Hubert Fichtes Medien

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Hubert Fichtes Medien
Hubert Fichtes Medien
Hubert Fichtes Medien
Herausgegeben von
Stephan Kammer und Karin Krauthausen
diaphanes
Die Publikation dieses Bandes haben unterstützt:
1. Auflage
ISBN 978-3-03734-448-4
© diaphanes, Zürich-Berlin 2014 und die AutorInnen.
Alle Rechte vorbehalten
www.diaphanes.net
Layout, Satz: 2edit, Zürich
Abbildung Umschlag: Manuskriptkoffer und griechische Schreibmaschine
von Hubert Fichte, S. Fischer Stiftung. Berlin © Arne Bunk und Tanja Bächlein.
Druck: Steinmeier, Deiningen
Inhalt
Stephan Kammer, Karin Krauthausen
Hubert Fichtes Medien 7
Till Greite
Aufnahmesystem LCB, 1963/64
Kleine Diskursgeschichte zu Walter Höllerers
Literarischem Colloquium Berlin in der Epoche der Kybernetik
21
Dirck Linck
Das Tempus Präsens als Medium der Redegewissheit
und der Fiktionalität
Zum Tempusgebrauch in Hubert Fichtes Lokstedter Tetralogie
43
Robert Gillett
Der fünfte Kanal
Hubert Fichtes Kunstkritiken
59
Mario Fuhse
Poetische Umschlagplätze
Hubert Fichte als Buchgestalter
75
Arne Bunk
Vom Meeresgrund schauen uns Augen an
93
kathrin röggla
der akustische fichte 111
Stephan Kammer
Zeiträume des Reisens
Fichtes mediales Apriori
125
Michael Bies
Ethnographie des Romans
Hubert Fichtes Forschungsbericht
147
Karin Krauthausen
Fiktionen der Rede
Fichtes Annäherung an Afrika
163
Autorenverzeichnis
Abbildungsnachweise
190
191
Stephan Kammer/Karin Krauthausen
Hubert Fichtes Medien
I.
An den Anfang werden Medienbedingungen gestellt: Die erzählerische Doppel­
genealogie der Beziehung und Karriere des Schriftstellers Jäcki und der Foto­grafin
Irma, der Hauptprotagonisten von Hubert Fichtes vielbändigem, bei ­seinem Tod
1986 nur in Teilen abgeschlossenem Romanprojekt einer Geschichte der Emp­
findlichkeit, setzt ein in einer Szenerie der Hybridisierung:
»Er zerschnitt ihre Fotos.
Irma ließ ihn.
Er zerschnitt Nonnen aus Venedig, Häuser von Le Corbusier, Korkeichen, ein Kin­
derheim und klebte sie zu neuen Bildern ineinander.
Jäcki schnitt die Figuren etwas zu eng. Er haßte Collagen, in denen noch Wald oder
ein Stück Schrank an den Personen hing.
Jäcki hatte ein Theaterstück verfaßt und wollte es illustrieren.
Er hatte gesehen, daß ein Avantgardist in Stockholm für eine Luxusausgabe von
›Der Schatten des Körpers des Kutschers‹ alte Stiche zerschnitt.
Jäcki hatte keine Ahnung von Fotografie.
Er wußte nicht, daß Hans Christian Andersen vor hundert Jahren aus Illustrierten
Fotos zu einem Paravant [sic!] zusammengeklebt hatte.
Jäcki suchte einen Verleger.
Vielleicht glaubte er, daß sein Theaterstück nicht gedruckt würde ohne das Gekröse
aus Irmas Fotografien.
Vielleicht machte es ihm Spaß zu zerschneiden.
In Irmas Zimmer roch es nach unbekannten Parfums, nach Crèmes, nach Entwick­
ler, Fixierbad und Uhu.
– So riecht eine Fotografin, dachte Jäcki.
