Profilansicht in der Royal Library in Windsor, dessen
Züge so fest modelliert sind. Diese Zeichnung sollte mit einer anderen desselben Kopfes in jüngerem Alter
verglichen werden.
Das Alter wird uns in all seinen unterschiedlichen Aspekten, von der Majestät bis zur Gebrechlichkeit,
präsentiert. Einige Gesichter sind bis auf die bloße Knochenstruktur reduziert, in anderen sehen wir den
Verfall der Gesichtszüge, die Hakennase, das zum Mund heraufgezogene Kinn, die schlaffen Muskeln, den
kahlen Kopf. Das großartigste dieser Bilder ist Leonardos Selbstbildnis: ein kraftvoller Kopf mit
durchdringenden Augen unter zusammengezogenen Augenlidern, ein spöttischer Mund mit einem fast
bitteren Ausdruck, eine feine, wohlproportionierte Nase, lange Haare und ein langer unordentlicher Bart. Das
Ganze erinnert an einen Sternendeuter, wenn nicht gar einen Magier.
Wenn wir uns seiner Darstellung des weiblichen Ideals zuwenden, sehen wir dieselbe Frische und
Vielfalt. Seine Frauen sind mal offen, mal rätselhaft, mal stolz, mal zärtlich, ihre Augen blicken träge oder
es leuchtet in ihnen ein undefinierbares Lächeln. Und doch war Leonardo, wie Donatello, einer jener
außergewöhnlichen großen Künstler, in deren Leben die Liebe zur Frau keine Rolle gespielt zu haben
scheint. Während Eros’ Pfeile in der epikureischen Renaissancewelt um den Meister herum niedergingen;
während Giorgione und Raffael als Opfer zu leidenschaftlich erwiderter Leidenschaften starben; während
Andrea del Sarto seine Ehre der Liebe zu seiner launischen Frau Lucrezia Fedi opferte; während selbst
2. Die Madonna mit der Blume
(Madonna Benois), 1475-1478.
Öl auf Leinwand, von Holz
übertragen, 49,5 x 33 cm.
Eremitage, St Petersburg.
7
3. Cimabue, Thronende Madonna mit
acht Engeln und vier Propheten,
ca. 1280.
Tempera auf Holztafel,
385 x 223 cm.
Galleria degli Uffizi, Florenz.
4. Giotto di Bondone, Thronende
Gottesmutter mit dem Kind, 1310.
Tempera auf Holztafel,
325 x 204 cm.
Galleria degli Uffizi, Florenz.
8
9
10
LEONARDOS KINDHEIT
UND SEINE
ERSTEN WERKE
Michelangelo, der nüchterne Misanthrop, für Vittoria Colonna eine gleichermaßen leidenschaftliche wie
respektvolle Zuneigung hegte, widmete Leonardo sich vollständig der Kunst und der Wissenschaft und
schwebte über den menschlichen Schwächen. Die Freuden des Geistes genügten ihm. Er selbst drückte
es deutlich aus: “Die schöne Menschheit vergeht, aber die Kunst überdauert.“ (“Cosa bella mortal passa
e non arte.“)
Kein anderer Künstler war jemals so von seiner Kunst absorbiert wie er, auf der einen Seite von der
Suche nach der Wahrheit, auf der anderen Seite von der Verfolgung eines Ideals, das die exquisite Zartheit
seines Geschmacks befriedigen sollte. Niemand brachte vergänglichen Gefühlen jemals weniger Opfer dar.
In den uns von ihm hinterlassenen 5000 Manuskriptblättern erwähnt er nicht ein einziges Mal einen
Frauennamen, außer um mit der Trockenheit eines Naturforschers einen Charakterzug zu benennen, der ihm
in einer Person aufgefallen ist: “Giovannina hat ein fantastisches Gesicht; sie ist im Hospital in Santa
Catarina.“ Dies ist typisch für seine kurzen Feststellungen.
Uns fällt sofort Leonardos Sorgfalt bei der Auswahl seiner Modelle auf. Er war kein Verfechter der
Anerkennung der Natur an sich, sei sie schön oder hässlich, interessant oder unbedeutend. Er widmete sich
über Monate hinweg der Suche nach außergewöhnlichen Verkörperungen des Menschlichen. Das Porträt
der Gioconda zeigt uns, mit welcher Hartnäckigkeit er sich der Wiedergabe seines Modells widmete, sobald
er einen solchen Phoenix gefunden hatte. Es ist zu bedauern, dass er bei der Suche nach wirklich schönen
und sympathischen, leuchtenden oder verführerischen Frauentypen weniger engagiert war als bei der nach
alten oder jungen Männern oder nach an Karikaturen grenzenden Typen. Es wäre so interessant gewesen,
von seiner Hand eine ganze Ikonographie, sei es auch nur in Form einer Serie von Zeichnungen, zu haben
– zusätzlich zu den drei oder vier Meisterwerken, auf die er seine Kräfte konzentrierte: die unbekannte
Prinzessin aus der Ambrosiana, Isabella d’Este, La Belle Ferronnière und die Gioconda. Wie kam es, dass all
die großen Damen der italienischen Renaissance nicht danach strebten, von jenem magischen Pinsel
unsterblich gemacht zu werden? Leonardos Subtilität und Hellsichtigkeit prädestinierten ihn eigentlich zum
herausragenden Interpreten der Frau. Kein anderer hätte mit einer vergleichbaren Kombination aus Subtilität
und Vornehmheit ihre Gesichtszüge abbilden und ihren Charakter analysieren können.
