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WO T R E K K I N G Z U R P I L G E R S C H A F T W I R D Zur Quelle von «Mutter Ganga» Im indischen Himalaya steht einer der schönsten Berge der Welt: der 6543 Meter hohe Shivling, der nichts weniger sein soll als der Phallus des Zerstörergottes Shiva. Zu seinen Füssen Text: Gundula Iblher Fotos: Christoph Michel entspringt eine der heiligen Gangesquellen, das Sehnsuchtsziel Tausender Pilger. Wer sich dem Shivling nähert, begeht einen spirituellen Pfad – auch wenn er eigentlich nur wandern wollte. E ben noch im Flugzeug, jetzt schon in rasender Fahrt. Wir sitzen im weissen 50er-JahreAmbassador-Taxi, das uns hinausbringen soll aus dem Grossstadtdschungel Delhis an den Fuss des Himalaya. Stundenlang schiesst der kleine Wagen mit aberwitzigen Überholmanövern über die Stras sen, steckt plötzlich in Staus und drängelt sich über Kreuzungen, an denen Blechlawinen lauern wie feindliche Kombattanten. Rührt sich einer, rühren sich alle – dauerhupend, achtspurig, dann wieder ohne Spuren. Doch die Stadt will nicht enden. Erst nach vier Stunden lichtet sich der Verkehr etwas, die Umgebung wird ländlicher, und der Fahrer macht eine Pause. Mit leerem Blick isst er sein Linsengericht. Wir haben keinen Appetit, befinden uns in einer Art Schockzustand: überfordert und gleichzeitig euphorisiert, todmüde und doch hellwach. 66 GLOBETROTTER-MAGAZIN SOMMER 2014 Christoph und ich kennen uns seit dem Kindergarten. Von Anfang an waren wir draussen unterwegs auf der Suche nach Abenteuern. Auch heute noch verabreden wir uns immer wieder für Bergtouren und sind dabei wie die meisten Städter auf der Suche nach einem Kontrast zum Alltag und vielleicht nach der Magie unserer Streifzüge in Kindertagen. Unsere Indienreise hat das schlichte Ziel, zu einem der schönsten Berge der Welt zu wandern, um ihn NORDINDIEN é è í Unterwegs zur Quelle. Sadhus mit ihrer bescheidenen Habe in Gangotri. Uttarkashi. Frische Früchte am Busbahnhof. Rishikesh. Hier wird der Ganges zum Strom. von unten zu bewundern: das «Matterhorn» des Himalaya, den schwer bezwingbaren Shivling. Gaumukh, eine der Gangesquellen, liegt dabei gewissermassen als Attraktion auf dem Weg. Besonders spirituell sind wir allerdings nicht eingestellt, man könnte uns eher als Naturapostel bezeichnen. Doch bereits auf dem Weg zu den Bergen greift eine Mischung aus aufrichtig praktizierter Religiosität und Erlösungskommerz nach uns, die uns verwirrt und zunehmend beschäftigt. Spirituelle Unterstützung. Der religiöse Tru- bel beginnt in Haridwar, einem der sieben heiligsten Orte Indiens. Wir besuchen die erste von vielen Ganges-Aartis, eine nächtliche Feier und Opferzeremonie. Aus dem ganzen Land 67 sind Hindus gekommen, um in einem Gottesdienst Gangeswasser zu schöpfen und für das Seelenheil ihrer Vorfahren zu beten. Im Fackelschein setzen sie Blumenschiffchen mit brennendem Ghee (Butterschmalz) in den braunen, reissenden Strom, begleitet vom monotonen Rhythmus alter Trommeln und Blechhörner. Den Priestern gilt es als Sünde, «Mutter Ganga» einfach als Fluss zu bezeichnen. Schliesslich wurde Shiva, der Zerstörergott selbst, aus Gangas Sand erschaffen. Und als Ganga auf die Erde hinuntersollte, um die