Tekstutdrag frå Fjorden

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Tekstutdrag frå Fjorden
Textauszüge aus Lars Ove Seljestad: Der Fjord. Aus dem Norwegischen von
Heidrun Bubik.
Auszug 1:
Erst als er tot ist, liebkose ich ihn. Ich beuge mich über ihn, wie er da in dem weißen Bett
liegt, und streichle ihn vorsichtig; mit der Rückseite meiner rechten Hand streichle ich seine
immer noch warme Wange. Ich spüre, wie seine steifen, grauen Bartstoppeln die sensible,
weiche Haut zwischen den Fingerknöcheln ein wenig aufreiben. Vorsichtig und ganz ruhig
streichle ich in langsamen, kleinen Bewegungen mit der Rückseite meiner Finger die immer
noch warme Wange meines Vaters. Streichle und streichle.
So fühlt er sich also an, mein Vater, denke ich und setze mein vorsichtiges Streicheln
seiner Wange fort; wechsle auf die andere Seite und streichle ebenso seine rechte Wange.
Möchte zwischen den Wangen keinen Unterschied machen. Spüre seine alte Haut unter
meinen Fingern.
Er ist so sauber, so durchsichtig, wie er da liegt. Als wir ins Zimmer kamen, nachdem
er von der dunkelhaarigen Krankenschwester zurechtgemacht, von ihr gewaschen, und mit
einem blauen Hemd bekleidet worden war und er auch sein Gebiss, das er in den letzten
Tagen nicht mehr trug, wieder in den Mund bekommen hatte, erschien es mir, als ob ich
seinen Onkel in ihm sähe. Das erste, das ich dachte, als ich meinen zurechtgemachten Vater
sah, war, das sein Onkel vor mir liegt.
Es ist leicht zu sehen, wem er ähnelt, denke ich.
Ich sehe nichts von seinem Vater in ihm, nur seine Mutter und seinen Onkel.
S. 13-14.
Auszug 2:
Es ist heute eine Finsternis im Zimmer. Eine Finsternis, die es an den anderen Tagen nicht
gab. Obwohl ich alle Vorhänge zur Seite ziehe, obwohl ich alle Lampen anschalte,
verschwindet diese Finsternis nicht. Als ich am Morgen aufwachte, schlug der Regen hart auf
das Dach und die Fenster. Heute Nacht wachte ich auch davon auf. Harter Herbstregen auf
Dächer, Wände und Fenster.
Ich stehe auf. Werfe meine Kleider von der Bettkante hinunter. Meine Brille setze ich
mir hoch auf den Kopf, wie eine Krone oder ein römisches Folterinstrument.
Ich ziehe alle Vorhänge zur Seite. Schalte alle Lampen an. Versuche die neue
Finsternis zu vertreiben.
Kann man vor seinem Trübsinn flüchten, vor seiner Melancholie fliehen? Ich habe es
versucht, viele Male habe ich es versucht.
Oft denke ich, dass ich am falschen Ort sei, und dass es mir besser ginge, wenn ich nur
fortzöge. Wenn ich nur von dem nicht auszuhaltenden Ort, an dem ich gerade bin, wegzöge,
wenn ich nur die nicht auszuhaltende Arbeit, die ich gerade habe, kündigte, wenn ich von
denen, mit denen ich gerade zusammenlebe, wegginge. Dann hätte ich es besser. Dann wäre
mein Leben besser.
Ich habe es so viele Male getan, dass ich weiß, dass es nicht stimmt. Trotzdem
versuchen meine Gefühle meine Gedanken so zu formen, dass es wahr wird. So dass es
wirklich wird. So dass ich es wieder tue.
S. 22-23.
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Auszug 3:
Ich öffne die Tür zum Balkon. Spüre eine beißende Kälte, die mir entgegenschlägt. Im Laufe
der Nacht ist ein neuer Ton in die Luft gekommen. Gestern gab es Sturm und Wind. Blauer
Himmel, über den dicke graue und weiße Wolken jagten. Aber es war nicht kalt. Heute ist ein
kälterer Ton in der Luft. Ein Herbstgeruch, der auf frühe Septembertage folgt, die nach
gelbem Sommer geschmeckt haben, Spätsommertage mit dem Geschmack süßlicher
Pflaumen und dem schweren Duft vollreifer Blumen.