Gleichzeitig erfreute sich, so seltsam dies ist, der Künstler, der die Frau in einer so exquisiten Darstellung
verherrlicht hatte, auf Grund einer kuriosen und starken Abscheu daran, die extremen Deformationen jenes
Geschlechts zu unterstreichen, dessen wertvollste Mitgift die Schönheit ist. In einem Wort, der
Wissenschaftler kam hier in Konflikt mit dem Künstler: Leonardo kontrastiert Frauen in all ihrer jugendlichen
Frische mit den Köpfen von Xanthippen und Schwachsinnigen und jeder Form abstoßender Verzerrung. Es
scheint fast so, als wollte Leonardo – um eine Idee von Champfleury auszuleihen – dafür einen Ausgleich
schaffen, dass er in seinen Bildern so vieles idealisiert hatte. Champfleury ergänzt: “Der italienische Meister
hat die Frau härter behandelt als die eigentlichen Karikaturisten, denn die meisten von jenen scheinen ihre
Liebe zur Schönheit dadurch zum Ausdruck zu bringen, dass sie die Frau respektieren, während sie den
Mann mit ihrem Sarkasmus verfolgen.“
Als Bildhauer zeichnete Leonardo sich – nach Verrocchio und Donatello – durch die Wiedererweckung
der monumentalen Darstellung des Pferdes aus.
Leonardo war nicht nur Maler und Bildhauer, sondern auch Dichter, und zwar nicht der geringste unter
ihnen. Er ist tatsächlich sogar hauptsächlich ein Dichter: zunächst in seinen Bildern, die eine ganze Welt
schöner Eindrücke heraufbeschwören, zweitens in seinen Prosaschriften, vor allem in seinem Traktat über die
Malerei, den die Welt erst vor kurzem vollständig zu Gesicht bekommen hat. Wenn er die in ihm so stark
ausgeprägte analytische Fähigkeit zum Schweigen brachte, erhob sich seine Vorstellungskraft mit
unvergleichlicher Freiheit und Leichtigkeit in große Höhen. Statt der professionellen Fähigkeiten, die zu leicht
zu Routine degenerieren, finden wir Emotion, Fantasie, Reichtum und originelle Bilder – ebenfalls sehr
wertvolle Qualitäten. Auch wenn Leonardo nicht von aktuellen Formeln, von geflügelten und eindrucksvollen
Worten, von der Kunst der Kondensation weiß, macht er doch mit seinem angeborenen Charme und durch
einen magischen Ausbruch seines Genies großen Eindruck auf uns.
5. Leonardo da Vinci und Andrea del
Verrocchio, Madonna mit dem
Kind und Engeln, ca. 1470.
Tempera auf Holztafel,
96,5 x 70,5 cm.
The National Gallery, London.
6. Jacopo Bellini, Die von Leonello
d’Este bewunderte Madonna der
Demut, ca. 1440.
Öl auf Holztafel, 60 x 40 cm.
Musée du Louvre, Paris.
7. Madonna mit der Nelke, ca. 1470.
Öl auf Holztafel, 62 x 47,5 cm.
Alte Pinakothek, München.
11
Der Denker und der Moralist sind Verbündete des Dichters. Leonardos Aphorismen und Maximen bilden
einen wertvollen Schatz der italienischen Weisheit der Renaissancezeit. Es handelt sich bei ihnen um mit
unendlicher Zartheit verbundenen Instinkt, eine grenzenlose Süße und Gelassenheit. So rät er uns einmal, die
Studien zu vernachlässigen, da ihre Ergebnisse mit uns sterben, ein anderes Mal erklärt er, dass derjenige, der in
einem Tag reich werden will, Gefahr läuft, in einem Jahr gehängt zu werden. Die Eloquenz anderer Gedanken wird
nur von ihrer Tiefe erreicht: “Wo das meiste Gefühl ist, wird es auch das meiste Leid geben“. – “Tränen kommen
vom Herzen, nicht vom Gehirn.“ Es ist der Physiologe, der hier spricht; aber welcher Denker wäre nicht auf diese
bewundernswerte Definition stolz gewesen! Auch der Wissenschaftler verdient unsere Bewunderung. Es ist kein
Geheimnis mehr, dass Leonardo ein Gelehrter von höchstem Rang war, dass er 20 Naturgesetze erkannte,
während die Entdeckung nur eines einzigen seinen Nachfolgern zu
Ruhm verhalf. Was sage ich? Er erfand die Methode der modernen
Wissenschaft und sein späterer Biograph M. Séaillesi hat ihn zu Recht als
den wahren Vorläufer Bacons bezeichnet. Die Namen einer Reihe von
Genies - Archimedes, Columbus, Galileo, Kopernikus, Cuvier, Harvey,
Newton, Pascal, Lavoisier – sind mit Entdeckungen von größerer
Bedeutung verbunden. Aber gibt es einen, der eine solche Vielzahl an
angeborenen Begabungen vereinte, der mit einer so leidenschaftlichen
Neugier und so großem Erkenntnisdrang so unterschiedliche
Wissensbereiche untersuchte; der so erhellende Geistesblitze und eine
solch große Intuition für die unbekannten Verbindungen zwischen den
Dingen hatte? Wären seine Schriften veröffentlicht worden, hätten sie
den Fortschritt der Wissenschaft um ein ganzes Jahrhundert
beschleunigt. Wir können seine Bescheidenheit und seine ausgeprägte
Abneigung vor der Druckkunst nicht genug beklagen. Während ein
Schreiber wie sein Freund Fra Luca Pacioli mehrere Bände in schönen
Typen vorweisen kann, veröffentlichte Leonardo, aus Stolz oder aus
Furcht, niemals auch nur eine einzige Zeile.