Menschen zu ernähren, bot Shiva sein langes Haar an, um ihren Sturz abzumildern. In seinen Locken teilte sich der eine grosse Strom in viele Ströme, die auf die Erde hinunterflossen. Gangas Wasser soll alles reinigen, was mit ihm in Berührung kommt, Kranken wird es als Medizin verabreicht. Auch weiter flussabwärts, wo das Wasser bereits hundertfach durch Abwässer verseucht ist. Was können einer Gottheit schon Chemie, Fäkalien und Kadaver anhaben, ist wohl der Gedanke der Gläubigen. Die mächtige Mutter Ganga wird sich schon selber reinigen. «Enlightenment in one day» verspricht ein Schild in Rishikesh, unserer zweiten Station, 24 Kilometer weiter flussaufwärts. 1968 meditierten hier die Beatles und schrieben dann ihre besten Songs für das «White Album». Seither kommen Sinnsucher aus der ganzen Welt und verdrängen dabei, dass die Beatles ihren Guru zuletzt mit der Songzeile bedachten: «You made a fool of everyone.» Uttarkashi, eine Tagesfahrt mit dem Linienbus weiter. Monsunregen stürzt vom Himmel. Es ist Mitte Mai. Haben wir für unsere Reise doch nicht die richtige Jahreszeit gewählt? Die Zeitfenster für das Wandern in diesem Teil des Himalaya sind kurz. Eigentlich sollte von Mai bis Mitte Juni und von Mitte September bis Mitte Oktober der Monsun nicht das Problem sein. Doch die Einheimischen schütteln besorgt die Köpfe. Der Klimawandel, sagen sie, die Natur wird unberechenbar. Die Strasse, die zur letzten Ortschaft Gangotri hinaufführt, ist durch den Regen noch gefährli68 cher als sonst. Mehrmals am Tag gehen Steinschlag und Erdrutsche nieder, die Strasse wird gesperrt, geräumt, freigegeben und wieder gesperrt. Auf dem Parkplatz, bei dem die Sammeljeeps abfahren, macht uns ein Passant auf einen halbnackten, dürren Sadhu mit meterlangen Dreadlocks aufmerksam. Dies sei ein wahrer Heiliger, kein Bettler im Asketenkostüm. «Gebt ihm etwas, damit er euch segnet für die Fahrt!» Haben wir in Haridwar und in Rishikesh über ähnliche Angebote noch gelacht – zücken wir hier mit einem Schaudern den Geldbeutel und erkaufen uns bereitwillig etwas spirituelle Unterstützung für die riskante Fahrt nach Gangotri. nachbar blieb vollkommen unverletzt.» Wir teilen den Jeep mit drei Bergsteigern aus Kolkatta. Der hagere ältere Herr mit der fingerdicken Hornbrille, der uns die nette Anekdote erzählt, scheint der Expeditionsleiter der kleinen Gruppe zu sein. Sie wollen von der Gangesquelle aus auf den 5500 Meter hohen Auden’s Col. Trotz dem heftigen Regen blicken sie ihrer Unternehmung zuversichtlich entgegen. Doch uns machen die Expeditionspläne der drei Sorgen. Einer sieht wesentlich zu alt aus, einer zu unerfahren und einer viel zu beleibt. Dazu ihre Ausrüstung: Hanfseil, Cowboyhut, Friesennerz und Hosen zum Hochwasserfischen. So würde man bei uns Gefährliche Strasse. «No race, no rally, enjoy the beauty of valley.» Mit Werbepoesie auf Verkehrsschildern wird in den Bergen versucht, gegen die jährlich 100 000 Verkehrstoten des Landes anzudichten. Dabei ist hier das Problem sicherlich nicht die überhöhte Geschwindigkeit. ë ì é Nachtlager. Einfache Unterkunft in einem Ashram in Gangotri. Bescheiden. Kleiner Tempel am Wegrand. In dünner Luft. Anstrengender Aufstieg. Unser Jeep schwimmt fast