Kleine Aster_Interpretation
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Kleine Aster_Interpretation
„Kleine Aster“ – Interpretation (M. Leis) Der Titel des Textes suggeriert dem kundigen Lyrik-Leser zunächst ein idyllisches Blumengedicht, wie man es früher in Poesiealben oder Lyrikbänden fand. Doch Benn bricht radikal mit dieser Tradition, er parodiert das idyllische Blumenmotiv auf krasseste Weise und rückt stattdessen eine Leichensektion in den Vordergrund, er bietet seinen Lesern eine Ästhetik des Hässlichen: Schon in der ersten Zeile zerstört er brutal die poetische Verheißung des Titels, indem er in verächtlich grober Umgangssprache von einem „ersoffene[n]“ – keinem ertrunkenen – „Bierfahrer“ (V. 1) spricht. Diese Wasserleiche wird dann wie ein Gegenstand „auf den Tisch gestemmt“ (V. 1) und nicht etwa pietätvoll gebettet. Die Aster erscheint vor diesem Hintergrund als ein zusätzliches Motiv der Vergänglichkeit und nicht etwa des Lebens, worauf auch die befremdliche Farbgebung "helldunkellila" (V. 2) hinweisen könnte. Im Übrigen ist die Aster seit jeher eine beliebte Grabblume auf Friedhöfen, die man früher ja auch als Todesacker bezeichnete. Zudem steht auch sie kurz vor ihrem eigenen Tod, sie wurde ja abgepflückt, das heißt entwurzelt, und ihre Stunden sind gezählt. Im zweiten Vers nimmt das lyrische Ich das Titelwort auf, das durch das sperrige und unpoetisch dreiteilige Adjektiv - „dunkelhellila" (V. 2) – auffällig hervorgehoben wird. Die „Aster“, die „Irgendeiner“ (V. 2) dem Bierfahrer „zwischen die Zähne geklemmt“ (V. 3) hat, ergibt ein groteskes Bild, das Irritationen auslöst. Was soll die Aster zwischen den Zähnen? Wer hat die Blume dorthin "geklemmt" (V. 3)? Vielleicht, so darf vermutet werden, ist der "ersoffene" (V. 1) Bierfahrer im 'Suff' ertrunken, und einer seiner Kumpane hat im Alkoholrausch, nachdem der tote Körper geborgen worden war, sich mit der Aster einen üblen Scherz – der einer Leichenschändung gleichkommt – erlaubt. Auch erinnert die Blume zwischen den Zähnen an den sogenannten "letzten Biss" aus dem Jäger-Milieu, wobei nach einer Jagd der Jäger dem erlegten Tier einen Zweig zwischen die Zähne steckt, eben den letzten Biss, um ihm damit die letzte Ehre zu erweisen. Für den Bierfahrer ist diese Geste allerdings keine Ehre, vielmehr wird er durch sie zynisch zu einem erlegten Tier degradiert. Die enge körperliche Verbindung zwischen Bierfahrer und Aster wird nicht nur körperlich – Zähne und später Brusthöhle ("Vase") (V. 13) – dargestellt, sondern auch durch das Reimpaar „gestemmt“ (V. 1), der mit dem „Bierfahrer“ (V. 1) korrespondiert, und dem Wort „geklemmt“ (V. 1), das sich auf die Aster bezieht. Im zweiten Teil des Gedichtes (V. 4-12) schildert das lyrische Ich ohne Emotionen die Tätigkeit seines "langen Messer[s]" (V. 6), er setzt es an der "Brust" (V. 4) an und entfernt "Zunge und Gaumen" (V. 7). Während des Schneidens "glitt" (V. 8) die Aster in das "nebenliegende Gehirn" (V. 9), das wahrscheinlich direkt daneben in einer Schale auf dem Autopsietisch liegt. Deshalb stopft der Pathologe die Blume, weil sie ihn im "Gehirn" (V. 9) stört, in die mit "Holzwolle" (V. 11) ausgefüllte "Brusthöhle" (V. 10), und so findet dort die "kleine Aster" (V. 15), die durch den Zusatz klein Beschützerinstinkte weckt, ihr neues Heim, das für sie zur "Vase" (V. 13) wird, denn offensichtlich befindet sich am Grund des Brustkorbs noch ein Rest von Gewebeflüssigkeit, das ihr Nahrung bietet. In den letzten drei Versen, die sich direkt an die Aster richten, ändert sich plötzlich die Sprechweise, sie ist nun nicht mehr distanziert und salopp (gefühlskalt?), sondern auf den ersten Blick emotional, aber vor allem zynisch: "Trinke dich satt in deiner Vase! / Ruhe sanft, / kleine Aster!" (V. 13-15) Dieses scheinbare Mitgefühl gilt nicht, wie erwartet, dem toten Bierfahrer, sondern der Aster, eine überraschende Wendung, die auch heute noch die Leser schockiert. Der zerschnittene Leichnam wird pietätlos zu einer Blumenvase degradiert, in der sich die Aster satt trinken soll. Die beiden letzten Verse nehmen provokativ die bei Beerdigungen geläufige Formulierung Requiescat in pace auf und pervertieren sie, weil sie sich nicht an den Leichnam richten, sondern an eine kleine Blume. Benn persifliert in den letzten drei Versen jede Form von menschlichem Mitgefühl mit dem Toten. Der zerschnittene Leichnam scheint weniger wert zu sein als die "kleine Aster" (V. 15) , aber auch sie ist den Gesetzen des Lebenskreislaufs unterworfen, auch die entwurzelte Blume wird in ihrer "Vase" (V. 15) sterben. Sogar eine Spur von Sadismus – diese Lesart ist immerhin möglich – findet sich in diesem Schluss: Der Pathologe hat den Tod der Aster im Grunde beschleunigt, denn in dem zugenähten Brustkorb welkt sie naturgemäß schneller als in einer normalen Blumenvase, in der sie wenigstens mehr Licht und sicher auch mehr Wasser hätte. So gesehen wäre das "Ruhe sanft" nur bittere Ironie.