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Vorwort
Die Geschichten der Familie Freund, von Gustav und Hermine, Emma und Paul, Florian
und Ute sind eingebunden in das politische Geschehen eines turbulenten Jahrhunderts. Die
Wege der Protagonisten werden bestimmt durch das Kriegsgeschehen, die Inflation, die
zwanziger Jahre, den Börsencrash von 1929, das dritte Reich, den zweiten Weltkrieg, Flucht,
Vertreibung, das Zusammentreffen mit den ehemaligen Feinden.
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Das Buch geht der Frage nach, wie es geschehen konnte, dass junge Leute zweimal innerhalb von nur 25 Jahren mit fliegenden Fahnen in den Krieg zogen?
Wie gelang es Hitler, die Herzen der Jugend derart zum Glühen zu bringen, dass sie für
ihren Führer zu sterben bereit waren?
Wie kamen die betreffenden Jugendlichen, inzwischen Männer und erwachsene Frauen, mit
dem Bewusstsein zurecht, um ihre Jugend betrogen worden zu sein? Wie haben sie ihren
Teil der Schuld verarbeitet, um innerlich befreit und entlastet weiterleben zu können?
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Das Buch will in vielen ungewöhnlichen Geschehnissen aufzeigen, was die beiden Kriege,
die Zeit dazwischen und danach für Jugendliche, Frauen und Kinder, für die Männer
bedeutet haben, ob sie nun mitmachten oder nur ihr normales Leben bewältigen wollten.
Es handelt von dem Wunsch der Mütter und Väter, für ihre Kinder trotz allem ein Zuhause,
eine erinnerungswürdige Kindheit, zu schaffen.
Ute, die jüngste der drei Mädel, ist sicher, dass allezeit ein Schutzengel an ihrer Seite war.
Das Buch erzählt eine Reihe von Begebenheiten, in denen jeweils in großer Not ein Ereignis
eintritt, das alles zum Guten wendet. Auch Paul, Emma und ihre Töchter Marie und Renate
sind sicher, dass sie in vielen schwierigen Lebenslagen eine gute Hand auf wundersame
Weise geführt hat.
Zum Glück der Familie haben in besseren wie in harten Zeiten auch vierbeinige Freunde
beigetragen: Rocco, Arco, Ronja, Tanja, Petz und Peter, die zum Teil gleichfalls Kriegsschicksale erlitten.
Das Buch beinhaltet dramatische, bestürzende, zarte und anrührende Geschichten und
bildet ein facettenreiches Kaleidoskop, das die Verflechtungen der Geschehnisse in der
Familie Freund mit den politischen und zeitgeschichtlichen Ereignissen eines turbulenten
Jahrhunderts erzählt.
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Es ist zugleich ein Hoffnungs-Buch, das von Zuversicht handelt, von der Kraft, die in
höchster Not aus dem Glauben kommt und von dem Mut, trotz allem weiterzumachen und
die Freude nicht zu verlieren.
Es ist ein Anti-Kriegs-Buch, empfehlenswert für größere Kinder und Jugendliche, eine
Erinnerung für die, die es erlebt haben und ein Besinnungsbuch für die, denen Zeiten, wie
beschrieben, erspart geblieben sind, um in neuem Licht ihr eigenes Leben, eines in Frieden
und Wohlstand, neu betrachten zu können.
Paderborn, im April 2013
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Doch uns ist gegeben, auf keiner Stätte zu ruhn,
es schwinden, es fallen die leidenden Menschen
blindlings von einer Stunde zur andern,
wie Wasser von Klippe zu Klippe geworfen,
jahrlang ins Ungewisse hinab
Hölderlin
aus Hyperions Schicksalslied
1. Kapitel
Pauls dunkler Start ins Leben
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1903 Ein kleines Dorf in Sachsen
Manche Menschen ziehen schon am Tag ihrer Geburt eine Niete, sann die Dorf-Hebamme
Nina Golz. Dachte sie an den Hausbesuch, der heut vor ihr lag, wäre sie lieber im Bett
geblieben und hätte den Tag ausfallen lassen. Pflichtbewusst verwarf sie den Fluchtgedanken. Stier bei den Hörnern packen, gebot sie und schwang sich auf.
Wenig später stand sie im Sprengel G. vor dem weißgetünchten kleinen Haus der Familie
Freund. Die verwitterten Dachpfannen des eingesunkenen Giebels hatten im Laufe der
Jahre silbrige Flechten besiedelt.
