Das Land der sterbenden Schmetterlinge

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Das Land der sterbenden Schmetterlinge
Thema.
| Freitag, 12. Juni 2015 | Seite 3
Das Wallis feiert seine 200-jährige Zugehörigkeit zur Eidgenossenschaft – Blick auf einen Kanton voller Gegensätze
Das Land der sterbenden Schmetterlinge
Von Klaus J. Stöhlker
Als ich auf der drei Quadratmeter grossen Terrasse des Tea-Rooms Anemone
im Herzen des Dorfes Unterbäch sass,
die Walliser Sonne im Gesicht, den
Wind vom Westen kommend und die
Hitze zunehmend, dazu zwei Deziliter
exzellenten Fendants, war die Welt
plötzlich im Gleichgewicht. Mein
Körper entspannte sich, die Seele nahm
die ganze Welt auf. Ich wusste, ich war
zu Hause angekommen.
Das Wallis ist vor allem eine Landschaft, eine der grossartigsten der Welt.
Ich bin die staubigen Wege der Anden
durchwandert, folgte auf den Höhen
Tibets den Spuren Sven Hedins und
bestaunte die erloschenen Vulkane der
Rocky Mountains, aber immer kam ich
in das Wallis zurück, wo die Grate
steiler sind und die Klüfte tiefer. Ob
Val d’Hérence oder Bietschtal, beide
nur dem geduldigen Wanderer voll
zugänglich, sie übertreffen die pittoresken Täler sogar der kolumbianischen
Anden, deren achtzig Meter hohe
Palmen mir lieb geworden sind.
Das Wallis ist auch eine Landschaft,
die von Menschen geprägt ist. Es sind
die tief durchfurchten Gesichter der
Neunzigjährigen, die am Gehstock die
steilen Wege hinaufsteigen. Es sind die
weisen Alten, in denen sich die Vergangenheit des «Heiligen Wallis» mit
den digitalen Fähigkeiten der Jungen
kreuzt. Sie beten an ihren barocken
Ritz-Altären noch zur Mutter Maria,
während vierhundert Meter tiefer die
erregte Jugend die Nacktheit von
Beyoncé bestaunt und Männer wie
Frauen den Hintern schwenken, als
wollten sie die alten Gletschergeister
aus ihren Höhlen locken.
Geschärfte Sinne
Später stieg ich den Weg am Mühlebach hoch, der blühenden Magerwiese
auf 1300 Metern entlang, wo mich
Wolken blauer Schmetterlinge umwirbelten. Eine solche Begrüssung wird
sonst nur Heiligen zuteil. Das Chalet,
das ich zusammen mit meiner Frau über
dem Dorf baute, wurde zum Sitz zwischen dunkelgrünen und blauen Tannen, Lärchen und wilden Kirschen. Und
immer wieder der Wind, die im Laufe
der Jahre heisser werdende Sonne und
die kühlen Weine, welche die Sinne
nicht vernebeln, sondern steigern.
Das Wallis feiert in diesem Jahr
seine Zugehörigkeit zur Schweiz seit
200 Jahren. Zar Alexander I., heute
vergessen, rettete die unabhängige
Schweiz am Wiener Kongress. Die
Oberwalliser wollten auf keinen Fall
Schweizer werden, die für sie bis heute
«Üsserschwizer» und «Chrütgagge»
geblieben sind. Der Oberwalliser war
bis vor 200 Jahren Herr über das ganze
Wallis; erst Napoleon brach ihm den
Nacken und lieferte die Menschen vom
oberen Rotten (vulgär Rhône genannt)
dem savoyardisch-welschen Mischvolk
aus, das sich heute Mittel- und Unterwalliser nennt. So viel zur Geschichte.
Pardon, «Grünkakette» oder «Grünscheisser» werden die Deutschschweizer
im innersten Kreis der Oberwalliser
deshalb genannt, weil sie Salate und
den Tee einem herzhaften Kaffee mit
Schnaps und Trocken- wie Schweinefleisch vorziehen.