In der Nacht regnete es. Ich hörte den Regen gegen das Dachfenster prasseln, als ich
gestern zu Bett ging. Wollte früh schlafen gehen. Wollte früh aufstehen, um zu schreiben.
Heute. Ein schärferer Ton in der Luft. Ein Herbstton.
Der Regen ist vorbei. Die Stadt ist frisch gewaschen. Die Feuchtigkeit verdunstet
langsam von den Strassen und Häusern an diesem kühlen Septembermorgen.
Leicht bewölkt. Eine bleiche Sonne scheint mir in den Rücken.
S. 25.
Auszug 4:
Ich sitze im Sessel aus grünem Skai. Neben mir steht mein schwarzer Rucksack. Der
schwarze Rucksack hat mich die letzten Tage begleitet.
Ich sitze hier und betrachte Vater. Ich sehe zu, wie seine blaue Brust sich hebt und
senkt, sowie auch in den Tagen zuvor.
Ich weiß, dass das nicht möglich ist. Ich weiß, dass Vater zu atmen aufgehört hat.
Aber trotzdem sehe ich, dass seine Brust sich hebt und senkt; kann seinen leisen, schweren,
langsamen, schwierigen, reibenden Atem hören. Ich höre, wie er sich anstrengt, um Luft zu
bekommen; höre, wie die eine Lunge, diejenige, die noch nicht aufgegeben hat, sich noch
einen Atemzug erkämpft.
Und ich weiß, dass es Lüge ist. Ich weiß, dass es Selbstbetrug ist.
Ich weiß, dass meine Sinne mir ein Schnippchen schlagen. Ich weiß, dass es mein Wille und
meine Sehnsucht sind und dass es alles das ist, auf das ich nie eine Antwort bekommen habe,
das Vaters Brust dazu bringt, sich zu heben und mich das schwache Reiben seines schweren
Atems hören lässt, der eingezogen wird und langsam wieder entweicht.
Ich weiß, dass es so ist. Und trotzdem verschwindet dieses Bild nicht. Vaters blaue
Brust, die sich hebt, die zusammensinkt; ganz ruhig geht die blaue Brust. Und trotzdem
verschwindet das Geräusch des reibenden, schwachen Atems nicht. Langsam, auf eine
schmerzliche Weise, geht sein schwacher Atem. Und ich höre es. Ich höre es ganz deutlich.
S. 30-31.
Auszug 5:
Ich nehme meinen Discman und CDs aus dem schwarzen Rucksack. Ich habe darin Musik
mitgenommen, von der ich weiß, dass sie Vater gut gefällt. Die auch ich zu mögen begonnen
habe. Vaters Lieblingslied ist „Du kannst dorthin nichts mitnehmen, wohin du gehst.“ Selbst
habe ich andere Lieblingslieder. Aber ich habe Lust, dass Vater Cornelis das Lied singen
hören soll, das er so gern hat. Darum habe ich den Discman und diese CD mit dem Besten
von Cornelis Vreeswijk mitgenommen.
Ich setze mir die Hörer auf, lege die CD ein und schalte den Discman ein. In der
letzten Zeit, als mir aufgegangen ist, dass Vater krank ist, habe ich begonnen „ Manche gehen
in zerlumpten Schuhen“ zu spielen. Oder war es schon früher, als ich angefangen habe, dieses
Lied anzuhören? Habe ich angefangen, dieses Lied anzuhören, als mein eigener Fall
begonnen hat? Ich erinnere mich nicht. Mir gefällt es jetzt, wo ich in Vaters Zimmer sitze.
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Vielleicht gefiel es mir schon zuvor. Vielleicht finde ich, dass es etwas trifft, das sowohl zu
Vater als auch zu mir passt, etwas, das uns verbindet.
Die warme, lebendige, rauchige Stimme von Cornelis füllt meine Ohren: „Manche
gehen in zerlumpten Schuhen/ sag mir, warum ist das so?/ Gott, der im Himmel wohnt/ will
es vielleicht so?/ Gott, der im Himmel wohnt/ döst und schläft so gut/ Wen kümmern schon
zerlumpte Schuh’/ wenn man alt und müde ist?/ …“
Ich spiele Cornelis für meinen Vater. Irgendwie erinnern mich die beiden aneinander.