Ihr klappriges Fahrrad lehnte sie an den Holzlattenzaun, nahm ihre wettergegerbte Hebammen-Tasche vom Gepäckträger und klopfte behutsam an die angelehnte Haustür.
Hermine, die junge Mutter, erwartete sie bereits. Ihr braunes, sorgfältig aufwärts frisiertes
Haar hatte sie in einer weichen Rolle auf dem Kopf festgesteckt. Zu der taillierten Bluse mit
gekräuseltem Stehkragen und dem langen engen Rock trug sie zierliche Schnürstiefel,
deren Spitzen unter dem Rocksaum hervorlugten. Elegante Erscheinung, fand Frau Golz,
aber hier im Dorf ein fremdartiger Paradiesvogel.
Die glaubt, was Besseres zu sein, redeten die Nachbarinnen verstohlen, wenn sie ihr
unterwegs begegneten.
Durch die Schwangerschaft waren sich Hermine, die junge Mutter, und Nina Golz nähergekommen. Die Hebamme spürte die große Anspannung, die von Hermine ausging. Nina
gab sich unbefangen, um Hermine zu beruhigen.
„Wie geht’s unserem Baby?“, redete sie deshalb munter drauflos. „Sieht ja prächtig aus, der
Kleine.“ Hermine drängte ungeduldig: „Sie wollten nach den Augen sehen.“
Unruhig trat sie von einem Fuß auf den anderen. Die kleinen Haarsträhnen, die wie ein
Schleier Hermines Gesicht umrahmten, bebten leicht. Als Nina Golz ihrer Tasche ein Pendel
entnahm und über Pauls Augen hin und her bewegte, blieb Hermine eng an ihrer Seite und
vergaß das Atmen. Mit dem Zeigefinger wiederholte Nina die Schwingungen und sprach
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dabei sanft mit dem Baby, das mit weit geöffneten Augen strampelnd dalag, mit Händen
und Armen ruckelnd und lächelte. Das Kind lächelte zum Schrank hin, wo niemand stand,
nicht die Hebamme, nicht die Mutter oder Gustav, der Vater. Die Hebamme nahm eine
kleine, sehr helle Stablampe und leuchtete in Pauls Augen. Er schaute in das grelle Licht
und lächelte. Das Gesicht der Hebamme wurde ungewollt sehr ernst. Zögernd verstaute sie
ihre Geräte. Die Augen der Mutter spürte sie angstvoll auf sich gerichtet. Nina Golz holte
tief Luft und ließ sich Zeit, bevor sie so ruhig wie möglich antwortete. „Sie sollten bald mit
Paul einen Augenarzt aufsuchen.“
Hermine erblasste bei diesem Satz. Noch versuchte sie, ihre Erregung im Zaum zu halten:
„Was ist mit Pauls Augen?“ Die Verzweiflung in ihrer Stimme war unüberhörbar. Nina
kramte weiter in ihrer Tasche. Sie hatte nichts Tröstliches für die junge Mutter und zögerte,
deren verzweifelten Augen begegnen zu sollen. Schließlich hob sie ihren Blick. Die Augen
der Mutter mit dem letzten Funken Hoffnung brannten in ihren. Die Hebamme legte den
Arm um Hermines Mitte. Mit besänftigender Stimme sagte sie endlich: „Was mit Pauls
Augen ist, muss der Augenarzt herausfinden. Davon wird abhängen, ob Hilfe möglich ist.“
Hermine konnte nicht mehr an sich halten. Ein herzbewegendes Schluchzen brach aus ihr
heraus. Sie hielt beide Hände vor ihr Gesicht. Einfühlsam strich ihr Nina über den Rücken.
„Paul ist blind, nicht wahr?“, wagte Hermine mit tränenerstickter Stimme zu fragen. Die
Hebamme nickte nur. Sie ahnte, wie schwer diese Erkenntnis für die junge Mutter war. „Die
Röteln während ihrer Schwangerschaft könnten der Auslöser gewesen sein.“
Gustav, Pauls Vater, hatte im Hintergrund des Zimmers das Geschehen verfolgt. Seine
Anspannung löste sich wie bei seiner Frau Hermine in einem Strom von Tränen, die seine
Wangen herunterliefen und deren er sich nicht bewusst war.
Leise öffnete sich die Tür.
„Darf ich reinkommen?“, fragte zaghaft Arthur, der fünfjährige Bruder des Babys. Seine
braunen Haare waren verstrubbelt. Er hatte im Kinderzimmer in seinem Zeichenblock
einen Bauernhof gemalt, fühlte sich einsam und wollte zu den anderen.