Das eigentliche Rätsel im Wallis sind
die Oberwalliser, die sich Walliser nennen und den Anspruch erheben, für den
ganzen Kanton zu stehen. Die Savoyarden, deren letzter Held Prinz Eugen
war, der Wien und Europa vor den
Türken rettete, haben dem Wallis viele
Talente vermacht, aber ein eigentliches
Volk sind die Walser: blauäugig, blond
oder rothaarig, mit Sommersprossen.
Die Kuonen im Nikolaital, das von Visp
hinauf nach Saas-Fee und Zermatt
führt, sind von dieser Art. Saas-Fee ist
die Welthauptstadt der Walser.
Dieses heute weitgehend in Vergessenheit geratene Volk hat den Kardinal
Matthäus Schiner hervorgebracht, der
in Marignano verlor, aber das Tessin für
die Schweiz rettete. Es hat Kaspar
Jodok Stockalper hervorgebracht, den
«Schweizer Fugger», einen Handelsherrn venezianischen Ausmasses. Es hat
Caesar Ritz, den begnadeten Hotelier
geboren, dessen Hotels heute noch
Anden, Himalaya, Rocky Mountains – und das Wallis. Eine Festgemeinschaft auf dem Gornergrat mit Blick auf das Matterhorn.
globale Attraktionen sind. Der grösste
aller Walser ist Joseph («Sepp») Blatter,
der den Weltkonzern Fifa schuf, um
den heute die Amerikaner, Engländer
und Deutschen gegen die Afrikaner,
Araber und Asiaten kämpfen.
Adieu Fortschritt – was jetzt?
Das Wallis hat zwei Mythen: Einmal
sind es die Berge, die alles in den Schatten stellen, was die Welt sonst bietet.
Das Matterhorn, «s Horu», will jeder
einmal gesehen haben, der die Welt
bereist. Seine Spitze stammt von der
afrikanischen Platte, die sich sonst
unter die europäische Kontinentalplatte geschoben hat. Hier hat Afrika
Europa gerettet, denn der Rest wurde
abgeschliffen.
Die Walser, ein Volk, das schon vor
über 2000 Jahren aus dem heutigen
Dänemark nach Süden gewandert ist.
Es nannte sich Kimbern, verprügelte
die Römer in der Gegend von Toulouse
und wurde später von den römischen
Kohorten in die Alpen zurückgetrieben.
Die Kimbern hinterliessen ihre genetischen Spuren zwischen Österreich
(Kleinwalser-Tal), dem Fürstentum
Liechtenstein und von der Ostschweiz
bis Norditalien. Heute haben die echten
Walliser, die Nachfahren der Walser,
dies vergessen. Sie wollen «Bernwalliser» sein und werden, wie es der
Chefredaktor des Walliser Boten,
Thomas Rieder, jüngst formuliert hat.
Was tun wir, wenn
der Weltuntergang
droht? Wir gehen
ins Oberwallis.
Die Wallisertitsch sprechenden
Oberwalliser, die mit mehr Recht als
die letzten Romantschen ihren
mittelhochdeutschen Dialekt zur
Landessprache erheben lassen könnten,
sind keine Freunde der Welschen,
ebenso wenig wie die Welschen die
Oberwalliser mögen.
Wer im welschen Unterwallis eine
Bar besucht, hört manchmal den Witz:
«Was tun wir, wenn der Weltuntergang
droht? Wir gehen ins Oberwallis, weil
dort alles 50 Jahre später passiert.»
Es stimmt, dass die Ausläufer der
Globalisierung das Chablais nahe am
Genfersee bis hinauf nach St-Maurice
und Martigny mehr verändert haben
als das Oberwallis, wo der Chemiekonzern Lonza bis heute das Rückgrat
der Industrie bildet. Doch ist diese
Modernität, welche die Folge industrieller Ansiedlungen war, wie sich jetzt
zeigt, höchst gefährdet. Noch schneller
als die steuerlich begünstigten Niederlassungen grosser Chemiekonzerne
sich ansiedelten, ziehen sie sich jetzt in
die Weiten Osteuropas und Asiens
zurück. Adieu, Fortschritt, was jetzt?