[…]
An der Dunkelkammer hingen zerlöcherte Abzüge, am Sekretär ein halber Hambur­
ger Hafen, Füße im Bett, das Gefängnis von Frèsnes, ohne Dach, steckte am Wasch­
bord, hinter Ecusson und Les Six.
– Ich klebe dir das ganze Zimmer mit kaputten Fotos voll, sagte Jäcki.
– Du nimmst nur die besten, die mir am liebsten sind, sagte Irma: Die ich neben
den festen Aufträgen gemacht habe, für mich, ohne an die Redaktionen zu denken.
Solange du nicht die Negative zerstörst. Die Abzüge kann ich so oft machen, wie ich
will.«1
1. Hubert Fichte: Hotel Garni. Roman, Die Geschichte der Empfindlichkeit, Bd. 1, hrsg. von
Torsten Teichert, Frankfurt am Main 1987, S. 7.
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Stephan Kammer/Karin Krauthausen
Am Beginn des Erzählens und als Anfang des Projekts tritt auf, was unter den
Prämissen einer Produktästhetik seit den künstlerischen Avantgarden des frü­
hen 20. Jahrhunderts Collage hieße. Hartmut Böhme hat sie als »Fichtes Form­
prinzip par excellence« bezeichnet und daraus eine Kontinuität ableiten wollen,
die publiziertes Werk und nachgelassenes Projekt verbinde: Die Geschichte der
Empfindlichkeit insgesamt sei als »fragmentarische Groß-Collage« zu beschrei­
ben und reihe sich als solche nahtlos zu »den Textformen, die in den Radiotex­
ten und Buchveröffentlichungen der vorangegangenen 20 Jahre bereits abseh­
bar waren.«2 Stärker noch als an die ästhetische Traditionslinie zu Surrealismus
und Dada schließe für Fichte dieses formale Prinzip an die Artikulationen des
(Neuen) Hörspiels und des Radiofeatures an, an denen er partizipiert hat – und
zwar, worauf Böhme als einer der ersten mit Nachdruck hingewiesen hat, mit
Erfolg und großer Professionalität:3 Die Geburt der Autorschaft aus dem Geist
des Rundfunks manifestiere sich in der durchgängig ›radiophonen‹ Beschaffen­
heit auch von Fichtes Büchern.4
Während sich der Medienwechsel vom Magnettonband zum beschriebenen/
bedruckten Papier problemlos vollziehe, sei dagegen jenes Verhältnis, das die
zitierte Szene zur Darstellung bringt, außerordentlich konfliktträchtig. Zwar
dürfe man, insbesondere angesichts der Doppelbände Xango und Petersilie, die
Irmas und Jäckis faktuale Doubles zu den afroamerikanischen Religionen ver­
öffentlicht haben,5 »von einem Werk […] sprechen […], das in zwei medialen
Zuständen überliefert ist«.6 Aber am Eingang des Erzählprojekts um Irma und
Jäcki verschaffe sich das gewalttätige, mit Fichtes Wort: ›mörderische‹ Verhältnis
zwischen Literatur und Fotografie beziehungsweise Schriftsteller und Fotografin
in einer »paradigmatische[n] Urszene« Ausdruck, in die »die gesamte lebens­
geschichtliche Konfliktszenerie Fichtes eingeschmolzen« sei.7 Das Schneiden –
2. Hartmut Böhme: Hubert Fichte. Riten des Autors und Leben der Literatur, Stuttgart 1992,
S. 60 und 42. Vgl. Miriam Seifert-Waibel: »Ein Bild, aus tausend widersprüchlichen Fitzeln«.
Die Rolle der Collage in Hubert Fichtes Explosion und Das Haus der Mina in São Luiz de
Maranhão, Bielefeld 2005, insb. S. 24–46.
3. Vgl. Hartmut Böhme: »Leben, um eine Form der Darstellung zu erreichen. Vorwort«, in:
Leben, um eine Form der Darstellung zu erreichen. Studien zum Werk Hubert Fichtes, hrsg.
von Hartmut Böhme und Nikolaus Tiling, Frankfurt am Main 1991, S. 7–20, insb. S. 8f.