In dieser kurzen Skizze begegnen uns einige der Eigenschaften,
die Leonardo Michelangelo und Raffael ebenbürtig und zu einem der
führenden Meister des Gefühls, des Denkens und der Schönheit
machen.
Es ist an der Zeit für eine methodische Analyse so vieler Wunder,
ich könnte sagen, so vieler tours de force, wäre Leonardos Kunst
nicht so gesund und so normal, so zutiefst lebendig. Wir werden
damit beginnen, die Herkunft und die frühen Jahre des Zauberers zu
beleuchten. Der Maler von Das Abendmahl und La Gioconda, der
Bildhauer der Reiterstatue von Francesco Sforza, das
wissenschaftliche Genie, das so viele unserer modernen Erfindungen
und Entdeckungen vorwegnahm, wurde 1452 in der Umgebung von
Empoli am rechten Ufer des Arno zwischen Florenz und Pisa
geboren. Die kleine Stadt Vinci, in der er das Licht der Welt erblickte, liegt versteckt in den zahlreichen
Wellen des Monte Albano. Auf der einen Seite die Ebene mit dem Fluss – mal fast ausgetrocknet, mal ein
lauter gelber Strom; auf der anderen eine der am stärksten gebrochenen Landschaften überhaupt; endlose,
mit Häusern bedeckte Hügel und hier und da eine eindrucksvollere Erhöhung, dessen kahle Spitze beim
Sonnenuntergang in violettes Licht getaucht ist.
Leonardos Heimat war damals so, wie wir sie noch heute sehen; eher streng als lächelnd oder
überschwänglich, eine felsige Gegend, die von Mauern unterbrochen wird, über die, in der Nähe der Häuser,
zuweilen der Ast eines Rosenbusches kriecht. Reben und Olivenbäume bilden den Kern der Vegetation. Hier
12
14
LEONARDOS KINDHEIT
UND SEINE
ERSTEN WERKE
und da erhascht man einen Blick auf ein Haus, eine
Hütte oder einen Bauernhof. Aus der Ferne wirkt die
Behausung mit ihren gelben Wänden und grünen
Fensterläden freundlich, aber im Inneren findet
man Nacktheit und Armut – die Wände tragen
nur eine einfache Schicht aus rauem Putz und
der Boden besteht aus Zement oder
Ziegelsteinen. Es gibt nur wenig Mobiliar, und
das vorhandene ist ärmlich, während Teppiche
oder Tapeten völlig fehlen. Nichts sorgt hier für
Bequemlichkeit, geschweige denn für Luxus.
Und schließlich existiert keinerlei Vorrichtung
gegen die in diesem Landesteil während der
langen Wintermonate sehr bittere Kälte.
Auf diesen strengen Höhen ist ein
genügsamer, fleißiger und aufmerksamer
Menschenschlag aufgewachsen, der von der
Nonchalance des Römers, dem Mystizismus
des Umbriers oder der nervösen Aufgeregtheit
des Neapolitaners unberührt geblieben ist. Die
Mehrheit der Menschen arbeitet in der
Landwirtschaft,
und
die
wenigen
Kunsthandwerker sind allein für den lokalen
Markt tätig. Die sich vom Horizont ihrer
Dörfer eingeengt fühlenden ehrgeizigeren
Geister gehen nach Florenz, Pisa oder Siena, um ihr Glück zu suchen.
Einige moderne Biographen schreiben von der Burg, in der Leonardo zuerst das Licht der Welt erblickte,
und sie fügen sogar noch einen der Familie verbundenen Lehrer, eine Bibliothek, in der das Kind zunächst
seine Neugier stillte und noch vieles mehr hinzu. Aber all dies gehört – es muss gesagt werden – in den
Bereich der Legende und nicht den der Geschichte.
Es gab zwar eine Burg in Vinci, es handelte sich jedoch um eine Festung in florentinischem Besitz. Leonardos
Eltern können nur in einem Haus gelebt haben, und zwar einem recht bescheidenen. Wir wissen nicht einmal,
ob sich dieses Haus überhaupt innerhalb der Stadtmauern von Vinci oder etwas außerhalb, im Dorf Anchiano
befand. Die Dienerschaft bestand aus einer fante, d.h. einer Dienerin, die pro Jahr acht Gulden erhielt.
