Der Wolf und das Lamm – vier Versionen

Transcrição

Der Wolf und das Lamm – vier Versionen
 Der Wolf und das Lamm – vier Versionen
Äsop
Ein Wolf sah, wie ein Lamm aus einem Fluß trank, und wollte es unter dem Vorwand einer glaubhaften
Beschuldigung auffressen. Deshalb stellte er sich flußaufwärts hin und warf ihm vor, es mache das Wasser schlammig und lasse ihn nicht trinken. Das Lamm antwortete, es trinke nur mit gespitzten Lippen
und es sei überhaupt nicht möglich, von unten her das Wasser oben aufzuwühlen. Da der Wolf mit diesem Vorwand also nicht durchkam, sagte er: 'Aber im letzten Jahr hast du schlecht über meinen Vater
geredet.' Als das Lamm antwortete, es sei noch nicht einmal ein Jahr alt, sagte der Wolf: 'Wenn du auch
immer Entschuldigungen hast, soll ich dich deshalb nicht auffressen?'
Die Fabel zeigt, daß bei denen, die fest vorhaben, Unrecht zu tun, auch eine triftige Verteidigung nichts
gilt.
Zit. nach Äsop: Fabeln (Griechisch/Deutsch), übersetzt und mit Anmerkungen versehen
von Thomas Voskuhl, RUB 18297, Stuttgart 2005.
Phädrus
Zum selben Bach gekommen waren Wolf und Lamm,
vom Durst getrieben, und stromaufwärts stand der Wolf,
weit unterhalb das Lamm. Da ließ sein böser Schlund
den Räuber einen Vorwand suchen sich zum Streit.
Er sprach: ,Warum hast du das Wasser mir getrübt
beim Trinken?' Ängstlich sprach der Wolleträger drauf:
'Wie kann ich, bitte, tun, was du mir vorwirfst, Wolf,
das Wasser fließt von dir zu meiner Tränke ja.'
Der sprach, da ihn die Macht der Wahrheit widerlegt:
'Du hast mich vor sechs Monaten verflucht.' 'Da war ich ja noch nicht geboren', sprach das Lamm. 'Dann war's bei Gott dein Vater, der verflucht mich hat,'
und packte und zeriß es, ob's auch schuldlos war.
Diese Fabel ist auf Menschen abgezielt, die Unschuld
unterdrücken mit gefälschtem Grund.
Zit. nach Fabeln der Antike, herausgegeben und übersetzt von Harry C. Schnur und überarbeitet von Erich Keller, Düsseldorf/Zürich 1997.
Philippe Wampfler
Version 1.0
ppp.phwa.ch
Jean de la La Fontaine
Des Stärkeren Recht ist stets das beste Recht gewesen Ihr sollt's in dieser Fabel lesen.
Ein Lamm löscht' einst an Baches Rand
Den Durst in dessen klarer Welle.
Ein Wolf, ganz nüchtern noch, kommt an dieselbe Stelle,
Des gier'ger Sinn nach guter Beute stand.
'Wie kannst du meinen Trank zu trüben dich erfrechen?',
Begann der Wüterich zu sprechen 'Die Unverschämtheit sollst du büßen und sogleich!'
'Eu'r Hoheit brauchte', sagt das Lamm, vor Schrecken bleich,
'Darum sich nicht so aufzuregen!
Wollt doch nur gütigst überlegen, daß an dem Platz, den ich erwählt,
Von euch gezählt,
ich zwanzig Schritt stromabwärts stehe;
Daß folglich Euren Trank, seht Euch den Ort nur an - ,
Ich ganz unmöglich trüben kann.'
'Du trübst ihn dennoch!', spricht der Wilde, ,wie ich sehe,
Bist du's auch, der auf mich geschimpft im vor'gen Jahr!'
'Wie? Ich, geschimpft, da ich noch nicht geboren war?
Noch säugt die Mutter mich, fragt nach im Stalle.'
'Dein Bruder war's in diesem Falle.'
'Den hab ich nicht' - ,Dann war's dein Vetter und
Ihr hetzt und verfolgt mich alle,
Ihr, euer Hirt und euer Hund.
Ja, rächen muß ich mich, wie alle sagen.' Er packt's, zum Walde schleppt er's drauf,
Und ohne nach dem Recht zu fragen,
Frißt er das arme Lämmlein auf.
Zit. nach Jean de la Fontaine, Sämtliche Fabeln, übersetzt von Ernst Dohm,
ergänzt durch Gustav Fabricius, Düsseldorf/Zürich 2003
Lessing
Der Durst trieb ein Schaf an den Fluß; eine gleiche Ursache führte auf der anderen Seite einen Wolf
herzu. Durch die Trennung des Wassers gesichert und durch die Sicherheit höhnisch gemacht, rief das
Schaf dem Räuber hinüber: ,Ich mache dir doch das Wasser nicht trübe, Herr Wolf? Sieh mich recht an,
habe ich dir nicht vor sechs Wochen nachgeschimpft? Wenigstens wird es mein Vater gewesen sein.'
Der Wolf verstand die Spötterei, er betrachtete die Breite des Flusses und knirschte mit den Zähnen. Es
ist dein Glück, antwortete er, daß wir Wölfe gewohnt sind, mit euch Schafen Geduld zu haben; und ging
mit stolzen Schritten weiter.
Gotthold Ephraim Lessing, Werke, 5. Bd., Carl Hanser Verlag, München,
1973, S. 352ff.
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