Die Walliser Regierung, ein siebenköpfiges Gremium, ist einigermassen
ratlos. Hinter der üblichen Geschäftigkeit, die den nächsten Wahltermin im
Auge hat, verbergen sich grosse Zweifel:
Das «Wasserschloss Wallis» mit den
schönsten Stauseen und Pumpspeicherwerken ist ein Opfer europäischer
Sonnen- und Windenergie geworden.
Die Stahl- und Aluminium-Industrie hat
sich weitgehend verabschiedet. Der
Flughafen der kantonalen Hauptstadt
Sitten, getragen von der Schweizer
Armee, soll demnächst geschlossen
werden. Seit dreissig Jahren werden mit
viel Steuergeld Start-up-Firmen gefördert, aber ein richtiges Grossunternehmen wollte daraus nicht werden.
Vorstädte im Schnee
Es war der Fluch der Bau- und
Immobilienbranche, der aus CransMontana und Verbier Dörfer machte,
die zu Vorstädten im Schnee wurden,
denen jeglicher Charme abgeht. Wer
sonst kein Einkommen hat, muss seine
Wiesen, seine Matten verkaufen, um
mit Menschen aus aller Welt sein Geld
zu verdienen: griechischen Milliardären, Expats aus England und Holland, Wirtschaftsflüchtlingen aus
Frankreich, Neureichen aus Deutschland, früher auch wohlhabenden «Milanesi» und «Torinesi», die in der Schweiz
ihr Geld verbargen und die Pelze angstfrei ausführen wollten. Die Bauzonen
wuchsen im Rekordtempo, weil jede
Bewilligung die Bauern reicher machte.
Seit fünfzig Jahren boomt das Wallis, wächst stärker als Graubünden, das
Tessin und das Berner Oberland. Die
CVP-Regierung ritt den Tiger, aber die
jetzt stagnierende Schweizer Wirtschaft trifft das Wallis härter als andere
Kantone. Der Tourismus, neben der
hoch subventionierten Landwirtschaft,
die von Coop und Migros als wichtigste
Abnehmer lebt, lahmt seit über zehn
Jahren. Zermatt ist ein global wichtiger
Sonderfall, Verbier, der Spielplatz reicher Engländer, Russen und Franzosen,
schwächelt. Viele andere Stationen
sind gefährdet, auch wenn ein Art Furrer («der Mann mit dem Cowboyhut»)
die Riederalp meisterlich ausgebaut
hat. In Saas-Fee steht das schönste
Hotel, der «Schweizerhof» der Anthamattens, vor dem Bankrott. Aus Leukerbad ziehen sich die Deutschen langsam zurück. Das Goms, nach dem
Engadin das schönste Schweizer Hochtal, liegt seit Jahren im Tiefschlaf.
Ein Juwel im globalen Massstab
Staatsrat Jean-Michel Cina hat nach
vieljährigen Versuchen kein Rezept
gefunden, den Walliser Tourismus zu
retten. Sein markantester Gegenspieler,
Peter Bodenmann, Hotelier und
SP-Politiker in Brig, der Hauptstadt
des Oberwallis, verlangt eine Entstaatlichung des Tourismus; aber kein
«schwarzer Staatsrat» wird dies tun,
weil ihm dann die Geschenke für seine
Gefolgschaft in den tiefen Bergtälern
fehlen würden.
Der Bergkanton Wallis, ein Juwel
im globalen Massstab, droht zu verstauben ganz wie das Bündnerland
auch. Gibt es Schuldige? Es ist die nicht
mehr zeitgemässe Bergführer- und
Skifahrer-Mentalität, die das Wallis ins
touristische Abseits geführt hat. Der
Stolz des Walser Bauern-Bergführers
und Industriearbeiter-Volkes drückt
sich aus: «Wir wollen nicht Davos und
St. Moritz sein, nicht Gstaad und Bad
Ragaz, wo die Reichen der Welt sich
tummeln.» Dem ist zu entgegnen: Das
Wallis bietet eine ehrliche Berglandschaft, die mühsam zu begehen ist,
aber die alt gewordenen Europäer, die
Inder, Japaner und Chinesen, die man
teuer ins Land holt, wandern und
klettern nicht gerne. Sie wollen Augenschmaus und Unterhaltung. Das
Matterhorn ist mit über 500 Toten seit
der Erstbesteigung ein Krimi-Berg, wo
dem Gast der Schauder vor dem
Schrecklichen über den Rücken läuft.