Die Hebamme legte das Baby in Hermines Arm. „Arthur, komm nur zu deinem kleinen
Bruder.“
„Warum weinst du, Mama?“, fragte er arglos und sah, dass sich auch sein Vater soeben
Tränen aus den Augen rieb. Statt zu antworten, zog Hermine ihren Sohn eng an sich und
umarmte ihn.
Noch ahnen die Eltern nicht, welche Leidenszeit Paul und ihnen bevorsteht. Paul wird in
den kommenden sieben Jahren siebenmal an den Augen operiert werden. Als Paul drei
Jahre alt ist, wird Ilse geboren.
Sie ist Liebling und Trost der Eltern. Hermine und Gustav nehmen sich viel Zeit, mit ihr zu
singen und Ball zu spielen. Ilse kennt bald die meisten Texte ihrer Kinderbücher auswendig
und murmelt sie mit, wenn Hermine, Gustav oder Arthur vorlesen. Ilse ist für ihre Eltern
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der Seelentrost und die Glücksquelle nach den Kümmernissen mit Paul. Bei aller Liebe, die
die Eltern dem kleinen Mädchen schenken, entgeht ihnen, wie sich der unglückliche Paul
müht, einen Teil ihrer Liebe für sich zu gewinnen. Er sehnt sich danach, dass sie auch mit
ihm spielen, ihm eine Geschichte vorlesen, ihn in den Arm nehmen. Er spürt, von seinen
ständigen Kopf- und Augenschmerzen wollen sie nichts mehr hören. Er macht ihnen eine
Freude, wenn er sagt: „Es geht mir gut.“ Wenn sie öfter eine Weile bei ihm blieben, die
Mutter, der Vater, Arthur oder die kleine Ilse, das wünschte er sich von ihnen, spricht es
jedoch nicht aus.
Hermine hat drei Freundinnen zum Kaffee geladen. Ihr hilft, ihnen ihr Leid klagen zu
können, ihren Kummer mit Paul, der kein Ende nehmen will. Mit jeder neuen Operation
haben sie und Hermine neu gehofft. Diese erneute Zuversicht hat ihnen Kraft gegeben und
Mut. Nach dem Entfernen der Verbände im Krankenhaus dann wiederkehrend die Erkenntnis: vergeblich. Und die nachfolgende Aussichtslosigkeit, die Tränen und Depressionen bei
Hermine. Neuer Anlauf zu neuer Hoffnung. Noch eine Operation. Zermürbendes Mühlrad
aus Erwartung und Misslingen.
Paul und sein fünf Jahre älterer Bruder stehen vor der geschlossenen Wohnzimmertür.
Dahinter hören sie Stimmen. Die beiden wissen, dass sie nicht stören dürfen, wenn Mutter
ihre Freundinnen bei sich hat. „Was machen die da drin?“, fragt der siebenjährige Paul,
einen Verband über beiden Augen nach einer erneuten Operation. Arthur hält ihn an der
Hand.
„Weiß nicht, aber wart’ mal.“ Arthur schaut durchs Schlüsselloch. Er sieht, wie alle vier
Frauen die Hände gespreizt auf dem Tisch liegen haben, sodass sich die Daumen und
kleinen Finger der Nachbarinnen berühren. Mutter sagt: „Wenn du hier im Raum bist, so
gib uns ein Zeichen.“ Alle schauen erwartungsvoll zur Kerze, die in der Mitte des Tisches
steht.