im Schritttempo durch den knöcheltiefen Schlamm der kilometerweise unbefestigten Strasse. Das braune Pfützenwasser schlägt bis aufs Autodach. Querende Bäche schleifen den Strassenrand zur tiefen Gangesschlucht hinab. «Ich habe einmal gesehen, wie auf dieser Strecke ein Fels auf einen Bus vor uns stürzte. Er schlug durch das Dach und tötete einen Passagier. Aber der Sitz- nicht einmal in den Voralpen zelten. Doch auf unsere vorsichtigen Einwände hin blickt der Expeditionsleiter nur nachsichtig durch seine trüben Brillengläser. «Ich war 30 Jahre lang als Geologe am Gangotri-Gletscher. Ich habe ihm beim Schmelzen zugesehen, habe seine Veränderung, seinen Verlust aufgezeichnet. Ich kenne diese Berge.» Von den Quellflüssen des Ganges haben drei die grösste religiöse Bedeutung: der Alknanda am Wallfahrtsort Badrinath, der Mandakini beim Tempel von Kedarnath und der wichtigste der drei Flüsse, der Bhagirathi hier in Gangotri. Jedes Jahr kommen Tausende von Pilgern in das kleine Bergdorf – das Geschäft mit Devotionalien und handgestrickten Mützen floriert. Die meisten besuchen nur den Tempel von Ganga Mai und fahren noch am selben Tag weiter, andere aber schlüpfen in ihre Segeltuchschuhe, werfen sich eine Wolldecke über die Schultern und machen sich auf die dreitägige Wanderung zur fast 3900 Meter hoch gelegenen Gangesquelle und zurück. Gaumukh, das «Kuhmaul», wird die Stelle, an der das Wasser aus dem Gangotri-Gletscher tritt, aufgrund ihres Aussehens NORDINDIEN é geschwächte, auf Heilung hoffende Kranke, Südinder, die noch nie Schnee gesehen haben, und perfekt ausgerüstete Touristen wie wir, die ihr Gepäck von Trägern tragen lassen, die überwiegend aus Nepal stammen. genannt. Sie ist das Ziel aller irdischen Wanderungen, der Übergang zwischen Himmel und Erde – und für manche auch zwischen Leben und Tod. Immer wieder sterben Pilger, die sich in die reinigenden Fluten des eiskalten heiligen Wassers stürzen. Sie werden von Eisschollen, die vom Kuhmaul abbrechen, erschlagen oder von einem Schneesturm überrascht. In Zukunft soll daher monatlich nur noch eine beschränkte Zahl von Pilgern zugelassen werden. Auch ist geplant, den direkten Zugang zur Quelle abzusperren. Bis dahin sind alle unterwegs, wie sie wollen: kaum bekleidete Sadhus, Geduldsprobe. Bharati, unser Guide, der auch einen der Rucksäcke trägt, schreitet munter voran. Wir sehen ihn fast nur, wenn er Rauchpause macht und irgendwo am Wegrand auf «seine» Touristen wartet. Obwohl wir drei Tage im 3000 Meter hoch gelegenen Gangotri auf gutes Wetter gewartet haben, also akklimatisiert sein sollten, ist unser Tempo deutlich verlangsamt. Vor uns liegt eine Wanderung von circa 14 Kilometern bis Bhojbasa, wo die Pilger in einem Ashram und einem Guesthouse unterkommen. Der Weg steigt stetig, aber nur mässig an und scheint auf die Flip-Flops der Pilger ausgerichtet zu sein. Mitten im Himalaya ein ganz normaler Wanderweg ohne besondere Anforderungen – aber in was für einer Umgebung! Da das Flusstal einen leichten Bogen beschreibt, werden ständig neue Gipfel sichtbar, und von Stunde zu Stunde werden diese Gipfel mächtiger und ç Prachtspanorama. Die Riesen des indischen Himalaya immer vor sich. Verständigung ohne Worte. Ein Pilger