Die Walliser französischer Zunge,
deren geistige Heimat in Lausanne,
Genf und Paris zu finden ist, stehen mit
dem Rücken zum Oberwallis. Mit
Corinne Bille haben sie eine letzte
grosse Schriftstellerin hervorgebracht,
die dem Lebensgefühl des «alten,
heiligen Wallis» in der Revolte Ausdruck
gegeben hat. Was Film und Literatur
sonst bieten, ist eine europäische Stadtrandkultur, die den Anschluss an die
europäischen Zentren sucht. Die Wirtschaft ist subventioniert und in einem
freien Markt kaum überlebensfähig.
Daher zahlen der Bund und die reichen
Kantone jedes Jahr Hunderte von
Millionen Franken für «République et
Foto Keystone
Etat Valaisan», ganz wie die reichen
Staaten der Europäischen Union die
ärmeren finanzieren.
Zu den langsam sich verlierenden
Schmetterlingen des Geistes zählt im
Oberwallis vor allem der 75-jährige
Pierre Imhasly, den ohne die Unterstützung eines deutschen Verlages (Stroemfeld) niemand kennen würde. Imhasly,
dessen «Rhône Saga» zu den grossen
Werken der Schweizer Literatur zählt,
hat seine Schwingen über die Alpen bis
hin zum Himalaya ausgebreitet. Die
Deutsche Schweiz nimmt von derlei
kaum Kenntnis, denn Peter von Matt
und Martin Suter genügen den meisten;
schon ein E.Y. Meyer in Bern schreibt
«weit entfernt wie der Mond» für sie.
Das Wallis ist eine Herzkammer der
Schweiz, «ins Herz gemeisselt», wie es
die Touristiker ausdrücken. Jetzt ist es
in die Schweizer Silos der Weltausstellung in Mailand eingezogen, um der
Welt zu beweisen, was es zu bieten hat.
Silos und Wallis? Es könnte keinen grösseren Widerspruch geben. Der Kanton
des Farinet, der ein savoyardischer
Geldfälscher war, des Peter von Roten,
der als konservativer Anarchist die
brillantesten Geistesblitze schleuderte,
des Verlegers Philipp Mengis – Luzius
Theler, der einzige Starjournalist des
Wallis seit 30 Jahren sei mein Zeuge –,
der die Kultur der Walser noch förderte,
hat heute keinen Manitu mehr, der ihn
führt und beschützt. Die barocken Kirchen leeren sich, wie andernorts auch.
Es ist die Landschaft, es sind die Berge
und Täler, die unverrückbar stehen.
Das Café Anemone ist verschwunden, aber der Walliser Wind, die Sonne
und der Wein sind geblieben.
«Valaisan du cœur»
Klaus J. Stöhlker ist Unternehmens­
berater für Öffentlichkeitsbildung in
Zollikon (ZH). Der bekannte Doyen der
Schweizer PR­Branche, Autor und
Anreger zahlreicher Bücher über die
Schweiz, darunter «Lärchengold und
Gletscherweiss», ist mit Paula
Stöhlker­Vogel (Bitschin) aus Unter­
bäch, Oberwallis, verheiratet. Er hat seit
vier Jahrzehnten das Wallis durch­
wandert, sechs Jahre erfolgreich die
«Zürcher Antenne» der Informations­
stelle Wallis geführt und zuletzt den aus
dem Wallis stammenden Sepp Blatter
erfolgreich bei seiner Wiederwahl zum
Fifa­Präsidenten beraten. Er nennt
sich einen «Valaisan du cœur».