„Ich bin schuld, dass sich nichts tut“, sagt Hermine, „ich kann mich heut nicht konzentrieren. Das gestrige Gespräch mit dem Augenarzt lässt mir keine Ruhe. Ihr wisst schon, der
Paul zum siebenten Mal operiert hat.“
Arthur schaut Paul an. Deutlich kann man jetzt durch die geschlossene Tür vernehmen,
was Mutter mit ihrer nicht zu überhörenden Stimme sagt: „Das linke Auge wird niemals
sehen können. Ein Missgeschick bei einer Operation. Er wird ein Kunstauge bekommen.“
Bei diesem Satz springt die temperamentvolle Käthe auf, fährt sich mit ihrer Rechten in die
Haare, die sie mit einem Kopfschwung nach hinten geworfen hat und ruft empört: „Ein
Missgeschick?“ Ihre Haut glänzt vor Aufregung, ihre Wangen sind gerötet: „Und das nimmst
du so einfach hin?“
„Ich habe unterschrieben, dass ich über das Risiko aufgeklärt wurde. Ich bin dankbar, dass
der Arzt für das rechte Auge Hoffnung macht. Aber noch ist alles offen.“ Hermine hat keine
Kraft mehr, sich zu ereifern. „Wie viel Hoffnung?“, fragt Henriette. „Wenn alles gut läuft,
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wird Paul ein Drittel Sehfähigkeit auf dem rechten Auge haben.“ Auch Henriette ist nun
empört wie Käthe. „Nur ein Drittel?“ Hermine bleibt ruhig. Seit Jahren lebt sie mit Ungewissheit und Unglück. „Das wäre ein Glücksfall, wenn du bedenkst, dass er bis heute seinen
Vater, seine Mutter, seine Geschwister noch nicht gesehen hat. Ein Segen wäre das nach
seinem siebenjährigen Leben im Dunklen. Mehr ist nicht zu erwarten. Aber ob dieses Mal
alles gut gegangen ist, wissen wir erst in drei Tagen, wenn der Verband entfernt wird.“
Hermine wagte kaum daran zu denken. Dieses Wechselbad zwischen Zuversicht und
Misslingen in den letzten Jahren hatte ihren Nerven beträchtlich zugesetzt. Sie spürte, ihre
Nervenkraft musste sie einteilen, wenn sie nicht schlappmachen wollte. Nicht auszudenken
bei drei Kindern!
„Und wie geht’s nun weiter?“, will Henriette wissen. „Sobald der Verband entfernt werden
kann, wird Paul eingeschult. Hoffentlich nicht auf einer Blindenschule.“
„Wie alt ist er jetzt?“, fragt Käthe.
„Sieben. Aber in seiner Entwicklung weit zurück, etwa wie ein Fünfjähriger. Er ist zu klein
und viel zu zart. Die vielen Spritzen vor und nach den Operationen, die Medikamente, vor
allem die Schmerzmittel. Die vor allem haben seinem Magen geschadet, sodass es mühevoll
ist, ihn zu ernähren. Sport hätte gutgetan. Das geht auch nur, wenn ein Kind genug Kraft
dafür mitbringt. Er ist einfach zurück. Die Strapazen waren für Paul enorm. Und für mich.
Pauls Augenerkrankung hat mich zehn Jahre meines Lebens gekostet. Mindestens.“ Hermines Stimme klingt müde und resigniert, bevor sie aufseufzend weiter spricht: „Die schlaflosen Nächte; die Arzt- und Krankenhausbesuche; Pauls Unselbständigkeit. Er braucht einfach
viel Hilfe. Er ist ja nicht allein da. Ein solches Arbeitspensum mit diesen seelischen Belastungen wünsche ich niemandem.“ Hinter der Tür ist eine große Stille eingetreten.
Paul, der mit Arthur vor der Tür gestanden hat, kaum noch atmend, fasst nach Arthurs
Hand: „Komm, weg.“
Paul lässt die Hand seines Bruders los und tastet sich an den Möbeln und Wänden entlang
zu dem Zimmer, das er mit seinem Bruder teilt. Dort hockt er sich in die Ecke, legt die
Arme um die Knie und den Kopf auf die Arme. Er schaukelt vor und zurück, hin und her,
als wenn er sich wiegt. Dann wird sein kleiner Körper von verzweifeltem Weinen geschüttelt. „Zehn Jahre … ihres Lebens … große Belastung“, flüstert er leise. Weder seine Mutter
noch Paul selbst ahnen an diesem Tag, dass diese Worte wie ein Brandmal Pauls Leben
prägen werden.
Als sich Paul beruhigt hat, tappt er leise, mit beiden Händen an Stühlen, Schränken,
Türrahmen entlang tapernd, zur Küche und zum Spülbecken. Er fühlt die Tassen und Teller
vom Kaffeekränzchen der Mutter. Er lässt Wasser einlaufen, tastet nach dem Spülmittel und
gibt vorsichtig einen Tropfen hinein. Er beginnt, das Geschirr zu spülen, abzutrocknen und
einzuräumen. Er braucht weit mehr Zeit als sein Bruder benötigen würde.
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Arthur hat ein Buch geholt und ist auf den Boden geklettert. Dort hockt er auf einer
staubigen Matratze, seinem Lieblingsleseplatz und schmökert. Er liest in jeder freien Minute
ziemlich wahllos alles, was er vorfindet. Heut liest er „Der Hungerpastor“ von Wilhelm
Raabe.