Wenn es überhaupt eine Familie gab, der die Welt der Kunst fremd war, dann war es die Leonardos.
Von seinen fünf Vorfahren väterlicherseits hatten vier die Position eines Notars eingenommen, die diesen
würdigen Amtsträgern den dem französischen maitre entsprechenden Titel Ser eingebracht hatte. Es handelte
sich um Leonardos Vater, seinen Großvater, den Urgroßvater und den Ururgroßvater. Es muss uns nicht
überraschen, dass sich dieser unabhängige Geist par excellence inmitten von staubigen Rechtsbüchern
entwickelte. Der italienische Notar entsprach in keiner Weise dem pompösen Schreiber moderner
Dramatiker. Im 13. Jahrhundert mangelte es Brunetto Latini, Dantes Meister, sehr an der pedantischen
Ernsthaftigkeit, die wir heute mit diesem Berufsstand verbinden. Im folgenden Jahrhundert wurde ein anderer
Notar – Ser Lappo Mazzei de Prato – durch seine Briefe berühmt, die im reinsten toskanischen Idiom feurig
von den zeitgenössischen Sitten berichteten. Im 15. Jahrhundert schließlich gab der Notar von Nantiporta
eine nicht immer erhabene Chronik des römischen Hofs heraus. Wir sollten uns ferner vor Augen führen,
dass auch Brunellesco und Masaccio die Söhne von Notaren waren.
Ein besonders interessanter Aspekt der Nachzeichnung von Leonardos Herkunft und seiner familiären
Verbindungen ist die bemerkenswerte Schicksalsfügung, dass dieses künstlerische Phänomen aus der Verbindung
8. Andrea Mantegna, Taufe Christi,
ca. 1500-1505.
Tempera auf Leinwand,
228 x 175 cm.
Kirche Sankt Andrea, Mantua.
9. Piero della Francesca, Taufe Christi,
ca. 1440-1445.
Tempera auf Holztafel,
167 x 116 cm.
The National Gallery, London.
10. Werkstatt von Andrea del
Verrocchio, Studie des Engels für
die Taufe Christi, ca. 1470.
Metallstift und Ocker, 23 x 17 cm.
Biblioteca Reale, Turin.
11. Leonardo da Vinci und Andrea del
Verrocchio, Taufe Christi (Detail),
1470-1476.
Öl und Tempera auf Holztafel,
177 x 151 cm.
Galleria degli Uffizi, Florenz.
15
eines Notars mit einem Bauernmädchen hervorging, und zwar inmitten der normalsten und sachlichsten
Umgebung. Bei Raffael kann man gut von der Auswahl der Natur und einer erblichen Veranlagung, von
Anregungen durch die Bildung sprechen. Die Wahrheit ist jedoch, dass bei der großen Mehrheit unserer
berühmten Künstler die Begabungen und besonderen Fähigkeiten der Eltern keine Rolle spielen und die
persönliche Berufung, das geheimnisvolle Geschenk, alles ist. Oh, ihr eitlen Theorien von Darwin und Lombrosco,
widerlegt nicht die unerklärliche Erscheinung großer Talente und großer Genies eure Theorien? So wie nichts in
der Tätigkeit von Leonardos Vorfahren auf die Entwicklung einer
künstlerischen Berufung hinwies, so waren auch der Neffe und
der Großneffe des großen Mannes wiederum lediglich einfache
Bauern. Auf diese Weise verhöhnt die Natur unsere
Spekulationen! Wenn die Anhänger Darwins ihren Plan der
Kreuzung auf die menschliche Gattung anwenden könnten,
bestünde die große Möglichkeit, dass das Resultat eine Rasse
von Ungeheuern und nicht von überlegenen Königen sein
würde. Aber auch wenn Leonardos Eltern ihm kein Genie
vererben konnten, konnten sie ihm doch zumindest eine gute
Gesundheit und ein großzügiges Herz mit auf den Weg geben.
Leonardo muss als Kind seinen Großvater väterlicherseits,
Antonio di Ser Piero, der 84 Jahre alt war, als der Junge fünf
war, gekannt haben. Auch seine Großmutter, die 21 Jahre
jünger als ihr Ehemann war, muss Leonardo gekannt haben. Es
gibt über diese beiden Personen keine weiteren Informationen,
und ich will offen gestehen, dass ich nicht versuchen werde, die
sie umgebenden Rätsel aufzulösen. Es wäre aber nicht zu
entschuldigen, wenn ich nicht mit allen Mitteln versuchen
würde, zumindest einige charakteristische Eigenschaften ihres
Sohnes, des Vaters Leonardos, aufzudecken.
Ser Piero war bei Leonardos Geburt 22 oder 23 Jahre alt.