freut sich über die Begegnung. höher. Dazu öffnen sich Seitentäler, die den Blick auf schroffe Eisflanken freigeben, wie wir sie noch nie gesehen haben. Irgendwann, so denken wir beständig, wird der Shivling hinter einer Biegung als der schönste dieser Berge auftauchen. Drei seiner Seiten bestehen aus fast senkrechten Granitflanken, nur die Westseite ist flach genug, um Firn anzusammeln. Doch wird sie von Türmen aus Gletschereis zerklüftet. Brandgefährlich ist dieser Shiva Lingam, wie er mit vollem Namen heisst, der Phallus des Gottes Shiva, der Fruchtbarkeitsberg. Ein heiliger Schauder erfasst uns, fast wie die Pilger beim Gedanken an die Gangesquelle. In Bhojbasa angekommen, ist vom Shivling immer noch nichts zu sehen. Das Essen gibt es im Ashram in einem Raum, der nur aus drei Wänden besteht – nach Gaumukh hin ist er offen. Ein eiskalter Wind treibt Schneeflocken herein, und da man am Boden auf Teppichen isst, heisst es erst einmal Schuhe ausziehen. Wir versuchen, den kalten, bereits verhärteten Reis im Daal anzuwärmen – vergeblich. Danach wird uns in einem der niedrigen dunklen Gänge ein Zimmer zugeteilt. Durch die vergitterten Fenster fällt nur wenig Licht, sodass man kaum sehen kann, dass Matratzen am Boden liegen. Klaglos versuchen die schlecht aus SOMMER 2014 GLOBETROTTER-MAGAZIN 69 uns auf die Ebene der freundlichen Gesten und spärlichen Worte verweist. Doch Bharati kann auch anders. Wir kommen an eine korpulente Inderin heran, die gekleidet ist, als sei sie in Delhi auf Verwandtenbesuch. Sie schwankt, atmet schwer und sucht in den Felsen nach einer Stütze. Ganz allein hat sie sich hier heraufé è turapostel mit Daunenschlafsäcken können kaum nachvollziehen, was sich jetzt in ihr abspielen mag. Wie viel Geld, wie viel Kraft hat es sie wohl gekostet, bis hierher zu kommen? Was mag der Anlass für ihre Pilgerschaft sein, wie gross die innere Notwendigkeit, diese durchzustehen? Am Ursprung. Während sich die Frau mit trau- rigen Trippelschritten bergabwärts tastet, stehen wir, die Ungläubigen, schon bald vor der heiligen Gangesquelle und sehen zu, wie dun- Ungeheizt. Gaststube in Bhojbasa. Shivling. Endlich! Blick auf den Götterberg bei Sonnenaufgang. gestatteten Pilger, darauf etwas Wärme zu finden. Auch wir lassen uns nieder und kriechen etwas beschämt in unsere luxuriösen Daunenschlafsäcke. Götterberg im Blick. Noch vor Sonnenaufgang treibt es uns hinaus. Der Boden ist mit einer dünnen Eisschicht überzogen und die Aussicht auf Frühstück im kalten «Panoramazimmer» nicht eben gemütlich. Also wollen wir uns die Umgebung ansehen. Und da, nur ein paar Schritte von unserem Nachtlager entfernt, öffnet sich der Blick auf das Ziel unseres Wegs: den Shivling. Die aufgehende Sonne berührt seine mit Schnee überzogene Gipfelhaube und leuchtet nach und nach die markanten Flanken golden aus. Da verharren wir Wanderer aus Deutschland in stiller Andacht – sogar Fotograf Christoph lässt für einige Minuten die Finger vom Auslöser seiner Kamera. Von Bhojbasa aus sind es bis zur Gangesquelle nur noch knappe zwei Stunden. Es tut gut, sich warm zu laufen, die Nacht aus den Gliedern und das Matratzenlager aus dem Kopf zu bekommen. Guide Bharati haben wir den ganzen Abend nicht zu