Große, dicke, lebendige Menschen, mit einer Vorliebe für Gesang, Rauchen und Trinken.
Ich heule, während ich Cornelis spiele. „ Sieh, wie unser Schatten/ sieh Mowitz mon
frère/ sich in Finsternis einschließt/ …durstig war sie/ und sehr durstig bin ich/ Wir sind alle
durstig.“
Ich lache bei „Kamerad Per“. Und heule bei den „Zerlumpten Schuhen“, bei
„Rikemann“ und bei „Sieh, wie unser Schatten“.
Ich spiele die Lieder von Cornelis immer und immer wieder. Ich vergesse Zeit und
Raum. Ich weiß nicht mehr, wie oft ich das Beste von Cornelis Vreeswijk angehört habe. Und
als ich aufhöre, ist es draußen schon vor langer Zeit dunkel geworden. Die alte Hilfsschwester
hat einige Male zur Tür hereingeschaut, ohne zu stören. Es ist Abend geworden.
Als ich die Hörer abnehme, höre ich Vaters reibenden Atem nicht mehr. Ich sehe nicht
mehr, dass seine blaue Brust sich hebt und senkt.
Ich stehe von dem grünen Sessel auf, gehe die wenigen Schritte zu Vater hinüber und
streichle ihm einmal leicht über das graue borstige Haar. Als ich ihn an seiner Wange berühre,
ist er kalt geworden.
Vater ist zu einem kalten Stück Fleisch geworden, denke ich. Alle Wärme hat ihn
verlassen. Alles Leben hat ihn verlassen. Jetzt gibt es nur noch den Zerfall. Und der hat schon
eingesetzt, denke ich. Jetzt arbeiten Bakterien und Enzyme aus vollen Kräften um ihn der
Erde zurückzugeben, denke ich.
S.73-75.
Auszug 6:
Vater und ich gehen im Gänsemarsch den steilen Hang hinauf.
Vater vorne. Ich dahinter. Auf dem Rücken trägt er seinen großen, grauen Rucksack. Darin
hat er die belegten Brote, die Mutter für ihn gemacht hat, zwei mit Ei und Schafswurst, der
beste Reiseproviant der Welt, Eierbrote mit Schafswurst, und zwei mit Käse und Senf, Vaters
Spezialkost. Und er hat eine rote Thermoskanne mit warmem Kaffee. Weiters hat er einen
Extrapullover für die Bootsfahrt, Stiefel, ebenso für die Bootsfahrt, ein neu gekauften, roten
Schöpfeimer aus Plastik, einige Meter zusammengelegte Plastikplane vom Schmelzwerk, ein
neu gekauftes Bootsseil und eine Toilettentasche. Was er sonst noch in seinem großen
Rucksack hat, weiß ich nicht.
Selbst habe ich keinen Rucksack. Ich habe meine blaue Schultasche auf dem Rücken.
Darin habe ich die belegten Brote, die Mutter gemacht hat, zwei Eierbrote mit Schafswurst,
genau solche wie Vater bekommen hat. Das ist für mich genug. Ich habe eine eckige
Plastikflasche mit rotem Stöpsel, meine Schulflasche, angefüllt mit rotem, hausgemachtem
Johannisbeerensaft. Wie Vater habe auch ich einen Extrapullover und grüne Stiefel für die
Bootsfahrt. Zusätzlich zu dem, an das ich selbst gedacht habe, hat Mutter mich daran erinnert
Zahnbürste, Zahnpasta, und Pyjama mitzunehmen. Ja, und dann habe ich noch ein fast ganz
neues Donald-Duck-Heft, das habe ich vergessen zu erwähnen.
Der schmale Weg schlängelt sich nach oben. Das Gras ist noch feucht vom
Morgentau. Der feuchte Dampf legt sich an unsere Beine und macht unsere Hosen unter den
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Knien nass. Hellgrüne Samen lösen sich von den Grashalmen, die von Vater und mir zur Seite
gebeugt werden, indem wir uns den schmalen Weg hinaufzwingen.
Auf der Strasse oben angekommen, legen wir Rucksack und Schultasche ab und
stellen uns an die Haltestelle. Nach einer langen Wartezeit, nur davon unterbrochen, dass
einige Autos mit fremden Kennzeichen an uns vorbeifahren, hören wir endlich das bekannte
Geräusch des Busses, der auf dem Hang hinter der scharfen Kurve hinunterschaltet.