Er war – wie die existierenden Dokumente trotz ihrer
Trockenheit klar belegen – ein aktiver, intelligenter und
unternehmungslustiger Mann und der wahre Begründer des
Familienvermögens. Er begann klein, baute seine Praxis aber
rasch aus und erwarb mehr und mehr Grund und Boden,
kurz, er entwickelte sich von einem armen Dorfnotar zu
einem wohlhabenden und allseits respektierten Mann. Im Jahr
1498 z.B. sehen wir ihn als Besitzer mehrerer Häuser und
verschiedener Grundstücke unterschiedlicher Größe. Nach
seiner Vermehrung des Vermögens, seinen vier Ehen, denen
eine uneheliche Beziehung vorausging und auch nach seinen
zahlreichen Nachkommen zu urteilen, besaß er zweifellos
eine lebhafte und überschwängliche Natur. Er war eine jener patriarchalischen Figuren, die Benozzo Gozzoli
so treffend auf die Wand des Campo Santo in Pisa malte.
Noch in jungem Alter ging Ser Piero eine Verbindung mit jener Frau ein, die zwar niemals seine Ehefrau,
aber die Mutter seines ältesten Sohns war. Es handelte sich um eine gewisse Catarina, mit größter
Wahrscheinlichkeit ein einfaches Bauernmädchen aus Vinci oder der Umgebung. (Ein anonymer Autor des
16. Jahrhunderts behauptet dennoch, dass Leonardo “...per madre nato di bon sangue“ war.) Diese Liaison
war von kurzer Dauer. Ser Piero heiratete in Leonardos Geburtsjahr, während Catarina einen Mann ihres
eigenen Standes heiratete, der den nicht sonderlich wohlklingenden Namen Chartabrigha oder
16
LEONARDOS KINDHEIT
UND SEINE
ERSTEN WERKE
Accarrabrigha di Piero del Vaccha trug, wahrscheinlich ebenfalls ein Bauer – wovon konnte man sich in Vinci
schließlich ernähren, wenn nicht vom Acker! Im Gegensatz zur modernen Sitte und dem modernen Gesetz
übernahm es der Vater, das Kind aufzuziehen.
Leonardos Position war zu Beginn relativ beneidenswert, da seine ersten beiden Stiefmütter keine
eigenen Kinder hatten – ein Umstand, der bislang nicht beachtet worden ist und der erklärt, warum sie den
kleinen Eindringling adoptierten: er machte niemandem sein Erbrecht streitig.
Leonardo war bereits 23, als sein Vater – der die verlorene Zeit anschließend so schnell aufholte – immer
noch keine ehelichen Nachkommen hatte. Mit der Ankunft des ersten Bruders jedoch endete das Glück des
jungen Mannes und es gab für ihn unter dem Dach seines Vaters keinen Frieden mehr. Er erkannte, dass ihm
nichts anderes übrig blieb, als sein Glück anderswo zu suchen und wartete nicht ab, bis man ihm dies zum
zweiten Mal sagte. Zu diesem Zeitpunkt verschwindet sein Name in offiziellen Dokumenten auch aus den
Listen der Familie.
Leonardo erwähnt bei mehr als einer Gelegenheit seine Eltern, vor allem seinen Vater, den er bei seinem
Titel Ser Piero nennt. Es findet sich allerdings kein Wort, aus dem man Rückschlüsse auf Leonardos Gefühle
gegenüber seinem Vater ziehen könnte. Man könnte versucht sein, ihm Gefühlskälte vorzuwerfen, wenn eine
solche Abwesenheit von Gefühl nicht ein charakteristisches Merkmal dieser Zeit wäre. Sowohl Eltern als auch
Kinder unterdrückten ihre Emotionen und vermieden insbesondere auch nur die kleinste Andeutung von
Sentimentalität. Keine Epoche legte jemals eine deutlichere Abneigung gegen Gefühle oder Pathos an den Tag.
Nur hier und da, in Briefen – etwa in den bewundernswerten Briefen der florentinischen Patrizierin Alessandra
Strozzi, der Mutter des berühmten Bankiers – entkommt ein nicht zu unterdrückender Schrei des Herzens.
Aber dennoch ist Leonardos Gelassenheit außergewöhnlich groß und stellt ein echtes psychologisches
Problem dar. Der Meister registriert ohne ein einziges Wort des Zorns, des Gefühls oder des Bedauerns die
kleinen Diebstähle seines Schülers, den Untergang seines Gönners Ludovico il Moro, den Tod seines Vaters.
Und doch wissen wir, welcher Reichtum an Freundlichkeit und Zuneigung in ihm schlummerte, wie
nachsichtig er war, sogar gegenüber der Schwäche, gegenüber seinen Dienern, wie er sich ihren Launen
beugte, sie pflegte, wenn sie krank waren und ihren Schwestern eine Mitgift gab.