Gesicht bekommen, jetzt schreitet er wieder voran, gleichmässig, ungerührt, inmitten der archaischen Schönheit der Natur. Mit uns kommuniziert er hauptsächlich durch sein spezielles Lächeln, das auf uns sanft, bescheiden und gleichzeitig spöttisch wirkt. Dieses Lächeln ist kein Gesprächsangebot, es ist ein höfliches Auf-Distanz-Halten, das gewagt, um die Gangesquelle zu sehen und vielleicht die Asketen, die entlang des Weges in Höhlen leben, um einen Rat zu fragen. Akklimatisiert ist diese Frau sicherlich nicht, und nun nähert sie sich der 4000-Meter-Grenze. Bharati ist sichtlich besorgt. Er nimmt die Pilgerin zur Seite und redet wortreich auf sie ein, bis sich ein hoffnungsloser Ausdruck in ihrem Gesicht verbreitet. Kurz vor dem Ort, der Heilung verspricht, vielleicht sogar Erlösung von der Wiedergeburt, muss diese Frau einsehen, dass sie dort nicht ankommen wird. Wir Na- TREKKINGZURGANGESQUELLE Beste Reisezeit | Mai–Juni /September–Oktober Anreise von Delhi | Mit Zug/Bus nach Haridwar/ Rishikesh, weiter mit Bus/Jeep in zwei Tagen über Uttarkashi nach Gangotri Trekking | è Gangotri–Bhojbasa 14 Kilometer è Bhojbasa–Gaumukh 4 Kilometer Unterkünfte | è In Gangotri mehrere Ashrams, Pensionen und Hotels è In Bhojbasa Ashram oder Guest House (Schlafsack empfehlenswert) Trekking-Permit | Erhältlich im Forest Department in Uttarkashi Uttarkashi Bhagirathi (Ganges) Rishikesh Delhi Haridwar PAKISTAN Rishikesh Haridwar 70 GLOBETROTTER-MAGAZIN SOMMER 2014 Delhi INDIEN TIBET NEPAL kelbraunes Wasser aus ihrem Tor aus Eis stürzt. Der Ganges transportiert mehr Erdreich als jeder andere Fluss der Welt. Zusammen mit dem Brahmaputra baut er Sedimente ab, mit denen man jährlich 400 Millionen Lastwagen füllen könnte und schüttet sie am Golf von Bengalen wieder auf. Ein mächtiger, Leben spendender Fluss, der unter anderem hier, zu unseren Füssen, vom längsten Gletscher des Himalaya gespeist wird. Wir versuchen, an die Geschichte von Mutter Ganga und an Shivas Haar zu denken, können aber nicht verdrängen, was wir hier sehen: Der 29 Kilometer lange Gangotri-Gletscher schmilzt so schnell wie kaum ein anderer. 850 MeGangotri Bhojbasa ter in 25 Jahren, Tendenz steigend. Gaumukh Noch nie haben wir uns so sehr als (Gangesquelle) Tapovan (Basislager Shivling Shivling) winzige Statisten in einem über(6543 m ü.M.) menschlichen Bühnenbild gefühlt. Mit leichtem Gepäck steigen wir über die mit Schotter bedeckte Gletscherzunge zur Bergwiese Tapovan auf 4460 Metern hinauf, Bharati ist rauchend zurückgeblieben. Die Berglandschaft hat hier etwas überwältigend GleichgültiReiseroute der Autoren ges, sie ist riesig, ewig und erhaben – Trekking und sie braucht niemanden, der sie bewundert. Zeitlos erstrecken sich Eis und Schnee bis zum Horizont, der NORDINDIEN Shivling ragt in den Himmel, umgeben von den Steinriesen der drei Bhagirati-Gipfel und dem Mount Meru. In Tapovan werden die Basislager für Shivling-Besteigungen errichtet, in einer Dimension wie am Mount Everest: 2200 Meter Höhenunterschied bis zum Gipfel. Ein seltsamer Gedanke, dass sich Extrembergsteiger diesem endgültigen Berg aussetzen und für sie ein Wetterumsturz zum Unglück und eine Lawine zum Drama werden kann, während andere hier genau das Gegenteil