Paul hat den Abwasch beendet. Behutsam holt er den Besen aus dem Schrank und fegt die
Küche. Das Küchenhandtuch, das auf den Boden gefallen ist und das er mit den Hausschuhen berührt, hebt er auf und hängt es über den Handtuchhalter. Dann fegt er weiter die
Küche, wobei er wieder und wieder mit der linken Hand nach den Möbeln tastet. Mit dem
Handfeger fegt er den Schmutz auf das Blech und fühlt, ob alles auf der Kehrschaufel ist. Er
entleert den Kehricht in den Mülleimer, hängt Kehrschaufel und -besen wieder an ihren
Platz, wäscht sich die Hände und tapert langsam und vorsichtig aus der Küche. Er greift
kurz nach dem Verband auf seinen Augen, tapst die Treppe hoch in sein Zimmer und legt
sich auf das Bett.
Währenddessen hört er, wie Mutter ihre Freundinnen verabschiedet, lautstark und aufgemuntert. Als alle gegangen sind, ruft sie nach Paul.
Er wäre gern in der Stille liegengeblieben, da hört er Mutter die Treppe hochstapfen. Sie
betritt sein Zimmer, schiebt ihren Arm unter seinen Kopf, drückt ihn an sich und küsst ihn
auf beide Wangen. „Mein Kleiner“, sagt sie liebevoll, „hast du dich hingelegt?“ Bevor er
antworten kann, küsst sie ihn erneut und verlässt sein Zimmer.
Gern würde er mit jemandem bereden, was er heut erlebt hat. Aber mit wem? Vater ist
selten da. Wenn Hermine ihren Kreis bei sich hat, spielt Gustav gern mit seinen Freunden
in seiner Stammkneipe Skat. Oder ist im Baubetrieb seines Chefs, dessen rechte Hand er ist.
Wenn Vater zu Hause ist, will Mutter mit ihm über ihre Anliegen reden. ‚Ist ja auch in
Ordnung‘, denkt Paul. Und Arthur? Paul würde ihn nur beim Lesen stören. Arthur würde
sich kaum für Pauls Kummer interessieren. Arthur findet sowieso, dass sich die meiste Zeit
die Gespräche um Paul drehen. Wer will schon von Pauls Kopfschmerzen oder Augenschmerzen hören? Oder davon, was er heut durch den Türspalt mit angehört hat und lieber
nicht gehört hätte?
Heut ist der Tag, den die Familie herbeigesehnt hat mit neuem Glauben, neuer Hoffnung
und neuer Bangigkeit. Bereits sechsmal haben sie ein solches Ereignis hinter sich gebracht.
Jedes Mal hieß es, auf das nächste Mal zu hoffen. Hermine und Gustav haben sich für den
neuen Hoffnungstag gut angezogen, auch die beiden Kinder wollen mitkommen und haben
ihre Sonntagssachen an.
„Wie geht’s, Paul?“, fragt ihn der Augenarzt. Paul ist so aufgeregt, dass ihm übel ist, was
man ihm ansieht. Er ist sehr blass. Die blauen Adern an seiner Schläfe treten hervor. Er
schluckt wiederholt. Der Arzt legt Paul auf sein Untersuchungsbett und beginnt, den
Verband zu lösen. Die Mutter hält Pauls Hand, die sie mit der anderen streichelt. Sie würde
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gern etwas Tröstliches sagen, lehnt aber leere Worte ab. So sagt sie nur: „Du bist unserer
tapferer kleiner Sohn.“
Der Verband ist entfernt. Die Lider beider Augen sind gerötet. Das rechte, jüngst operierte,
ist sichtbar geschwollen.
Paul stutzt und stößt einen kleinen Schrei aus. Er blinzelt und zieht die Stirn kraus. „Mama“, sagte er dann und hält sich die Hand vor die Augen. „Paul, was ist?“, fragt sie aufgeregt.