Vater streckt die Hand aus und stoppt den Bus. Der rote Linienbus mit dem weißen
Dach fährt an die Seite und bleibt stehen. Vater geht nach hinten und legt unser Gepäck in den
Gepäcksraum. Ich warte bis Vater zurückkommt.
Wir steigen in den Bus ein. Machen große Schritte über die hohen Stufen hinauf.
Eine Ganze und eine Halbe nach Kinsarvik, sagt Vater forsch zum Busfahrer, der in
weißem Uniformshemd und blaugrauer Hose vor uns sitzt.
Eine Ganze und eine Halbe, hm, nach Kinsarvik, rechnet der Busfahrer im Kopf, das
macht genau dreiundsechzig, sagt er und zieht einige Zettel aus der langen Stahlrolle, die er in
der Hand hält.
Vater bezahlt, und wir setzen uns auf einen leeren Platz hinter dem Fahrer. Ich innen
am Fenster, Vater außen am Mittelgang.
Der Bus fährt mit einem plötzlichen Ruck an.
Vater pufft mich mit dem Ellbogen in die Seite und flüstert mir mit einem listigen
Lächeln in der Stimme zu: Ruckmann ist heute der Busfahrer.
Ruckmann, entgegne ich, was meinst du?
Sie nennen den Busfahrer, der heute fährt, Ruckmann. Er fährt so ruckartig. Darum hat
er den Spitznamen Ruckmann bekommen. Er heißt eigentlich anders, aber alle nennen ihn nur
Ruckmann.
Wie heißt er denn eigentlich, frage ich. Das weiß ich nicht, antwortet Vater, ich kenne
ihn nur als Ruckmann.
Und jetzt, nachdem Vater mir das erzählt hat, merke ich es auch. Ruckmann fährt wirklich
ungewöhnlich ruckartig. Bei ihm ruckt der Bus, wenn er vor einer Kurve bremst. Der Bus
ruckt, wenn er nach der Kurve wieder Gas gibt. Wenn er schaltet, hüpft der Bus förmlich in
kleinen, jähen Rucken den Weg entlang. Und das Gleiche passiert, wenn er an den
Haltestellen stehen bleibt und anfährt.
Ich bin schon früher mit ihm gefahren, auf dem Weg von und zur Schule in Odda bin
ich mit ihm gefahren, aber erst jetzt, nachdem Vater davon geredet hat, denke ich darüber
nach, dass an seinem Fahrstil etwas besonders ist. Er ist besonders ruckartig. Genau wie Vater
es gesagt hat.
S. 113-115.
Auszug 7:
Vater sitzt hoch oben auf der Bank am Heck und steuert. Ich sitze tief unten im Boot,
zwischen dem Spant und der vordersten Bank; ganz vorne auf dem schmalen Boden, der in
einem Spitz zum Kiel hin endet, sitze ich.
Als wir die Landzunge umrunden, spüre ich, wie neue Wellen das Boot erfassen, von
der Seite her packen sie zu und rollen unser kleines Boot von einer Seite zur anderen. Vater
hält den Gashebel mit der rechten Hand gut fest. Mit der linken hält er sich am Bootsrand fest.
Ich liege sicher und geborgen am Boden des Bootes und spüre die Kraft der Wellen durch das
Boot hindurchdringen bis in meinen linken Arm und meine Schulter hinein.
Vater hat gesagt, dass es nicht gut sei, dass die Wellen von der Seite herkämen. Sie
würden dass Boot zu stark packen, es treibe zu viel ab und könne schlimmstenfalls umkippen.
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Ich spüre, wie die Wellen unser Boot ergreifen und es hin und her rollen. Mit
Leichtigkeit werfen sie uns von einer Seite zur anderen. Der Wind bläst direkt in den Fjord
hinein. Weiter draußen, wo der Fjord breit und offen ist, baut der Wind die Wellen auf und
schiebt sie einwärts uns entgegen, während wir versuchen, hier, wo der Fjord am schmalsten
ist, von einer Landzunge zur anderen zu kreuzen.
Es ist nicht gut, dass die Wellen von der Seite kommen, sagt Vater, aber wir haben
keine andere Wahl, wir müssen hinüber, das ist nun einmal so.