suchen: Sie möchten werden wie der Berg, dem Zeit und Wetter gleichgültig sind, ruhend in ihrer blossen Existenz. Heilige Frau. Auch in Tapovan gibt es ein Ashram und einige Bretterbuden, in denen Sadhus unter schwierigsten Bedingungen leben. Einigen von ihnen gelingt es sogar, mithilfe von Yogapraktiken in Höhlen oder unter Felsvorsprüngen, den Winter zu überstehen. Am bekanntesten ist eine Einsiedlerin, die von allen nur Mataji, Mutter, genannt wird. Zehn Jahre lang liess sie sich radikal auf die lebensfeindliche Umgebung ein, war monatelang in ihrer Höhle eingeschneit und nutzte die aufkeimende Todesangst, um die höchste Form der Meditation zu erreichen: die völlige Hingabe an Gott oder, physisch ausgedrückt, die Verlangsamung des Herzschlages und damit die Vorstufe zu einer Art Winterschlaf, bei dem Hunger und Zeit in Vergessenheit geraten. Zu den Bergsteigern, mit denen sie der Mut verband, hatte Mataji ein freundliches Verhältnis. Sie liess sie an ihren Gedanken teilhaben und erhielt dafür übrig gebliebene Lebensmittel. Mit zunehmendem Alter wurde Matajis Geist zwar immer stärker, doch ihr Körper konnte den Strapazen nicht mehr standhalten. In ihrem Kopf und in der Lunge entwickelten sich Ödeme, sodass sie eines Tages halbtot von Bergsteigern ins Tal getragen werden musste. Ein Wunder, dass die kleine, ausgezehrte alte Frau überlebte. All dies erzählt uns Mataji in ihrem neuen Zuhause, einer Hütte, in der es dunkel und geborgen ist wie in einer Höhle. Sie befindet sich in einer kleinen Ortschaft, noch unterhalb von ç 6543 Meter. Wie eine Pyramide ragt der Shivling in den Himmel. Das «Kuhmaul». Hier tritt das heilige Gangeswasser aus dem Gangotri-Gletscher. der Asketen, der Pilger und vor allem dieser kleinen Frau, die uns gerade mit grosser Ruhe Tee nachschenkt. «Ich sehne mich nach dem Shivling», hören wir ihre leise Stimme sagen. «Die völlige Hingabe an Gott gelingt mir hier unten, wo es warm und sicher ist, nur sehr selten.» Mataji lächelt wie beschämt. Sie ist keine Einsiedlerin mehr, sie wird von der Dorfgemeinschaft umsorgt und empfängt Gäste aus aller Welt. Denn in den Augen der Menschen ist sie am Berg selbst zu einer Heiligen geworden. Für uns wird der Shivling nie mehr nur ein schöner Gipfel oder ein Gegenstand sportlicher Faszination sein, sondern der Ort, an dem Mataji mit dem heiligen Berg und mit sich selbst rang. [email protected] [email protected] © Globetrotter Club, Bern é Gangotri, in der wild wuchernden Vegetation am Fuss der Bergwelt, wo wir auf dem Rückweg haltmachen. Nach ihrer Rettung vom Basislager des Shivling rang die alte Frau ein volles Jahr lang im Krankenhaus mit dem Tod, noch heute muss sie alle zwei Stunden ans Sauerstoffgerät. Wir sitzen mit ihr am Boden und trinken Tee, den Fotoapparat müssen wir wegstecken. Beide haben wir den kargen, eisigen und radikal einsamen Ort vor Augen, der Lebensinhalt und -aufgabe dieser warmherzigen Alten war und an dem wir erst gestern noch standen. Wir waren diesem Pilgerweg gefolgt, um einen spektakulären Berg zu sehen. Nun verschwimmen die Landschaftsbilder mit den Eindrücken der Ganges-Aartis, 71 Weitere exklusive Reisereportagen lesen? 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