4. Vgl. Böhme: Hubert Fichte, a.a.O., S. 58 und 42f.
5. Leonore Mau: Xango. Die afroamerikanischen Religionen I. Bahia Haiti Trinidad. Texte
Hubert Fichte, Frankfurt am Main 1976; Hubert Fichte: Xango. Die afroamerikanischen Reli­
gionen II. Bahia Haiti Trinidad, Frankfurt am Main 1976; Leonore Mau: Petersilie. Die afro­
amerikanischen Religionen III. Santo Domingo Venezuela Miami Grenada. Texte Hubert
Fichte, Frankfurt am Main 1980; Petersilie. Die afroamerikanischen Religionen IV. Santo
Domingo Venezuela Miami Grenada, Frankfurt am Main 1980.
6. Böhme: Hubert Fichte, a.a.O., S. 47.
7. Böhme: Hubert Fichte, a.a.O., S. 48f.; vgl. auch S. 299–306. – Böhme bezieht sich auf
­Fichtes Kommentar im Interview mit Gisela Lindemann: »›In Grazie das Mörderische ver­
wandeln‹ – ein Gespräch mit Hubert Fichte zu seinem roman fleuve ›Die Geschichte der
­Empfindlichkeit‹«, in: Sprache im technischen Zeitalter 104 (1987), S. 308 –317. Bei einlässli­
cherer Betrachtung wird das Bild dieses Verhältnisses entspannter und komplexer zugleich.
Vgl. Peter Braun: Die doppelte Dokumentation. Fotografie und Literatur im Werk von ­Leonore
Mau und Hubert Fichte, Stuttgart 1997.
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Hubert Fichtes Medien
der zweite Schritt jeder Collagierpraxis, an deren Horizont sich Tristan Tzara
zufolge eine Autorschaft von »bezaubernder Empfindlichkeit« abzeichnet8 – wird
zur Zerstückelung, das buchstäblich und elementar handwerkliche Verfahren
zur Blaupause eines zugleich kulturanalytisch, persönlichkeitspsychologisch und
werkbiographisch ausdeutbaren Großzusammenhangs von Muttermord, Beses­
senheit und Gewaltbegehren, von Ödipus, Trance und S/M.
So hoch man Böhmes Pionierarbeit anrechnen darf, nicht nur auf die bemerkens­
werte Medienvielfalt in Fichtes Arbeiten, sondern auch auf die dafür konstitutive
Medialität selbst hingewiesen zu haben, so deutlich zeichnen sich in solchen Aus­
deutungen doch die Folgelasten ab, die eine ganze Reihe von unausgesproche­
nen Vorannahmen über Medien, Medialität nach sich zieht. Ein essentialistischer
Medienbegriff zumal in der Differenzierung von Text und Bild trifft auf medien­
technische Spezifizierung, diese wiederum auf ihre figurale Inanspruchnahme
zu Zwecken poetologischer Selbstverständigung; die daraus entspringenden
Unschärfen steigert noch die in der Fichte-Forschung bis heute dominierende
Form einer Problemvermeidung, die trotz den unüberseh­baren Reflexionsvorga­
ben des Œuvres selbst umstandslos, wenn nicht gegen die Ansätze zu besserer Ein­
sicht,9 zwischen Fichtes Biographie und den Funktionen von Autor-, Erzähl- und
Aussageinstanzen hin- und herspringt.10 Denn natürlich ließe sich das von der
zitierten Passage Erzählte mit biographisch und werkgeschichtlich Beleg­barem
abgleichen: mit jenen Fotocollagen, die Fichte für sein Anfang der 1960er Jahre
verfasstes, erst postum und ohne diese veröffentlichtes Theaterstück ­Ödipus auf
Håknäs verfertigt hat, mit den fotografischen Motiven, die Lenoroe Maus Auf­
tragsarbeiten für Magazine und Illustrierte abgelichtet haben, mit L
­ eonore Maus
Fotografie von Hubert Fichtes Schneidearbeit, in deren Archivbenennung dann
der erste Satz des Romans wiederkehren wird (Abb. 1) – ja womöglich mit den
8. So das Versprechen von Tzaras Anleitung zur Herstellung eines dadaistischen Gedichts:
»Et vous voilà un écrivain infiniment original et d’une sensibilité charmante«. Tristan Tzara:
»Dada manifeste sur l’amour faible et l’amour amer«, Sept manifestes dada, in: Œuvres
­complètes, Bd. 1, hrsg. von Henri Béhar, Paris 1975, S. 382.