Wir wollen nun die Beschreibung von Leonardos Beziehung zu seiner leiblichen Familie, die ihn indes nicht
adoptierte, beenden. Ser Piero starb am 9. Juli 1504 im Alter von 77 Jahren, und nicht von 80 Jahren, wie
Leonardo berichtet, als er lakonisch seinen Tod vermerkt. Von seinen vier Stiefmüttern wird nur die letzte,
Lucrezia, die 1520 noch am Leben war, von einem Dichterfreund Leonardos, Bellincioni, lobend erwähnt. Die
allesamt den beiden letzten Ehen seines Vaters entstammenden neun Söhne und zwei Töchter scheinen eher die
Feinde als die Freunde ihres unehelichen Stiefbruders gewesen zu sein. Nach dem Tod ihres Onkels im Jahr 1507
machten sie ihm finanzielle Schwierigkeiten. In seinem Testament vom 12. August 1504 hatte Francesco da Vinci
Leonardo ein wenig Grund und Boden vermacht – und prompt kam es zu einem Rechtsstreit. Später gelang
allerdings eine Einigung. Im Jahr 1513, während Leonardos Aufenthalt in Rom, trug eine seiner Schwägerinnen
ihrem Ehemann auf, den sich zu diesem Zeitpunkt auf dem Höhepunkt seines Ruhmes befindenden Leonardo
an sie zu erinnern. In seinem Testament vermachte Leonardo seinen Brüdern als Zeichen seiner Zuneigung jene
400 Gulden, die er im Hospital von Santa Maria Novella in Florenz hinterlegt hatte. Schließlich fügte Leonardos
geliebter Schüler Melzi in seinem die Brüder über Leonardos Tod in Kenntnis setzenden Brief hinzu, dass
Leonardo ihnen sein kleines Grundstück in Fiesole hinterließ. Das Testament hingegen sagt zu diesem Punkt
nichts. Darüber hinaus blieb eines seiner Jugendwerke, die Zeichnung von Adam und Eva, im Besitz eines seiner
Verwandten (laut Vasari sein Onkel), der sie anschließend Ottavio de Medici schenkte.
Bis auf einen Neffen Leonardos, Pierino, einen fähigen Bildhauer, der um die Mitte des 16. Jahrhunderts
im Alter von 33 Jahren in Pisa verstarb, ist kein anderes Mitglied der Familie da Vinci in die Geschichte
eingegangen. Die einzige Eigenschaft, die die Mitglieder der Familie von ihrem gemeinsamen Vorfahren
geerbt zu haben scheinen, ist eine außergewöhnliche Vitalität. Es gibt sogar in unserer Zeit Nachfahren von
Ser Piero. Signor Uzielli, ein sehr glücklicher Forscher, entdeckte 1869 in der Nähe von Montespertoli an
einem Ort namens Bottinaccio einen Bauern namens Tommaso Vinci. Die entsprechenden Nachforschungen
12. Leonardo da Vinci und Andrea del
Verrocchio, Taufe Christi,
1470-1476.
Öl und Tempera auf Holztafel,
177 x 151 cm.
Galleria degli Uffizi, Florenz.
19
ergaben, dass dieser Bauer, der die Familienpapiere in seinem Besitz hatte und wie sein Vorfahre Ser Piero
mit einer umfangreichen Nachkommenschaft gesegnet war, tatsächlich ein Nachkomme von Domenico,
einem von Leonardos Halbbrüdern, war. Ein Mitleid erregender Zug in dieser Familie, die ihre hohe Stellung
eingebüßt hat, ist die Tatsache, dass Tommaso da Vinci seinem ältesten Sohn den glorreichen Namen
Leonardo gab. Auf Seite 15 findet sich die Genealogie der Familie da Vinci gemäß den Aufzeichnungen von
Signor Uzielli.
Nichts reicht an die Lebenskraft italienischer Familien heran. Wie die von Leonardo existiert auch die
Michelangelos noch heute. Aber welch ein Niedergang! Als 1875 anlässlich der Hundertjahrfeierlichkeiten
nach überlebenden Mitgliedern der Familie Buonarroti gesucht wurde, kam ans Licht, dass der Kopf der
Familie, Graf Buonarroti, wegen Fälschung zum Galeerendienst verurteilt worden war, ein anderes
Familienmitglied in Siena als Droschkenkutscher arbeitete und wiederum ein anderes ein gewöhnlicher
Soldat war. Wir wollen hoffen, dass er zu Ehren seines berühmten Vorfahren zum General befördert wurde!
Wenn die jüngsten Vertreter von Leonardos Haus auch keine hohen Positionen einnehmen, so ist ihr Name
doch wenigstens unbefleckt.
Nachdem wir uns mit der Familie von Leonardo da Vinci bekannt gemacht haben, ist es an der Zeit, die
Eigenschaften dieses genialen Kindes zu analysieren, seine mit vielen Gaben versehene Natur, diesen
ausgezeichneten Kavalier, diesen Proteus, Hermes, Prometheus - Titel, die sich in den Schriften seiner
beeindruckten Zeitgenossen immer wieder finden.
13. Entwurf für den Tiburio,
Mailänder Dom, ca. 1450-1500.
Biblioteca Ambrosiana, Mailand.
14. Studien von Kirchen mit Plänen
des Mittelschiffes, 1485-1490.
Feder und Tinte, 23,3 x 16,2 cm.
Bibliothèque de l’Institut de
France, Paris.
15. Studien von antiken Gebäuden,
Arenen und Kirchen mit Plänen
des Mittelschiffes. Stift und Tinte.