Ich nicke zu dem, was er sagt, liege geborgen unten auf dem Boden ganz vorne und
schaukle.
Wirst du seekrank? fragt Vater mit einem listigen Ausdruck im Gesicht.
Niemals, antworte ich. Ich weiß, dass Vater ein alter Seemann ist und stolz darauf, nie
seekrank zu werden. So will ich auch sein, denke ich, nie seekrank.
Vater hat eine strenge Falte auf der Stirn, wie er da auf der Bank am Heck sitzt und
steuert. Er kneift die Augen zusammen und hält sich bei diesem starken Schlingern gut fest.
Es sieht nicht danach aus, als gehe es ihm besonders gut, wo er da sitzt.
Ich fühle mich geborgen. Ich bin sicher, dass Vater es schafft; dass er weiß, was zu tun
ist.
Mein Vater war schon früher auf See, denke ich stolz, es ist nicht zum ersten Mal, dass
er sich auf See begibt, nein. Mein Vater ist sowohl auf der Nordsee als auch auf dem Atlantik
und dem Weißen Meer gesegelt, denke ich stolz, während ich ganz vorne auf dem Boden
liege und schaukle. Er weiß sicher, was zu tun ist. Für ihn ist so eine kleine Fjordüberfahrt nur
ein Kinderspiel, denke ich, während ich hier geborgen liege. Im Boot gemeinsam mit Vater.
Vater verringert die Geschwindigkeit, versucht das Boot zu wenden, damit der Bug
eher gegen die Wellen gerichtet ist und die Wellen nicht die ganze Zeit auf die Breitseite des
Bootes schlagen.
Wir kreuzen schräg über die hohen Wellen; nicht gerade, wie wir geplant hatten,
sondern schräg auf den Fjord hinaus.
Auf eine ruckelnde, zickzackartige Weise kommen wir endlich hinüber. Auf dem
letzten Stück Weg sehen wir eine schwere, graue Front gegen Land rollen.
Regen, sagt Vater. Er verringert die Geschwindigkeit, damit ich hören kann was er
sagt.
Siehst du den Regen da draußen? fragt er.
Regen? frage ich.
Die schwere, graue Masse, die langsam vom Fjord herkommt, sagt er.
Ich nicke. Das ist also Regen. Alles dieses Graue weiter draußen auf dem breiten Fjord
ist Regen. Das sagt Vater. Es ist das erste Mal, dass ich höre, dass man Regen kommen sehen
kann. Bis jetzt habe ich nur Regen erlebt, der vor meinen Schuhspitzen den Boden trifft;
Regen, der auf grauen Asphalt und sonnengebräunte Unterarme fällt, der graue, durchsichtige
Flecken auf weiße T-Shirts macht und blanke, kleine Tropfen auf neugewaschenen Autos
hinterlässt; Regen, der Mütter atemlos die Treppen hinunterlaufen lässt, um die Wäsche
reinzuholen, die auf der Leine draußen zum Trocknen hängt.
Aber das ist eine andere Art von Regen; Regen, der von draußen vom Fjord
hereingerollt kommt; von weit draußen vom Meer kommt er her, von weit, weit draußen. Er
kommt auf uns zu. Er fegt über Fjord und Bergseiten. Deckt alles zu, an dem er vorbeikommt,
nimmt das Licht weg und färbt alles grau auf seinem Weg. Eine graue Wand, die uns bald
erreicht.
Können wir nicht ganz einfach Vollgas geben und dem Regen davonfahren? frage ich.
Ich habe Lust „Scheißvollgas“ zu sagen, so wie ich es zu meinem Vetter oder meinen
Freunden gesagt hätte, aber ich weiß nicht, ob Vater das gefallen hätte. Darum sage ich nur
Vollgas.
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Vater schüttelt den Kopf.
Der Regen kommt viel schneller als unser Boot fahren kann, sagt Vater, wir haben
keine Chance.
Es sieht nicht so aus, als ob er schnell kommt, antworte ich, er hat sich ja gerade nur
etwas weiterbewegt.
Ja, das sieht so aus, sagt Vater, ist aber nicht so.
Und ich verstehe, dass Regen so wirkt, als ob er langsam und still daherkäme, uns aber
täuscht und wie ein Wind kommt; wie ein wildes Pferd kommt der Regen über alle Berge
dahergaloppiert und wirft sich über uns, wenn wir ihn gerade am wenigsten brauchen können.