„Es ist so hell, das tut weh.“ Der Arzt legt eine dunkle Brille über Pauls Augen. „Was siehst
du?“, fragt der Arzt, der sich dicht über Paul gebeugt hat und hoch angespannt ist. „Es ist
hell!“, ruft Paul und zittert vor Aufregung. Der Arzt schaut das Kind an, sieht seine Erregung
und legt ihm eine Hand auf die Stirn, die andere auf seine Brust. „Ganz ruhig, mein
Kleiner“, sagt er besänftigend. „Erzähl mal, was du jetzt siehst.“ Die Mutter beugt sich dicht
über ihren Sohn und sagt: „Paul, siehst du mich? Fass mal dahin, wo du etwas siehst.“ Paul
greift mit seiner rechten Hand in ihr Gesicht und hält ihre Nase fest. „Meine Nase“, sagt die
Mutter und bricht vor Glück und Freude in Tränen aus. „Ich sehe eine Nase“, sagt Paul und
tastet jetzt zum Vergleich in sein eigenes Gesicht. Dann fasst er wieder in das Gesicht seiner
Mutter. „Eine große Nase.“
Gustav tritt hinzu und spricht mit Paul: „Schau mal, dein Vater, erkennst du was?“
„Alles ist sehr hell, und da drin sehe ich einen großen, dunklen Kopf.“ Auch Hermine
schluchzt aus tiefster Seele. Gerade hat der siebenjährige Paul den Umriss seines Vaters zum
ersten Mal gesehen.
„Es ist geschafft“, sagt der Arzt und gratuliert Hermine, Gustav, Arthur und der kleinen
Ilse. „Euer Bruder kann sehen“, sagt er zu den Kindern, „und wird von Tag zu Tag besser
sehen können.“ Die Kinder nehmen Pauls Hand und streicheln sie. Ein Augenblick von
großem Glück und Segen liegt über der Familie. „Danke, lieber Gott“, sagt Paul ganz leise.
„Amen“, sagt Gustav, flüsternd vor Ergriffenheit.
Der Arzt erläutert den Eltern, die Bilder, die Paul wahrnehmen könne, seien zunächst
verschwommen, das Erlebnis der ungewohnt großen Helligkeit lasse im Augenblick noch
alles unschärfer erscheinen als in einigen Wochen, wenn das Auge sich an das Licht gewöhnt habe.
Der Arzt machte einen ersten Test für eine Sehhilfe, die Pauls Augenbilder erheblich
schärfer gestalten würde. Die Brille würde nach und nach, dem Ausheilen folgend, individuell angepasst. Paul würde eine normale Schule besuchen können.
Im selben Jahr wurde er an der Grundschule angemeldet. Er gewöhnte sich an die Brille. Er
erfuhr, dass ein Junge mit Brille, war er dazu noch klein und zart, bei seinen Mitschülern
nicht besonders angesehen ist. Insbesondere beim Sport war er derjenige, der bis zuletzt
dastand, wenn zwei Mannschaften von zwei starken Schülern ausgewählt wurden. Er wollte
alles ändern, was er mit seinem eisernen Willen ändern konnte. Von seinen Eltern wünsch12
te er sich Hanteln und einen Expander. Sein Vater unterstützte seinen Eifer und schenkte
ihm ‚Müllers Handbuch der Athletik‘, ein Buch, in dem zahlreiche muskelbildende und
kräftigende Übungen abgebildet und beschrieben waren. Paul war fest entschlossen, kräftig
und sportlich zu werden. Die Brille war unabänderlich, für ihn aber ein Himmelgeschenk,
trug sie doch den entscheidenden Teil dazu bei, ein normales Leben führen zu können. Die
Nachteile, was seine Mitschüler anbelangte, nahm er in Kauf. An Worte wie Brillenschlange
hatte er sich bald gewöhnt und konnte darüber lachen. Er wusste, dass es Schlimmeres gab,
eine Welt ohne Licht und Augenbilder beispielsweise.
2. Kapitel
Adelheid ist dagegen
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1903 Breslau
Helene befand sich in höchster Aufregung. Sie hatte rote Flecken am Hals, ihre Haut glänzte
feucht. Haarsträhnen hatten sich aus ihrem Knoten im Nacken gelöst und hingen wirr um
den Hals. Sie fuchtelte mit den Armen durch die Luft, dann griff sie an die Schläfen: „Wenn
du jetzt gehst, bringe ich mich um“, platzte es verzweifelt aus ihr heraus. Elise kannte ihre
Mutter gut genug, um zu wissen, es ging ihr schlecht. Helene stand mit zitternden Lippen
vor der Tochter und wischte die silberblonde Haarsträhne aus dem Gesicht. „Ich kann nicht
mehr“, flüsterte sie, „bin am Ende.“ Sie schüttelte den Kopf. Ihre Stimme zerbrach bei den
letzten Worten. Sie nahm Elises Hand und drückte sie gegen ihre Brust. Sie schluchzte,
konnte nicht verhindern, dass Tränen quollen und ihre Schultern bebten. Mit beiden
Händen bedeckte sie ihr Gesicht. Sie schämte sich vor der Tochter, weil sie sich so gehen
ließ.