Biblioteca Ambrosiana, Mailand.
21
16. Anonym, Dom von Florenz,
1418-1436. Florenz.
17. Anonym, Santa Maria della
Consolazione, nach einem
Entwurf von Bramante, 1508.
Todi.
22
“Wir sehen, wie die Vorsehung“, schreibt einer von ihnen, “die wertvollsten Geschenke auf bestimmte
Männer herabregnen lässt, häufig gleichmäßig, häufig im Überfluss: wir sehen, wie sie in ein und demselben
Wesen ohne Maß Schönheit, Anmut und Talent vereint und jede dieser Eigenschaften zu einer solchen
Vollkommenheit bringt, dass, wohin sich der Privilegierte auch wendet, jede seiner Handlungen göttlich ist und
jene anderer Menschen übertrifft; seine Qualitäten erscheinen als das, was sie in Wahrheit auch sind: von Gott
verliehen und nicht durch menschlichen Fleiß erlangt. So war es bei Leonardo da Vinci, in dessen Handlungen
sich physische Schönheit jenseits jeglichen Lobs und endlose Anmut vereinten; was seine Talente anbetraf, so
war es so, dass er, welche Schwierigkeit sich auch präsentierte, alles ohne Mühe löste. In ihm verbündete sich
Schnelligkeit mit außergewöhnlich großer Kraft; sein Geist und sein Mut zeigten etwas Königliches und
Prachtvolles. Sein Ruhm schließlich erreichte solche Ausmaße, dass er, so verbreitet er schon zu seiner
Lebenszeit war, sich noch über seinen Tod hinaus erstreckte.“
Vasari, dem wir diese eloquente Einschätzung verdanken, schließt
mit einer Phrase, deren kraftvolle Wiedergabe der Majestät der
beschriebenen Person sich kaum übersetzen lässt: “Lo splendor dell’
aria sue, che bellissimo era, rissereneva ogni animo mesto.“ (“Die
Pracht seiner Erscheinung, die ohne Maßen schön war, erfreute die
traurigsten Seelen.“)
Leonardo war von der Natur mit einer äußerst ungewöhnlichen
Muskelkraft ausgestattet worden, er konnte den Schwengel einer Glocke
oder ein Hufeisen verbiegen, als seien sie aus Blei. Es verband sich jedoch
eine Schwäche mit dieser außergewöhnlichen Fähigkeit: der Künstler war
Linkshänder – seine Biographen bestätigen dies–, und im Alter raubte
ihm eine Lähmung schließlich die Kontrolle über seine rechte Hand.
Die Renaissance hatte bereits einen vergleichbaren
außergewöhnlichen Menschen hervorgebracht, der die seltensten
intellektuellen Fähigkeiten mit jeder körperlichen Vollkommenheit, Kraft,
Schönheit, Schnelligkeit vereinte. Leone Battista Alberti, der große
florentinische Denker und Künstler, gleichzeitig Mathematiker, Dichter,
Musiker, Philosoph, Architekt, Bildhauer und eifriger Schüler der Antike,
zeichnete sich bei allen körperlichen Übungen aus. Die feurigsten
Pferde zitterten vor ihm; er konnte mit sich berührenden Füßen über die
Schulter eines erwachsenen Menschen springen; in der Kathedrale von
Florenz warf er häufiger eine Münze mit solcher Kraft in die Luft, dass
man hören konnte, wie sie gegen die Gewölbedecke dieses
gigantischen Bauwerks schlug. Der Tempel des Heiligen Franziskus in
Rimini, der Rucellai-Palast in Florenz, die Erfindung der camera lucida,
die früheste Verwendung von freien Rhythmen in der italienischen Sprache, die Reorganisation des italienischen
Theaters, Traktate über die Malerei, die Bildhauerei und viele andere Werke von höchstem Rang – all dies
begründet Albertis Anspruch auf die Bewunderung und Dankbarkeit der Nachwelt. Aber die sich ihrer Reife
nähernde Renaissance sollte einen anderen Sohn von Florenz mit sogar noch größerer Kraft und einem noch
breiteren Spektrum an Fähigkeiten ausstatten. Wie pedantisch, eng, ja geradezu ängstlich Alberti im Vergleich
zu Leonardo erscheint!
Diese intellektuellen Fähigkeiten hatten keinerlei negative Auswirkungen auf die Qualitäten des Herzens.
Wie Raffael war auch Leonardo für seine grenzenlose Freundlichkeit bekannt, und wie dieser widmete er sogar
Tieren Interesse und Zuneigung. Vasari berichtet, dass Leonardo ein so reizendes Verhalten an den Tag legte
und über eine so große Fähigkeit zur Konversation verfügte, dass er alle Herzen für sich gewann. Obwohl er in
gewisser Hinsicht selbst wenig hatte und wenig arbeitete, hatte er doch immer Diener und Pferde. An den
Pferden hing er sehr, wie überhaupt an allen Tieren. Er zog sie auf und zähmte sie mit so viel Liebe wie Geduld.