Vater gräbt in seinem Rucksack und zieht eine flache Rolle aus halbdurchsichtiger
Schmelzwerkplastikplane hervor.
Nimm die, und breite sie über dich, sagt er und reicht mir die schwere Plastikplane.
Ich breite die flache Rolle aus und es ist ein großes Stück, das ich doppelt um mich
lege; dichte damit oben hinter meinem Kopf ab und klemme es zwischen mir, dem
Bootsboden und den Seiten des Bootes fest.
Nimmst du nichts? frage ich, bevor ich in meiner blanken, halbdurchsichtigen
Behausung untertauche.
Vater schüttelt den Kopf. Er lächelt mir aufmunternd zu und gibt mehr Gas, sodass das
Boot in den Fjord hineinbraust, einen Landstrich an einem Teil des Fjordes entlang, der mir
ganz unbekannt ist.
Von der Tørvikseite her habe ich Bergspitzen mit der weißen Rundung des
Folgefonna-Gletschers ganz oben gesehen. Ich habe Buchten und graue Berge gesehen, hier
und da Häuser zu kleinen Dorfgruppen angehäuft, und hin und wieder auch ein Haus, das in
all dem Grünen und Grauen ganz für sich allein steht.
Aber ich kenne diese Orte, Häuser, Buchten und Berge nicht. Sie waren bis jetzt kein
Teil meiner Wirklichkeit. Jetzt sollen sie dazu werden.
Das Wichtigste ist aber, dass wir jetzt endlich auf dem richtigen Weg sind. Jetzt sind
wir zum ersten Mal auf dem richtigen Weg, auf dem Heimweg. Auf dem Weg in den Fjord
hinein. Heim.
Wir sind nicht sehr weit gefahren, als uns die graue Wand einholt. Zuerst nur ein
leichter Grauton mit einigen leichten Strichen in Richtung Meer; dann ohne großen Übergang
ein Dunkelgrau, das die Konturen des Landstriches, von dem wir wegfahren, auslöscht, und
das die Konturen der neuen Landschaft, die wir entlangfahren, undeutlich macht. Gemeinsam
mit dem Dunkelgrau kommt der Regen in harten, grauen Streifen vom Himmel herunter; trifft
die grauen Wellen mit harten Stößen und wird einige Zentimeter von der Fjordoberfläche
zurück in die Luft geworfen.
Vaters blasse, blaue Jeansjacke färbt sich augenblicklich dunkelblau. Mein
halbdurchsichtiges Plastikdach wird mit großen, nassen Tropfen zugedeckt, die sich zu
kleinen Bächen sammeln und ins Boot rinnen. Die regennasse Plastikplane verschleiert
meinen Blick auf die Außenwelt. Gemeinsam mit Vaters Rucksack und meiner blauen
Schultasche sitze ich hier geborgen und trocken unter der Schmelzwerkplastikplane, während
Vater in nassem Jeansstoff auf der Bank am Heck sitzt und steuert.
In dem ruhigen Schaukeln der Wellen, die uns jetzt von hinten treffen und
abgenommen haben, nachdem wir ins Lee gekommen sind, in meiner trockenen Behausung
aus Plastikplane und mit meinem blaugekleideten Vater, der das Boot sicher das Land entlang
steuert, schlafe ich in meinem Bau ein, das gleichmäßige Brummen des Motors in den Ohren
und die festen Stöße des Regens gegen mein Plastiktuch wie leichtes Prickeln auf meiner
Haut.
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Schaukelnd in Vaters Boot, geborgen unter der Schmelzwerkplastikplane, schlafe ich mich
am aufgelassenen Handelsplatz in Sollesnes mit seinen netten, weißen Häusern und dem alten
Schieferbruch vorbei, döse ich mich an den schönen, dicht aneinandergereihten Bootshäusern
in Svåsand vorbei, schlummere ich mich an der von Gletschern zerfurchten Region Hereiane
vorbei, dämmere ich mich am aufgelassenen Handelsplatz in Heraldsholmen vorbei, ruhe ich
mich am kleinen Bezirk Herandsbygda mit all seinen Felsenzeichnungen vorbei; in meinem
warmen, runden Nest schlafe ich mich am abseits liegenden Hof in Mælen vorbei.