Einerseits verstand Elise die Mutter. Andererseits spürte sie tief innen, sie musste sich von
Helene lösen, die sich dermaßen an sie klammerte.
Helene hatte vor siebzehn Jahren Elise geboren. Deren Mutter hatte sie nicht aufgeklärt.
Über gewisse Dinge sprach man nicht. So war ‚es‘ passiert. Wenn sich ein Kind anmeldete,
trug die junge Mutter die ganze Last. Dazu die Häme der Mitwelt. Helene, die außer Arbeit
bis zu ihrem 17. Lebensjahr und einer von Mühsal geprägten Atmosphäre zu Hause wenig
Anregendes kennengelernt hatte, ahnte etwas von Glück, Liebe und Familie, als er ihr
begegnet war. Die gute Zeit, in der Gefühle einen Raum hatten, war zu Ende, als sie ihm
mitteilte, schwanger zu sein. Da war er aus ihrem Leben verschwunden.
So war das also mit der Liebe, resümierte Helene für sich und schloss für den Rest ihres
Lebens dieses Kapitel. Ich werde es allein schaffen, beschied sie und fand eine Arbeit, mit
der sie für sich und ihre Tochter Elise den Lebensunterhalt bestreiten konnte. Da sie wegen
des Kindes an das Haus gebunden war, nähte sie Militär-Uniformen im Akkord. Die Bezah13
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lung war schlecht. Gesteigert konnte sie nur durch ein erhöhtes Arbeits-Pensum werden.
Die Zeit, um zu Fuß die Stoffe bei einem Depot abzuholen und die fertigen Uniformen
dorthin zu bringen, ging von der Zeit für das Nähen ab.
Kaum war Elise in der Lage, den Weg zwischen Depot und ihrem Zuhause mit einem für
ein Kind viel zu schweren Paket in der Hand zu bewältigen, war es ihre Aufgabe, das
Material abzuholen und die fertigen Uniformen als Paket verpackt wieder im Depot abzuliefern.
Helene arbeitete überwiegend bis in die Nacht, um ihre kleine Unabhängigkeit von ihrer
eigenen Mutter zu behalten. Als Elise ins Schulalter kam und Zeit brauchte für ihre
Hausaufgaben, musste sie dafür kämpfen, überhaupt in die Schule gehen und am Nachmittag ihre Hausaufgaben erledigen zu können. Helene war von der jahrelangen Überarbeitung inzwischen so erschöpft, dass sie für die Bedürfnisse ihrer Tochter kaum noch Verständnis aufbrachte. Schule, Hausaufgaben, Schönschreiben? Unzumutbarer Luxus, fand sie.
So entging ihr, dass Elise an jeder Art von Bildung ein hohes Interesse zeigte. Sie wollte
lesen, ein Instrument lernen, stellte viele Fragen, die Helene nicht beantworten konnte.
Helene war müde und schuftete ständig an ihren Grenzen. Sie brauchte Elise als Hilfskraft.
Elise konnte inzwischen schon kleinere Näharbeiten wie Knöpfe annähen, Kanten säumen
neben ihren Botengängen ausführen.
Helene wurde vom Jugendamt ein älterer Herr als Hilfe an die Seite gestellt, der sich
darum kümmerte, dass Elise regelmäßig zur Schule gehen und ihre Hausarbeiten machen
konnte. „Der alte Quasselkopp hält dich nur von der Arbeit ab“, murrte Helene, die es
demütigend fand, dass sich Außenstehende in ihre ganz persönlichen Angelegenheiten
einmischten. Der Betreuer, Onkel Tritschke, wie Elise ihn nannte, sorgte außerdem dafür,
dass Elise Lauten-Unterricht bekam und später wegen ihres guten Geschmacks, ihrer feinen
Umgangsformen und ihres ausgeprägten Handgeschicks eine Ausbildung zur Friseurin.
Jahre gingen ins Land. Aus Elise wurde eine junge Frau, nach der sich die jungen Männer
auf der Straße umdrehten. Sie war schön mit ihrem blonden Haar, ihren hellen blauen
Augen, ihrem federleichten Gang. Ihren geschmackvollen Kleidern sah man nicht an, dass
sie selbstgeschneidert waren und wenig gekostet hatten.