23
Wenn er an den Orten vorbeikam, an denen Vögel verkauft wurden, kaufte er häufig welche, befreite sie mit
seinen eigenen Händen aus ihren Käfigen und gab ihnen die Freiheit wieder. Andrea Corsali schrieb 1515
Giuliano de Medici aus Indien, dass die Einwohner jener Gegend wie “il nostro Leonardo da Vinci“ nicht
zulassen, dass einem Lebewesen Gewalt angetan wird.ii Dieses Verlangen nach Zuneigung, diese
Großzügigkeit, diese Gewohnheit, ihre Schüler wie Familienmitglieder anzusehen, sind Eigenschaften, die die
beiden großen Maler gemeinsam haben, sie jedoch gleichzeitig von Michelangelo unterscheiden, dem
misanthropischen, einsamen Künstler, dem eingeschworenen Gegner von Feiern und Genuss. Hinsichtlich der
Gestaltung seiner Laufbahn hingegen ähnelt Raffael Michelangelo viel stärker als Leonardo, der sprichwörtlich
nachlässig und sorglos war. Raffael aber bereitete seine Zukunft mit großer Sorgfalt vor. Er war nicht nur begabt,
sondern auch sehr fleißig und widmete sich schon früh dem Aufbau seines Vermögens, während Leonardo von
der Hand in den Mund lebte und seine eigenen Interessen den Erfordernissen der Wissenschaft unterordnete.
Von Anfang an – und hier zögern wir nicht, Vasaris Zeugnis Glauben zu schenken – zeigte das Kind
einen unbescheidenen, ja zuweilen extravaganten Hunger nach Wissen jeglicher Art. Er hätte große
Fortschritte gemacht, wenn nicht seine ausgeprägte Sprunghaftigkeit gewesen wäre. Er stürzte sich
leidenschaftlich auf das Studium einer Wissenschaft nach der anderen, kam sofort auf die Wurzel der
Probleme, stellte die Arbeit jedoch so schnell wieder ein, wie er sie begonnen hatte. Während der wenigen
der Arithmetik, oder besser der Mathematik gewidmeten Monate erwarb er sich so tiefe Kenntnisse, dass er
seinen Meister immer wieder überraschte und beschämte. Die Musik zog ihn genauso an. Die Laute konnte
er besonders gut spielen, und er benutzte dieses Instrument später zur Begleitung der von ihm improvisierten
Lieder. Kurz, er wollte wie ein zweiter Faust den riesigen Kreis des menschlichen Wissens umspannen, wobei
24
er sich nicht damit zufrieden gab, die Entdeckungen seiner Zeitgenossen zu verstehen, sondern sich direkt
der Natur zuwandte, um das Feld der Wissenschaft zu vergrößern.
Wir haben nun die seltenen Fähigkeiten des jungen Genies, die Vielseitigkeit seiner Interessen und
Leistungen herausgestellt: seine Vortrefflichkeit in allen körperlichen Übungen und allen intellektuellen
Wettbewerben. Es ist nun an der Zeit zu beschreiben, wie er diese außergewöhnlichen Begabungen nutzte.
Trotz seiner frühreifen Vielseitigkeit zeigte sich eine vorherrschende Eigenschaft deutlich, eine starke, eine
unwiderstehliche Berufung für die gestaltenden Künste. Beim Studium seiner ersten eigenen Schöpfung
erkennen wir, dass Leonardo in viel stärkerem Maße als Raffael ein Wunderkind war. Die jüngsten
Forschungen haben gezeigt, wie langsam und mühsam die Entwicklung des Künstlers aus Urbino vor sich
ging, welch harte Arbeit er leisten musste, bevor er seiner Originalität freien Lauf lassen konnte. Bei Leonardo
war es völlig anders. Er zeigt von Anfang an eine bewundernswerte Autorität und Originalität. Nicht etwa,
dass er ein oberflächlicher Arbeiter gewesen wäre – kein Künstler arbeitete langsamer–, aber seine Vision
war von Anfang an so persönlich, dass er nicht der Schüler seiner Meister war, sondern ihr Vorläufer wurde.
Leonardos Vater scheint sich häufiger in Florenz als in Vinci aufgehalten zu haben, und die brillanten
Fähigkeiten des Kindes entfalteten sich sicherlich auch in der Hauptstadt der Toskana und nicht in der obskuren
Kleinstadt. Der Standort des von der Familie bewohnten Hauses ist kürzlich festgestellt worden: es stand an der
Piazza San Firenze an der Stelle, wo sich heute der Gondi-Palast befindet und verschwand gegen Ende des 15.
Jahrhunderts, als Giuliano Gondi es abriss, um Platz für den Palast zu schaffen, dem er seinen Namen gab.
Ich werde nicht versuchen, Florenz in dieser Phase politischer Erschöpfung, materiellen Wohlstands,
künstlerischer, literarischer und wissenschaftlicher Begeisterung zu beschreiben. Unter meinen
18. Schule von Piero della Francesca
(Laurana oder Giuliano da
Sangallo?), Ideale Stadt, ca. 1460.
Öl auf Holztafel, 60 x 200 cm.
Galleria Nazionale delle Marche,
Urbino.
25