9. Vgl. Böhme: Hubert Fichte, a.a.O., S. 13: »Die Figuren des Detlev, des Jäck und des Ich
sind […] weder gleichzusetzen mit der biographischen Identität ›Hubert Fichte‹ auf der Zeit­
achse seines gelebten Lebens, noch sind sie erfundene Identitäten im fiktiven Kosmos des
Narrativen. Sondern sie sind metaxü, ›Zwischenwesen‹ auf der ›Bühne‹ des Textes, mediale
Konstruktionen des Autors oder auch, im Wortsinn: die Ekstasen des Autors. Fichte hat in
seinen Trance-Studien begriffen, daß die Form des liminalen Schwellenraums homolog ist
der Form der fiktiven Autobiographie. Diese verwandelt das Ich […] zu einem Medium, ent­
rückt es in ›Zwischenzeiten‹ und ›Zwischenräume‹, die einer prinzipiell anderen Ordnung
gehorchen als der realhistorischen Biographie.«
10. Daran hat die akribische Thematisierung dieses Problems, die in Jan-Frederik Bandels
maßgeblicher Monographie vorliegt, bis heute wenig geändert: Jan-Frederik Bandel: Nach­
wörter. Zum poetischen Verfahren Hubert Fichtes, Aachen 2008 (zur betreffenden Passage
S. 22f.). – Dass gerade die Geschichte der Empfindlichkeit in vielen Zügen auf die Verwechs­
lung von Hauptfiguren und Personen zu rechnen scheint, berechtigt jedenfalls eine literatur­
wissenschaftliche Beschäftigung nicht dazu, diesem Kalkül unbesehen zu folgen.
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Stephan Kammer/Karin Krauthausen
Abb. 1: Leonore Mau: Er zerschnitt ihre Fotos, Hamburg 1961.
Daten eines Hotelaufenthalts, den Mau und Fichte im ­Sommer 1962 in Köln ver­
bracht haben.11
Was aber genuin und grundsätzlich jenseits solcher Belegbarkeit bleibt, ist die
Zuspitzung, die dieser Erzählakt solchen potentiellen Materialien angedeihen
lässt, die Signifikanz, die damit her- und herausgestellt wird. Beides bleibt irre­
duzibel der Sphäre des Werks verhaftet und hat dort, und nur dort, Relevanz
und Funktion. Die Begründungsszene, die Handlung und Reflexion verbindet, ist
nicht nur eine narrativ nachträgliche (»Jäcki hatte keine Ahnung […]. Er wußte
nicht […]«), sondern auch eine, die sich selbst der souveränen Verfügbarkeit
der Erzählinstanz entzieht (»Vielleicht […]«). Nur in dieser konjekturalen Form
zeigt sie das Voraussetzungsgefüge auf, in das Jäckis Schriftstellerkarriere von
Anbeginn verstrickt gewesen sein wird.
II.
Dieses Voraussetzungsgefüge, so dessen nachträgliche Setzung, ist ein mediales.
Das gilt für die Szene selbst, insbesondere aber für die in ihr angelegten poetolo­
gischen Implikationen. Doch die Inszenierung dieses Anfangs zeigt anderes, vor
11. Vgl. Jan-Frederik Bandel: Hotel Garni, Doppelzimmer, Aachen 2004, S. 37.
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