Während die 17-jährige Elise ihren Kunden und Kundinnen die Haare schnitt, färbte und
ondulierte, dachte sie an den vorausgegangenen Abend. Ein Hauch von dem Glück, das sie
empfunden hatte, schimmerte noch auf ihrem Gesicht. Der Stammkunde, dem sie soeben
die Haare schnitt, lächelte sie staunend an. Hatte ihr Lächeln ihm gegolten?
Dass sie vor fünf Monaten Christian begegnet war, war für sie wie ein unbegreiflicher
Traum. Oder durfte sie an ein wundervolles Schicksal glauben? Diesen Gedanken wollte sie
festhalten. Er gab ihr Kraft und Zukunftshoffnung. Einen Hamburger Kaufmannssohn in
Breslau kennenzulernen, empfand sie als selten exotisch. Christian war als Rittmeister der
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Preußischen Kavallerie zu einer Reserve-Übung nach Breslau abkommandiert. Durch die
Scheibe des Frisier-Salons hatte er Elise gesehen; einen Moment lang waren sich ihre Augen
begegnet. Ein Haarschnitt war bei ihm ohnehin fällig. So trat er ein und fragte an, ob sie
ihm die Haare schneiden könne. Sie erschien ihm wie ein Schmetterling im Frühling, so
zart, so jung. Er war bezaubert von ihrem jugendlichen Liebreiz, der Anmut, mit der sie sich
bewegte und ihr Handwerk versah. „Ich muss sie kennenlernen“, legte er sich entschieden
fest.
Sie scheute vor einem näheren Kennenlernen zurück, als er erzählte, er sei Sohn einer
Hamburger Kaufmannsfamilie und als einziger Sohn künftiger Erbe des Familienunternehmens. Elise dachte an die Armut, der sie entstammte und ihre chronisch überlastete Mutter.
Aber der 24-jährige Rittmeister hatte leidenschaftlich Feuer gefangen. Sein bisheriges
Leben schien aus den Fugen. Früheres erschien ihm bedeutungslos, einer belanglosen
Vergangenheit angehörend. Zum ersten Mal nahm er die Zärtlichkeit der ersten Frühlingssonne auf seiner Haut wahr. Das Frühlingsgrün der Bäume empfand er als grüner, wie mit
magischer Lampe von innen beleuchtet. Der Gesang der Stare, Meisen, Finken erschien ihm
melodischer und jubelnder. Der Äther duftete nach feuchter Erde und ersten Veilchen. Der
Himmel war eisblau wie frisch gewaschen und blank geputzt. Seine Tage waren eine
unvermeidliche Überbrückung zweier inniger Abende mit Elise.
Noch wagte Elise nicht, ihr eigenes Gefühl aus seinem Käfig zu entlassen. Alles schien ihr
zu groß und unwirklich, um im Alltag Bestand zu haben. Sie dachte an ihre Mutter und
deren abrupten Abschied von der Liebe und der Hoffnung auf ein normales Familienglück,
als sie schwanger geworden war. Sie spürte, wie ihr eigenes Empfinden, das bisher geschlummert hatte, zunehmend in die Freiheit drängte. Weder hatte sie ihrer Mutter von
ihrem neuen Leben erzählt, noch hatte sie Christian mit nach Hause genommen und
Helene vorgestellt. Dieses Zarte, was da entstanden war, wollte sie solange wie möglich vor
der rauen Lebenswirklichkeit ihrer Mutter schützen.
Inzwischen war die Reserveübung beendet, und die beiden jungen Menschen konnten sich
nur an einzelnen Wochenenden sehen, wenn Christian sie besuchte.
An einem Sonntagabend waren sie in den Anlagen entlang der Oder spazieren gegangen.
Er hatte ihre Hand genommen und in seine rechte Ellenbeuge gelegt. Mit der Linken
streichelte er die Hand und hielt sie wie sacht behütend. Am Abend zuvor waren sie im
Dom zu einer Aufführung der Matthäus-Passion. Ihr Spaziergang stand noch ganz unter
dem Eindruck dieser Klänge. Die tiefe Traurigkeit des Textes und die ernsthafte Strenge der
Musik des Thomas-Kantors hatten sie tief bewegt. Sie sprachen darüber, wie viel ihnen
Musik bedeutete. Ihre beiderseitige Liebe zur klassischen Musik gab ihrer Beziehung
weitere Tiefe.
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