Ich wache auf. Spüre, dass etwas nicht stimmt. Vater ist vom Gas gegangen. Etwas
stimmt nicht, aber ich kann nicht begreifen was.
Dann spüre ich es.
Unser Boot bewegt sich in die falsche Richtung. Wir werden rückwärts aus dem Fjord
hinausgesaugt, nicht hinein, wo wir hin sollen.
Ich schiebe die Plastikplane zur Seite. Es regnet immer noch, aber nicht mehr so stark
wie zuvor. Vater ist durchnässt. Er wird sich verkühlen, denke ich. Wirklich gut, dass er
Stiefel anhat, denke ich; wenn er kalte Füße bekäme, würde er ganz sicher krank werden. Das
habe ich von Mutter gelernt. Das allerschlimmste sind kalte Füße. Da wird man garantiert
krank. Solange die Füße trocken sind, gibt es Hoffnung.
Vater sieht anders aus, wie er da in der jetzt dunkelblauen, nassen Jeansbekleidung
sitzt. Er hat einen harten Zug im Gesicht.
Es hilft nichts. Wir müssen an Land, sagt er.
Wie bitte, frage ich zurück.
Wir müssen an Land. Der Seegang ist zu hoch. Wir müssen an Land und warten, bis er
sich beruhigt, ruft er mir zu. Wir können bei diesem Wetter nicht über den Samlafjord fahren.
Vater ist so verändert. Ich verstehe nicht richtig, was los ist. Er schreit mich mit lauter
harter Stimme an, als ob er böse wäre, als ob ich etwas angestellt hätte, als ob ich ihm etwas
angetan hätte. Aber ich habe nichts gemacht.
Es ist etwas in seiner Stimme, an der Art, wie er auf der Bank am Heck sitzt, an seinen
Bewegungen; sie sind eckig und irgendwie hart, aber gleichzeitig kraftlos. Durch all dieses
Harte, Eckige und Laute an ihm bemerke ich es zuerst nicht.
Aber dann begreife ich, dann verstehe ich und es läuft mir nass und kalt über den
Rücken, als es mir klar wird. Vater hat Angst. Ich kann es an seinen Augen sehen. Es gibt
etwas darin, das ich zuvor nicht gesehen habe. Es gibt etwas Wundes oder Verwundetes in
seinen Augen. Es gibt etwas Wundes in seiner Stimme. Es ist, als ob er nicht mehr daran
glaubt; nicht mehr glaubt, dass er es schaffen wird.
Ich spüre, dass mich die Angst packt. Bis jetzt war ich unter der Plastikplane in
Sicherheit, habe geborgen in Vaters Boot gelegen. Vaters Angst steckt an. Es prickelt in
meinen Augen. Ich spüre, wie mein Atem kürzer wird. Spüre, dass ich pinkeln muss. Da hilft
jetzt nichts, sage ich streng zu mir selbst.
Vater hat Angst. Ich habe meinen Vater noch nie zuvor ängstlich erlebt. Aber jetzt
weiß ich, dass er Angst hat, wirklich Angst hat.
Die Wellen sind sehr hoch. Die hohen, grauen, zerfurchten Wellen kommen direkt von
hinten auf uns zu; schwappen über die Kante des Bootes auf die Bank am Heck, wo Vater
sitzt und steuert; jagen die Bootseite entlang hinauf zum Dollbord, drohen ins Boot zu
strömen; packen das kleine Boot und hetzen es hin und her. Vater steuert nicht länger die
Richtung des Bootes, der Motor bestimmt nicht länger den Antrieb des Bootes. Die hohen
Wellen mit ihren weißen Gipfeln jagen uns, fangen uns, entmachten Vater und machen die
vier Pferdestärken unseres TOMOS-Motors zu einem Nichts. Nur wenn die Wellen wollen,
bewegt sich das Boot nach vorne, aber dann viel zu schnell. Wenn die Wellen nicht wollen,
bleibt das Boot auf den Wellengipfeln hängen oder wird rückwärts aus dem Fjord gesaugt.
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Ich habe noch nie so hohe Wellen gesehen. Ich bin noch nie in so hohen Wellen
gewesen. Ich habe Vater noch nie so ängstlich erlebt.
S. 172-179.
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